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kalwom

Wie heißt das Nest? Ist ja unaussprechlich, und niemand kann sich das merken!
Meinst du Qeqertarsuatsiaat? Ist doch ganz einfach: Höhör, Tors! Watz, jäät!  - und es hat keine tiefere Bedeutung als "eine von den größeren Inseln". Kalaallit gehen die Dinge meist sehr pragmatisch an.
Qeqertarsuatsiaat zählt übrigens zu den kürzeren, prägnanten Vokabeln
der grønländischen Sprache. Zeitungsartikel lesen sich beispielsweise so:

Atuarnerup nalaani ilinniartitaanikkut pitsaassutsit annertunerpaat atorlugit, meeqqat atualeqqaarnerininngaanniit ilinniarnertuunngornissaasa tungaanut ilinniartitaanerup pitsaassusaa nutaaliornikkut periusissat naligiimmik periarfissiisussat pisariaqartippavut, ....

(Auf Deutsch: Wir brauchen innovative Modelle und einen gleichberechtigten Zugang zu hochwertiger Bildung auf allen Ebenen, von der frühen Kindheit bis zur Hochschulbildung,...)


Ich gehe mal davon aus, dass dich Politikerworte aus Westgrønland nicht so brennend interessieren, dass du den ganzen Artikel lesen möchtest. War nur ein Exempel für die Eleganz des Kalaallisut.
Jedenfalls steuert Franks Traumschiff jetzt durch immer noch ruhige See ins Abendrot, das allmählich wahrhaftig rötlich
aussieht, je weiter es nach Süden geht, aber richtig rot ist nur die Sarfaq Issuk, die einigen behäbig einhertreibenden Eisschollen elegant ausweicht, während über dem Festlandufer der Mond aufgeht. Aha, eine grønländische Beinahe-Vollmondnacht, wie romantisch!


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Eine Seefahrt, die ist lustig.... aber nicht sehr lange nach der Romantik war vorerst mal Schluss mit lustig. Während die Eisschollen zahlreicher wurden, verdunkelte sich allmählich der Himmel, und das nicht allein wegen der untergehenden Sonne. Nebelschwaden tauchten auf, erst einzelne Fetzen, die dem Frank wie feuchte Lappen um die Ohren wehten, aber dann wurde es rasch unromantisch. So ist das also in Südgrønland...
"Sie sieht stabil aus, sieht robust aus...", hörte Frank sich murmeln, während er
im plötzlich eisigen Fahrtwind an der Reling stand und mit Röntgenaugen auf die dunkelgraue Wand starrte, in die sich die Sarfaq Ittuk mit ungebremstem Tempo hineinbohrte. Bald fielen nur noch vereinzelte Sonnenstrahlen auf die Fläche zwischen Nebelhimmel und Eismeer, und Frank eilte, seinen Daunenanorak herauszukramen, der seit Berlin, wo er mehrfach zum Einsatz gekommen war, im Koffer dösend Urlaub machte.


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Na gut, so ein neuzeitlicher umiaq hat Radar und GPS an Bord und lässt es nicht darauf ankommen, wer stärker ist, Rumpf oder Eisberg; trotzdem blieb Frank noch lange wach und hatte wenig Lust, sich in seine Koje zu betten. Das Schiff fährt immer, Tag und Nacht, mit Ausnahme der kurzen Stops in den Häfen. Wenn sich die Crew abwechselt, ist das auch okay, denn die Nacht ist in dieser Jahreszeit hell, und im Winter fährt kein Küstenlinienschiff. Wer irgendwohin will, sollte in den vier Sommermonaten reisen, für den Rest des Jahres muss er sich ein Illu bauen und überwintern.
Aber das Treibeis wurde zusehends dichter, und der pujuq, der Nebel auf dem Meer, auch; Frank fand das Spielchen nicht sonderlich lustig. Auch mit Daunenanorak würde er im Notfall keine zehn Minuten im Eismeer überleben. Es war aber beruhigend zu sehen, dass die Kalaallit an Bord lustig waren, ob vom dänischen Bier oder von der netten Gesellschaft inspiriert, weiß man nicht; jedenfalls kloppten sie Karten, sangen Lieder, saßen in der Bar und erzählten sich was, während es von Zeit zu Zeit an den Außenwänden der Sarfaq Ittuk hörbar schrappte und klongbongte.


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So viel Eis, da kann man gar nicht mehr ausweichen, sondern nur noch hoffen, dass kein bösartiger Troll einen dicken Jahrhundertbrocken in den Wasserweg schiebt.
Vielleicht bewirkten ja die Münzen der Buben, die seit Aasiaat auf der Außenbank von Franks Fenster froren und brav nach Süden mitschaukelten, dass der rote Renner am frühen Morgen unversehrt in Paamiut einlief. Der Ort war vom 
pujuq verschluckt, und es war richtig kalt an Deck, brrrr. Allerdings lichtete sich im Laufe des Vormittags der Nebel und zeigte, dass das Wetter im Prinzip ebenso sonnig war wie an den anderen Tagen auch, wenn der Blick auf die Küste vorübergehend frei wurde. Das Schiff leerte sich immer mehr, je näher die Endstation der Seefahrt am Südende der riesigen Insel rückte. Und das Eis war, bis auf einige majestätisch und schwanengleich einherdriftende weiße Riesen, inzwischen weitgehend verschwunden.


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Am Nachmittag, beim Halt in Arsuk, war es wieder sonnig und blieb es auch bis zum Abend, der schon beinahe so abendlich aussah wie man sich das als Binneneuropinski üblicherweise vorstellt. Um halb 9 Uhr
zeichneten sich die weißen Häuser von Narsaq vor den abendroten Bergen ab, während die Täler dahinter bereits im Dunkel lagen. Narsaq liegt auf etwa 61° Nord, das entspricht der Höhe von Helsinki, wo allerdings im August keine Eisberge treiben. Aber Nacht wird es da auch im Sommer, wenn auch nicht so lange wie in Kirchheimbolanden. Für Grønland bedeuten 61° Nord praktisch das Ende der Fahnenstange, viel weiter südlich geht es nicht mehr, nur bis Nunap Isua (Cap Farvel), dem südlichsten Punkt von Grønland, und danach kommt nur noch salziges Wasser bis zur brasilianischen Küste, wo Eisberge auch eher selten anzutreffen sind.
Narsaq schaute Frank sich näher an, aber nur vom Schiff aus, für einen Landgang ist die halbe Stunde Hafenzeit zu kurz. Morgen will er 
nämlich schon wieder dran vorbeifahren, er ist zur Zeit auch ohne Qajaq recht mobil. Ein richtiger Globeschnorrer eben.


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Dass die alte, immer leerer werdende Sarfaq Ittuk nicht länger in Narsaq Pause macht, hat einen triftigen Grund. Sie will nämlich noch vor Mitternacht die Endstation Qaqortoq
erreichen, und die Tatsache, dass du diesen Reisebericht liest, zeigt dir an, dass sie samt Frank tatsächlich gut und pünktlich ankam. Als letzter Passagier verließ er kurz nach Mitternacht das Linienschiff, stand mit seinem Rödel im stockfinsteren Hafen von Qaqortoq und fror beinahe. Es war wieder neblig, aber die Dunkelheit war echt: Richtige Nacht - wie lange ist es her, dass es sowas mal gab!
Ein gletscher- und wüstentaugliches Allradungetüm rauschte heran, packte Franks und Kas Gepäck ein und fuhr bis ins modernste, chicste, vermutlich auch teuerste Hotel Gr
ønlands, das in circa --- 207 m Entfernung von der Hafenmole sichtbar war.

 
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Nach vier Übernachtungen in der Dampferkoje war so ein Luxushotel mit festem Land unterm Keller eine Wohltat, die Frank indes nur kurz genießen konnte, denn die Nacht war ja schon beinahe vorbei. Allerdings machte er ausgiebig von dem einmaligen Service des kostenlosen WiFi Gebrauch, bevor er sich am Morgen in Qaqortoq umsah. Im Hafen löste derweil ein rotes Schiff die Leinen und begab sich durch die Nebelschwaden auf die Rückreise nach Ilulissat, als hätte es die Tour nach Qaqortoq alleine dem Schnorrerfrank zuliebe auf sich genommen.
Der Ort lag fest im Griff der Nebelschleier, kein Sonnenstrahl drang durch und beleuchtete die schönen Häuschen oder die Kunstwerke von Aka H
øegh, die in Nuuk die "Mutter des Meeres" auf die Felsen gesetzt hatte. In Qaqortoq war diese aus Qulissat auf der Disko-Insel gebürtige Künstlerin ansässig und besonders aktiv. Sie scheute nicht einmal davor zurück, wie die Kraxelhelden von Greenpeace den Schornstein des lokalen Heizkraftwerks zu erklimmen und zu bepinseln.


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Wenn du also in Qaqortoq einem Felsen begegnen solltest, der prähistorische Bearbeitungsspuren aufweist, dann kannst du sicher sein, dass dahinter die durchaus historische Aka Høegh (Jahrgang 1947) und ihre Graffiti-Kollegen stecken - die Einwohner freuen sich, die Touristen kramen ihre Fotohandys raus, und einige Arbeitslose dienen sich als "Guide to the art works" an - das ist ja genau das, was Kunst bezwecken sollte.
Ohne den heute hartnäckigen Nebel wären die wiederum kunterbunten Häuslein der Stadt sicher doppelt so fotogen, aber auch im Hochnebel beweisen sie, dass Qaqortoq nicht zu Unrecht als schönste Stadt Südgr
ønlands gilt - was man denn hier so "Stadt" nennt, mit zwei Kirchen und 3200 Seelen. Ist aber kein sonderliches Kunststück, denn außer den nur knapp halb so großen Siedlungen Narsaq und Nanortalik am Südkap gibt es keine weiteren "Städte" in Südgrønland.
Nahe der moderneren Kirche, deren Glockenläuten durch den nebligen Ort dröhnt, sieht Frank unter den zur Messe strömenden Kalaallit auch eine Frau in der traditionellen Inuit-Tracht, mit Kamiken an den Beinen, das erste und einzige Mal. Vielleicht ist ja heute irgendein Feiertag. Kamiken sind freilich zum Gehen auf Schnee gemacht, nicht auf Asphalt, wo sie im Handumdrehn verschleißen. Aber vielleicht war es ja ein modernes Folklore-Kostüm.


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A propos Narsaq: Bevor es wieder Nacht und Nebel wird in Qaqortoq, sitzt Frank schon wieder in einer Fjordrakete der Blue Ice Line, die wie gedopt über die Dünung zischt und
auf Narsaq Kurs nimmt. Bis die flotte Nussschale an der Mole festmachte und zwei weißhaarige Mütterchen an Land krabbeln ließ, wusste Frank, dass das mit dem Blue Ice durchaus kein Fantasieslogan war, ersonnen von den Schnöseln einer Werbeagentur. In den Gewässern vor Narsaq dümpeln tatsächlich Eisbrocken, die mit Türkis oder Hawaiian Blue gefüllt zu sein scheinen. Es liegt freilich nicht am Eis, so viel kapiert sogar der Frank, sondern an der blaugrünen Farbe des Wassers, das im Eis reflektiert wird. Sieht aber cool aus, richtig eiscool an einem solchen Annoraaqtag. Frank steigt auch heute nicht in Narsaq aus, das mit seiner Industrie auch nicht zum Aussteigen verlockt, sondern zischt weiter bis nach Narsarsuaq, das wieder weiter im Norden liegt als Qaqortoq, am Ende eines tief ins Land reichenden Fjords.


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Nein, er hat sich ni
cht verfahren, irrt nicht zwischen Inseln, Schären, Eis und Nebel umher auf der Suche nach blauen Eisblumen. Aber in Narsarsuaq liegt der einzige internationale Airport des Südens, das weißt du ja noch, wenn du den Anfang aufmerksam gelesen hast. Mehr gibt's da eigentlich nicht. Narsarsuaq ist jedenfalls keine Stadt, kein Fischernest und noch nicht mal ein Nest. Es ist nur ein Airport mit Wohnungen fürs Personal drumherum. Und einem Hotel für Touristen, die früher oder später irgendwohin abfliegen oder gerade angekommen sind und früher oder später irgendwohin weiterfahren. Und dem Blue Ice Café, das für Besucher, die hier gestrandet sind oder noch Zeit haben, das übliche Repertoire an Tours, Excursions, Treks, Rides und Flights organisiert, vom Kindergeburtstag mit Sackhüpfen bis zu einer Expedition auf den Mars.
Narsarsuaq ist von Amerikanern gegründet worden, die während und nach dem WK 2 hier eine Garnison und ein großes Militärhospital unterhielten. Es heißt, dass auch die Schwerstverletzten des Vietnamkrieges, deren Anblick man der Heimat aus naheliegenden Gründen vorenthalten wollte, hier zusammengeflickt oder, je nach Ergebnis der ärztlichen Mühen, eingeäschert wurden. Beim Abzug der Amerikaner in den 70er Jahren, als Grønland autonom wurde, machten sie die Klinik völlig platt und übergaben den Kalaallit nur den Airport, der bis heute Dienst tut.


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Also gut, sagte der Frank, gucken wir uns hier mal um. Das Schöne an einem Ort, der nicht existiert, ist die weite, stille, mosquitoreiche Natur. Und davon gibt es rund um den Airstrip genug. Eigentlich handelt es sich um ein weites Tal, das aus den Sedimenten eines Flüsschens geformt wurde. Das Flüsschen wiederum speist sich, wie alle Flüsschen Grønlands, aus einem Gletscher, der vom hiku, dem Inlandeispanzer, zu Tal rutscht, und die Gesamtlänge des rauschenden Rinnsals entspricht der Entfernung zwischen Gletscherende und Fjord - weniger als zehn Kilometer. Zu sehen ist der Gletscher nur, wenn man hingeht oder einen der Hüppel hinter dem Airport besteigt. Beides hat Frank vor, er ist ja gelenkig und zu jeder Art von Trimmdich aufgelegt. 
Der Aufstieg auf den nächsten Hüppel namens Signalhøjen, ein Hausberg von 226 m Höhe, auf dem die Funkmasten für Airport und TV stehen, ist am Nachmittag eine schweißtreibende Angelegenheit, denn da lichten sich die Nebel und die Sonne brennt heraus. Und weil das Sedimenttal erdreich und fruchtbar ist, wachsen hier, halt dich fest, sogar richtige Bäume, die ersten und einzigen, die Frank in Gr
ønland je gesichtet hat.


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Die Inuit mussten früher Treibholz sammeln, wenn sie ihre Umiaqs bauten und Paddel dafür brauchten; nicht alles konnten sie aus Walknochen herstellen. Aber heute wächst zumindest hier ein Importwald mit Migrationshintergrund; an fast jedem Bäumchen hängt so eine Art von Preisschildchen dran, wie bei Ikea, und da steht dann "2004, Lärche, Canada", oder "2012, Blautanne, New Zealand". Etliche der Birken und Fichten sind dem Klima zum Opfer gefallen und eingegangen, aber andere Immigranten trotzen den Widrigkeiten und bieten den Vögeln ein hochwillkommenes Habitat. Nirgends sieht und hört man so zahlreiche Vögel wie in Narsarsuaq.
Vom Hausberg aus reicht die Sicht bis zu dem fernen Gletscher mit dem einprägsamen Namen Kiattuut Sermiat, und auch der Weg, der dorthin führt, ist übersehbar. Bis zum ehemaligen US-Hospital im Tal hinter dem Bergsee ist die Piste sogar asphaltiert.


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Aber vorher nimmt Frank andere Gestade ins Visier: Zum gegenüberliegenden Ufer des Fjords von Narsarsuaq geht es nur über weite Umwege, denn der Flughafen, auf dem alle vier Stunden mal ein Hubschrauber zum Rundflug startet und am späten Nachmittag wie ein rotes Insekt ein Brummer der Air Greenland aufsetzt, versperrt den Landweg - die Landebahn reicht bis zum Ufer des Fjords, und wenn ein Pilot bis dahin nicht genug oder zuviel Zahn drauf hat, geht er baden.
Um dennoch hinzugelangen, setzt sich Frank wieder in ein Linienboot, das täglich zweimal rüber und nüber knattert. Und was gibt's drüben? Schäfchen, Pferde und eine Handvoll Häuser, die unter dem Sammelbegriff Qassiarsuk zusammengefasst werden. Sogar eine Grundschule steht da, die aber wegen Sommerferien geschlossen ist, und ein Guesthouse, vor dem schmutzige Trekkingstiefel und Snowboards stehen, die vermutlich den dänischen Blondschöpfen gehören, die aus dem Hostel herauslugten.
Die -
außer den Huskys- ersten Vierbeiner, die Frank in Grønland fern der Fleischtheke der Supermärkte zu sehen bekam, nämlich die Pferde und Schäflein auf der Weide waren freilich nicht der Grund, dass er hier durch die Pampa trabte. Sondern ein rothaariger Schlagetot aus Ísland, der, high vom Met, bei Streitereien immer gleich sein Messer zog und deshalb zur Strafe aus Ísland verbannt worden war.


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Er baute sich einen Kahn und segelte aufs Meer hinaus, und bevor er dem vermeintlich sicheren Hungertod erlag, erreichte er zu seiner Überraschung festes Land, genauso kalt und unwirtlich wie seinerzeit Ísland, weshalb vermutlich heimatliche Gefühle aufkamen. Jedenfalls gelang es ihm, sich ein Frühstück zu fischen und ein Illu zu bauen, und trotz des Bannes segelte er flugs nach Ísland zurück und holte abenteuerwillige Kerle und Frauen aus seiner Sippe nach. Im heutigen Qassiarsuk baute er seine erste Siedlung, die er Brattahlíð nannte, und wurde unter seinem Häuptlingsnamen Eiríkur Rau
ði (nicht "Erik, der Rowdy", sondern "Erik der Rote"!) der erste europäische Siedler in Grønland. Seine Ehegattin Þjóðhilður, die während seiner Abwesenheit zum Christentum konvertiert war, um für sein Seelenheil zu beten, ließ dort aus Dankbarkeit über das unverhoffte Wiedersehen ein Kapellchen errichten, die erste christliche Kirche in Kalaallit Nunaat, und das Ganze spielte sich zwischen 984 und 1003 ab. Bekanntlich war sein Sohn Leifur Eiríksson ein verwegener Abenteurer, der seinem Papa in nichts nachstand und sein Qajaq bis nach Vinland paddelte, das im heutigen Canada liegt. Knapp 500 Jahre vor Cristoforo Colombo und Amerigo Vespucci war der Filius von Eiríkur Rauði vermutlich der erste europäische Tourist, der sich in Amerika nach Souvenirs umsah.


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Weder das moosgedämmte Appartement mit dem Kabel für Strom und Internet noch das putzige Kapellchen mit rundem Steinmäuerchen sind Originale aus 
Eiríkurs und Þjóðhilðurs Nachlass, sondern Nachbauten aus dem 21.Jahrhundert. Von Eiríkurs Aktivitäten zeugen nur einige steinerne Grundmauern.
 
Als Frank dort auftauchte, öffnete sich die Tür des roten Häuschens am oberen Bildrand, und eine junge Kalaallit im roten Anorak kam, den Eintrittspreis zu kassieren. Die bis hin zum Anorak rote Farbe wies sie vermutlich als Kassationsberechtigte aus.
"You look like a Greenlander", begrüßte sie Frank. Das war eine gelungene 
Überraschung. Wie looken Greenlanders eigentlich? Wie würde Frank reagieren, wenn ihm in Kirchheimbolanden jemand sagte, er sehe aus wie ein Grønländer? Er entschied sich schließlich dafür, es an diesem Ort als Kompliment aufzufassen. Es gibt auch qallunaaq, Grønländer dänischer Abkunft, Seemanstypen, Käpt'n Spiekenboom mit Helmutschmidtkappe. Nach so viel Herumrennen im hohen Norden war Franks Gesicht, ohnehin vom Alter gegerbt, noch einen Ton lederner geworden, und wuchernde weiße Mähne und Bart mögen in der Tat an einen Nachfahren des Eiríkur Rowdy erinnern.
"And my wife is Inuit", grinste er mit Blick auf Ka, woraufhin die Annoraaqfrau lachte. So leicht lässt sich eine Kalaallit nicht veräppeln. Aber ehrlich gesagt, sie selbst sah auch nicht sonderlich grønländisch aus, kein Wunder, denn sie
heißt Maria Heilmann. So stand es jedenfalls auf ihrem Kärtchen mit mail-Adresse, das sie Frank überreichte. Aber aus Teutonien stammte sie nicht, denn sie selbst bezeichnete sich als Nuummioq, "aus Nuuk gebürtig".


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Als Maria bei der Erläuterung des Innern von Eriks Behausung erzählte, dass Holzwände seinerzeit ein Luxus gewesen seien, der nur hochgestellten Personen möglich war, während die normalen Siedler die Erdwände nur mit Robbenfellen behängten, gestattete Frank sich eingedenk der Preise für Robbenfelle in den Souvenirläden die Bemerkung, dass es heute genau umgekehrt sei, Holzhütten für die armen Fischer, und Robbenfelle für reiche Amerikaner. Das hatte Maria wohl noch nie zu hören bekommen und war ihr auch noch nicht eingefallen. Einen Augenblick sah sie Frank verdutzt an und brach dann in ein lautes Gelächter aus.
"Yes, this is true, indeed", stieß sie hervor und konnte sich kaum einkriegen. Kalaallit scheinen an Witzchen großen Gefallen zu finden und gerne zu lachen.

Bis zum Gletscher Kiattuut Sermiat war es früher nicht weit, denn er mündete direkt neben dem Airport in den Fjord. Jetzt hat er sich viele Kilometer zurückgezogen, kein Wunder bei den sommerlichen Temperaturen. Die schwitzenden Eisberge im Fjord kommen jedenfalls von dem viel weiter entfernten Gletscher Qooroq, den Frank nur mit Hilfe der Blue Ice Company erreichen könnte. Stattdessen schnürt er seine Sneakers und rüstet sich zu einem längeren Spaziergang, bevor ihm das letzte Eis
von Kalaallit Nunaat noch fortschmilzt.
 

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Bis zu der Brache, auf der früher das US-Hospital stand, war der Weg eine richtige Straße, danach folgte eine Schotterpiste, die an einem Bächlein endete, dessen Umgebung ein weiter Sumpf samt obigen Blümchen säumte, und dann ging es nur noch auf einem schmalen Saumpfad weiter über Stock und Stein, durch Senken und über Klippen. Obwohl der Nebel sich nicht auflöste, sondern sich an den Bergspitzen festklammerte und der Sonne den Anblick des kraxelnden Frank ersparte, war die Temperatur zum Wandern perfekt. Und Frank musste sich eingestehen: Das Blomsterdalen (Tal der Blumen), wie diese Gegend auf dem Messtischblatt bezeichnet wird, machte seinem Namen
zu dieser Jahreszeit alle Ehre. Das Foto der schönsten Naturwiese, die Frank je erblickte, gibt ihre wirkliche Pracht nur zu einem Bruchteil wieder - es war wie das Gemälde eines impressionistischen Meisters, mit Unmengen weißer, gelber, blauer und lila Farbtupfer zwischen dem Braun und Grün der Gräser.


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Der letzte Kilometer war am beschwerlichsten. Ohne richtige Piste ging es über endloses Geröll, an abweisend felsigen Bergen entlang und einen steilen, schmalen Aufstieg zu dem Aussichtspunkt, von dem aus ein Blick auf den dahinschmelzenden Gletscher möglich ist - alles in perfekter Einsamkeit, ohne Guides und Trekking Piepel; nur in weiter Ferne sah man ein anderes Kletterpaar, das mindestens eine halbe Stunde früher aufgebrochen sein musste als Frank und, dem gewaltigen Gepäck nach zu urteilen, auf dem Weg nach Canada war und irgendwo eine andere Wegrichtung wählte.


kiattuut sermiaq

Weil die Sonne bis zum Nachmittag brauchte, um den Nebel ganz zu vertreiben, wurde es in der Nähe des eisigen Atems des Gletschers schnell windigkalt, aber Frank genoss auch den beschwerlichen, acht Kilometer weiten Rückweg nach Herzenslust, machte sogar eigens Umwege, um sich an Blaubeeren gütlich zu tun oder einen besonders leuchtenden Blumenteppich aus der Nähe zu bestaunen. Er stellte sich vor, wie unwirtlich es hier im Winter sein musste, da alle, aber auch alle Blumen in dieser kurzen Sommerzeit so eifrig um die Wette blühten, als werde eine grønländische Blumiade ausgetragen, bei der es nur lauter Sieger geben kann.


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Zurück in Narsarsuaq war es wieder sonnig und beinahe heiß, und es blieb gerade genügend Zeit, um das Gepäck aus dem Hotel zum einzigen Schalter des gerade mal 250 m entfernten Airports zu rollen.
Ob du es mir glaubst oder nicht:  In den knapp zwei Wochen, die Frank in Grønland verlebte, fiel kein einziger Regentropfen, schneite es keine einzige Flocke, wehte kein einziger Sturm. Er brauchte keine Pudelmütze, keine Handschuhe, keine Stiefel, keinen Pelz und keine drei oder mehr Lagen. Da siehst du mal, wie vorteilhaft es ist, bei der isländischen Fee Borghilður einen Stein im Brett zu haben.

Der Abschied von diesem riesigen Eiland mit seiner überwältigenden Natur und seiner magischen Atmosphäre fiel Frank ein wenig schwer. Obwohl die Winter hier geradezu unwirtlich sein dürften, stellte er sich vor, wie der frische Schnee an einem Wintertag, an dem die Sonne nicht aufgeht,
in der von Mondenschein und Nordlicht türkis erhellten Finsternis leuchten und funkeln sollte, und beneidete ein ganz kleines bisschen die Kalaallit, die solche faszinierenden Begegnungen mit den Wundern unsrer schönen Welt Jahr für Jahr erleben dürfen.

In der Propellermaschine von Iceland Air, die Frank wieder in die Kälte nach Reykjavík beförderte, bevor er den teuren Norden verließ, um in Frankfurt am Main Urlaub zu machen, fand er ein seltenes Exempel von isländischem Humor, gepaart mit isländischem Englisch. Auf der Papierserviette stand in holprigem Versmaß der sinnige Spruch:

I could be a boat, I could be a jet,
but right now I am only a serviette.

Serviette heißt zwar auf Englisch napkin, aber wir wollen das mal nicht so eng sehen und schulmeisterlich sein angesichts des tiefen Wahrheitsgehalts dieser nordischen Erkenntnisse. Frank konnte nicht an sich halten und schrieb darunter:

                                       I could be an explorer,
                                       or boss of a bank,
                                       but I'm just a Schnorrer,
                                       a Schnarchsack called Frank.

Franks Englisch ist auch nicht besser, aber wir wollen das mal nicht so eng sehen und schulmeisterlich sein *); jedenfalls sind es erhabene Schlussworte, meinst du nicht?


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