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Wenn im Juli in Berlin der letzte violette Streif am Horizont, der noch an den Sonnenuntergang erinnert, am Erlöschen ist, folgt üblicherweise auch im Sommer, am 14.Juli, nichts als rabenschwarze Nacht. Nicht für Frank. Der fliegt nämlich mit der untergehenden Sonne um die Wette und schafft es, sie noch einzuholen. Nennt man das nun einen Sonnenaufgang oder einen umgekehrten Sonnenuntergang, wenn der Film sozusagen rückwärts läuft?
Ísland liegt so weit im Nordwesten, dass es im Juli nicht richtig dunkel wird. Am Boden, wo Franks Mietwagen parkt, ist die Sonne um 1 Uhr nachts zwar weg, aber stell dir mal vor, du fährst an einem normalen Nachmittag unter dicken, dunklen Gewitterwolken von Keflavík nach Grindavík; es ist zwar duster, aber keine Nacht. Du kannst ohne Licht Zeitung lesen, aber verdirbst dir dabei die Augen. Bei Frank gibt es nicht mehr viel zu verderben, aber er las auch keine Zeitung, sondern Verkehrsschilder, um sein vorgebuchtes Hotel nahe der Blauen Lagune (Bláa lónið) noch vor dem Morgen zu erreichen.
 


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Falls du glaubst, dass das eine blaue Lagune ist, auf die der verschlafene Blick aus dem Fenster fällt, dann hast du noch keine Lagunen gesehen. Das Häuslein, in dem Frank am Fester hockt, steht nämlich mitten in einem Lavafeld, und das Moos auf den erkalteten Brocken ist noch nicht allzu alt. Die Blaue Lagune schwappt in 783 Metern Entfernung und ist nur blau, wenn man ordentlich Zyankali reinkippt, was Frank freilich nicht tat. Erstens hatte er gerade nicht genug Zyankali zur Hand, und zweitens saßen in der Grauen Lagune schon am frühen Vormittag ganze Busladungen von Touristen aus dem nahen Reykjavík und dem fernen China und suhlten sich in dem dampfenden vulkanischen Saft, der auf dieser Insel eigentlich überall unter der Erdoberfläche brodelt.
Warum Schnorrerfrank nicht mitsuhlte? Der Preis für das Pool verschlug ihm die Sprache. Zwar ist auch die Miete eines Handtüchleins im Preis von 8100 Kronen enthalten, aber umgerechnet ergibt das durchaus 69 € - lieber stellt er sich unter die Dusche, die ist im Preis des Hotelzimmers mit inbegriffen. Samt Handtuch. Mit 69
€ pflegt Frank üblicherweise eine gute Woche zu überschnorren.


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Nicht in Ísland. Die Krone ist aus Blech, bestenfalls; um 1944 ergaben 100 Aurar noch eine massive Krone, und eine Rolle Drops bekam man für 65 Aurar. 1980 kostete eine Rolle Drops 500 Krönchen. Eine neue Krone (= 100 alte Kronen) schuf Abhilfe, aber heute kostet eine Rolle Drops schon wieder 500 Kronen, neue Kronen. Nicht dass Frank dropssüchtig ist, das war ja nur ein Beispiel. Aber einmal Suhlen kostet charmante 8100 neue Kronen. Das schlägt dem gutmütigsten Fass die Corona ins Gesicht. Stell dir mal vor, wie viele Rollen Drops man dafür bekäme. Die Isländer lassen sich gleich im Voraus für ihre galoppierende Geldentwertung bezahlen und nehmen, was sie kriegen können. Es ist vermutlich das teuerste Land Europas.
Der kostenlose äußere Teil der Lagune ist zu seicht, zu kalt oder, stellenweise, zu heiß - jedenfalls steckt Frank nur einen Finger rein, freut sich über die durch Wolken und Dämpfe hervorblinzelnde Sonne und setzt sich dann in Bewegung - Start einer Rundfahrt, einmal rund um Ísland.

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Von Keflavík, wo der internationale Airport von Ísland liegt, führt eine Schnellstraße rein nach Reykjavík, aber Frank nödelt durch die Lava-Mondlandschaft nach Süden, wo Grindavík liegen sollte. Damals existierte Grinavík und war noch nicht von der Lava verschlungen, aber Ísland ist dabei, auseinanderzureißen, und da quillt ab und zu das heiße Blut der armen Sünder aus der Hölle an die Oberfläche. Als Frank merkte, dass die Hüttlein und Gehöfte, die er dort antraf, wo die Chaussee ans Meer gelangt, den Ort Grindavík darzustellen versuchen, fiel ihm ein, dass in Reykjavík und dessen Wohnvorstädten Kópavogur und Hafnarfjörður mehr als 80% der Gesamtbevölkerung der Insel wohnen sollen, weshalb andere Orte selten mehr als 1000 Einwohner aufweisen. Man kennt sich, weiß auch, wo die Trolle und Elfen wohnen und dass ab Ende Mai eine Touristenschwemme das Land überflutet.
Jedenfalls gibt es in Grindavík zwar viel Grün, aber keinen Supermarkt und wenig mehr zu sehen als Íslandponys, einen Leuchtturm und auf den Klippen des Kaps
etliche Schiffswracks, deren Steuermänner den Leuchtturm übersehen oder sein Warnlicht für Venus oder Aurora oder sonst irgendeine Elfenblondine gehalten hatten.
Zu seinem Erstaunen entdeckte Frank zwischen der Lava nicht nur Moos, sondern eine recht reichhaltige Flora; überhaupt fiel ihm schon an seinem ersten Tag auf, dass es im kurzen isländischen Sommer überall heftig blüht. Kein Hibiskus und keine Orchideen natürlich, aber viele unscheinbare, wunderhübsche Blümchen, die bunte Flicken zwischen die Lava zaubern.


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Irgendwann vor vielen Jahren hatte Frank einmal zwei isländische Briefmarken gesehen; auf der einen stand ELLIHEIMILI, und auf der anderen stand ÞINGVELLIR. Das war bis zu seiner Ankunft sein gesamter isländischer Wortschatz. Weit kommt man damit nicht, denn Elliheimili bedeutet "Altersheim", und Þingvellir heißt die Gegend, in der Frank soeben angetöffelt kommt. Was ein Thing ist, weiß jeder, der Thorsten-Steiner-Latschen trägt und seine Liebesbriefe in Runen abfasst. Jedenfalls haben sich die isländischen Wikinger, wenn es galt, eine Rauferei und deren unliebsame Folgen zu schlichten, in dem weiten Tal getroffen und ein nordisches Meeting, eben ein Thing, abgehalten. Wenn das Wetter zu Zeiten unsrer Vorväter so war wie heute, dann wurden die bärtigen Recken ziemlich nass, und ihre langen Messer fingen an zu rosten, was alle Ausgrabungen bestätigen; Nirosta-Klingen aus Solingen kannten sie noch nicht.
Was die Runenfreunde aber meistens nicht wissen, ist, wie man das schöne lange Wort ausspricht. Isländisch ist nicht jedermanns Sache, logo. Also: 
Þingvellir sollte man wie englisch think plus wettlir, also Thinkwettlir, aussprechen, mit Lispel-th, dann kommt man der Sache schon recht nahe. Und wer über Altersheime konferieren möchte, ist gut beraten, von Ettlihejmili zu reden.


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Mit Recht fragst du dich, ob der Frank langsam dement wird, in einem Reisebericht über Alzheime oder Altersheimer zu räsonieren. Du mahnst mich da ganz recht, aber da ist halt der Sprachfreak mit ihm durchgegangen. Nimm's leicht.

Dafür erzähle ich dir, was im UNESCO-Welterbe Þingvellir im Jahre 2017 los ist, wenn keine Wikinger, sondern nur Touristen herumwuseln. Zur Zeit der Wikinger war das Tal noch nicht so breit wie heute, denn irgendwelche klugen Geometer (Landvermesser) haben herausgefunden, dass es sich Jahr für Jahr um 7 cm verbreitert. Das tut dem Erdboden nicht gut, denn es tun sich Spalten auf, die immer tiefer werden, Risse, die auch den Fels nicht verschonen, und wenn du da versehentlich reinfällst und eingeklemmt bist, musst du acht Jahre warten, bis der Spalt einen halben Meter breiter geworden ist. Irgendwann wird der Spalt so breit werden, dass es Ísland zerreißt, denn der Westen will unbedingt nach Amerika auswandern, während der Osten in Richtung EU driftet, das kennst du ja so ähnlich aus einigen Regionen Osteuropas; dort strebt freilich der Teil, der nicht in Richtung EU driftet, meines Wissens nicht nach Amerika.
Aber lassen wir die Politik aus dem Spiel und widmen uns lieber der Geotektonik. Die zerrt hier nämlich am Untergrund, und manchmal tut sich ein Feuerschlund auf und pustet ein bisschen Lava an die Oberfläche, das kennt man in Ísland nicht anders.


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Fragst du einen Isländer nach der Geotektonik, dann schaut er dich milde lächelnd an, als hättest du überhaupt keine Ahnung von gar nichts. Und dann erklärt er dir nachsichtig wie einem Anfänger, dass es in Wahrheit Trolle sind, die dort im Untergrund hausen und den Leuten einen Schabernack spielen, wenn man sie ärgert. Mit Trollen ist nicht zu spaßen, sie sind giftiger als Fliegenpilze und in Ísland mindestens so zahlreich wie die vielen Schäfchen auf den kargen Wiesen. Und wenn du sie ärgerst, geht es meistens nicht gut aus für den menschlichen Übeltäter; ein gebrochenes Bein ist das Mindeste...
Frank hat ja lange nicht an solche Schauergeschichten geglaubt; auch die Iren und andere Insulaner glauben an allerlei Gespenster; Wüstenbewohner haben Visionen von Göttern und Propheten. Wo man sich umhört, glauben auch außerhalb von Inseln und Wüsten erstaunlich viele Leute irgendwelche Märchen vom Weltuntergang am 26.November, von der Erschaffung der Welt durch ausgeflippte Aliens oder von plötzlicher Erleuchtung beim Rasenmähen.
Aber, um es vorwegzunehmen, in Akureyri ist Frank tatsächlich einer leibhaftigen Trollfamilie samt Haustier begegnet, und seither nimmt er die isländischen Erzählungen mit nur noch halb so viel Skepsis auf.

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Also, deine Bemerkung von der Ähnlichkeit des Herrn Troll mit Frank Eschersheimer möchte ich mal geflissentlich überhört haben. Und sei vorsichtig, dass Papa Troll sich nicht beleidigt fühlt durch deine Vergleiche.

Gar nicht so weit von
Þingvellir wohnen humorige Trolle unter der Oberfläche und machen sich ein Späßle draus, heißes Wasser in den wolkigen Himmel zu pusten. Einheimische schlagen da vorsichtig einen großen Bogen herum, denn mit Trollen ist nicht gut Kirschen essen. Na ja, in Ísland geht es ohnedies mehr ums Hering-Essen. Frank ist ein großer Fischfreund, nein, keine Goldfische im Aquarium, sondern Meeresziefer auf dem Teller, und richtig häppie, dass es in jedem Hotel zum Frühstücksbuffet nicht nur Müsli, Marmelade und Nutella gibt, worauf sich die meisten Touristen stürzen, sondern auch selbstgebackenes, frisches Brot und Matjes-, Dill- und Bismarck-Hering, worüber sich der Frank hermacht.
Aber das hat nichts mit den Trollen zu tun. Also, die Trollfontänen nennt man Geysir, schon mal gehört, was? Alle zwei Minuten und zwölfzig Sekunden plusminus fünf Minuten und achtundsiebzehn Sekunden zischbifft es aus einem Loch im nassen Erdboden, und eine heiße Dusche startet in Richtung Ozonloch.

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Mit klammen Fingern am Auslöser der Fotohandys und Cameras stehen Touristen ringsherum, genau wie am Gepäckausgabeband am Airport. Und alle heulen auf wie bei einem Feuerwerk, ahhhh und ohhhh und whoooouw, wenn es wieder loszischt. Ist aber eher Feuerlöscher als Feuerwerk, würde ich mal sagen. An den unterschiedlichen Heullauten erkennt man, dass es sich um diverse Nationalitäten handelt, und die chinesischen Großgruppen sind unüberseh- und -hörbar. Man sagt ja, dass es nur zwei Sprachen gebe, in denen man nicht flüstern könne, Chinesisch und Amerikanisch. Unüberhörbar war deshalb auch die Bemerkung eines Amerikaners, es handle sich vermutlich um einen Troll mit Namen Kim Jongun, der da im Untergrund hocke und Raketenstarts simuliere. Frank ist sich da nicht so sicher, denn einen vollfeisten Hundertkilo-Troll mit Klobürstenfrisur hat er noch nirgendwo angetroffen. Aber man kann ja nicht alles wissen, und aus Politik und solcherart pseudowissenschaftlichen Diskussionen pflegt Frank sich herauszuhalten.

Bis zu 20 m Höhe schafft es der unermüdliche Geysir, auch ohne Sprengkopf. Aber nebenan ist noch ein feuchtes Loch, und ein Info-Schild besagt, dass hier ein Supergeysir seinen Auftritt vorbereite, der es auf satte 200 m Höhe bringt. Also Qualität statt Quantität. Der Nachteil aus der Sicht der Fototouristen ist, dass dieser Geysir nur an geotektonischen Festtagen, also nach starken Erdbeben oder Vulkanausbrüchen, aktiv wird. Beides wurde Frank nicht zuteil während der dreiviertel Stunde, die er am und um den Geysir verbrachte.


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Wem das Wasser des Geysirs noch nicht ausreicht, der kann sich am nahen Gullfoss mehr von der Sorte ansehen; dort stürzt sich ein ganzer Fluss in einen Canyon. Bei schönem Wetter sieht es sicher noch dramatischer aus, aber heute weiß man nicht so recht, ob der Gullfoss (sprich: Güttelfoss) oder die schwarzgrauen Wolken mehr Wasser runterschütten. Ich erzähle dir deshalb lieber die Geschichte der Frau Sigríður Tómasdóttir, deren Denkmal neben dem Wasserfall steht.
Diese Walküre war die Tochter des Bauern Tómas Tómasson, dem das Land gehörte, auf dem der Gullfoss rauscht. In der gesamten ersten Hälfte des 20.Jhs versuchten etliche Firmen, das Land zu kaufen, um aus dem Wasserfall ein Wasserkraftwerk zu machen.
"Ich verkaufe doch nicht mein Kind!", schnaubte der sture Bauer und wies alle hingeblätterten Millionen-Offerten ab. "Mein Kind", das war nicht
Sigríður, sondern der Wasserfall.
Nach dem Tod
des alten Tómas wurde das Land enteignet und ging in Staatsbesitz über.
"Jetzt kommt das E-Werk!", jubelten die Investoren, aber sie hatten nicht mit
Sigríður gerechnet, die noch viel granitköpfiger war als ihr Papa. Sie machte den Gullfoss für Touristen zugänglich und bombardierte die Behörden mit Eingaben, Vorschlägen und Protesten, drohte sogar, sich hineinzustürzen, bis sie erreichte, dass der Wasserfall unter Naturschutz gestellt wurde.


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Weil sich dem Frank allmählich die Fluten des Himmels und der Erde wie ein Nagel ins Hirn bohrten, machte er als nächstes in einem Ort namens Flúðir Halt. Da fluten nämlich weitere Fluten. Genauer gesagt, ein Open air pool, genau wie die Blaue Lagune, nur etwas weiter weg von den Busladungen aus Reykjavík und Shanghai, etwas abgelegener, kleiner... und BILLIGER! Zwischen Treibhäusern, geothermisch beheizt, in denen Tomaten angebaut werden, versteckt sich der Eingang zum Thermalbad Gamla Laugin, das auch heute noch als Geheimtipp gelten kann. Hier kriegst du sogar, wenn du so verschnarcht aussiehst wie der Frank, einen Seniorenrabatt und darfst für nur 1400 Kr. beliebig lang reinhoppen. Dusche, Handtuch und Schließfach sind im Preis inbegriffen. Was hätte sich unser Schnorrerfrank heute geärgert, wenn er sich für den fast sechsfachen Preis mit der Blaugrauen Achttausendkronenlagune eingelassen hätte!
Es geht also auch anders, und so macht das heiße Bad doppelten Spaß, zumal der Regen sich eilig in Richtung Schottland verzieht.
Frank hat trotzdem den ganzen Badesee beinahe für sich allein, obwohl ihn Regen beim Baden im Freien nicht sonderlich stören würde


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Der Regen mag sich verziehen, die Wolken sind noch da und hängen schwer über einer öden Landschaft längs des Flusses Þörsa. Frag mich bloß nicht, was Frank da will. Kein Strauch, kein Schaf. Kein Wunder, denn der Boden ist schwarzbraun, nicht grün. Vulkanasche fressen Schafe nur, wenn sie nichts Anderes haben. Ich sag dir, in Ísland müsste man eine Helmkamera tragen, die alle 20 Minuten ein Foto von der Piste und der Landschaft ringsumher aufnimmt. Alle zwanzig Minuten wechselt garantiert das Panorama, als fahre man durch verschiedene Länder. Blümchenwiesen, Lavafelder, schroffe Berge, heiße Quellen, aber alles ist spektakulär. Ka, die beim Autofahren gerne ein Nickerchen macht, ist hellwach und lässt alle zwanzig Minuten ein "ohhh" oder "ahhh" vernehmen. Sie ist nämlich ebenfalls polyglott.
Jedenfalls sieht es hier
nicht mehr nach Tomaten aus. Aber du musst bis zur einzigen Brücke über den breiten Fluss, der sich durch das finstere Tal windet, stromauf nödeln und danach dieselben 20 Kilometer auf der anderen Flussseite wieder stromabwärts. Dabei kommst du an der Täterin vorbei und kannst von Glück reden, wenn sie dir keine neue Asche aufs Haupt streut. Leider ist der imposante Gipfel der Hekla, des aktivsten Vulkans der ohnehin vulkanreichen Insel, in Wolken gehüllt, und wozu sie imstande ist, sieht man am meterdick mit relativ frischem Auswurf bedeckten Boden. Vielleicht produziert sie ja auch ihre Wolken selbst, wer weiß das schon.


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Nur ein wenig Moos hat sich getraut, auf dem teppichweichen Vulkankies Fuß zu fassen, und es muss damit rechnen, dass es, wie alles Schöne, zum Sinnbild taugleicher Vergänglichkeit werden könnte. Aber Moos ist geduldig.
Die Hekla (1491 m) ist zwar bei weitem nicht Íslands höchster Berg, aber mit so viel Schnee bedeckt, dass die weißen Stellen fast bis ins Tal hinabreichen. Als hochaktiver Vulkan hat sie eine respektheischende Aura, denn in ihrer näheren und weiteren Umgebung findet sich keine Spur menschlicher Siedlungen. Der nächste Ort heißt Hella, und wenn dieser Name dieselbe Bedeutung hat wie das alte germanische Wort, dann möchte man ungern dort wohnen, wo Schwefel und Glut der Hekla fast in Riechweite sind. Höllisch sieht es dort indes keineswegs aus, denn der Ort bettet sich in sommersattes Wiesengrün, das nun sogar im Sonnenlicht so friedlich glänzt, als sei ganz Ísland eine weite Prärie. Click, die Helmkamera hat die neue Landschaft eingefangen, zwanzig Minuten
sind seit dem Todesstreifen der Hekla vergangen.
Ab Hella tuckert Frank wieder über den Hringvegur (sprich: Rinkwäjür), die Ringstraße, Nationalstraße Nr.1, die ganz Ísland umrundet. Und auf dieser Straße ist im Sommer die Hella los. Etwa 90% oder mehr des Verkehrs wird durch den Tourismus verursacht, an einigen Stellen entstehen veritable Staus, beispielsweise an jeder "einbreið brú" (einspurige Brücke), und wo sich die Fahrzeuge auf einem weiten Parkplatz zu Blechfeldern ballen, wartet kein Autofriedhof, sondern eine Sehenswürdigkeit, man braucht gar kein Guidebook. In unserem Fall ist es ein Fall namens Seljalandsfoss, wo die Leute Schlange stehen, weil ein Pfad HINTER dem Wasserfall entlangführt.

selja

Weil Frank bei dem starken Wind, der heute den schmalen Wasserfall zerstäubt, plitschnass würde, verzichtet der wasserscheue Gesell auf den glitschigen Touristenparcours; wer hinter einem richtig gigantischen Wasserfall von den Dimensionen des Rheins durchspazieren möchte, sollte nach Canaima in Venezuela fahren, danach ist alles andere nur noch Gartenschlauch.
Sicher ist dir aufgefallen, dass du auf kaum einem der Fotos einen Baum siehst. Richtig. Es gibt nur selten mal einen. Jedenfalls da, wo sich Frank bisher durch Ísland bewegt hat. Das Klima und der Boden sind nicht besonders baumfreundlich, und auf die erste Begegnung mit der für Teutonen unabdingbaren Waldeslust muss Frank, so viel kann ich dir verraten, noch eine Woche lang warten. Aber es gibt noch mehr, was in Ísland bisher noch nicht zu sehen war. Verkehrsampeln zum Beispiel. Nur in der Mongolei stehen noch weniger. Oder Uniformierte am Airport. Kein Zoll, keine Polizei, keine Sicherheitsbeamten. Nach Ísland kannst du einfach so reinschneien, niemand interessiert sich für deinen Pass und Kofferinhalt. Erzähl das mal einem Amerikaner....
Wenn sich wieder Blechlawinen über eine Wiese ergießen, rat mal, was es da gibt...


skogafoss

Klarer Fall bei diesem Regenwetter, ein Wasserfall. Sieht fast so aus wie der vorige, heißt aber anders, nämlich Skógafoss. Wie du an der Kleidung der Fotosafari-Touristen siehst, wird es bei starkem Wind und nur vorübergehend aufklarendem Himmel in Ísland schnell fröstelig. Nix T-Shirts, die man zwar in den Souvenirklitschen kaufen kann, aber interessanter sind die dicken Pullover aus isländischer Schafwolle. Leider auch deutlich teurer.
Dass der Wind so eisig bläst, hat aber noch einen anderen Grund; Frank nähert sich nämlich dem großen Inlandgletscher Vatnajökull (sprich: Wannajäküttel), und gleich hinter dem treuherzig gluckernden Skógafoss lauert der Vulkan Eyjafjallajökull (sprich: Ejjafjattlajäküttel), der vor wenigen Jahren ein bisschen Dampf und Lava abgelassen hat. Durch den dicken Gletscher hindurch. Die Luft wurde so aschehaltig in Europa, dass die Flugzeuge tagelang am Boden bleiben mussten. Jetzt ist wieder ein Eisdeckel drauf, und wenn du mal in der Arktis einem Eisberg mit schwarzen Schlieren begegnest, dann weißt du, wie er zu seinem Trauerrand kam.

Jetzt hör auf zu mosern, dass schon seit dem letzten Wasserfall die Helmcamera immer wieder die gleiche Landschaft abbildet. Stimmt ja gar nicht. Guck mal, wie es im nächsten Ort Dyrhólaey aussieht, den würdest du nämlich eher an der Algarve ansiedeln!  Rat mal, warum da keine Liegestühle und Badegäste herumliegen auf dem schwarzen Strand, den ein, nun ja, isländisches Reisemagazin einst zu einem der zehn schönsten Strände des Erdenballs gekürt hatte.


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Weil die nämlich abheben würden. Windstärke 10 oder 11, du musst dein Handy gut festhalten, wenn du den schwarzen Sand und die Reynisdrangar, die Drei Trolle, ablichten willst - das sind die Felsen im Meer vor dem Kap, dem südlichsten von Ísland. Und deine Frisur sieht aus wie nach einem Fallschirmsprung. Außerdem sind es im Schatten vermutlich etwa kühlschrankige 10 Grad.
Die drei Trolle Skessudrangur, Landdrangur und Langsamur waren einstmals damit beschäftigt, einen Kahn an Land zu ziehen. Da Trolle aber -mit Ausnahme des in Akureyri sesshaft gewordenen Troll-Rentnerpaars- nachtaktive Lebewesen sind, sind sie versteinert, als sie mit ihrem Gerödel bei Sonnenaufgang noch immer nicht fertig waren - da war's um sie geschehen.
Aber kein Wunder, wenn einer von ihnen Langsamur heißt; sie hätten stattdessen seinen Neffen, den Blitzschnellur, mitnehmen sollen....


Warum der Sand so kohlpechrabenschwarz ist, fragst du doch wohl hoffentlich nicht. Ísland ist schließlich aus Lava geformt, mit einem Eisdeckel obendrauf, der sich im Sommer zwar auf den Vatnajökull und ein paar kleinere Placken im Inland beschränkt, im Winter aber deutlich zeigt, warum die Insel Ísland (Eisland) heißt.


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Den schwarzen Strand und die versteinerte Trollerei findest du jedenfalls nahe der Stadt Vík í Mýrdal, dem Geschäftszentrum des Südens. Allerdings darfst du dir keine "Stadt" vorstellen. Eine Kirche und ein paar Häusle drumherum, ein kleiner Hafen, eine Tankstelle und daneben ein paar Geschäfte, die direkt am Hringvegur liegen und es auf die Touristen abgesehen haben. Schließlich muss zwischen Mai und September der Umsatz eines ganzen Jahres hereinkommen; danach sind die Isländer nämlich weitgehend unter sich.
Sogar ein Restaurant gibt es da, aber dem Frank reicht ein Blick auf die Preise der Speisekarte, um den Schnellimbiss anzusteuern. In Ísland können eigentlich nur Onassis und Bill Gates im Restaurant speisen. Allein das Hauptgericht kostet schon ab 30 €, und wenn du auch ein Süppchen, Dessert und was zu trinken dazu willst, kommst du schnell auf das Doppelte. Beim Imbiss kriegst du deine Fish'n'chips, dazu einen amerikanischen Met namens Cola, für 23,50
€. Das ist zwar auch zum Haareausraufen, aber andernfalls musst du dir deinen Lachs selbst fangen. Durch die Nachrichten ging in diesem Sommer die Meldung, dass clevere Amerikaner mit Campingwagen sich ein Lämmchen einfingen und auf den Spieß steckten, worüber der Besitzer nicht sehr amused war. Statt Geld zu sparen, mussten sie 7000 € für ihre Beute berappen. Man soll seinen Jagdinstinkt besser im Zaum halten und sich am Imbiss gütlich tun... Da kostet ein Lammbrätchen ebenfalls 23,50 €, samt Softdrink.


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Also, den Vatnajökull habe ich schon ein paarmal erwähnt, jetzt rückt er allmählich näher. Íslands großer Gletscher, Íslands Eisdeckel, so groß wie das Saarland. Du kannst auch drauf, mit Snowmobil, Hundeschlitten, Helikopter oder zu Fuß, aber nicht mit dem Sommerreifen-Mietwagen, den Frank um die Insel kutschiert. Was die erwähnten Möglichkeiten kosten, sprengt den hier zur Verfügung stehenden Raum; wenn du nicht weißt, wohin mit deinen Nuggets, sieh dir die Preislisten im www an.
Frank tröstet sich damit, dass er in Kürze in Grønland noch genug Gletscher vor seine Brille bekommen wird, die überdies größer sind als ganz Zentraleuropa; also begnügt er sich mit schönen Aussichten und frischer Luft.
Jetzt clickt wieder die Helmkamera, die Aussichten aus dem Autofenster wechseln inzwischen alle zehn Minuten von grüner Wiese zu knubbeligen Lavafeldern, von Kieselbettflüssen zu Blumen-Auen, von blauem Meer zu spitzigen Schneebergen, also du bekämst denn Mund nicht zu, wenn du bei jedem Traumblick ohhh oder ahhh rufen wolltest. Zum Beispiel angesichts des endlosen, hubbeligen Lavafelds, das von einer dicken Schicht Moos überwachsen ist.


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Weißt du, wie sich das anfühlt, wenn man da drauf herumläuft? Wie die Matte unterm Reck. Bodenturnen, Trampolin, Schaumstoffmatratze, Perserteppich. Wenn das nicht so empfindlich wäre und unter strengem Naturschutz stände, würde man am liebsten juchheissassa darauf herumbollen, es ist matratzenweich und warm. Und nicht mal feucht, denn trotz bewölkten Himmels über dem Vatnajökull, der sich am Horizont schon abzeichnet, hat es seit gestern Morgen nicht mehr geregnet.
Ein paar Minuten weiter glaubst du, auf einem wässerigen Exoplaneten gelandet zu sein. Das Gletscherschmelzwasser mäandert als vielverzweigtes Flussdelta zum nahen Meer, durch dunklen Lavakies, von keiner Menschenhand je berührt.
"Glaubst du", habe ich geschrieben. Denn von wegen "keine Menschenhand" - Frank steht auf der Brücke, die isländische Ingenieure über all das viele Wasser gezimmert haben, und die Bagger, die am linken Bildrand ursprünglich zu sehen waren und den Damm mit den Raupenkettenspuren
vorne links aufgehäufelt haben, die hat er weggeschnitten. Ändert aber nichts daran, dass es eine tolle Aussicht ist. Und der Südwestrand des Vatnajökull ist wieder ein Stück näher gerückt.


080

Aber du kannst dir bei diesem Anblick sicher denken, dass es von hier bis zum nächsten Supermarkt ziemlich weit ist, und dass du bei 6 Grad in der Nacht unter der Brücke nächtigen musst, wenn du dir in der Hauptsaison in Ísland nicht rechtzeitig ein Hotelbett vorbuchst - allzu viele gibt es da nämlich nicht. Stattdessen findest du die allerlieblichsten Sumpflandschaften mit glucksigen Bächlein, Schnepfen, Rallen, Schäfchen und Libellen, eine Idylle, viel schöner als alles, was von Menschenhand geschaffen worden ist. So könnte
auch Kirchheimbolanden vor fünfzig Millionen Jahren mal ausgesehen haben, ohne Dönerbude, Tankstelle und Arbeitsamt, und ohne den homo, der in seltenen Ausnahmefällen auch mal sapiens sein kann.
Jetzt bin ich wieder in einen fachfremden Diskurs abgerutscht; kann halt nicht raus aus meiner kirchheimbolandener Haut, bin und bleibe auch in Ísland ein tumber Narr, der sich aber über das gemütliche Bächlein freut und über das Fagottorchester der quakenden Frösche.


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Wenn deine Analyse des eingefügten Fotos zu dem Ergebnis kommen sollte, dass die Ausläufer des Vatnajökull womöglich in erreichbarer Nähe der Ringstraße liegen könnten, dann hast du dich nicht getäuscht. An zwei Stellen siehst du schon aus weiter Ferne, dass sich wahre Herden von Vehikeln zusammengetan haben, um Rast zu halten, und weil die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um einen Gebrauchtwagenmarkt handelt, eher gering ist, tippst du vermutlich aus Erfahrung auf einen Wasserfall. Wir reisen zwar von Fall zu Fall, aber von Fall zu Fall auch mal nicht unbedingt zu einem Wasserfall, weshalb du diesmal leider die Millionenfrage versabbelt hast
Die große Attraktion dieser Strecke sind die Sárlóne. Erst kommt der Fjallsárlón, und dann der Jökulsárlón, und gemeint sind damit die Enden der Gletscher, die der Vatnajökull zu Tal schickt. Sie schieben sich samt Schmelzwasser und abgeschliffenem Geröll in Richtung Hringvegur, und jetzt kommt die globale Erwärmung ins Spiel: Bevor sie das Meer erreichen, zertröpfeln sie nämlich zu kaltem Wasser, das sich an der Geröllhalde, die man Endmoräne nennt, zu einem See staut.
Der kleinere 
Gletschersee heißt Fjallsárlón, und weil sein Gletscher viel Lehm mit sich führt, ist sein Wasser milchiggrau, aber dafür siehst du den Gletscher aus nächster Nähe, vor allem, wenn du, wie unser guter Frank, für ein schönes Foto weit in den See hineinschwimmst bei herrlichem Badewetter, fast 13 Grad. Über null.

 

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Außer dem Frank schwimmen da auch ein paar
sehr fotogene, abgebrochene Eisbrocken drin herum, und noch bevor sie auftauen, ist Frank schon beim nächsten Eissee, dem berühmteren Jökulsárlón. Dort drängeln sich mindestens doppelt so viele Touristen und hinterlassen eine breite Spur von Pappbechern, Zigarettenkippen und zerschellten Regenschirmen, aber das Wasser ist klarer, das Eis auch, und wenn du mal eine schwarze Eisscholle erblickst, dann ist das wie mit den Schäfchen, da findest du ja auch immer ein schwarzes mit dabei.
Wie bitte, du fühlst dich verschaukelt? Die Mendelsche Vererbungslehre sei nicht auf Eisschollen anwendbar? Na, dann bemüh dich mal selbst um Aufklärung und denk dran, wie viele Vulkane alle paar Jahre die Eisoberfläche einschwärzen, so ist das eben in dem "Land aus Feuer und Eis" und hat nichts mit der industriellen Umweltverschmutzung im Präcambrium zu tun, wie dir die Fake News Medien einreden wollen.


092

Ein bisschen Eis schafft es bisweilen auch bis zum kiesigen Ufer der Moräne, liegt auf den Kieseln und schwitzt sich in der Sonne zu Tode. Tropfend zerrinnen die Jahrtausende, denn wer weiß, wann der Schnee fiel, der später zum Gletscher wurde. Sechseckige, frisch gebildete, federsachte Eisflocken, deren Strukturen in den nächsten Stunden allmählich zu körnigen Kristal
len zerfließen. Einige Monate später ist die Schicht kompakt und wird zu Firn, der sich unter Druck nach spätestens fünf Jahren in große Gletscherblöcke verwandelt und mit einem Affenzahn von drei Metern pro Jahr nach unten fließt. Das ist es, was jetzt in der Hand der Touristen zu kaltem Wasser zerschmilzt. Die Pyramiden waren noch nicht gebaut, die chinesische Mauer existierte noch nicht, weder Homer noch Zarathustra noch Jesus noch Lady Gaga waren geboren; vielleicht stiefelte Ötzi gerade durch den Schnee der Hochalpen und erlag einem heimtückischen Pfeil... Frank steckte sich ein Stück Eis in den Mund und gedachte der vielen, vielen tausend Jahre, die soeben durch seine Kehle rannen.
Ein Alter, das uns armen Erdenwürstchen auch nicht annähernd vergönnt ist...


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