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Den ganzen Tag lang wehte uns der heftige Sturm Staub und Sand in die Augen und zerrte so wild an den Haaren, dass die Haarwurzeln schmerzten. Im Abendlicht rumpelten wir wieder im Jeep durch die Schlaglöcher; da stand ein Junge ganz mutterseelenallein in der weiten, windigen Wildnis wie der Kleine Prinz von Saint-Exupéry. Doky bremste nicht einmal ab. Khoika aber, der Nomadensohn, der mit moderner französischer Literatur wenig vertraut ist, roch förmlich, dass da etwas nicht in Ordnung war. Die Sonne ging gleich unter, und das Kind war ohne Pferd zu Fuß unterwegs, ein Ger weit und breit nicht zu erblicken. Khoika brachte den Jeep zum Stehen und fragte den Knirps aus, der nicht gewinkt, sondern nur Dokys Jeep stumm nachgeguckt hatte.

 
 

pferde"Ich war mit der Mama und drei Geschwistern bei dem Reiterfest. Jetzt gehe ich nach Hause."
"Und wo ist die Mama?"
"Weiß nicht, die hab ich da aus den Augen verloren."
"Und wo bist du zu Hause?"
"In Dalanzadgad, da wohnt auch mein Papa."
Bis zur Provinzhauptstadt Dalanzadgad sind es gut 60 Kilometer, da kommt der Bub erst in drei Tagen an, wenn er so weiterläuft und sich nicht verirrt. Immerhin stimmte die Wegrichtung; der Festplatz war von hier aus 18 km entfernt.

 


"Wie lange bist du denn schon unterwegs?"
"
Seit gestern Nachmittag."
"
Und die Nacht? Wo hast du die verbracht?"
"
Bei Leuten in einem Ger. Die haben mir auch was zu essen gegeben."

Absolut taff, so ein Nomadenkind. Heult nicht, jammert nicht nach der verlorenen Mama, sondern marschiert einfach drauflos, "nach Hause". Seit dem Morgen hatte der Knirps nichts mehr gegessen, und wo das nächste Ger steht, in dem er über Nacht bleiben könnte, ist ungewiss. Khoika packte den Jungen in den Jeep, ich gab ihm einen Schluck aus der Wasserflasche und genießbare Reste unseres Mittagessens. Im Ger-Camp bekam er ein kräftiges Abendessen, bevor Khoika eine Nachtschicht einlegte und den Jungen nach Dalanzadgad zu seinem Vater chauffierte. Wie in diesem Land üblich, machte der dankbare Vater eine Flasche Wodka auf und setzte dem Gast ein währschaftes Kilo Hammelfleisch vor, weshalb Khoika erst bei Sonnenaufgang im Ger-Camp eintraf, als alle noch in tiefem Schlaf lagen.

 

Der Sturm des heutigen Tages bescherte uns einen besonderen Sonnenuntergang; die Streuung durch den feinen Sand in der Luft bewirkte, dass die Sonne groß und weiß mit einem blendend hellen Lichthof am Horizont versank. Der feine Sand hatte auch Tisch und Betten im Ger mit einer knirschenden Schicht überzogen; im Frühjahr, wenn noch wildere Stürme die Gobi aufmischen und den Sand bis in die Stratosphäre wirbeln, zieht er mit der Jet-Strömung nach Osten und gelangt zum Teil bis nach Japan. Wenn eine dünne gelbe Sandschicht auf den Dächern der geparkten Autos in Tokyo erkennbar ist, dann ist das nämlich frischer mongolischer Importsand.

  

Als wir unser Ger betraten, hockte ein Karnickel mitten im Raum, guckte genauso blöd wie wir und machte sich nach einer Schrecksekunde schleunigst durch dieselbe Filzlücke von dannen, durch die es auch hereingekommen war.

   

Der starke Wind blies auch am folgenden Tag mit unverminderter Kraft, war jedoch erheblich kühler als gestern. Wann immer die flott durch die pfannkuchenplatte Wüste zoschenden Jeeps eine Pinkelpause oder einen technischen Halt einlegten, begannen nach wenigen Minuten die kurzbehosten Südländer zu frösteln. Sogar Khoika, der bei Sonnenschein stets mit entblößtem Oberkörper fuhr und bei jedem Halt einen Eimer Wasser über seinen Stoppelkopf goss, musste niesen, und das im August in der Wüste Gobi! Gelegenheit zum Warmwerden ergab ein Brunnen, an dem ein Hirte gerade sein Vieh tränkte. Wir machten Halt, und Tuvshin erklärte, es sei ein ungeschriebenes Gesetz in der Mongolei, dass jeder Vorüberkommende mithilft, wenn er sieht, dass eine Herde getränkt wird. Wer nicht hilft, so droht der Volksmund, bekomme später missgebildeten Nachwuchs. Da schöpfen wir doch lieber Brunnenwasser, obwohl wir eigentlich nicht mehr mit Nachwuchs rechnen.

 

traenke
SAUFEN, SCHLUCKEN.....WIE DIE DEUTSCHEN AUF MALLORCA

   

Schnell wurde uns klar, warum ein Reiter allein seine Herde kaum tränken kann. Einer muss Wasser schöpfen und in den Trog füllen, einer muss die Rinder abdrängen, die sonst nicht vom Wasser weichen würden, einer muss dafür sorgen, dass alle Schafe und Ziegen trinken und nicht die schwachen Tiere von den starken weggemobbt werden wie der Prokurist in deinem Büro, und einer muss aufpassen, dass die Herde nicht auseinanderläuft.
 
In einem ausgetrockneten Flussbett durchquerten wir die Bergkette Gurvansai Khan, die bisher stets den südlichen Horizont begrenzt hatte; im Frühjahr, wenn der Schnee schmilzt, würde kein Jeep hier durchkommen. Hinter den Bergen erstreckt sich die weite, wellige Wüste, und in der Ferne schimmern weißgelb die Sanddünen Khongoryn Els. Diese Dünen ziehen sich in einer Länge von etwa 80 km und bis zu 10 km breit durch die Gobi, bis sie an kahlen, felsigen Berghängen enden. Es führt kein Weg, keine Piste durch diesen sandigen Todesstreifen. Die Grenze zu China liegt zwar noch hunderte km weiter im Süden, aber bis dahin ist menschenleeres Niemandsland, nur mit dem Hubschrauber zu erreichen, sofern man einen hat. Angeblich verfügt die gesamte Mongolei derzeit nur über 4 einsatzbereite Helikopter.

  

Am Fuß der Sanddünen gluckst ein sehr klares Bächlein, gesäumt von den saftigsten Wiesen, die man sich vorstellen kann. Glückliche Kühe weiden da, und sechs ausländische Touristen picknicken vor der Szenerie der mächtigen Dünen.

 
 

wiese

DER GRIESBREIBERG AM EINGANG ZUM SCHLARAFFENLAND

 

"Roberto, bitte nicht in den Bach pinkeln! Wir Mongolen nutzen alle Wasserläufe als Trink- und Waschwasser und halten es so rein wie möglich. Für die Nomaden und ihr Vieh ist es lebenswichtig, denn sie haben keine Wasserleitungen," doziert Tuvshin.

Und auch keine Tankstellen. Unsere wackeren Rennfahrer hatten deshalb im Ger-Camp mehrere Kanister mit Diesel gefüllt. Vielleicht war ein Verschluss nicht ganz dicht, unsere Stullen dufteten jedenfalls ziemlich feuergefährlich; gut, dass niemand rauchte, denn sogar die Rülpser schmeckten nach OPEC. Ich beneidete die Kühe um ihr frisches Gras. Fabiana fand das allerdings nicht zum Lachen, als sie feststellte, dass der Treibstoff sich vornehmlich in ihrem Rucksack angesammelt hatte. Kamelkäsesauer folgte sie uns bei der Dünenbesteigung, bei der jeder Schritt einen kleinen Sandsturm auslöste, und die Sandkörnchen, die der Sturm mit Macht auf die blanke Haut fegte, pieksten wie feine Nadelstiche. Noch bevor wir richtig oben waren, enthielt jede Hosentasche so viel Sand wie eine mittelgroße Eieruhr, und beim Filmwechsel rieselte eine Ladung Sand aus der Kamera, die doch eigentlich licht-, luft- und wasserdicht sein sollte. Während es in Ohren, Mund, Nasenpopel und zwischen den Augenlidern sandig knirschte, ging mir durch den Sinn, welch tolles Ding der menschliche Körper doch ist: In meinem Bauch gaben sich Reis, Dieselöl und mindestens ein Viertelpfund Wüstensand, durch alle Körperöffnungen eingefüllt, ein Stelldichein --- und vertrugen sich blendend.

 

duene hgwueste
GOBI-ART

 

Das heutige Ger-Camp war ganz in der Nähe; es blieb noch Zeit für einen Abendspaziergang in der Wüste, und zu unserer Überraschung entpuppte sich das dürftige Grün, das hie und da sprießt, von Nahem betrachtet fast ausschließlich als wilder Schnittlauch. schnittlauchAuf unsere Frage, ob auch Mongolen das Zeug als Kochgewürz verwenden, schnitt Tuvshin eine Grimasse:

"Sowas fressen doch höchstens die Pferde."

Auch der Majoran, der in den Steppengebieten zuhauf gedeiht, wird von der mongolischen Cuisine mit Verachtung gestraft. Die begnügt sich meist mit Khuushuur, das ist eine Art Mehltasche, so groß wie eine ausgestreckte Hand, mit Hammelhack gefüllt und fritiert. Wenn das Fett frisch und die Khuushuurs noch heiß sind, kann man damit durchaus leben, aber wenn man es als kaltes Wüstenpicknick, mit Dieselsprit gewürzt, auspackt, kriegt man schnell die Schnauze voll von kaltem Hammelfett.

 

Caramba, das war ein Schlag! Wir rammten unsere Schädel nun schon zum zweiten Mal fast durch das Jeepdach. Khoika hatte einen schlechten Tag heute und fuhr trotzdem wie gedopt. Aber diese übersehene, zwei Treppenstufen hohe Bodenwelle haut den stärksten Russen vom Schemel. Ein Pneu hauchte seinen Geist aus, und das Lenkgestänge war offenbar ähnlich gestaucht wie mein Rückgrat. Eine gute Stunde Klempnerei und vorsichtige Tests, ob Gangschaltung und Bremsen den Flug in die Schwerelosigkeit samt unsanfter Landung überlebt haben. Irgendwie gelangten wir aber zum Gurvansai-Khan-Nationalpark, der wie alle NPs in der Mongolei gebührenpflichtig ist, 100 T. für Mongolen und das zehnfache für Ausländer, das ist die wahre Gastfreundschaft!

 

Die 1000 Tögrög lohnen sich freilich, denn man bekommt dafür das erste und womöglich einzige Verkehrsschild in der Mongolei zu Gesicht: Ein Tempolimit auf 30 km/h, das jeder Automobilist, dem sein Gefährt lieb ist, auf dieser Piste, die sich gerade über faustgroßes Geröll plagt, wohl auch ohne das Schild penibel respektieren wird. Das Tal, dem die Jeeps folgen, geht in eine weite Wiese über, die mit einem Zaun für Fahrzeuge gesperrt ist. Weiter geht es per pedes oder im Sattel, aber für den Preis, den der Pferdemensch für eine Stunde Gaul verlangt, könnte man sich vermutlich auch einen der vier mongolischen Hubschrauber leasen. Bis zu der großen Attraktion, der Schlucht Yolyn Am, braucht man freilich nur 20 Minuten über die Wiese zu tippeln, in der ein munteres Bächlein entspringt und dann in die Schlucht gluckert. Diese wird zunehmend enger, mit steilen, mehrere hundert Meter hoch aufragenden Felswänden, und am Ende müssen wir uns hintereinander zwischen den Felsen hindurchzwängen und durch enge Windungen klettern, in die nie kein Sonnenstrahl nicht fällt.

  

Klackerdipolter rieselt Gestein von oben zu Tal und kracht wenige Meter vor uns ins kalte Gewässer, aber das war kein Al Qaida-Anschlag und auch keine natürliche Erosion, sondern eine Herde Gämsen mit mächtigem, weit geschwungenem Gehörn, die hoch oben in der Felswand umherklettern und uns mit Wackersteinen bewerfen.

  

gercampAm Abend des letzten Tages der Gobi-Jeep-Rallye wurden wir bei der Rückkehr ins nahe Ger-Camp Augenzeugen eines mongolischen Wunders. Unsere Rückreise nach UB ist glücklicherweise nicht mit dem Jeep, sondern per Inlandflug ab Dalanzadgad für morgen früh geplant; außer uns reisen auch noch eine lautstarke italienische und eine koreanische Reisegruppe, die im gleichen Camp nächtigen, in die Hauptstadt zurück, und da somit alle Passagiere für den morgigen Flug im Ger-Camp versammelt sind, lässt sich die MIAT (Mongolian Air) nicht lumpen und hat das Flugzeug, ich traue meinen Augen nicht, auf der Wiese neben dem Ger-Camp abgestellt. Gewiss, ob Dalanzadgad oder ein namenloses Ger-Camp in der Gobi, die Pisten sind die gleichen holperigen Schnittlauchäcker, aber dass da direkt neben den Nomadenzelten, zwischen friedlich weidenden Pferden, Kühen und Ziegen, eine 48-sitzige Antonov geparkt war, fand ich durchaus cool.

 

Zum Abendessen, als ein dicker dottergelber Vollmond wie ein Lampion aus dem Wüstenhorizont hervorkroch und sich schwerfällig in die Höhe stemmte, gab es Khorkhog, eine andere Spitzenkreation der mongolischen Küche: Ein junger Hammel wird ausgeweidet und dann mit gluterhitzten Steinen gefüllt und auf diese Weise langsam von innen her gegart; Mikrowelle auf mongolisch.... Dazu eine Bottel Rotwein, von den beiden Spaniern zum Abschied spendiert, bei Kerzenschein in lauer Nachtluft auf der Terrasse des Ger-Camp-Restaurants. Khoika und Doky müssen mit ihren Jeeps morgen allein zurückfahren und andere Kunden abholen; niemand von uns beneidet sie.

   

Am Morgen fütterten wir die ewig hungrige Ziege, die zwischen den Zelten herumstakst und sich mit Ka angefreundet hat, mit Zigarettenkippen, ihrer erklärten Lieblingsspeise, und stiegen dann praktisch direkt aus dem Zelt in die Propellermaschine um, die dann laut und wuchtig über die Wiese hopste, Wüstenstaub und Schnittlauch auf Ziege und Zelte pustete, bevor sie sich schwerfällig in den Gobi-Himmel schraubte. Nach einem kurzen Zwischenstopp auf der steinigen Rumpelpiste von Mandalgov ließen wir die Suppengewürze vollends hinter uns und waren kurz darauf wieder in UB, bei schönem Wetter diesmal.