Noch ein bisschen Zeit bleibt in Ilulissat, das wirklich eine Reise
wert ist. Ein richtig vergnügliches Städtchen mit vielen
Attraktionen.
"Finden Sie wirklich?", fragte die abenteuerlich geschminkte und
blondierte junge Dame in dem Reisebüro, der Frank die obligatorische
Frage stellte, ob sein Schiff morgen früh plangemäß
einlaufen und abfahren werde. In diesem Eisschollenland weiß man nie, was
passiert, und wegen Treibeis oder Nebel kann da manches durcheinander
kommen.
"Also, ich würde was dafür geben, um nach Los Angeles,
Paris oder Singapore ziehen zu können. Hier ist es doch
stinklangweilig. Eine Bekannte von mir war mal in Tokyo und hat mir
Fotos gezeigt, und ich hab's mir im Internet angesehen. Das ist ein
heißes Pflaster...!"
Frank
musste ihr teilweise Recht geben. Forever in Ilulissat zu leben, das
ist
keine echte Alternative, vor allem im Winter. Aber für
ein paar Tage bei diesem blendenden Wetter ist Ilulissat unschlagbar,
und außerdem spürte Frank inzwischen, dass diese eisige
Insel auf ihn eine magische Anziehungskraft ausübte, über die
nur wenige Regionen der Welt verfügen.
Schwer zu sagen, was die Aura Grönlands ausmacht, die Nähe
der Natur, das ungezwungene Herumtollen im Freien, die (in dieser
Jahreszeit) nicht untergehende Sonne, das knackende Eis?
Frank fand einen anderen Trail zum Eisfjord, er wollte es noch mal knacken hören.
Das Nordmeer ist heute ruhig und klar, glatt wie ein Spiegel, in dem
die Eisberge wie auf einem Kalenderfoto ihre Eleganz zu betrachten scheinen.
Ein aus
Holzbohlen gezimmerter Stegpfad führt durch die empfindliche
Sommerflora hinunter zum Weltkulturerbe, das sich heute noch einmal von
seiner allerschönsten Seite präsentierte - und heftig
knackte, schabte und schürfte. Im Hintergrund sah Frank ein rotes
Schiff auf den Hafen zusteuern, das sehr stabil und eisfest aussah,
ganz anders als die AidaCara, die schon in Richtung Nuuk
davongeschwommen ist. Es ist der Postdampfer, das Linienschiff der
Arctic Umiaq Line, das die Westküste Grønlands rauf- und
runterschippert und Waren und Menschen transportiert. Aber nur im Sommer. Frank wusste, dass
dieses Schiff in den kommenden Tagen sein Heim sein würde.
Ka wollte sich noch von "ihren" Huskys verabschieden, die auch sofort
wieder schwanzwedelnd gesprungen kamen, denn so eine nette Spielgefährtin finden
sie nicht alle Tage.
Drei Stunden später betrat Frank mit Ka seine Kajüte auf der
Sarfaq Ittuk, dem im ganzen Land bekannten Küstenlinienschiff, das
genauso rot ist wie Grønlands
Flagge und die dicken Propellerbrummer von Greenland Air, zu deren
Flotte es gehört, obwohl es eher selten fliegt. Aber
es befördert alles, was die plumpen Flugzeuge liegen lassen.
Sarfaq Ittuk bedeutet etwas in der Richtung von "frische Brise", aber
die ist in diesen Breiten kein Objekt großer Sehnsüchte.
Frank Polyglott
weiß auch, dass ein umiaq ("Arctic Umiaq Line") das große Transportboot der
Eskimos ist, mit dem sie bei ihren
Wanderungen Frauen, Kinder, Jagdausrüstung und Fellpelze
transportieren, denn Frachtgut passt in ein Qajaq nicht rein.
Die Sarfaq Ittuk ist kein Kreuzfahrtschiff; sie transportiert
überwiegend Einheimische und Waren. Schnorrer und Touristen wie
Frank und Ka sind eine Minderheit, weshalb die
Lautsprecherdurchsagen auf Kalaallisut und Dänisch erfolgen und
auch gut verständlich sind, falls du eine dieser Sprachen
beherrschst; bis Frank herausfand, dass die dritte Sprache, in der die
Durchsage erfolgte und die er für einen alasko-alëutischen Dialekt hielt, Englisch sein soll, vergingen zwei Tage.
Bei
der Abfahrt und Ankunft in jedem Hafen versammelt sich eine Menge Leute, in
kleinen Orten oft die halbe
Einwohnerschaft, zur Begrüßung oder Verabschiedung von Freunden und
Verwandten. Die Kalaallit sind sehr herzlich im Bekanntenkreis;
wer weiß schon, wann man sich wiedersieht? Jede Reise mit dem
Postdampfer bedeutet für die Zurückbleibenden eine
längere Trennung.
Der Fahrplan der Sarfaq Ittuk sieht Halts in mehreren Orten vor, in
manchen nur 15 Minuten, in Nuuk hingegen 6 Stunden; in
größeren Städten kann man an Land gehen, sich nach
Belieben umsehen und, so wie die Passagiere der AidaCara, an Land tüchtig Geld
ausgeben.
Grønländer
sind keine Eskimos, obwohl sie mehrheitlich von ihnen
abstammen. Aber sie haben schon seit vielen Generationen ihre Qajaqs
und Harpunen gegen Trawler und Fischernetze getauscht, wohnen in
Häusern aus importiertem Holz und haben sich zum Teil auch heftig
mit der hier ansässig gewordenen dänischen Minderheit
durchmischt. Deshalb haben sich auch die Eskimosprache Inuktitut und
das
Kalaallisut getrennt und gelten als jeweils eigenständige, wenn
auch verwandte Sprachen. Aber wenn du meinst, hier würde alles
Dänisch quasseln - Fehlanzeige. Kalaallisut ist eine höchst
lebendige und keineswegs ausgestorbene Sprache, du kannst sie
täglich erleben, aber leider nicht verstehen...
Auf dem roten Traumschiff gibt es nicht nur private Kabinen, wie Frank eine
gebucht hat, sondern auch billigere Etagenbetten mit einem Vorhang
davor. Für Wertsachen kann man ein Schließfach mieten, die
Koffer stellt man in die Gepäckablage. Die Mehrzahl der
Einheimischen gibt sich damit zufrieden, ist ja auch deutlich
billiger.
Die Küchencrew serviert täglich drei Mahlzeiten und
zwischendurch Kaffee und Kuchen oder Sandwiches, und es ist nicht mal
teuer.
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"Sie sieht stabil aus...", wiederholte Frank für sich, als das Schiff
am Abend -die Sonne steht abends so hoch wie bei uns gegen 15 Uhr- mit
beachtlichem Tempo durch die Ausläufer des Eisfjords pflügte,
an manchen der weißen Brocken haarscharf vorbei. Er versuchte,
weniger an die Titanic zu denken und rief sich ins Gedächtnis
zurück, dass ebendiese Sarfaq Ittuk 2012, vor fünf Jahren,
mit großer Schlagseite auf einer Klippe bei Nuuk festsaß
und trotzdem nur kurz zum Ausbeulen in die Werft musste - so eine
unverwüstliche Schachtel lässt sich von lumpigem Treibeis
nicht so leicht ins Bockshorn jagen. Aber trotzdem - einen
Zusammenstoß mit manchem kaufhaushohen Gletscherkälbchen
würde Frank eher ungern miterleben.
Nachdem der sanfte Seegang Kas Befürchtungen hinsichtlich einer
bewegten Seereise zerstreut hatte, meinte sie höchst angetan
angesichts ihrer luxuriösen Privatkabine, sie fühle sich wie
bei Agatha Christie in einem der Hercule-Poirot-Filme, von denen nicht
wenige auf Kreuzfahrtschiffen oder in Orient-Expressen spielen. Ihr
machte die Seefahrt augenscheinlich Spaß. So komfortabel,
sonnig und preiswert hatte sie sich das alles nicht vorgestellt und
insgeheim gebangt, tagelang mit flauem Bauch seekrank auf
einer Pritsche dahinzudarben, aber nun eroberte sie sich putzmunter die
Ober- und Unterdecks, fand das Kino und das Aussichtsdeck und
ließ sich den arktischen Fahrtwind, die "frische Brise", um die Ohren blasen - noch
immer ohne Annoraaq; der hing aber schon am Kleiderhaken.
Huskys gab es zwar nicht an Bord, aber dafür auch keine Mosquitos und
keine anstrengenden Wanderungen über steile Klippen und durch moosige
Heide, das ist doch schon mal was wert.
Sehr groß war sie zwar nicht, die Kajüte, verfügte aber
über Dusche und Toilette sowie vier Betten, so dass auch ein Ehepaar mit Kindern
hineinpassen würde.
Von Ilulissat aus geht die Fahrt die gesamte Westküste entlang in
Richtung Süden, bis zur Endstation Qaqortoq am Südende von
Grønland. Fast alle Besucher sehen von der größten
Insel der Welt nur die Westküste, denn sie ist milder und
grüner. An der Ostküste gibt es nur wenige Orte und
Siedlungen; dort ist das Wetter bedeutend schlechter und das Klima
wesentlich eisiger. Hotels gibt es dort überhaupt keine, und der
einzige von Greenland Air regelmäßig bediente Airport
Kulusuk liegt in der Nähe von Tasiilaq, einem der beiden größeren Orte des Ostens.
Im
Hafen von Aasiaat, der am späten Abend, aber bei Sonnenschein, erreicht wurde, erwartete eine große Anzahl der Bewohner den
Dampfer. Halb Aasiaat musste auf den Beinen sein. Wahrscheinlich ist
die
Ankunft des Linienschiffes der Höhepunkt einer eintönigen
Woche. Erstaunlich viele Passagiere steigen zu und aus. Man spürt
tatsächlich,
dass dieses Schiff nicht für Touristen gemacht, sondern die
Lebensader von Kalaallit Nunaat ist. Zwei Jungens traten an der Mole an
unser Bullauge, von außen, und legten je eine 2-Kronen-Münze
auf den Rand, ohne zu bemerken, dass wir von innen zusahen. Sicher ist
es ein grønländischer Aberglaube, dass dann Sedna, die
amazonenhafte Meeresgöttin, das Schiff und seine Passagiere von
ihrem Zorn verschonen
werde.
Eine halbe Stunde später schaukelte der rote Pott wieder weiter, erstaunlich
pünktlich; die See blieb ruhig und die Nacht sonnig, während
Frank und Ka den Rollvorhang runterließen und bis zur Ankunft in
Sisimiut am andern Morgen in der bequemen Koje eine Art Nachtruhe hielten.
Sisimiut
ist ein schönes, altes Städtchen, das
zweitgrößte von Grønland, von den Dänen einst mit dem Namen Holsteinsborg versehen. Die quietschbunten
Häuschen gruppieren sich auf einem Hügel vor der Silhouette
des markanten Berges Nasaasaaq ("Frauenkapuze", 784 m). Hier steht die
älteste Kirche des Landes, es gibt sogar eine Art historische
Altstadt, als Freilichtmuseum eingerichtet, in dem Hundeschlitten
im Gras stehen und auf den Schnee und den napariaq
warten, den aufrecht stehenden Schlittenführer, und das alles bei
einem
wolkenlos blauen Himmel, den eigentlich nur Álfadrottning
Borghilður ihrem Schützling Frank beschert haben kann. Wie
lange ist es nun her, dass er den letzten Regentropfen erlebt hatte?
Es ist gut möglich, dass der großartige Eindruck, den
Grønland bisher auf ihn gemacht hat, dem warmen und sonnigen
Wetter, das er gepachtet hat, zu verdanken ist. Wer weiß, wie
grau und unwirtlich ihm Sisimiut bei Sturm und Eisregen vorgekommen
wäre...! Im Winter liegt in dieser Gegend die Packeisgrenze, die
Weiterfahrt in Richtung Norden ist auch mit Eisbrechern unmöglich.
Kangaamiut ist, vom Schiff aus gesehen, zweifellos das schönste Städtchen der Westküste.
Der blöde Dieseltank für das Strom- und Heizkraftwerk stört zwar
die Sicht, aber Frank will natürlich nicht, dass die Einwohner
seinem Foto
zuliebe winters in ihren hölzernen Illus erfrieren müssen. Die
bunten Häuschen, die im Abendlicht zu leuchten scheinen, sind
malerisch auf einen Hang drapiert, vor dem Hintergrund hoher
Bergspitzen, die eisfrei aufs Meer niederblicken.
Der Fischerhafen ist
allerdings für
ein Schiff mit den Ausmaßen der Sarfaq Ittuk zu klein. Es wurde eine ebenso knallrote Schaluppe ins Wasser
gelassen, um die aus- und zusteigenden Passagiere vom
Schiff zum Hafen und umgekehrt zu befördern.
Betuchtere Verwandte schicken
mitunter auch ihr eigenes Boot, um die Söhne oder Töchter, die hundert
Seemeilen weiter aufs Gymnasium gehen, direkt am Schiff für die Ferien bei
der Familie abzuholen. Wer in einem kleinen Nest irgendwo am Rand der
Eisinsel Kalaallit Nunaat zur Welt kommt, muss sich früh an Selbständigkeit und ein
Nomadenleben gewöhnen, wenn er nicht für immer
Garnelenfischer bleiben will. Nicht jede Siedlung hat ihr eigenes
Gymnasium, und eine Uni gibt es nur in der Hauptstadt Nuuk. Und wer
fertig studiert hat, der findet meist nur in København einen
Job, wo Grønländer
nicht besser angesehen und willkommener sind als Oglallah Sioux in New
York. In der Tat fallen im menschenleer anmutenden Nuuk die zahlreichen
Alkoholiker, Lungerer und Desperados unter den Kalaallit schnell ins
Auge, aber so weit sind wir noch nicht.
Aus
dem Foto ist gut zu ersehen, dass das Polarmeer, wenn es nur die
Temperatur des Indischen Ozeans hätte, ein Paradies für
Badefreunde wäre. Das schönste, klarste Wasser, das man sich
denken kann, funkelnd azurblau im arktischen Sonnenlicht, man
möchte beinahe hineinspringen, wenn nicht das Treibeis an die
Wassertemperatur erinnerte. Der Dampfer hält Kurs meist dicht am
Ufer entlang, und dort, wo es steil abfällt und tief genug
ist, tuckert die Sarfaq Ittuk durchaus in Rufweite des steinigen
Gestades südwärts, so dass die Seefahrt auch außerhalb
der Häfen
durchaus nicht eintönig ist.
Wegen
des kleinen und relativ ungeschützten Hafens zogen fast alle
Bewohner von Kangaamiut 1781 weiter nach Süden und gründeten
eine neue Siedlung, das heutige Maniitsoq, auf Dänisch Sukkertoppen. Es liegt in einer
Schärenregion, in der tausende kleiner
und kleinster Inseln den Eisbergen gleich im Polarmeer zu dümpeln
scheinen, und weil die Fahrt zwischen Sisimiut und Kangaamiut den Polarkreis
in Richtung Süden überschritten hat, ist das Meer hier ganzjährig schiffbar, und es sieht ab etwa 22
Uhr beinahe richtig abendlich aus. Eine Stunde später
verabschiedet sich sogar die Sonne für ein knappes Stündchen Siesta.
Ka hat einen Sinn für die Schönheit der gewaltigen Natur, sie
genießt jede Minute der Fahrt auf der seidigen See, der sie vorher mit großer
Skepsis entgegengesehen hatte. An Deck ist ihr abends wegen der
tiefstehenden Sonne und des Fahrtwindes zu kühl, zumal die
Backbordseite des Schiffs, die dem Land zugewandt ist, meist im Schatten
liegt. Aber sie sitzt lange am Fenster und schaut auf die langsam
vorüberziehende Landschaft und das nahezu wellenlose Wasser,
in dem bisweilen prustende Wale ihre Tänze vorführen.
Narwale, Finnwale, Buckelwale, Grønlandwale, die nur Spezialisten
zu unterscheiden wissen. Keine Spur von seekrank, im Gegenteil, ein so
ruhiges Meer kann man sich in Japan gar nicht vorstellen. Ihr Bedauern
darüber, dass es an Bord keine Internet-Verbindung für die
Passagiere gibt, hat sie längst vergessen, und die Worte des
Stewards, den ich nach WiFi fragte, kann sie vermutlich bestätigen:
"No WiFi, but you can see the ocean and beauty of nature, it is as fascinating as the whole internet."
Es ist wirklich faszinierend. So eine Eis-Ozeanwelt haben wir beide
noch nie erlebt. Manchmal fühlt man sich beinahe wie auf einem
fremden Stern.
Nein, es ist kein Hochalpensee in der Schweiz, sondern die Küste
Grønlands, die an den staunenden Fremdlingen vorüberzieht,
makellos sonnig, immer wieder anders, mal steinig, mal eisig, mal
besiedelt, mal unberührt. Mal treibt Eis im Wasser, mal liegt es
auf den Bergen, aber niemals ist die Fahrt langweilig.
Auf
der Mitte des Weges liegt die Hauptstadt Nuuk, wo das Schiff sechs
Stunden lang Pause macht. Eine richtige Stadt, mit Industrie, Werft,
Yachthafen,
Wohnblocks, einer Universität, Luxushotels und WiFi,
hier findest du alles, was du in einer Stadt zu finden
hoffst. Auf Obdachlose hoffst du vielleicht weniger, findest sie aber
ebenfalls und fragst dich, wo sie im Winter bleiben. Das fragt Frank
sich auch. Hoffentlich haben sie irgendwo ihre drei Lagen.
Ein Menschengewusel wie Shanghai bietet Nuuk mit seinen
17000 Bewohnern natürlich nicht, und das Nachtleben dürfte
auch noch ausbaufähig sein, aber Kaufhäuser, Fischmarkt und
Shopping Mall kannst du schon nach kurzer Suche ausfindig machen.
Als die Sarfaq Ittuk im Hafen einlief, war es noch vor 7 Uhr früh.
Im Schatten fröstelkalt, denn es wehte eine eher steife als frische Brise. Die
Einwohner waren noch unsichtbar, abgesehen von den Heerscharen im Hafen,
die mit einem gewaltigen Fuhrpark ihre Lieben abholten. Mindestens die
Hälfte der Passagiere verließ hier den Dampfer, und am
Nachmittag, wenn die Fahrt weitergeht, dürften vermutlich ebenso
viele Fahrgäste zugestiegen sein.
Weil die Geschäfte noch zu hatten, wanderte Frank erst mal in die
Altstadt. Ja, sowas gibt's da auch. Nuuk sieht ziemlich klein aus, ist aber
weitläufig. Weite Flächen auf der Hochebene nahe dem urbanen Zentrum sind noch leer
und stehen voller Unkraut, hier und da wird was gebaut, aber selbst die
hölzernen Appartementblocks sind auf den Fels des Untergrunds
gezimmert und würden, wenn es hier Hurricanes oder Taifune
gäbe, vermutlich widerstandslos in den kleinen Yacht- und Fischerboot-Hafen segeln. Wo es keine
asphaltierten Straßen gibt, sind hölzerne Stege über
die Klippen gebaut, damit die Leute sich nicht die Glieder brechen,
wenn sie zum Supermarkt einkaufen gehen. Schließlich ist der
Sommer hier nur eine kurze Unterbrechung des laaaaaaaaaaaaaaaaangen, stockfinsteren
Winters mit Schnee und Eis.
Auf
einer hügeligen Wiese, von Felsen durchzogen, steht ein rotes
Kirchlein und darum gruppiert ein paar hölzerne Illus wie
aus dem Legobaukasten, das ist die Altstadt, die sich bis zum alten
Hafen hinunterzieht. Den Hafen überblickt ein bronzener
Norwegodäne
in der Tracht des 18.Jhs; das ist der norwegische Pastor Hans Egede,
der im 18.Jahrhundert mit Unterstützung durch das dänische
Königshaus mit teils ruppigen Methoden versuchte, die Inuit zu
frommen Christen zu bekehren. Der norwegische König hielt die
Fianzierung eines derartigen Vorhabens wohl mit Recht für
rausgeschmissenes Geld. Immerhin gründete Egede die Stadt Nuuk, die er Godthåb nannte, die "Gute Hoffnung", auf
einer flachen, zerklüfteten Landzunge. Die gute Hoffnung
erfüllte sich
insoweit, als sich Nuuk mit seinen vielen als Tiefsee-, Yacht- und
Fischerhäfen geeigneten Buchten zur größten Stadt der
gesamten Insel mauserte. In Konkurrenz zu niederländischen Fischern beteiligte sich Den kongelige Grønlandske Handel an den Versuchen, durch Walfang
aus der eisigen Insel Profite zu erwirtschaften, war aber im Robbenfang
erfolgreicher und verlegte sich nach dem Kieler Frieden 1814, durch den
ganz Grønland an Danmark fiel, auf die Erkundung von Bodenschätzen, aber der erhoffte Reibach aus dem geplanten
Abbau von Mineralien und Erzen blieb auf lange Sicht aus. Arktistaugliche
Gerätschaft herzuschaffen, Ingenieure und Arbeiter ins Eis zu
locken und unterzubringen war äußerst kostspielig, und die
wenigen Kalaallit, die
seinerzeit dort siedelten, machten Rabatz; sie ruhigzustellen
-kaltstellen ist ja in dieser kalten Region eher nicht so erfolgversprechend- kostete das
Königreich dermaßen viele Kronen für Infrastruktur,
Siedlungsprogramme und Versorgung, dass die Autonomie im Jahre 1979
beiden Seiten gleichermaßen willkommen war.
Auf einem Steinsockel am Alten Hafen sitzt, den Blick von den modernen
Wohnblocks abgewandt, Aug in Auge mit Herrn Egede, die
grønländische Entsprechung der kleinen Seejungfrau, die
allerdings etwas kräftiger gebaut ist, mit Nixen und Meeresziefer
spielt und Sassuma Arnaa oder Imap Ukua,
"Mutter des Meeres", genannt wird. Diese Skulptur
der Künstlerin Aka Høegh entstammt einer Inuit-Legende und
taucht nur bei Ebbe aus dem Wasser auf.
Der
grønländischen Sage zufolge wurde die Mutter des Meeres
einst zur grimmigen Wutbürgerin, weil die Menschen die Meere
leerfischten und
sich nicht an das UN-Abkommen zur Beschränkung des Walfangs
hielten. Daraufhin fing sie mit ihrem langen Haar alle Beutetiere der
Menschen ein und entzog sie in ihrem Haarkäfig dem Zugriff der Fischer, bis
eine Delegation der verhungernden Inuit das Ende der Strafe
aushandelte und Schamanen der resoluten Dame das Haar kämmten, bis sie die darin
gefangenen Tiere wieder in den Ozean entließ. Vermutlich
versäumten die Inuit-Coiffeure es auch nicht, der Lady bei der
Gelegenheit eine Glatze zu scheren, aber wie die Skulptur zeigt,
ist das Haar mittlerweile wieder nachgewachsen, so dass es nicht sehr ratsam
ist, das Meer weiter zu überfischen.
Auf dem Fischmarkt von Nuuk liegt jedenfalls, neben Kabeljau, Garnelen,
Lachs und Stockfisch, auch Speck vom Finnwal und Steak vom Narwal zum
Verkauf, und wer das zähe, trockene Zeug einmal probiert hat, der
wird sich nach einem ordentlichen Beef sehnen und das Fangverbot
aufrichtig unterstützen.
Wenn du dich für die Kultur der Inuit interessierst und mehr sehen
willst als Huskys und hölzerne Schlitten, warte bis um 10
Uhr; dann macht das Museum von Nuuk auf, ebenfalls in der Altstadt am
Alten Hafen. Es ist das größte Museum von Grønland,
gut gepflegt und reich bestückt, und es enthält nicht nur
Robbenpelze und Umiaq-Nachbauten, sondern auch die berühmten
Mumien von Qilakitsoq.
1972 fanden Jäger unter einem Felsvorsprung in dem längst verlassenen Ort Qilakitsoq bei
Uummannaq, nördlich der Disko-Insel Qeqertarsuaq, unter aufgetürmten Steinen ein altes
Inuit-Grab, das kalter Luft ausgesetzt, aber vor Schnee, Regen und
Tierfraß geschützt war. Die dort bestatteten Menschen, fast
ausschließlich Frauen, waren mumifiziert in ihrer
Original-Bekleidung, samt Pelz-Annoraaq und Kamiken. Untersuchungen ergaben, dass sie vor mehr als 500
Jahren bestattet worden waren. Das vermeintliche Püppchen, das im Arm
einer jungen Frau lag, wurde erst später als ein etwa 6 Monate alter
Säugling identifiziert. Man nimmt an, dass er erstickt worden war,
weil er nach dem Tod seiner jungen, etwa 20jährigen Mama nicht
überlebensfähig gewesen wäre. Verhungern war bei den Inuit seit alters die zweithäufigste Todesursache.
Sechs
Stunden später stach das gedrungene rote Schiff wieder in die ruhige,
glitzernd blaue See und nahm Kurs auf Südgrønland; am
Abend sollte es in
Qeqertarsuatsiaat ankommen.