Ilulissat, das die Dänen vorübergehend auf den Namen Jakobshavn getauft hatten, weil sie die westgrønländische Sprache Kalaallisut nicht verstanden,
liegt an der Westküste von Grønland, über 300 km nördlich des
Polarkreises, und Frank war durchaus darauf gefasst, dass er hier
keinen Badeurlaub verbringen würde. Er hatte ein Merkblatt
mitbekommen, das detaillierte Anweisungen gab, wie man sich kleiden
sollte.
Nach Grønland
werden wohl nur Leute im Smoking reingelassen?, denkst du jetzt gleich.
Nö, Schnorrer kommen auch rein, Kontrollen gibt es ebenso wenig
wie in Ísland. Aber auf dem klugen Zettel steht, dass die
durchschnittliche Tagestemperatur im Juli, beispielsweise in Ilulissat,
bei knapp über 8 Grad liege, bei gutem Wetter. Charmant, nicht wahr?
Frank wagte sich kaum vorzustellen, wie es sich dann bei Sturm und Regen im Liegestuhl am Strand anfühlen muss.
KLEIDUNG
Die Leute, die in der Arktis leben, sagen häufig: "Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Kleidung".
Es ist wichtig, dass Sie verschiedene Lagen an Kleidung tragen!
Adäquate Kleidung sollte die folgenden Kriterien erfüllen:
1. Den Körper vor Kälte schützen,
2. wasser- und windresistent sein,
3. auch bei Nässe ihre isolierende Wirkung nicht verlieren,
4. dauerhaft leistungsfähig und
5. atmungsaktiv,
6. leicht und flexibel,
7. gut packbar und zusammenfaltbar sein.
Leider gibt es kein einzelnes Kleidungsstück, welches alle oben
angeführten Anforderungen erfüllt. Die Lösung sind die
Lagen!
Das wohl erprobteste Lagensystem ist das 3-Lagensystem, wobei jede Lage ihre eigene besondere Rolle und Absicht hat....
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In
welcher der drei Lagen Frank nun steckte, wusste er nicht recht.
Angenehm fühlte sie sich allerdings nicht an. In seinem Schädel
brummten die Wörter "in der Arktis",
"Kälte", "Wasser und Wind", "dauerhaft leistungsfähig". Der
Verfasser traute ihm offenkundig einen Ritt auf dem Huskyschlitten bis
zum Nordpol zu, oder zumindest bis nach Qaanaaq, das man einst auch Thule nannte. Frank fühlte sich ein
wenig geschmeichelt.
"Im
Januar liegt die durchschnittliche Tagestemperatur in Tokyo auch bei 8
Grad", nuschelte Frank, "also nehme ich anstatt der empfohlenen
Angora-Dessous und doppelt gefütterten, imprägnierten Outdoortrekking
Nepalhose ultraleicht einfach meine eigenen drei Lagen mit,
Daunenanorak, Pudelmütze und Handschuhe, mehr habe ich in Tokyo im
Januar auch nicht an Kälteschutz. Howgh, ich habe gesprochen."
Angesichts
der Pullis und Pelze und Schals und Daunen und Angoras und Profi-Bergstiefel der 24 Mitreisenden kam sich
Frank mit seinem schlichten Pulli, eigentlich mehr ein
langärmeliges T-Shirt, dazu Sneakers und Jeans, ein bisschen
albern vor, aber schließlich lebt er derzeit nicht
in Kirchheimbolanden, sondern in Nippon, wo man sich im Juli auch noch
das T-Shirt vom Leib reißen möchte, und trug zu allem Überfluss auch noch ein
operntaugliches Jackett im Koffer spazieren, wegen einschlägiger
Verpflichtungen in Berlin und Leipzig. Ob ihm das dunkle Jackett bei einem Schneesturm
nützen würde, wagte er nicht abzuschätzen. Mehr ging
halt leider nicht
rein, und wenn der Kältetod ihn auserkoren habe, dann würde
er eben mannhaft in einem Iglu bei den Eskimos erfrieren.
Aber "es gibt kein
schlechtes Wetter", stand ja auf dem Merkblatt, und die zweite
Satzhälfte, die überlas er einfach. Wenn man all
das Kleingedruckte immer mitlesen würde, käme man
zu nichts Anderem
im Leben.
Na gut, Ísland war zugegebenermaßen bei Wind und Regen
schon ziemlich kühl gewesen, aber der Name bedeutet schließlich
"Eisland". Grønland
heißt "Grünland", und Grün ist die Hoffnung, redete
sich Frank ein, aber die Landschaft, die er soeben überflog, sah
nicht sehr hoffnungsgrün aus, sondern so eisig wie der Saturnmond
Enceladus. Aber jetzt konnte er nicht mehr zurück und musste sich
sehenden Auges ins Gefrierfach spedieren lassen. Das hatte er davon,
dass seine Gefährtin Ka sich ein Reiseziel gewünscht hatte,
in
dem es im Sommer nicht zu heiß ist. Und die dämliche
Software des PCs scherte sich keinen Deut darum, dass Frank sich ihretwegen zu Tode frösteln würde.
Kurz vor der Landung ertönte die Stimme des Piloten aus der Kanzel und meldete wohlgemut, auf Kalaallisut (Grønländisch),
Dänisch und Englisch, dass in Ilulissat derzeit heiteres
Wetter herrsche bei 19 Grad Celsius.
Frank glaubte, er hört nicht recht. Minus 19 Grad vielleicht?
Nein, auf dem Rollfeld konnte er
sich davon überzeugen, dass es
weit wärmer war als vor zwei Wochen in Berlin, und während
die Mitreisenden im linden Sommerlüftchen verstohlen Schals und
Handschuhe im Handgepäck verschwinden ließen, hatte Frank
schon den ersten Schnakenstich weg. Wovon leben die Biester hier
eigentlich? Keine Pferde, keine Schafe, nur ein paar bleiche, aber
waghalsige Touristen; die können doch nicht die ganze Mahlzeit
liefern?
Es
scheint immerhin, dass die Elfenkönigin Borghilður aus Ísland es
auch hier gut mit ihm meinte, es sind ja nur drei Flugstunden, für
Elfen ist das ein Miezensprung. So blieb auch der Schrecken aus, als
Frank in seinem Gepäck vergeblich nach Handschuhen kramte; er
hatte sie versehentlich wohl doch daheim liegen gelassen und sich nur
zweilagig gerüstet. Zumindest heute droht ihm kein Kältetod,
auch wenn sich der Himmel leicht bewölkt hat.
Ilulissat ist schnell erkundet. Die Holzhäuschen der 4500
Einwohner sind, farbenfroh angestrichen wie aus dem Lego-Baukasten, gleichmäßig auf dem
vom Eis der Jahrtausende rundgeschliffenen hügeligen Felsboden
verteilt, und dazwischen blüht und gedeiht ein Meer von wilden
Gräsern, Unkraut und Blumen. Die Bucht und das blaue Meer sind
immer im Blick, denn alle Orte in Grønland
liegen am Meer, Straßenverbindungen bestehen nicht. Und das hiku, die Eisdecke
im Inland, ist mehrere Kilometer dick und dürfte bei 19 Grad
beträchtlich ins Schwitzen kommen, zumindest an der Oberfläche.
Im Meer treiben nicht nur
waghalsige Qajaq-Paddler und ein altbekanntes
Kreuzfahrtschiff namens AidaCara, sondern unübersehbar auch puktaaq,
Eisschollen aller
Größen, en masse; sie kommen von der großen Attraktion
des
Ortes, vom Eisfjord, der nur anderthalb Kilometer entfernt ist. Ein
Gletscher des Eispanzers vom Inland rutscht dort in Zeitlupentempo in
die Disko-Bucht, wo die Zungen des Gletschers im Gezeitenhub abbrechen
und
aufs Meer hinaustreiben. Aber nur die kleineren. Die ganz großen
Brocken bleiben nämlich am Grund des Fjords oder an
irgendwelchen Unterwasserfelsen hängen, und schon ergibt sich ein
Stau wie in deiner Stadt bei Büroschluss. Und dieser Eisfjord ist
ein echter Hingucker, denn du kannst ihn aus Ilulissat zu Fuß in
einem Spaziergang erreichen; auch die UNESCO hat ihn zum Naturerbe der
Menschheit
erhoben, weshalb man ohne Übertreibung sagen kann, dass Ilulissat
das touristische Zentrum von Grønland ist.
In ganz Grønland
existieren nur vier Flugplätze, die internationalen Verkehr
aufweisen. Der nördlichste davon ist Ilulissat, die anderen sind
Kangerlussuaq, Nuuk und Narsarsuaq, Namen, die dir ebenso viel sagen
werden wie dem Frank. Als sie Grønland in der Schule durchnahmen, muss er gefehlt haben.
Wer in andere Orte will, der muss in einen der
knallroten Brummer von Air Greenland
umsteigen, die so robust aussehen, als könnten sie notfalls auch auf dem
Eis landen; weitere Alternativen sind Küstendampfer, Qajaq
oder Hundeschlitten.
Auch mit der Internationalität ist es nicht weit her. Nix Mallorca, nix Gran Canaria. Nur via Reykjavík oder København kannst du von Grønland aus in die weite Welt gelangen.
Aber wer will das denn, wenn er bei 19 Grad und Sonnenschein in
Ilulissat sitzt und sich über zivile Preise in den Restaurants
freut? Und kein ausgefallenes Eskimo-Food musst du ertragen, sondern
kannst zwischen Chop suey und Tom yam kun auswählen, Ilulissats
Gastronomie ist, wie in so vielen Hafenstädten der Welt,
unübersehbar in asiatischer Hand. Was die vielen Thais ausgerechnet nach Grønland gelockt hat, ist eines der ungelösten Rätsel unseres Planeten.
Ansonsten wird neben dem Hauptgericht Stockfisch meist Rentierfleisch,
Lachs oder Moschuswild angeboten, auch Krabben, Garnelen und
Lammbrätchen sind nicht allzu teuer. Da es mangels Thermalquellen
keinen Tomaten- und Salatanbau in Grønland
gibt, wo allenfalls ein paar winterharte Kartoffelsorten und Engelwurz
gedeihen, hatte Frank mit Wahnsinnspreisen für sein Vitamindoping
gerechnet, aber obwohl alle Waren ausnahmslos aus dem Mutterland Danmark
importiert werden, kosten sie so viel oder so wenig wie beim SPARmarkt in Århus oder Odense.
In Grønland
wird mit Dänenkronen bezahlt, und Danmark ist auch EU-Mitglied und
hat Zugang zu den EU-Partnerländern. Als Grønland
am 1.Mai 1979 autonom wurde, trat es sofort aus der EU aus, weil man
den Insulanern Fisch- und Walfangquoten vorschreiben wollte, aber
über Danmark sind die Schlitzohren natürlich trotz
Grøxits weiterhin durch
die Hintertür in der EU, müssen aber weder Flüchtlinge
aufnehmen noch auf ihren leckeren Walspeck verzichten. Und Greenpeace
zupft die Kalaallit (Grønländer) nur sehr zaghaft an ihren pelzigen drei Lagen; was
sollen sie im Winter denn sonst essen und anziehen?
Die Grønländer
nennen ihr Land Kalaallit Nunaat und sprechen ihre eigene Sprache
Kalaallisut, die mit dem Inuktitut, den Eskimosprachen Canadas und
Nordgrønlands, verwandt ist.
Das Kalaallisut der Westküste unterscheidet sich vom Kalaallisut
der Ostküste aufgrund der großen zeitlichen und
räumlichen Trennung derart stark, dass sich Grønländer vom Westen und Osten kaum miteinander verständigen können. Auch die Region von Qaanaaq (Thule) hat einen eigenen, starken Dialekt. Sowohl Aussprache als auch Grammatik dieser Sprachen gelten als
unerlernbar; wer sie beherrscht, der verfügt über eine
unknackbare Geheimsprache. Zum Glück wird das
Kalaallisut wenigstens in
Lateinschrift geschrieben; beim Inuktitut müsste
man noch eine neue, unerlernbare Schrift dazu lernen. Vielleicht hast
du
schon mal davon gehört, dass es allein für "Schnee" oder
"Eis" bei
diesem pelzverhüllten Volk eine zweistellige Zahl an Wörtern
gibt. Ab April 1978 wurde die Rechtschreibung des Kalaallisut
reformiert, bei der die zuvor durch Sonderzeichen gekennzeichneten langen Vokale und historische Schreibungen der gegenwärtigen Aussprache angepasst wurden. Schrieb man früher Kalâtdlit Nunât und iglu, das uns bekannte Wort für "Haus", heißt es seither Kalaallit Nunaat und illu.
Zumindest die Aussprache der besuchten Orte hat Frank den Einheimischen
abgelauscht, und zu seiner Freude wird Ilulissat ganz genau so
ausgesprochen, wie man es schreibt, where's the problem?
Frank könnte sich jetzt auf die Hotelterrasse legen und
Urlaubsbräune nachlegen, aber erstens ist er schon in Berlin und
Ísland ziemlich viel herumgelaufen und durchaus nicht mehr
bleich, und zweitens hast du ja vielleicht mal gehört,
dass sich in den Polregionen ein Ozonloch auftut, aus dem allerlei
Ungemach auf die pelzlose Haut prasselt, und Grønland
davon besonders betroffen sei. Aber nach zwei Wochen im Automobil tut dem Schnorrerschnarchsack eine
Ozontour zu Fuß sicherlich ganz gut.
Der erste Weg durch den Bretterbuden-Ort, der ein wenig an den Wilden
Westen erinnert, führt über krumme Wege durch naturbelassene
Wiesen, aus denen hier und da abgeschliffenene Felsen herausragen, die
freilich stabile Fundamente für die bonbonbunten Blockhäuser
bilden. Dauernd geht es rauf und runter; etliche Häuser sind nur
über holzgezimmerte Treppenstege erreichbar. Im Winter wird es
leichter sein, wenn meterhoher Schnee alles einebnet. Öffentliche
Gebäude, die Bank, die Post, das Rathaus, aber auch der
Supermarkt sind knallrot gestrichen; für die anderen Bauten nimmt
man wohl die Farbe, die gerade auf Lager ist, was eine kunterbunte Mischung von
farbigen Holzhäuschen ergibt, mit weißen Dachkendeln und
Fensterrahmen, die für alle Siedlungen in Grønland typisch ist.
Gleich stieß Frank auf den Qajaq Club, und kurz darauf auf eine
funkelnagelneue "Anstalten for domfældte", beide ebenso rot
gestrichen wie geschlossen. Möglicherweise gibt es in Ilulissat (noch) nicht genügend domfældte (verurteilte Verbrecher). Das Foto zeigt allerdings nur das schöne Postamt, das immerhin geöffnet war.
Jetzt denk aber bloß nicht, dass qajaq wie "Kajak" und annoraaq wie "Anorak" ausgesprochen wird. Das westgrønländische Q wird wie ein etwas stark aspiriertes H gesprochen, so ähnlich wie das CH in unserem Wort "acht". Und ein verdoppeltes QQ ergibt einen Laut wie bei einem Schwizer Choch i dr Chuchi.
Nachdem er sich vergewissert hatte, dass es mindestens vier Supermärkte
gibt, darunter auch den SPARmarkt Ilulissat, der bis 23 Uhr auf hat,
meinte Frank, dass er inzwischen genügend Ortskenntnisse habe, um
auf Sightseeing zu gehen. Einen fahrbaren Untersatz hat er nicht mehr,
aber seine Sneakers sind in dieser Sommerfrische prächtig dazu
geeignet, den schönen Wanderweg Kuukasik loop zu erkunden.
Vorbei an der Anstalt für Domfældte
führt die Minnerup Aqqutaa (Minnerup Straße) zum
Heizkraftwerk des Ortes, hinter dem die asphaltierte Piste endet und
eine Holztreppe auf die Felsen hinaufführt. Oben erwartet dich ein
Wanderweg über die Klippen, der nicht sehr beschwerlich ist; die
Gletscher haben während der Eiszeit und der Wärmeperioden
davor und danach alle Kanten rundgeschliffen, und in den Spalten haben
sich Kräuter, Moos und Blümchen angesiedelt, das ideale
Habitat für äußerst lästige Mücken. Die
Mosquitos sind dabei in der Minderzahl; sie fliegen behäbig und
lassen sich in aller Ruhe plattschlagen, aber Myriaden von
Minimücken, die nur an deinem Schweiß lutschen wollen,
stürzen sich auf alle Hautflächen und kitzeln dich bei jedem
Atemzug in der Nase, in die sie sich ebenfalls stürzen. Tollkühn, sag ich dir.
Der einzige Trost ist, dass solche Sturzkampfflieger nur schwach
motorisiert sind; sobald du oben bist, wo eine wundervolle Brise vom
Eisfjord heraufweht, lassen sie von dir ab, gegen den Nordwind kommen
sie nicht an.
Ein paar hundert Meter geht es
über Stock und Stein, vollkommen
naturbelassen, man muss nur dem gelben Punkt folgen, der ab und zu an
einen Felsen gekleckst ist, und steht bald vor einer Berghütte mit
Teeausschank, die aber bei Franks Ankunft nicht geöffnet war. Man
sagt, dass Grønländer mehrheitlich dem Alkohol zugetan
seien, was eine maßlose Untertreibung ist. Aber vielleicht
stand der Teeausschank nur zu dekorativen Zwecken oder in
Alibifunktion dort. Noch ein
paar hundert Meter weiter öffnet sich der Blick aufs offene Meer
und die Ausläufer des Eisfjords, bei dem herrlichen Wetter heute
ein wahrhaft atemberaubender Anblick.
Die Disko-Bucht enthält die größte Ansammlung von Eisbergen pro Quadratkilometer in der ganzen Welt.
"Jetzt biste wahrhaftig in Grønland", murmelte Frank vor sich hin. So
stellt man sich das ja vor. Natürlich ohne Mosquitos und
Kitzelmücken, und du ahnst auch nicht, dass die Eisgebirge, die
sich dort auftürmen, bei knapp 20 Grad so stark schwitzen, dass
sie knacken und auf der Sonnenseite wasserglänzende
Oberflächen aufweisen. Ja klar doch, sie knacken wirklich.
Das Meer im Fjord ist still, die Dünung sehr leicht, aber das Eis
gibt allerlei Laute von sich. Wirf mal einen Eiswürfel aus dem
Gefrierfach in den warmen Whisky, dann hörst du, wie es knackt.
Und zu dem Knacken des Eises kommt das ferne Knattern von
Außenbordmotoren der Boote, die diejenigen Touristen, die zu faul
zum Gehen sind, zu den Eisbergen shippern.
Die großen Eisberge treiben nicht aufs Meer hinaus, sie
hängen irgendwo am Grund fest, bis sie von der Julisonne
so gegrillt und mau sind, dass sie auseinanderbrechen. Wenn aber
am
Ausgang des Fjords so mächtige Ollies wie oben abgebildet den
Ausgang versperren, können auch kleinere Eisklunker nicht ins
schöne Nordmeer ausbrechen, sondern stauen sich auf zum ivuniq, dem zusammengeschobenen Treibeis - das ist der
Eisfjord der Disko-Bucht von Ilulissat.
Frank
sitzt da auf seinem Felsen und guckt zu, wie die Eisberge vor sich
hinknacken. Scheinbar bewegungslos schwitzen sie in der Sonne, die vom
makellos blauen Himmel scheint und richtig wärmt, aber man
hört, dass sie leben. Es ist so faszinierend, dass Frank sich gar
nicht losreißen kann von diesem Anblick, und wenn, dann nur, um
noch ein Stück weiter in den Fjord vorzudringen, wo das Meer
gänzlich vom Treibeis bedeckt ist. Aber denk bloß nicht, da
könnte man drüberspazieren! Alles treibt im Eismeer, und
auch dort, wo es vollständig bedeckt aussieht, schwappt das kalte
Wasser zwischen den hikuaq, den Eisschollen, und den maniilaq, den Eisbuckeln, lässt sie knacken und aneinander
schürfen. Es sieht aus, als sei der Nordpol gleich um die Ecke,
aber Frank hat keine Pudelmütze auf, keine Handschuhe an und
trägt auch keinen Pelz, sondern hockt da mit seinen Jeans und
Sneakers und starrt aufs Eis, als würde dort ein Kriminalfilm
vorgeführt.
Seine
Gefährtin Ka scheint sich mit so viel Eis ein wenig zu langweilen,
trotz des Scharrens und Knackens der weißen Skulpturen. Sie hat
nämlich auf dem Weg zum Heizkraftwerk etwas gesehen, das ihr keine
Ruhe lässt und von ihr näher erkundet werden möchte.
Auf allen Wiesen außerhalb des Stadtgebiets lagern nämlich
die Schlittenhunde und haben im Sommer allergrößte
Langeweile, weil es nichts für sie zu tun gibt. Angekettet liegen
sie im Gras und pennen, und wenn ein Kalaallit mit seinem Eimer Mampfi
kommt, um seine Tiere zu füttern, erhebt sich ein neidvolles
Heulkonzert aus vielen hundert hungrigen Huskykehlen.
Ka ist eine große Tierfreundin, und Hunde sind ihr besonders an
Herz gewachsen. Einer der Besitzer hat offenbar ein großes Herz
für seine Tiere, denn er lässt sie frei herumlaufen. Ka
braucht nur auf der Straße stehen zu bleiben und huhuuu zu rufen,
da kommen die neugierigen Welpen gleich angesaust und wollen mit ihr spielen.
Huskys sind kräftige Tiere, umgestüm beim Spielen. Aber
total lieb. Sie werfen Ka glatt um und tollen mit ihr auf der kaum befahrenen
Fahrbahn, wollen ihr das Gesicht ablecken und die Hände, und
obwohl es allerorts Warntafeln gibt, dass Elterntiere ziemlich
ungemütlich werden können, wenn ein Fremder sich den Welpen
nähert, sind die Eltern der Welpen genauso friedlich und lassen
sich von Frank knuddeln. Sie freuen sich ganz offenkundig über die
Gesellschaft, und wenn sie müde sind, legen sie sich neben Frank
ins Gras, bis sich am Horizont die Silhouette eines rundlichen Mannes
mit einem großen Eimer in der Hand abzeichnet.....
Was fressen Schlittenhunde in Kalaallit Nunaat? Hammel, Beef,
Wurscht, Schappi? Nichts von alledem. Im Eimer sind Heringe;
seit 150 Generationen kennen die kalten Hunde nichts Anderes als Fisch.
"Es gibt Sushi heute....!", ruft Papa Husky, und wuschschsch, weg sind sie alle wie der geölte Blitz.
Auf dem obigen Foto ist übrigens am oberen Bildrand der
Schornstein des Heizkraftwerks vor den felsigen Klippen, und rechts (auf dem unteren Bild auch links oben) die
lange rote "Anstalten
for domfældte" sichtbar. Und du siehst, dass selbst Ka sich nur
im Pulli, aber ohne annoraaq und Kamiken durch Ilulissat bewegte.
So, jetzt sitzt der Frank in Hemdsärmeln an einem Tisch im Freien
downtown Ilulissat und schlürft einen Tee, serviert von Girls aus
Thailand. Nein, keine Eskimas, das kann sogar der Frank unterscheiden.
Überdies haben sie neben Burgers und Pølser (Würstchen) noch Thai Curry auf der Speisekarte anstelle
von Walfischtran und Robbenspeck. Rings um die Kreuzung, die so etwas
wie das Zentrum von Ilulissat darstellt, reihen sich Souvenir Shops,
Trekking Agenturen, Icefjord-, Glacier-, Boot- und Helikoptertour-Anbieter, die Wale Watching, Robben Tauching und Hunde Schlitting Tours anbieten, Cafés und
die Bank, aus der man seine Dänenkronen beziehen kann. Eine
nähere Betrachtung der anderen Besucher, die in
überschaubaren Grüppchen die genannten Einrichtungen
bevölkern, führt zu der Erkenntnis, dass 80% oder mehr der
Rucksacktrekker mit der professionellen Ausrüstung urlaubende
Dänen sind. Andere Nationen sind nur sporadisch vertreten, sehen aber umso arktistauglicher aus.
Zu Franks Enttäuschung zählt Grønland
zu den wenigen Orten auf der Welt, in denen auch Hotel- und
Cafégäste fürs WiFi Gebühren entrichten
müssen, 30 Minuten 9 Kronen (1 € = ca. 7,50 DKr), das läppert sich...
Heute trifft man den Frank im Hafen an, aber nicht, weil er die Bekannten von
der AidaCara aus Genova begrüßen will, die dort mit einem
Shuttleboat des Kreuzfahrtriesen abgeliefert werden, weil der weiße Riese in der Bucht
ankert und bei weitem nicht in das lächerlich enge Hafenbecken von
Ilulissat passen würde. Der Cruiser hat anscheinend dasselbe
Programm wie Frank. Beinahe.
Zwischen zwei anlegenden Shuttleboats machte schnell eine Nussschale,
die nur 12 Passagiere fasst, am einzigen Landesteg des Hafens fest,
nahm Frank, Ka und einige Einheimische an Bord und drehte dann auf,
dass die Heringe erschrocken Reißaus nahmen und das Wasser
aufspritzte. Ein atemberaubender Slalom durch die Eisschollen vor
Ilulissat bei ungemindert raketengleichem Tempo folgte, haarscharf
vorbei an beachtlichen eisigen Brocken, während Ka sich auf der Sonnenseite des Schiffleins bis aufs T-Shirt entblößte, so heiß brannte die Sonne auf das Eismeer.
Nein, Frank ist nicht unterwegs zu den Lofoten, nach Føroyar oder
Svalbard, sondern er sitzt im Linienschiff nach Qeqertarsuaq. So
heißen Insel und Hafenort schräg gegenüber von
Ilulissat, es dauert nur knapp zwei Stunden, bis Frank die Disko-Insel
betritt.
Kein Mensch weiß zu sagen, warum Qeqertarsuaq bei Ausländern
Disko-Insel genannt wird. Kreisrund ist sie nicht, eine Disco gibt es
dort auch nicht; vielleicht kann kein Fremder den wirklichen Namen
aussprechen. Wenn Kalaallit den Namen nennen, klingt es so
ähnlich wie "hehertorrswach", wobei das e so dumpf klingt wie in "Kirchheimbolanden", also beinahe wie ein u.
Frank fand nichts dabei, "Hehertorrswach" zu sagen; nicht schwerer als "Disko", nur länger.
Die Schiffslinie heißt übrigens Disko Line, und das einzige
Hotel des Ortes heißt Disko Hotel, und gegenüber liegt die Disko Bucht, die haben da irgendeinen
Diskomplex....!
Der Hafen von Qeqertarsuaq mit seinem Walknochenbogen ist mindestens
zehnmal so groß wie der von Ilulissat, die Einwohnerzahl des
Ortes liegt aber nur bei 870. In Grønland gilt so etwas aber
schon als Stadt. Eine Stadt, die wegen des weiten, natürlichen
Hafens und der Wale, die hier oft zu Gast sind, 1773
gegründet wurde und zeitweise über 1000 Einwohner
zählte. Von der Walfangtradition kündet die Harpune neben dem
Landesteg, und wenn du nicht ahnst, welcher Zusammenhang zwischen
Harpune und Knochenbogen besteht, dann streng mal deinen Grips an.
Noch eine Attraktion weist Qeqertarsuaq auf, die ich dir nicht
verheimlichen will. Der Ort beherbergt das modernste
Fußballstadion Grønlands, und just in zehn Tagen findet
hier das Endspiel um die Meisterschaft von Kalaallit Nunaat statt.
Der schöne Rasen ist aus Plastik, aber die Eisschollen hinter dem Spielfeldrand sind echt.
Frank ist allerdings nicht wegen des Endspiels nach Qeqertarsuaq gekommen,
und auch nicht wegen der Hundeschlittentour auf dem Lyngmarkgletscher im Innern der
Insel, die auch in den Sommermonaten für einen vielstelligen
Kronenbetrag angeboten wird, sondern er hat hier allerhand vor.
Aber erst mal stelle ich dir das illu ("Iglu", Kalaallisut für "Haus") vor, das er bezogen hat, direkt
in der Ortsmitte, hundert Meter von der hölzernen Kirche. Die
Heizung hat er nicht angerührt, denn die Sonne scheint von allen
Seiten und rund um die Uhr durch die vielen Fenster und wärmt das
Appartement mit Küche und Bad auf Mallorca-Temperatur. Ein
Nachteil der zentralen Lage war, dass die fußballbegeisterte
Dorfjugend ihre private Meisterschaft auf der Straße direkt unter
Franks Schlafzimmerfenster von 1 bis 4 Uhr morgens austrug, jede Nacht, vermutlich
weil es ihnen tagsüber zu heiß ist.
Der erste Walk führt zur Wetterstation, weil sie auf dem Kap
liegt, vor dem sich die Eisberge tummeln. Die knacken nicht nur,
sondern innerhalb einer halben Stunde sah Frank zwei
kathedralengroße Brocken zersplittern, und ein prächtiger
Tsunami hämmerte hörbar auf die Klippen. Wenn so ein Dings
auseinanderbricht, meinst du, ein Gewitter sei im Kommen, so gewaltig
donnert es, und das Platschen der abgespaltenen Teile hört man
ebenfalls meilenweit. Es schließt sich ein Eisballett an, denn
beide neu entstandenen Eisschollen drehen und wenden sich mit einer
Leichtigkeit, die ihnen kein Fremder zutraute, bis sie ihren neuen
Schwerpunkt gefunden haben und möglicherweise kopfüber in
einer neuen Balance reglos meditierend verharren und
weiterschwitzen. Nur eine Korona von kleineren Splittern im Wasser
rings um den Eisbruch verrät, dass hier vor wenigen Minuten
ziemlich was los gewesen ist.
Während Frank aufs Eis starrt, wird Ka wieder unruhig, denn
erstens weht auf den Klippen eine steife Brise, und zweitens hat sie
auch hier rund um die bewohnten Zonen die Schlittenhunde in der
Vegetation dösen gesehen. Zu ihrem Leidwesen waren sie aber alle
angekettet, da konnte sie noch so viel Huhuuuu rufen, es heulte nur
Hohoooo zurück, aber keiner der gelangweilten, pelzigen Freunde kam zum Knuddeln.
Wenn du vom Fußballfeld aus weiter die Straße aus der Stadt
hinauswanderst, kommst du zur Arktischen Forschungsstation,
natürlich rot gestrichen, zum kommunalen Friedhof voller Plastikblumen und zum Ende der
Piste, die vor einem Bächlein kapituliert, das nicht einmal eine Mühle samt
Müller ernähren könnte. Aber was soll auch eine
Straße, die ins Nichts führt? Die Siedlung Qullissat auf
der anderen Seite der großen Insel ist schon seit langer Zeit
eine verlassene Ghost town.
Das Bächlein kann zu Zeiten der Schneeschmelze zu einem richtigen
Fluss ausarten, den die Dänen Røde Elv (Roter Fluss)
nennen. Er kommt natürlich vom Lyngmark-Gletscher und rinnt durch
die moosige Heide, deren Basalt- und Lavagrund verrät, dass diese größte Insel vor Grønlands Westküste vulkanischen Ursprungs ist. Über eine
Fußgängerbrücke gelangst du auf die andere Seite des braunroten
Gewässers und folgst dann einem Saumpfad ins
Landesinnere, das von den berühmten grønländischen
Mücken und Schnaken beherrscht wird, die jeden Besucher begeistert willkommen heißen. Die Steigung ist zwar nicht
nennenswert, aber die Sonne am stahlblauen Himmel bringt nicht nur
Eisberge, sondern auch wandernde Fremdlinge ins Schwitzen. Die knacken
allerdings nicht, noch nicht, sondern freuen sich an der fast
unberührten Sommervegetation Grønlands und am Blick zurück auf Bucht und Eisberge.
Während er sich den Schweiß von der Stirne wischt, denkt
Frank grinsend an die Pudelmütze, die in seinem Koffer
unberührt vor sich hindöst, und auch von Ka hat er schon
länger nicht mehr den Refrain von den unbedingt zu kaufenden
Handschuhen gehört; beide riskieren es gerade, im T-Shirt den
Mücken bessere Angriffsflächen zu bieten, und freuen sich
über jeden Windhauch, der es vom Polarmeer bis auf die ziemlich
trockene Heide schafft.
Der Fluss hat sich tief in den Lavaboden gefressen, und der
Pfad, auch im Sommer von nur wenigen Wanderern betreten, schürft
mitunter beängstigend nah am ungesicherten Abgrund entlang, aus
dem es stellenweise, wenn der Fluss einen wasserfallartigen Hüpfer
macht, recht heftig rauscht.
Bis zum Gletscher sind es noch viele Kilometer; Frank genügen die
drei Kilometer zu den Basaltsäulen und zum Wasserfällchen,
bevor er sich einen anderen Weg sucht, um wieder zu seinen Eisbergen
zurückzukehren.
Allein mit der stillen, weiten, grønländischen
Natur stapft Frank durch die Tundra; in der Ferne sieht er einen Trupp
von Leuten der Arktischen Station irgendwelche Experimente
durchführen, die die Auswirkungen von verschieden dickem
Schneebelag auf die Vegetation erforschen, und erst in der Nähe
des Städtchens begegnen ihm zwei taffe Girls mit
himalayatauglicher Ausrüstung, Trekking-Rucksack, Regencape,
wasserdichten Wanderstiefeln und vermutlich dreilagiger
Angora-Underwear, die den Hang hinaufkeuchen und alle 400 m Pause
machen, während Frank noch immer im T-Shirt, mit denselben
Sneakers und Jeans, in denen er schon durch Sydney, Tokyo und Berlin getappst ist, den
sonnigen Tag in vollen Zügen genießt. Der bedeutendste
Unterschied zu Berlin ist eigentlich, dass es dort bei 14 Grad mit
wenigen Unterbrechungen nur geregnet hatte, während man sich hier,
wäre nicht im Meer das Treibeis, wie auf Lanzarote fühlen
könnte.
Um seinen Vitaminspiegel nicht sinken zu lassen, watschelt Frank
Blaubeeren kauend zu Tal und holt sich im Supermarkt des Ortes ein Körbchen
Trauben, die nicht teurer sind als in Kirchheimbolanden, aber laut
Label aus Ägypten nach Qeqertarsuaq gelangt sind; es sind
sozusagen die Touristen unter den Trauben dieser Welt.
Ein anderer Weg führt auf den 1000 m hohen Hausberg des Ortes, mit
einer tollen Aussicht bis rüber nach Ilulissat, aber die Stadt
kennt Frank schon, Aussicht hatte er auch vom Røde
Elv aus, und 1000 m vom Strand aus hochkraxeln ist nicht so ganz seine
Art. Er ist schließlich Schnorrer und würde sich auf einen
Sessellift oder Aufzug eventuell einlassen, aber nicht aufs
Rockclimbing. Aus diesem Grunde führt seine nächste
Expedition zum Südkap, denn dorthin geht es wenigstens nur über Klippen,
ebenso rundgeschliffen wie in Ilulissat. Er gelangte dabei aber an Stellen, die von den Fischern versaut worden
waren. Hunderte von Fischköpfen, die zwischen den Felsen verwesen,
Glasscherben, Netzfetzen und zerbrochene Qajaqpaddel, Schuppen, Flossen
und Innereien, so viel, dass die Möven daran tagelang zu kauen
hätten. In einer sauberen Bucht fand er ein schönes
Eisnugget, das die Flut auf die Felsen gesetzt hatte, und dann
hörte er vom Ufer her seltsame Laute, die ihn neugierig machten.
Nein, keine Pinguine beim Coitus, du Dodo! Und keine Eskimos bei
schamanischen Riten. Sondern Badegäste, die laut prustend im klaren
Wasser ihren Spaß haben.
Das nimmst du mir wieder mal nicht ab, sagst du? Im Eismeer würde doch niemand baden....
Der Frank nicht, das stimmt. Aber die Buckelwale. Du brauchst dich hier
nur auf die Klippen zu setzen, da hast du dein Whale Watching. Ohne
Reisebüro. Direkt vor deiner Nase, 20 Meter vom Ufer entfernt.
Schnauf, prust, zisch, platsch, die Viecher haben offenkundig ihr
Vergnügen, ihre Geysire in den blauen Himmel zu blasen,
während es hinter ihnen in der Bucht rumpelt, knirscht und
donnert - die Eisberge tanzen wieder. Hier ist was los, sag ich
dir. Du musst dich nur vor den Tsunamis in Acht nehmen, aber mehr als
einen nassen Popo wirst du davon nicht bekommen.
Und dann sitzt Frank wieder in der Fjordrakete, die ihn diesmal in nur
anderthalb Stunden nach Ilulissat zurückbrachte; außer ihm
und Ka waren nur Einheimische mit an Bord, es ist kein
Touristen-Kreuzer, sondern das lokale Linienschiff, und diesmal musste
es vor Ilulissat tüchtig kurven und Tempo zurücknehmen, um
die wenigen Lücken zwischen dem Treibeis zu finden, das aus unerfindlichen
Gründen viel dichter war als vor drei Tagen. Vielleicht hat ja
auch hier der Eisfjord gekalbt.