isofrance


Apotheker und Disco-Girls

Viele Dinge im Leben klappen nicht auf Anhieb. Man braucht eben Erfahrung und Routine. Aber auch Sachen, die zunächst schiefgehen, können irgendwann noch gut enden.
Meine allererste Reise in die erträumte, grenzenlose Freiheit begann jedenfalls mit einem Hechtsprung ins Gebüsch. Ob das ein gutes Omen ist oder nicht, weiß man erst später. An der Auffahrt zur Piste meiner Sehnsucht, der Autobahn in Richtung Köln, wo ich mich zu früher Morgenstunde und in freudiger Erwartung postiert hatte, hielt das erste Auto. Ein Streifenwagen der Polizei. Ob der Hechtsprung nötig gewesen ist oder nicht, lässt sich schwer beurteilen. Die Beamten hatte es nämlich nicht auf friedliche Hitchhiker abgesehen, sondern viel schlimmer noch: Sie sperrten die Auffahrt und leiteten den Verkehr um. So einfach ist das nämlich nicht mit der Freiheit, mein lieber Frank.


gesperrt
...so einfach ist das nicht mit der Freiheit...

So begann die weite Reise nicht mit einem Start auf Pole Position via Autobahn, sondern nach meinem zerrupftem Auftauchen aus der Brombeerhecke mit mühsamen Kleinklein-Stops auf Landstraßen. Während die Sonne höher stieg, erreichte ich den Militärflughafen Wiesbaden-Erbenheim. Nein, das war nicht gerade ein Reiseziel, zu Militaria fühlte ich mich nicht sonderlich hingezogen, aber so hatten es die Parzen des Straßenverkehrs nun einmal gefügt. Solchen Widrigkeiten zum Trotz ging es via Mainz weiter bis Idar-Oberstein, wo ich mein Lebtag noch nicht war, aber 1969 war ich noch an ziemlich vielen Orten nicht gewesen, das hat nichts zu besagen. Weil es heftig zu regnen begann und nicht aussah, als würde es bald aufhören, fand ich Zuflucht in einem der zahlreichen Souvenirläden, die alle, wirklich ausnahmslos alle, Amethystbrocken in der Auslage hatten, schöne violette Kristalle, die man dort angeblich aus den Bergen kratzt. Und weil sie nicht sonderlich teuer waren, kaufte ich einen faustgroßen Brocken; schließlich strebte ich auf meiner Reise ein Rendezvous mit einer jungen Südländerin an, die in ihrem letzten Schreiben, schon aus ihrer sardischen Heimat, berichtet hatte, dass sie sich zu einer Ausbildung zur Krankenschwester berufen fühle. Jedenfalls fand ich es besser, ihr etwas mitzubringen, und Amethyst kam mir, in solchen Dingen noch Neuling, doch galanter vor als eine Packung originalverpackter Einwegspritzen made in Germany.


amth
...galanter als Einwegspritzen...

Trotz des Regens, mal schüttend, mal tröpfelnd, ging es weiter nach Trier, und von da in Richtung der nahen Grenze nach Luxembourg. Ohne Pause, denn ich hatte zwar nichts ausgefressen, hoffte aber, dass jenseits der Grenze des verregneten Deutschlands Urlaub, Sonnenschein und Meeresstrand auf mich warten. Na ja, der Meeresstrand nicht gerade in Luxembourg, so viel Ahnung von Geografie hatte sogar das Greenhorn Frank, obwohl du an seinen Kenntnissen schon angefangen hast zu zweifeln wegen der gewählten Route, die eigentlich eher nicht in Richtung Sardegna weist. Ganz richtig, du hast es also gemerkt. Ich wollte nämlich erst mal üben und hatte mich deshalb entschlossen, vorher alle Küsten des Nachbarlands Frankreich abzugrasen, und wollte irgendwo bei Calais damit beginnen. Studenten, deren Herbstsemester, Klausuren und Examina dicht bevorstehen, fühlen sich ja generell nicht allzu heftig zu den akademischen Hallen hingezogen.
Der Regen machte jedenfalls an der Grenze Halt. Irgendwer setzte mich am Airport von Letzebuerg, wie das heutzutage offiziell heißt, ins Freie, von wo es Direktflüge nach Zanzibar und Tahiti gibt, aber das wäre natürlich gegen eines Anhalters Ehre gewesen, die mir damals noch heilig war. Ich verzichtete grundsätzlich auf die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel außer der Fähre nach Sardegna, und desgleichen auf Übernachtungen in kostenpflichtigen Hotels und Herbergen. Ich führte nur einen relativ leichten Schlafsack mit mir, Zahnbürste, Kleingeld und ein wenig Kleidung zum Wechseln, und vertraute ansonsten auf sommerliche Temperaturen und meinem Einfallsreichtum bei der Suche nach Schlafplätzen, aber davon später mehr. Weil bei Fluggerät das Hitchhiken nur wenig Erfolg verspricht, durchquerte ich eigenfüßig Luxembourgs Kapitale, denn Städte sind für Anhalter ziemlich lästig. Man muss zu den Ausfallstraßen gelangen, wo ich dank sommerlich langer Tage noch einen Lift bis Arlon in Belgien erwischte. Und für die hereinbrechende Nacht fand ich eine offene, längst nicht mehr genutzte Garage auf einem herrenlosen, dem Verfall preisgegebenen Grundstück, auf deren Boden ich meinen Schlafsack ausbreitete. Etwas weicher hätte der Untergrund für meinen Geschmack durchaus sein können, und ab drei Uhr früh kroch mir die nächtliche Kälte in den Schlafsack, aber ich war ungestört, und regnen konnte es, so viel es wollte. Tat es aber nicht. Der Regen war tatsächlich an der Grenze nach Letzebuerg hängen geblieben. Damals gab es das Schengener Abkommen noch nicht.


arlon
...eine offene, längst nicht mehr genutzte Garage...

Dass der Ziehbrunnen in dem verfallenen Garten in Arlon funktionierte und ein aktiver Apfelbaum für ein vitaminreiches Frühstück sorgte, steht auf der Plusseite zu verzeichnen. Und dass mir der zweite Tag sehr freundliches Wetter bescherte, erleichterte mir den Aufbruch aus dem deutschsprachigen Zipfel Belgiens. Arlon heißt nämlich in Wahrheit Arel, und nebendran liegt Schoppach, und mein Französisch musste ich erst am Grenzübergang nahe Sédan reaktivieren. Dort bekam ich gleich Gesellschaft. Ein Japaner, der in Roma studiert, hatte ähnliche Intentionen wie ich, sprach aber nur Italienisch und vermutlich auch Japanisch, aber keinen Ton Französisch. Dagegen war ich richtig polyglott; in jungen Jahren hatte ich nämlich eine Zeitlang in Frankreich gelebt und war dort zur Schule gegangen, weshalb man mich unter dem Himmel der Grande Nation dank meiner guten Sprachkenntnisse auch unflätiger Ausdrücke, vor allem bei laufendem Motor im Auto, nicht immer auf Anhieb als Ausländer erkannte. Dem Kollegen aus Nippon den Wunsch abzuschlagen, eine Weile gemeinsame Sache zu machen, kam nicht in Frage, obwohl ein Vorankommen per Anhalter zu zweit deutlich schwieriger ist als solo. Man muss sich eben solidarisch zeigen und eifrig dolmetschen, weil Grenzer in ihrer beruflichen Weisheit junge Leute in abgetragenen Jeans, mit Rucksäcken und nicht täglich frisch rasiert, die zu Fuß eine Staatsgrenze überqueren wollen, für Schmuggler oder Mafiosi ansehen und meist einer Leibesvisitation unterziehen, während die wirklichen Schmuggler und Mafiosi in ihren Benzporsche-AlfaBMWs mit einem zuvorkommenden Lächeln durchgewinkt werden. Das war schon damals genau so wie heute, nur dass sie jetzt eher die Leute, die nach Migrationshintergrund aussehen, bevorzugt zur Inquisition herausziehen. Aber kurz nach der Grenze war ich wieder solo, denn der Japaner wollte in Richtung Reims weiterreisen, während ich die Strecke Mézières, Cambrai und Arras einschlug, um am Abend mein Tagesziel Le Touquet am Ärmelkanal zu erreichen. Kurz vorher, in Montreuil, rollte ich meinen Schlafsack zwischen Gräbern auf dem Dorfanger hinter der Kirche aus, denn nur Hunden ist dort der Zutritt verboten. Von Trampern stand da nichts.

montreuil
...Zutritt für Hunde verboten...

Dass ich ein Jahr nach dem frühen Tod meines Vaters solche waghalsigen Abenteuer anging, erfüllte meine dezimierte Familie mit Besorgnis, was ihr nicht zu verdenken ist. Ich hatte daher gelobt, alle paar Tage per Postkarte ein Lebenszeichen von mir zu geben, und in Marseille und Roma nach postlagernden Sendungen von daheim zu fragen. So fand mich die Morgensonne von Le Touquet nach Öffnung des Postamts auf der Strandpromenade sitzend und meine erste Postkarte schreibend. Siehst du, so war das damals zur Zeit der Schneckenpost, statt www gab's damals DKW, zum Draufstarren hatte man Goofy statt Handydie ältere Generation regte sich bei den Enkeln über Presley auf statt übers Smarty, und wo heute WiFi ist, dröhnte seinerzeit bestenfalls HiFi. Kaum vorstellbar. Und ärgerlich war, dass die lästige Postkarterei alle paar Tage mehr Kleingeld verschlang als meine täglichen Casses-Croûte, aber im Rücken die Parade der Strandvillen von Paris-Plage, so der Beiname von Le Touquet, vor Augen den blendend weißen Sandstrand, am Himmel brummende Propellermaschinen, die in Richtung der im Dunst verborgenen White Cliffs of Dover ihre Bahn zogen, und von vorn die frische Brise des Ärmelkanals - es kam mir vor, als hätte ich in den nur zwei Anhaltertagen von meiner Heimatstadt aus bereits Tausende Kilometer hinter mich gebracht.


letouquet
...Ärmelkanal und blendend weißer Strand du Touquet...

Nach einem angemessenen Aufenthalt in dem hellen und hübschen Städtchen der reichen Pariser mit seinem leicht englischen Flair im Stadtbild machte ich mich daran, die Küste in Richtung Westen abzuklappern, Crotoy, St.Valéry, Le Tréport, Dieppe und Le Havre. Der Mensch, der mich zu meinem heutigen Etappenziel chauffierte, schwärmte von der lokalen Spezialität, den Crêpes Havraises, und setzte mich auch gleich vor einem entsprechenden Restaurant ab mit der Empfehlung, mich von der Qualität zu überzeugen. Ich wollte mich unauffällig verdrücken, denn Restaurantbesuche sieht mein Budget eigentlich nicht vor, aber anstatt mich einzuladen, wie es sich für ordentliche Autofahrer geziemt, hielt der Monsieur Wacht, bis ich auch richtig in dem Lokal verschwunden war. Wahrscheinlich steckte er mit dem Wirt unter einer Decke. Siehst du, da hatte der Frank seine Karriere als Schnorrer noch vor sich. Zum Glück sind die Havraiser Crêpes keine Pfannkuchen mit süßem Seim obendrauf, sondern eine Art strammer Max auf hauchdünnem Dönerteig, nicht zu teuer und je nach Anzahl auch sättigend.

crepe
...Crêpe havraise auf hauchdünnem Teig...

Danach ging ich zum Hafen. Als festlandgermanische Landratte hatte ich mein Lebtag noch keinen richtigen Hafen gesehen, es sei denn, man zählt Ludwigshafen mit dazu. Aber hier zwischen Quais und Molen herumzutigern, den nächtlichen Hafenbetrieb zu beglotzen und die gewaltigen Ozeanfrachter aus der Nähe zu bestaunen, das war aufregend. Gerade wurde ein amerikanischer Frachter mit Renaults und Peugeots beladen, die von einem Kran in den Schiffsbauch gehievt wurden - nein, es gab tatsächlich keine Rampe zum Reinfahren. Wie Ameisen, die in einen Elefantenbauch verladen werden. 
Bis fast Mitternacht betrieb ich mein persönliches Sightseeing, und weil Abwechslung not tut, erkor ich, der Örtlichkeit angemessen, einen leeren und offen stehenden Container am Rand des Geländes zu meinem Nachtquartier und war gerade am Einschlafen, als mich ein gewaltiger Sound senkrecht aus dem Schlafsack fahren ließ: Eine Schiffstrompete, die durch Mark und Bein geht und die Container scheppern lässt. Wahrscheinlich verließ ein Schiff den Hafen. Gegen solche maritimen Posaunen ist eine Autohupe eine Blockflöte, sag ich dir. Davon abgesehen, kann ich die Container-Blechschachteln als warme, trockene, saubere, sichere und windgeschützte Nachtquartiere empfehlen, sofern man die Möglichkeit in Kauf nimmt, in der Nacht verladen und nach Ouagadougou spediert zu werden.

container
...mancher ist leer und steht offen...
 
Dies widerfuhr mir glücklicherweise nicht, obwohl man nie im Voraus wissen kann, was einen in Ouagadougou erwarten könnte. Man soll sich nicht von Vorurteilen leiten lassen. Aber es wartete ein ereignisreicher Tag auf mich. Ich stand eigens noch früher auf als sonst, um nicht von irgendwelchen Hafenarbeitern aufgestöbert zu werden oder beim Verlassen des Nachtasyls der Hafenpolizei in die Fänge zu laufen, und suchte die deutlich gekennzeichnete, in Sichtweite befindliche öffentliche Toilette auf, die Luxusgüter wie Waschbecken und Seife enthielt. Frisch aufgepeppt stieß mir freilich just beim Verlassen des Beauty Salons genau das zu, was ich eigentlich hatte vermeiden wollen. Die misstrauischen Flics vom Zoll ließen den adrett gesäuberten Frank nach eingehender Passkontrolle aber wieder laufen, denn er stand auf keiner Fahndungsliste und führte auch kein Heroin mit sich. Wenn die Jungs wüssten, wo die richtigen Gangster stecken... Jedenfalls eher nicht am frühen Morgen in der Hafentoilette von Le Havre.

douane
...die Flics vom Zoll im Hafen...

Über den Stolz der Havraiser, den damals noch recht neuen Pont de Tancarville, der seit zehn Jahren die ins Meer mündende, abwasserbrackige Seine überspannte, fuhr mich ein geselliger Mensch nach Caen, lud mich auf eine Bottel Schweppes ein und quackelte leutselig und ausgiebig über die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Franzosen und Deutschen, die einem Laien eben so durch den Sinn gehen. Der größte Unterschied, der mir persönlich einfällt, ist die französische Sitte, Anhaltern meist zumindest Kaffee, Schweppes, Schnaps oder Casse-croûte zu offerieren oder den aufgelesenen, halbverhungert aussehenden Beifahrer wenigstens vor der Tür eines Restaurants abzuladen, so wie ledige Mütter ihren Bengel heimlich vor dem Pfarrhaus deponieren. Dass man in Deutschland über den Lift hinaus noch zu etwas eingeladen wird, hatte ich nur ein einziges Mal erlebt, als mir bei Heide in Schleswig-Holstein von einer Bande junger Leute ein Krabbenbrötchen spendiert wurde. Krabbenbrötchen kosteten seinerzeit noch keinen halben Wochenlohn. Aber gut, das gehört nicht hierher, und ich war auch (noch) kein professioneller Schnorrer. Die berichteten Vorfälle, so unterhaltsam sie waren, zählten übrigens nicht zu den angedeuteten Highlights des heutigen Tages. Da kam nämlich noch mehr.

tancarville
...damals war le pont de Tancarville noch neu...

Den normannischen Zipfel abkürzend, landete ich in einem entlegenen Dorf namens Brécey. Man ist ja geduldig, und wenn ein Fahrer, für die Unterhaltung dankbar, den Anhalter bis in sein Heimatdorf mitnimmt, auch wenn es nicht gerade an der Hauptstraße liegt, da sagt man nicht nein.
"Von hier aus kommst du leicht wieder auf die Piste", meinte der ältere Herr tröstend, denn die Michelin-Straßenkarte, die ich mit mir führte, verzeichnet keine Orte von der Größe, nein Kleine von diesem Brécey, das auch noch im Jahre 2020 nur etwa 2020 Einwohner zählte. Ein Mittagspäuschen, und eine Postkarte ist auch wieder zu schreiben, und dann geht's weiter - dachte ich in meiner Einfalt. Ich hätte von meinen früheren Aufenthalten her wissen müssen, dass den Franzosen ihr Mittagessen und die Pause danach heilig sind. Überdies wird man Brécey nicht einmal versehentlich als Verkehrsknotenpunkt bezeichnen können. Jedenfalls hatte ich Muße, den Kühen rund um den Kirchturm beim Weiden zuzuschauen und den sehr wenigen Vehikeln, die einhergebrümmelt kamen, zuzuwinken, und ich hätte durchaus auch ein Dutzend Postkarten verfassen können, denn die Fahrer winkten nur freundlich zurück.


brecey
...die Kühe weiden auf der Seite des Kirchturms...

Als ich schon befürchtete, Autostoppen sei hier vollkommen unbekannt, und mir ein etwas verzweifelteres, verdurstendes Aussehen zu geben suchte, las mich ein Ehepaar auf, der Apotheker von Brécey und seine Gattin. Und nun begann Madame ein strenges Verhör. Woher, wohin und warum, Beruf, Geschwister, Eltern, Pläne und Talente, das kenne ich schon, dass die Autofahrer gerne wissen wollen, wen sie sich ins Vehikel geholt haben, da muss man eben Rede stehen. Nach einer Weile schien das Examen bestanden zu sein, denn Madame lehnte sich in ihrem Sitz zurück und bot mir an, den Rest des Nachmittags mitzukommen in ihre Ferienvilla, der sie gerade zustrebten. Die Leute haben drei Söhne, und der Älteste sei gerade auf Tramptour durch England. Aha, von daher das Wohlwollen, dachte ich mir und nahm die Einladung gerne an.
Es war eine schmucke Villa am Meer in dem Ort St.Jean-le Thomas. Auch in Frankreich nagen die wenigsten Apotheker am Hungertuch. Privatstrand, Segelyacht, der Salon mit gläserner Panoramawand mit Blick auf die Bucht von St.Malo und in der Ferne den Mont Saint Michel. Hier war meine "Arbeit" vorzeitig beendet, ein kleiner Urlaub konnte beginnen. Die Leute waren sehr nett, und auch die schon in der Villa wartenden beiden Söhne Jean (23) und Pierre (19) waren Pfundskerle. Auf geht's, Badezeug an, Segelboot klargemacht, die Nachmittagssonne will ausgenutzt werden. Schon schippert die ganze Mischpoke durch die Fluten des Golfs von St.Malo, aber außer zahlreichen Quallen hing nur eine einzige normannische Makrele an den ausgeworfenen Angelhaken. Als der Hunger alle wieder an Land trieb, musste, bevor die Makrele geschlachtet und entkernt war, noch ein Bad samt ausgiebiger Wasserschlacht für Kohldampf sorgen, und dass Madame nicht nur eine einzige Makrele für alle servierte, sondern, in einer Art wunderbarer Fischvermehrung, eine ausgezeichnete Création französischer Cuisine auftischte, darf nicht unerwähnt bleiben. Irgendwelche pharmazeutischen Geschäfte riefen die Eltern am späten Abend wieder nach Brécey zurück, aber ich solle noch bleiben und mich "nach Art junger Leute" mit den beiden Jungs vergnügen, was immer die "Art junger Leute" sein mag. Ich freute mich vor allem auf die Aussicht, die Nacht in einem richtigen Bett zu verbringen, denn wo ich sonst meine Nächte verbrachte, das hatte ich der Frau Maman wohlweislich verschwiegen.   



stjean
...mit Blick auf die Bucht von St.Malo und in der Ferne den Mont St.Michel...
  
"Bleib doch noch ein paar Tage, wir würden uns sehr freuen!"
Super nette Menschen von wahrhaft europäischer Gesinnung, diese Leute aus der Normandie, die einen aufgelesenen Anhalter, obendrein noch ausgerechnet einen Deutschen, kostenlos am eigenen Urlaubsspaß teilnehmen lassen. Ich entstamme zwar der Nachkriegsgeneration und war von meinem Papa in einem europafreundlichen und strengen Antinazi-Klima erzogen worden, aber Allemand bleibt Allemand. Jedenfalls war ich auch schon in jungen Jahren als Austauschschüler mehrfach im Nachbarland gewesen. Ich hatte keine Vorurteile gegen Europäer anderer Nationen und fand es geradezu undenkbar, dass noch die Generationen der Großväter und Väter aufeinander geschossen hatten. Das Ehepaar aus Brécey dürfte Deutschland aus persönlicher Erfahrung in wenig guter Erinnerung haben, aber inzwischen hatten Adenauer und de Gaulle, Schuman und de Gasperi die Montanunion und die EWG ins Leben gerufen, so dass meine Generation ebenso wie ich selbst Frankreich nicht als Gegner, sondern als guten Nachbarn voller Freunde empfand, zumal für mich die Sprachbarriere entfiel.
Allerdings wollte ich meine Reise auch nicht in St.Jean-le-Thomas vorzeitig beenden, denn ich hatte als Endziel schließlich noch die Insel Sardegna im Visier. Und, nun ja, das Herbstsemester war auch nicht ganz aus den Augen zu verlieren... Alle Wege führen schließlich nach Rom, sagte ich mir, und nach einem weiteren Tag in der Urlaubsvilla begab ich mich wieder en route.


anhalter
...wieder en route...

Bis Avranches chauffierte mich ein hübsches junges Mädchen, ein gelungener Auftakt. Was es doch ausmacht, wieder einmal frisch gebadet und rasiert zu sein! Von Avranches aus schwemmte mich der Sonntagsverkehr, den zu vermeiden ich noch nicht gelernt hatte, zum Mont Saint-Michel, vor dessen Betreten meine neuen Freunde aber ausdrücklich gewarnt hatten. Jeder Schritt sei gebührenpflichtig, jedes Restaurant eine Touristen-Neppfalle - aber von außen sieht das Ding auch ganz imposant und fotogen aus. Mühsam hingegen gestaltete sich das Fortkommen aus der Anziehungskraft dieser Attraktion, wegen der sonntäglich gefüllten Automobile. Die Franzosen sind unbestreitbar ein geselliges Volk, sogar Teddybären und Miezekatzen verstopfen die vielköpfig angefüllten Peugeots und Renaults bis unters Dach. Ich nahm den Leuten gerne die bedauernden Gesten ab, mit denen diejenigen, die wirklich keinen freien Platz mehr hatten, vorüberrollten. Wenn die mich alle mitgenommen hätten, wäre ich am Abend mindestens in Palermo gewesen. Wer freie Plätze hatte, tat so, als hätte er es sehr eilig oder schaute zufällig gerade in eine andere Richtung.

mtstmichel
...sonntags ist viel los am Mont St.Michel...

Immerhin kleckerte ich peu à peu weiter bis nach Dinan, wo zwei Teenage Girlies in waghalsigen Miniröcken, nach ländlicher Art geschminkt wie Seeräuberbräute, am Straßenrand standen und fassungslos waren vor Staunen, dass da ein Typ aus dem fernen Ausland angehitcht kam. Sie wollten nach Morlaix, wo es einen fetzigen Tanzclub gebe, und mich unbedingt mitnehmen. Schon am Rand der Chaussee fasste die keckere Blonde der beiden Dorfschönheiten meinen Arm, um zum Sound der Landstraße einen Rock'n'Beattwist zu wackeln, während ihre unbemannte, etwas sprödere, brünette Freundin, die auch noch mein Gepäck halten musste, vernehmlich maulte, weshalb wir uns alle drei ernstlich auf die Reise machten.

disco
...zwei Schöne vom Lande wollen in die Disco...

Der geschätzte Leser wird sich erinnern, dass es vor einigen Absätzen hieß, Hitchhiken zu zweit sei deutlich schwieriger als für den Einzeltramper. Pardon, das gilt nur für männliche Tramper. Mit den beiden Miniröckchen und ihren Laufmaschen drunter verkürzte sich meine durchschnittliche Wartezeit von 45 auf 4 Minuten. Jaja, die Franzosen. Einzelne Herren rissen sich um die Ehre, uns befördern zu dürfen, zumal ich mich in einiger Entfernung zu postieren pflegte. Die Automobilisten packten freudig die jungen Dinger in ihr Vehikel und ließen sich dann überrumpeln, wenn ich gelaufen kam und die Girls sagten, der Typ gehört auch mit dazu. Der junge Soldat machte ein vergrätztes Gesicht, dass er übertölpelt worden war, aber der beleibte Herr fortgeschrittenen Alters scherte sich nicht um meine Anwesenheit auf dem Hintersitz, sondern ließ behende seine Pfoten über Knie und Schenkel der jugendlichen Beifahrerin gleiten, bis sie aufquiekte. Was zu viel ist, geht zu weit, sagte ich mir, und ein mehr freundschaftlicher Klaps auf die Glatze des Chauffeurs erinnerte den Geilhans daran, dass er im Spätnachmittagslicht besser ans Volant greifen sollte anstatt dem Mädel unters Röckchen.
Die Teenies waren begeistert von dieser Tramper-ArGe, und die Blondierte wäre am liebsten mit mir glatt bis Brest weitergefahren, aber die Brünette motzte angesäuert, dass sie eigentlich zum Tanzen nach Morlaix gekommen sei, 145 km in nur drei Stunden. Nicht ungern trennte ich mich von den beiden aufgedrehten Copines, obwohl es der Blonden deutlich anzusehen war, wie gerne sie mit ihrer internationalen Errungenschaft im Beatschuppen angegeben hätte; ich hoffte nur, dass die beiden die Rückfahrt, vermutlich in später Nacht, heil und unversehrt überstehen würden, nach dem, was schon am Tag trotz meines Beiseins gelaufen war.


impkw
...beide Hände gehören während der Fahrt ans Volant...

Auch ungeschminkt und ohne Minirock gelangte ich am Abend noch bis Brest. Der einzige Makel bei der Sache war, dass der Fahrer noch Führerscheinneuling war. Erst übersah er eine rote Ampel, da sagte ich nichts, das kann jedem mal unterlaufen und es war ja auch nichts passiert, aber dann kriegte der Jüngling eine Kurve nicht richtig und donnerte voll über den Bordstein, und während ich noch murmelte, Monsieur fahre ja ziemlich schneidig, dachte ich insgeheim schon daran, wo ich am besten und schnellsten aussteigen könnte. Aber schon touchierte der junge Driver in einer engen Gasse zwei geparkte Autos und kommentierte, sein Auto sei ein Mietwagen, ein paar Schrammen machten also nichts aus; als er jedoch mächtig Gas gab, um nicht erwischt oder verfolgt zu werden, rief ich mitten in der Innenstadt "ici, ici, c'est ici!", als sei just diese Kreuzung mein Ziel, schnappte mein Bündel und machte mich aus dem Staub, solange meine Knochen noch heil waren. An einer Frittenbude fraß ich mir innere Ruhe an, und zur Nacht bezog ich ein Bürogebäude mit Blick auf den Hafen, das allerdings den kleinen Nachteil hatte, sich noch im Rohbau zu befinden, und rollte mich in eine zugige Ecke im 5.Stock.

brest
...ici, ici, c'est ici!...

Die erste schon geöffnete Bar am andern Morgen sollte mich nach der windigen Nacht vom Durst befreien.
"Li - mo - na - de???", fragte die füll
ige Bardame hinter der Theke mit entsetztem Gesicht zurück, "ganz pur?"
Als hätte ich einen Becher Schierlingssaft geordert. Das konnte Madame nicht zulassen, dass sich jemand in der Bretagne schon am frühen Morgen an roher Limonade besäuft. Vorsichtig träufelte sie den Saft einer ausgepressten Zitrone in ein großes Glas und goss, als handle es sich um Sirup, den man mit Wasser verdünnt, bis zum Rand Rotwein in den Becher. 45 centimes für das Aufputschmittel zum frühen Morgen. Und das, obwohl Frankreich sonst ziemlich teuer ist.


barbreton
..."Li - mo - na - de???"...

Aber was sagst du da, lieber Frank! Die Bretagne ist doch nicht Frankreich, sondern so etwas wie das Bayern oder Schottland der Franzosen. Zwar laufen hier die Eingeborenen weder in kurzen Höschen aus gegerbtem Kuhleder noch in kurzen Röckchen aus kariertem Tweed umher, aber die Sprache steht dem Schottischen oder Bayrischen vermutlich näher als dem Französischen. Pe gornik a ziskouez e eñvorioù hir eus da gontadenn dister? ("was für ein Esel streckt sein Langohr aus diesem Geschwätze?"), sagen die Leute, und ich schlackerte mit meinen langen Eselsohren, weil ich wähnte, Swahili-Laute zu vernehmen. Ich sage dir, da versagen auch Artificial intelligence und Gugeltrans. Und wie der Homo lederhosensis sein BY am Autoheck spazierenfährt, zieren in der Bretagne die drei Buchstaben BZH (Breizh) das Hinterteil der Automobile und womöglich auch der Automobilisten.
Überhaupt lag damals noch manches im Argen. Da hieß doch tatsächlich Letzebuerg noch Luxembourg, Sri Lanka noch Ceylon, Euskadi noch Baskenland. Aber inzwischen haben die lokalen Gartenzwerge für die heutige geografische Verwirrung gesorgt, wo du auf Donostia, Zena und Càlares stößt, wo du meintest, in San Sebastián, Genova oder Cagliari zu sein. Demnächst gibt es womöglich auch bei uns offizielle Ortsschilder mit Hamborch, Kölle oder Läibzsch....


bzh
...drei Buchstaben zieren das Hinterteil...

Auf bretonische Weise erfrischt, führt mich die Montagsstrecke heute nach Quimper, wo eine von Gulli zu Gulli sprintende Ratte dem mittelalterlichen, blumengezierten Ortskern Authentizität verlieh; nun ja, die Tanzschuppen und Beathöfe haben am Montagvormittag zu, da huschen eben die Ratten anstelle von Disco-Teenies durch die Gassen. Der Fischerhafen von Concarneau mit seinen bunten Fischkuttern, die im sonnenlichthellen Hafenwasser dümpeln, und seinen baskenbemützten Seebären, die auf Taurollen sitzend ihr Pfeifchen schmauchen, mutet idyllischer an als der Geruch der Fischabfälle vom zu Ende gegangenen Markt, und obwohl ich als kulinarischer Meeresziefer-Freund gelte, fand ich mich schon wenig später in Lorient ein, wo der schmutzigrote Abendhimmel nach Regen aussah. In Nantes ging der Tag zu Ende, und die altersschwarzen Fabrikhallen am Stadtrand, denen in der Dämmerung Massen von Frans-Masereel-Arbeitern mit Aktentaschen entquollen, als lebten Marx und Engels noch, bewirkten, dass ich mich fühlte wie Ringo in Liverpool.

nantes
...kein Ferienambiente im Nebel von Nantes...
 
Auch am nebligen Morgen will sich in Nantes kein Ferien-Ambiente einstellen. Meine Lieben wähnen mich freiheitsdurstig auf weißem Strand mit heißem Sand, während ich über das Baugerüst aus meinem Schlafgemach klettere, bevor die Arbeiter eintreffen, und den ersten Werktätigen zusehe, die schon in aller Frühe zu ihrer grauschwarzen Fabrik radeln. Ich habe zwar durchaus Lust auf blauen Himmel, Meer und Strand, aber die Atlantikküste ist kein Mittelmeer, das wird mir schnell klar, weil sich der Nebel nicht auflöst, sondern allmählich weiter verdunkelt.
Der erste Automobilist, der sich erbarmte, rettete mich vor den ersten Tropfen, und kaum verließ ich mein gastliches Töffelchen wieder, hörte auch der Regen auf, wie bestellt. Jetzt musste ich aber tüchtig winken, denn der Regen verfolgte mich anscheinend. Und es klappte noch einmal: Just vor der nächsten Dusche saß ich wieder auf trockenem Polster, und die Flucht nach Süden brachte mich schon zur Mittagszeit nach Bordeaux. Und die Sonne schien. Noch. Die schwarze Wolkenwand, die mir auf den Fersen folgte, verhieß allerdings nichts Gutes. Noch vor Erreichen des Ortsrandes mit den Ausfallstraßen ging ein tüchtiger Wolkenbruch auf die Stadt nieder, die Chroniken verzeichnen ihn für den frühen Nachmittag des 9.September. Du weißt natürlich, wozu Banken, Postämter und Bibliotheken gut sind. Um Hitchhikern wie dem Frank bei Regen Obdach zu gewähren, richtig. Nun ja, ein Stündchen Mittagspause wollte ich mir ohnehin gönnen, da ich heute mein Tagespensum schon geschafft hatte.


bordeaux
...ging ein tüchtiger Wolkenbruch über Bordeaux nieder...

Nach der großen Flut traf ich auf große Gesellschaft. Am Ortsausgang standen nämlich alle Tramper von ganz Frankreich, als fände dort eine internationale Hitchhikiade statt. Nach einem ungeschriebenen Anhaltergesetz stellt sich der zuletzt ankommende Mensch an das fernste Ende der Reihe, was allerdings nach meiner allmählich zunehmenden Erfahrung nicht unbedingt von Nachteil sein muss. Wenn längs der Chaussee in kurzen Abständen hintereinander lauter bärtige, gitarrenschwingende, jointverdächtige Jeanstypen samt Bergen von Gepäck aufgereiht stehen, fürchtet Monsieur le bonhomme, dass bei einem Stop diese Meute von allen Seiten seinen frischgewienerten Citroën stürmt, und wer fühlt sich schon einer ganzen Bande verwegener Globetrotter gewachsen? Aber den am Ende mit gehörigem Abstand mutterseelenverlassen dastehenden, freundlich lächelnden, studentenbebrillten Frank, den nimmt man allemal gerne mit.
Dank des noch immer vor sich hintröpfelnden Regens, außer dem Autozählen die einzige Abwechslung am Rand der Fernstraße, sieht selbst der adrette Frank heute allerdings leicht verhagelt aus, aber was soll's, man ist ja nicht aus Zucker. Und schließlich naht das Häppie-End in Form eines teuren roten Sportwagens mit einer jungen Dame am Steuer, die sich Plaudergesellschaft bis nach Bayonne wünscht. Siehst du, man muss nicht gleich mit dem Schicksal hadern, beim Trampen lässt sich nichts vorhersagen, und auch der schlechteste Tag kann am Ende eine unverhoffte Überraschung und ein frisch bezogenes Bett mit sich bringen. Versteh mich nicht falsch - dass ich an ein weiches Bett dachte, hat nichts mit der Mademoiselle neben mir zu tun. Ich bin ein vollendeter Kavalier und unendlich dankbar für jeden Lift. In einem Rutsch ging es jedenfalls bis an den Rand der Pyrenäen, und weil dort die Abendsonne schien und ein junger Playboy mich unbedingt noch nach Biarritz befördern wollte, brachte ich es nicht übers Herz, ihm diesen Wunsch abzuschlagen.


playboy
...junger Playboy beförderte Frank nach Biarritz...

Von Südfrankreich kannte ich von früheren Aufenthalten in der Grande Nation nur Avignon, Nîmes, Arles und die Camargue. Aber da, wo sich das dicke Geld klumpt und vor sich hinprotzt, an der Côte d'Azur, in Monte Carlo oder in Biarritz, dahin hatte ich noch keinen Fuß gesetzt. Wie auch, denn dort sind Rolex, Maserati und Gucci heimisch, alles Begriffe, mit denen ich bis zum heutigen Tag nicht recht kompatibel bin. Gegen die Strandvillen in Biarprotz war das Ferienhaus der Apothekerfamilie von Brécey eine Hundehütte, hier reihen sich Swimming Pools olympischer Ausmaße an Prunkpaläste von babylonischer Pracht, jede Bäckerei sieht aus wie das Café Kranzler und verfügt über Panoramablick auf den weiten Ozean, und die angeschriebenen Preise, so weit ersichtlich, überstiegen meine kühnste Fantasie.

biarprotz
...Prunkpaläste babylonischer Pracht in Biarritz...

Mir blieb wohl nur, mich vom Gras der gepflegten, dauerbesprengten Vorgärtenrasen zu ernähren, und wo ich ein Nachtquartier finden könnte, war mir ein Rätsel. Aber es war warm und heiter, und das Institut National d'Océanographie, das heute Musée de la mer heißt, hatte wegen Sommerferien geschlossen, war aber nur durch ein niedriges, weiß getünchtes Mäuerchen ohne Zaun von der Promenade getrennt und verfügte auf der Rückseite über eine überdachte Terrasse. Da ich ebenfalls Sommerferien hatte, fühlte ich mich eingeladen und legte mich auf einem Bänkchen unter dem Dach zur Nachtruhe. Im teuren Biarritz, mit Blick aufs Meer.

biarritz
...nur durch ein niedriges Mäuerchen von der Promenade getrennt...

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