(7)

  

Langsam werden auch wir zu richtigen Ulaanbaataresen. Knuspern unentwegt Pinienkerne, die an jeder Ecke für 100 Tögrögs zu kaufen sind, und speuzen die Schalen, wie alle anderen Hauptstädter auch, aufs löcherige Trottoir oder auf den pinienkernbedeckten Boden im Trolleybus, den wir mit der Selbstverständlichkeit alteingesessener Einwohner benutzen, hocken uns am Abend in den Biergarten Khan Bräu, wo man nicht nur Khorlog, sondern auch Mozzarella mit Basilico ordern kann. Wir haben gelernt, hinter bröckelnden, ostblockblassen Fassaden Internet-Cafés oder hervorragende koreanische und chinesische Cuisine zu entdecken. Zum Abschied von Mauro und Fabiana hocken wir uns ins heimelige "Oscar", ein dezentes Restaurant mit dezenten Preisen, und leeren anschließend in einem flotten Gartenlokal noch eine Bottel italienischen Rotwein, das gibt's alles in UB, obwohl diese Stadt wirklich nicht danach aussieht; man muss nur mit ein wenig Geduld suchen und sich einfach überall mal reintrauen. Die Stadt ist schon ganz okay so. Zurzeit ist sie noch im Umbruch, aber in wenigen Jahren werden die cleveren Studenten und Studentinnen, die jetzt am Abend noch als Kellner/innen in dimmen Bierschwemmen jobben, selbständige Unternehmer sein und ihre eigenen, glitzernden Discoschuppen, Nobelrestaurants oder Internet-Klitschen aufmachen, die stumpfgrauen Kakerlaken-Kasernen abreißen und moderne Banking Centers und Business-Buildings in die City klotzen. Kann nicht mehr lang dauern. Lernbegierig und fleißig sind die jungen Mongolen allemal; ich habe auf der bisherigen Reise bei der Begegnung mit ausländischen Reisegruppen mongolische Mädels als Reiseführerinnen fließend deutsch, japanisch, spanisch und italienisch parlieren gehört, und russisch können sie ohnehin allesamt. Wenn sie sich mit dem gleichen Eifer und Erfolg auch auf andere Wissenschaften und Techniken stürzen, ist das Land in zwei Generationen nicht mehr wiederzuerkennen.

 

 
betteln
OFFICE-LADY UND BETTELKIND, ULAANBAATAR

  

Noch lastet freilich das kommunistische Erbe stark auf dem Aufbruch; man sieht es symbolhaft in der Staatlichen Kunstgalerie: 70% der ausgestellten Werke sind sozialistischer Kitsch, die restlichen 30% lohnen freilich den Ausländer-Sonderpreis von 1.500 Tögrög. Teurer (2.400 T), aber dafür ohne Kitsch, ist der Eintritt zum Zanabazar-Kunstmuseum, das neben Zanabazar-Skulpturen auch eine reiche Auswahl von Thanka-Bildrollen, Tsam-Masken und das 'Nationalgemälde' "One day in Mongolia" von B. Sharav enthält. Etwas außerhalb, aber mit dem Bus leicht zu erreichen, rundet noch der Winterpalast des VIII. Bogd Khaan den Kulturtag ab. Der Bogd Khaan ist der mongolische Dalai Lama und wird von Tibet aus eingesetzt; als die Nr. 8 starb, waren allerdings die Stalinisten am Ruder und verhinderten, dass die Wahl des IX. Bogd Khaan bekannt wurde. Der zum buddhistischen Oberhaupt der Mongolei ausgerufene Junge musste nach Tibet flüchten und lebt heute zusammen mit dem Dalai Lama in dessen indischem Exil; seine Existenz ist nur den wenigsten Mongolen bekannt. Der Bogd Khaan-Palasttempel ähnelt dem Tempel des Choijin Lama, enthält jedoch eine Kutsche made in England und ein Himmelbett made in France sowie einen Souvenirladen, den japanische Hausfrauen soeben leerzukaufen versuchen. Mit Bewunderung schaue ich der Dame zu, die für ein Seidenkleid und eine mongolische Fiedel ungerührt 140 $ hinblättert und dann schwerbepackt, aber hochzufrieden den Laden verlässt. Langsam verstehe ich, dass hier Japaner hochwillkommen sind, obwohl sie auch in der Mongolei vor einem halben Jahrhundert etliche Schweinereien begangen haben. Allerdings sind auf dem geschäftlichen Sektor die Koreaner wesentlich präsenter. Ganz UB scheint von Investoren aus Korea durchsetzt, koreanische Firmen und Restaurants beherrschen unübersehbar das Stadtbild, und wer weiß, wie viele der dem Augenschein nach mongolischen Geschäftsleute im Zentrum der Stadt in Wirklichkeit Koreaner sind.

  

Der letzte Ausflug in entlegene Landesteile soll uns nach Khövsgöl führen. Die Attraktion dieser Provinz im Norden, die ans russische Sibirien grenzt, ist der größte Süßwassersee der Mongolei, der Khövsgöl Nuur. Tuvshin ist happy, dass sie uns auch dorthin begleiten darf, denn der See ist ihrer Meinung nach nicht nur der schönste Ort der Mongolei, sondern auch die Heimat ihres Vaters.
 
Wir sind freilich vorgewarnt; es soll dort, in der Taiga, noch kälter sein als in Terelj und überdies so häufig regnen wie in Schottland. Der Vergleich hinkt, ich bitte alle Schotten um Verzeihung; ich weiß, in Schottland regnet es nicht, sondern es ist nur mehr oder weniger neblig. Ka hat im Kaufhaus von UB vorsorglich dicke Strumpfhosen und eine zusätzliche Strickjacke (made in Korea) eingekauft, und nun hocken wir wieder in einer der robusten russischen Propellermaschinen, bei denen sich niemand darüber aufregt, dass die Reifen windelweich aufgepumpt sind und die Triebwerke nach dem Auftanken erst einmal heftig Feuer spucken, bevor der Fahrtwind auf der Startbahn die Feuerschleppe auspustet. Keine Sorge, wir kamen ohne Zwischenfälle in der Provinzhauptstadt Mörön an, wo schon unser Chauffeur Ayurtsin mit seinem Jeep auf uns wartete. Viereinhalb Stunden ratterten wir durch die Taiga, erklommen auf steilen, glitschigen Waldwegen bei Khatgal einen Pass und rutschten dann im Geländegang auf der anderen Seite zwischen Birken und Kiefern wieder ins Tal hinunter. Mein Respekt vor den Leistungen des Allradantriebs russischer Jeeps wuchs auf dieser Fahrt erneut mit jedem zurückgelegten Kilometer.
  

Auf einer Landzunge direkt am See gelegen, idyllisch wie gemalt, präsentierte sich das Ger-Camp von Toilogt, vor dem unser blitzblanker Jeep zum Stehen kam. Bei jedem noch so kurzen Halt pflegte Ayurtsin nämlich mit Inbrunst sein Gefährt zu wienern; wie muss ihn jede Pfütze, jedes Schlammloch in der Seele schmerzen! Wie gerädert entstiegen wir stocksteif dem schnaufenden Vehikel, heilfroh, dass jetzt ein paar jeeplose Tage vor uns liegen.

 


khovsgol1
BADEGÄSTE AM STRAND DES KHÖVSGÖL-SEES

 

Die Nächte in der Taiga sind zwar so kühl, dass man gut daran tut, sich den Ofen anheizen zu lassen, aber länger als zwei Stunden hält das Holzfeuer nicht vor. Während die Glut zu Asche wird, sollte man einschlafen, damit man erst am Morgen von der Kälte geweckt wird, die unter die zwei Wolldecken gekrochen kommt. Dennoch ist es nicht so kalt wie wir erwartet hatten; die Nächte in Terelj waren kälter. Und dass uns am Morgen ein blitzblank azurblauer Himmel anlachte, übertraf die kühnsten Hoffnungen. Bei so einem Wetter nehmen wir gleich den wichtigsten Programmpunkt in Angriff: Wir mieten uns Pferde und reiten durch die Taiga, denn man kann ja schlecht in der Mongolei gewesen sein, ohne sich auch nur einmal an dem populärsten Verkehrsmittel des Landes versucht zu haben. Als Greenhorns bekommen wir besonders sanfte Tiere ausgesucht; mein Gaul ist der größte, aber auch der faulste, und setzt sich nur recht widerwillig in Bewegung. Vermutlich hat man mir ein Methusalem-Riesenross angedreht, aber für 4 Mark pro Stunde nehme ich das in Kauf. Ka hat Glück gehabt, denn ihr Rössl trabt, auch ohne Aufforderung, munter den anderen Pferden hinterher, was aussieht, als sei Ka eine geübte Reiterin; dabei hält sie sich an den Zügeln einfach nur fest, damit sie nicht runterfällt, und überlässt es dem Pferd, den richtigen Weg zu finden. Das kennt sich in der Gegend ohnehin besser aus als wir.

  

zeltHoch in den Bergen wohnt ein seltsames Volk, die Tsaatan, Nomaden wie die Mongolen. Sie haben sich jedoch auf die Zucht von Rentieren spezialisiert, und diese Viecher fressen kein gewöhnliches Heu, sondern nur bestimmte Gebirgskräuter und Flechten. So frieren die Tsaatan auf den kahlen Gipfeln an der russischen Grenze und kommen nur im Sommer ins Tal, um sich ein bisschen Kleingeld zu verdienen, indem sie sich den Touristen als Fotomodels präsentieren. Nach 15 km Ritt erreichten wir eine Tsaatan-Sippe, am Hang eines Tales inmitten ihrer Rentiere hausend. Die Zelte der Tsaatan sind wirklich Zelte, keine Gers; sie sehen aus wie Indianer-Tipis: Ein paar Latten im Kreis aufgestellt, oben zusammengebunden, dann ein paar Rentierfelle drüber, und fertig ist das Appartement. Mir ist schleierhaft, wie sie darin den sibirischen Winter und die Frühlingsorkane überstehen. Bei 50 Grad unter Null bauen sie das Ding auf die Schneedecke, machen das Bulleröfchen an und rollen sich alle drum herum, erläutert Tuvshin. Es ist so kalt, dass der Schnee um das Öfchen bis zum Morgen nicht wegschmilzt, sondern nur eine kleine Kuhle entsteht.

   

"Das ist nichts für mich", sagen sich die jungen Tsaatan-Mädchen, gehen nach UB, studieren Informatik und gehen abends in die Disco. "Und so", seufzt die Tsaatan-Mutter mit Blick auf ihre sechs ledigen Söhne, "kriegen die Jungs einfach keine Frau."

  
 

tsaatan
TSAATAN-MUTTER UND BRAUTLOSE SÖHNE


Der Älteste ist 27, der jüngste 8. Tja, die Jungs haben es nicht leicht, denn aus Loyalität den Eltern gegenüber müssen sie dableiben und mithelfen, Rentiere aufpäppeln und schlachten anstatt Lesen und Schreiben zu lernen. Dann packt die Dame ein paar Rentierfell-Beutelchen aus, kosten nur 3000 Tögrög, "und wenn ihr weitere 3000 T bezahlt, dürft ihr die Rentiere fotografieren."

Ganz schön geschäftstüchtig für eine Analphabetin. Immerhin bekamen wir die Rentiermilch gratis vorgesetzt, dankten freilich auch nach mongolischer Sitte mit Gegengaben für die Gastfreundschaft.

Auf dem Rückritt waren wir schon daran gewöhnt, dass Pferde dauernd laut furzen, wenn man sie reitenderweise in Bewegung versetzt. Flott zu Tal zu traben macht trotzdem mehr Spaß als von einem dieselqualmigen Jeep durchgerüttelt zu werden. Mein Rückgrat und Hinterteil waren von dem 30 km-Ritt kaum beeindruckt, es schmerzten nur die Waden, weil die Länge der Steigbügel nicht gut eingestellt war.

 

Als ich einst mit der Transsib durch die Taiga gerumpelt bin, hatte ich mir beim Blick aus dem Fenster auf endlose Birkenwälder gewünscht, einmal nach Herzenslust dort herumstromern zu können. Im Spessart stößt man nach spätestens einer Stunde Wald auf eine verkehrsreiche Straße oder Bahnlinie, aber in der Taiga kann man tagelang, wochenlang marschieren, ohne die unberührte Natur zu verlassen. Heute werden die Träume wahr, wenn auch nicht wochenlang. Wir lassen Tuvshin im Camp zurück und wandern wie der lustvolle Müller. In der stalinistischen Tradition (?) geht es aber nicht ganz ohne Aufpasser ab: Seit Kurro, der schwarze Rüde mit den hellen Augenbrauen, gestern Abend die Reste von Kas Khuushuurs bekommen hatte, weicht er uns nicht mehr von den Fersen. Schon beim Abendspaziergang rund um die nahe Lagune hatte er uns treu begleitet, als sei er von der Stasi, und nahm auch an diesem strahlend schönen Herbstmorgen sofort die Witterung einer neuen Ration Khuushuur auf, als wir vom dichten Wald verschluckt wurden. Rund um das Ger-Camp sind viele Leute zugange; der Wald ist daher von Pfaden und Reitwegen durchzogen, die Landschaft am See ist eben, die Luft ist frisch, nicht zu kalt, nicht zu heiß; es summt kein Moskito, es brummt keine Fliege, das Wetter ist ideal --- paradiesisch. Schade, dass wir am Nachmittag wieder zurück sein müssen, aber Ayurtsin will uns auf einen Gipfel chauffieren, wo wir den ganzen See überblicken können, und das sollte man nicht aufschieben, weil zwei Tage hintereinander ohne Regenwolken hier fast als Sensation gelten.

  

Kurro geht seine eigenen Wege, scheucht hier ein Karnickel, buddelt dort in einer Fuchshöhle, trabt mal rechts, mal links vom Weg quer durch die Botanik, verschwindet auch mal minutenlang aus der Sicht, aber dann raschelt es im Unterholz, und schon kommt er angetrabt, als wollte er nach uns schauen, bevor er zu einer weiteren Expedition ins Gehölz aufbricht. Es geht nach zwei Stunden allmählich bergab, bis der Pfad in eine Lichtung mündet, die sich bis ans Seeufer erstreckt. Während wir Pause machen, plantscht Kurro quietschvergnügt im See, und wenn der Wind nicht so frisch wäre, täte ich das wohl auch. Das Wasser ist allerdings eisig; nur vier Monate lang ist der See überhaupt flüssig, von Oktober bis Mai ist er zugefroren, und der Eispanzer ist dick genug, um voll beladene Lastzüge zu tragen. Offiziell ist das Befahren der Eisfläche verboten, weil Motorenöl und anderer Dreck bei der Schneeschmelze den See würzen, der bislang noch einer der reinsten Seen der Welt ist; man kann an jeder Stelle so tief sehen, wie das Licht reicht, das Wasser ist tatsächlich glasklar und hat Trinkwasserqualität. Und das bei einer Fläche von 2760 qkm, doppelt so groß wie der Bodensee, gespeist von 90 Zuflüssen, während nur ein Abfluss den See verlässt und in den Baikalsee mündet. Im Schein der Nachmittagsonne lässt sich von dem Gipfel aus, den wir mit Ayurtsins Hilfe erklommen hatten, der ganze Khövsgöl-See überblicken. Die schneebedeckten Gipfel im Norden sind schon Russland, denn die Grenze verläuft nur wenige km nördlich des Sees.

  

khovsgol2
WIE IN DER SCHWEIZ --- KHÖVSGÖL NUUR

 

Im Restaurant des Ger-Camps liegen dicke mongolische Nomadenkäse zur kostenlosen Selbstbedienung aus. Eine willkommene Bereicherung vor allem des Frühstücks, denn wie jemand von zwei Schnitten Brot und Marmelade satt werden kann, ist mir schon früher in Deutschland ein Rätsel gewesen. Wir erfuhren, dass eine Gruppe Schweizer, die ursprünglich hier einen Kanu-Verleih für Wildwassertouren aufgemacht hatten, nun zusammen mit dem Manager des Ger-Camps und einem aus der Schweiz importierten Käsereimeister den Nomaden moderne Techniken und ein bisschen Schweizer Knowhow für die Käseherstellung beibringen wollen. Dadurch würden die Nomadenkäse länger haltbar, könnten nach UB exportiert werden und den Hirten der Provinz zu etwas mehr Einkommen verhelfen. Weil Mongolen nur ausgewachsene Tiere schlachten, ist ihnen das aus Kalbsmägen gewonnene Lab, jenes Enzym, das für den Fermentierungsprozess so überaus hilfreich ist, unbekannt, obwohl sie es sonst beim Käseherstellen mit jedem anderen Volk spielend aufnehmen können. Ich ließ mir die Käserei-Hütte zeigen und hörte mit Erleichterung, dass die freiwilligen Entwicklungshelfer keineswegs planten, den Mongolen die Produktion von Emmentaler, dem Schweizer Käse mit den großen Löchern, nahezulegen.