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Doky wähnte sich zu früh in der Steppe. An der 3. der vier Verkehrsampeln in UB (Kurzform für Ulaanbaatar) bei Dunkelgelb durchgewutscht und gleich von einem Flic aus dem Verkehr gezogen... Hauptstadtpflaster ist eben teuer.

Am Eingang zur mongolischen Kapitale steht ein Kassenhäuschen, und jeder motorisierte Besucher der Hauptstadt muss Eintrittsgeld bezahlen wie in London. Diese schlaue Idee könnte womöglich bald Nachahmer finden, zum Beispiel am Stadtrand des hochverschuldeten Berlin, kurz vor der Avus, eine Mautstelle mit der Aufschrift "Notopfer Berlin, PKW 29,99 Euro". Wem die Berliner Luft so viel nicht wert ist, der soll halt nach Osnabrück reisen. Aber --- Finger weg von der Politik!

 

Während Doky den Preis für sein Strafmandat aushandelte, erzählte uns Tuvshin von den Veränderungen in den letzten 10 Jahren. Sie zählt zur ersten Generation, die sich nach dem Zwangsrussisch in der Schule auf einmal frei für Englisch entscheiden und sich an der Uni für Betriebswirtschaft einschreiben konnte, den Umgang mit Windows gelernt hat und später ihre Zukunft selbst gestalten wird. Aber wie in der verblichenen DDR haben ältere Leute mit der Umstellung ihre Probleme und können sich nur schwer daran gewöhnen, dass die vielen Ausländer in UB nicht mehr Russisch sprechen wie früher, sondern überwiegend Englisch, und nicht mehr herumkommandieren, sondern Dollars ausgeben. Wir sind in der Tat während der gesamten Reise nur drei Russen begegnet, aber etlichen Touristen aus den kapitalistischen Regionen der Welt. Auch den Nomaden hat die Wende Veränderungen gebracht, obwohl ihr Leben äußerlich so unverändert wirkt wie vor 500 Jahren, aber es ist doch ein bedeutender Unterschied, ob die Herde dem Hirten gehört oder dem VEB Rotes Rindvieh.

  

Hinter dem Kassenhäuschen war wirklich Ende mit dem graubraunen Stadtmulk. Eine Weile sah man noch den Schienenstrang der Zweiglinie der Transsib, die von Ulan Ude abzweigt und in Beijing endet, und dann nur noch Prärie, betupft mit weidenden Pferde-, Ziegen-, Yak-, Schaf- und Rinderherden. Hier ein Reitersmann, dort ein paar einsame Nomadenzelte; die nächste Siedlung wurde erst nach mehr als 100 km Fahrt auf der längsten Asphaltpiste der Mongolei gesichtet.

 

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MONGOLISCHER PENDLER AUF DEM WEG INS BÜRO

 

Allerdings ist auch der Asphalt keine Garantie für allzu flotte Fahrt, denn er hat bereits ein halbes Jahrhundert mit sibirischen Wintern auf dem Buckel und macht kein Hehl aus seinem hohen Alter. Wenn die Krater zu gigantisch werden, steuern Doky und Khoika ihre Jeeps ungerührt von der Chaussee runter und umfahren die tückischen Klippen ungebremst durch den grünen Klee.

Gegen 11 Uhr ein Halt. Tuvshin grinst: "In der Mongolei gibt es in der Provinz leider keine Bedürfnisanstalten."

Wellige Wiese, so weit das Auge reicht. Für Männer kein Problem, aber die Damen wandern, bis sie fast vom Horizont verschluckt werden. Tut gut in der Frische der Natur, unter bewölktem Nieselregenhimmel. Das Wandern meine ich, nicht das Verschlucktwerden.


 

picnicPünktlich um 13 Uhr donnern die beiden Jeeps erneut voll Rohr in die Pampa und kommen erst tief in der Wildnis zum Stehen. Die Jungs zoppeln alte Teppiche aus den Jeeps, Tuvshin kommt mit Plastiktüten beladen an.

"Picknick, lunchtime!", zwitschert sie. Ich hatte gehofft, in einem der wenigen am Wegrand sichtbaren Nomadenzelte mit der Aufschrift GUANZ (Speisewirtschaft) das mongolische Standardmahl Zuivan (hausgemachte Nudeln mit geschnetzeltem Hammelfleisch) probieren zu können, aber nun nagen wir an Whiteman's food: Gummihendln und Fritten in Plastik-Lunchboxes inmitten mongolischer Steppe.

 

Was vom Jeep aus wie unendlich weite, saftiggrüne Wiese aussah und bei all dem Regen eigentlich dschungelhaft explodieren sollte, erweist sich in der Nahsicht als spärliches, hartes Unkraut mit vereinzelten Grasbüscheln auf sehr kargem, steinigem Boden. Hier kann es regnen so viel es will, Landwirtschaft lässt sich auf so einem Untergrund nicht betreiben, das wird sofort klar. Die Geologie hat die Mongolen zum Nomadendasein verurteilt.

 

Im Tiefflug umkreisen uns Bussarde und schielen gierig auf die Chickenreste. Khoika wirft einen Fetzen hoch in die Luft - der fällt nicht herunter, sondern wird sofort von einem der braunen Geier gekrallt und entführt. Leider interessieren sich die Vögel nicht für das gelbsüße, russische Chemiedestillat, das als Limonade den Durst löschen soll, aber vielfach verschmäht in der Steppe versickert; hoffentlich wirkt es nicht herbizid. Auch der Plastikmüll findet in der Steppenfauna keine Liebhaber; wir müssen ihn selber wieder mitnehmen.

 

An einem Wasserlauf der nächste Stopp: Wenige Meter entfernt waten einige graue Kraniche, wie man sie sonst nur im Zoo sieht, durch den Schlick. Dort hält noch ein Jeep, und ein älterer Herr kommt auf uns zugelaufen, schüttelt emsig fremde Hände, verteilt ein smilendes "Hello to everybody" und sein Visitenkarterl.
S. T. WU

Crane photographer

www.chinesephoto.org

cranewu@xxxxxxxxx

steht da auf Englisch (und umseitig auf Chinesisch) drauf, nebst einer Anschrift in Taibei, und wenn du dich für Kraniche begeistern und gut Chinesisch kannst, schick dem Onkel Wu doch mal 'ne E-mail, der wird Augen machen! Das wäre was fürs heitere Beruferaten! Ein Kranich-Fotograf... Und ich hatte Fotobäcker schon für eine exotische Spezies gehalten.....

 

Wellig-hügelig ist die mongolische Steppe, aber in der Ferne stets begrenzt von höheren Bergzügen. Als sich einer davon, eine felsige, schroffe Hügelkette, der Piste nähert, rattern unsere Vehikel wieder durchs Gemüse, auf die Khogno-Khan-Berge zu. Am Fuß der Berge ducken sich einige ärmliche Holzhütten in den Schatten der Felsen; ein kleiner Dorftempel, von der einzigen dort ansässigen Großfamilie gepflegt, steht da, in Handarbeit in die Bergkulisse gezimmert. Ein paar Kilometer weiter, ebenfalls hart am Felsenrand, wartet ein Dutzend Gers auf der Wiese: Unser Domizil für die kommende Nacht.

 

 

Ger heißen die mongolischen Nomadenzelte. 

"Don't call them tents", mahnt Tuvshin. "It is the Mongolians' traditional home, they live in it all their life."

Auch Yurten darf man nicht sagen, obwohl man sie bei uns wohl mit diesem kasachischen Ausdruck bezeichnen würde; die Uiguren sagen Pao dazu, aber gemeint ist stets dasselbe. Also bleiben wir beim Ger. Ein kreisrundes Gerüst aus Holzstangen mit einer hölzernen Tür, die stets nach Süden weist, bildet das Skelett des Ger. Gedeckt wird es mit etwa fünf Lagen Filz aus Schafswolle und einer Regenschutzplane aus dicker, leinener Zeltbahn. Ringsum wird es durch starke Seile verschnürt, damit das Ganze während der heftigen Frühjahrsstürme nicht wegfliegt, und hat oben in der Mitte eine Öffnung für das Ofenrohr, weil die Nomaden auch im mongolischen Winter bei minus 40 Grad im Ger wohnen. Bei starkem Regen kann man das Ofenrohr einziehen und die Öffnung mit einer Plane verschließen.

 

 
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MONGOLISCHES HOTEL

 
 

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Zwei mit traditionellen Ornamenten bemalte und verzierte Holzpfeiler stützen das Dach im Innern, das durch Wandvorhänge, hölzerne Tische, Betten und Schränkchen sehr gemütlich und wohnlich anmutet. Der Ofen steht im Zentrum, unter der Dachöffnung, aber nicht nur aus praktischen Gründen: Wie vielen Naturvölkern gilt auch den Mongolen das Feuer als heilig; man darf darin nur Holz, Papier oder Tierdung verbrennen, aber keine Abfälle oder alte Kleider, und es gilt als Tabubruch, etwa mit Wasser ein Feuer auszulöschen, bevor es von alleine niedergebrannt ist.

 

Wenn Nomaden heiraten, muss die Braut, wenn sie das Ger ihres künftigen Gatten betritt, sich zuerst vor der Feuerstelle verneigen und, auch im Hochsommer, als neue Hausherrin das Feuer im Ofen entzünden. Auch wir Ausländer, die in sogenannten Ger-Camps übernachten und ein Ger, wie ein Hotelzimmer, für uns alleine haben, dürfen das Feuer an kalten Abenden nicht selbst anmachen. Gegen Abend und in den frühen Morgenstunden kommt ein(e) Einheimische(r), um den Ofen in Fahrt zu bringen.

 

Toiletten, fließendes Wasser, elektrisches Licht und anderen Luxus sucht man in einem Ger vergeblich. In Ger-Camps für Touristen baumeln allerdings bisweilen Glühbirnen an einem notdürftig isolierten Kabel herab und flackern abends, wenn irgendwo in der Ferne ein dieselgetriebener Generator losbrummelt, unaufgefordert auf; für den Notfall aber liegen auch Streichhölzer und Kerzen bereit. Die Toilette der Nomaden ist die Steppe; man verrichtet seine Notdurft jedoch in gehörigem Abstand zum Ger. Duschen und Baden kann man am Brunnen, wo man sein Wasser holt.

 

Man kann ohne Umstände jederzeit jedes Nomadenzelt aufsuchen, ohne fürchten zu müssen, man belästige fremde Leute, denn die Nomaden haben einen anderen Begriff von Privatsphäre als wir. Andrerseits sollte man sich auch nicht aufregen, wenn die Tür zum eigenen Ger plötzlich aufgeht und irgendwer hereingetapst kommt. Wenn es nicht der Feuermann ist, bietet man ihm einfach einen Tee an und ein paar Nüsse oder was man gerade da hat, und die Chose ist geritzt. Gers sind (mit bissigAusnahme der Touristen-Gers) nicht abschließbar. Bevor man ein fremdes Ger betritt, sollte man sich vorher allerdings laut räuspern. Außerdem rate ich dir, möglichst auf Mongolisch, "haltet den Hund fest !" zu rufen, um Unannehmlichkeiten zu vermeiden. Falls niemand zu Hause ist, wird der Besucher auf dem Tisch garantiert eine Schale mit Airag (gegorene Stutenmilch, dem üblichen, geringfügig alkoholischen Getränk der mongolischen Nomaden) und einen Teller mit Käse vorfinden, denn kein Mongole verlässt sein Ger, ohne für Besucher vorgesorgt zu haben. Ihren Viehherden zuliebe müssen die Nomaden einsam leben, weit voneinander entfernt, und sind dennoch oft auf Hilfe angewiesen. Eine Nomadenfamilie allein könnte nur mit größter Mühe den Filz für ein neues Ger herstellen: Da die Kölner SPD zu weit entfernt ist, um als Filz-Lieferantin in Frage zu kommen, kommen stattdessen alle "Nachbarn", die oft Dutzende von Kilometern entfernt leben, und helfen mit. Das gleiche gilt bei der Schafschur, an der Viehtränke, bei der Überführung des Viehs in die Winterställe und bei tausend anderen Anlässen. Man muss sich gegenseitig helfen, das ist die wichtigste Überlebensregel der Nomaden, und wem geholfen worden ist, der revanchiert sich nicht allein damit, dass er auch seinerseits anderen mithilft, sondern gibt nach Abschluss der Arbeiten eine Party, bei der Hammelfleisch, Wodka und Gesänge bis zum frühen Morgen eine wichtige Rolle spielen. Eine Hand wäscht die andere, das ist die Grundvoraussetzung für das Gedeihen von hochwertigem Filz. So kommt es, dass die Nomaden, obwohl sie dem Augenschein nach vollkommen isoliert in der weglosen Weite wohnen, Bescheid wissen über die Vorkommnisse ihrer Region und in einer Art von Nachbarschaftsnetzwerk, beim Wasserholen oder bei der Begegnung berittener Hirten, ständig Nachrichten untereinander austauschen.