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OSTBLOCK....! war der erste Eindruck von Ulaanbaatar, der Hauptstadt der Mongolei. Grauer Himmel, braungraue Gebäude, graue Busse, braungrauer Staub, blätternder Putz an grauen Plattenbauten, lose Kabel, deckellose Gullis, wenige klapprige Ladas, düstere Geschäfte, marode Betriebe, Zweitakter-Smog, Schlaglöcher, großflächige Pfützen, Bettelkinder, Schlamm.... |
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EIN FARBFLECK IM GRAUBRAUNEN ULAANBAATAR: DAS NATIONAL DRAMA THEATRE |
Ka macht trotz
aller Tristesse ein unerwartet heiteres Gesicht. Wie das? |
So, und der zweite Eindruck
? Eine Korrektur des ersten. Wir haben selten je zuvor
einen so erfolgreichen ersten Tag in der wildfremden
Hauptstadt eines wildfremden Landes unter wildfremden
Leuten, deren Sprache wir nicht verstehen, erlebt wie
heute in Ulaanbaatar. ![]() |
Immerhin konnte sich die Anlage, im Gegensatz zu den meisten anderen Klöstern, als "Museum für die feudale und abergläubische Vergangenheit" in die Gegenwart retten, die auch in der Mongolei 1990 begann, und ist jetzt gut gefüllt mit religiösen Kostbarkeiten, die Gläubige heimlich und unter großem persönlichem Risiko versteckt hatten, um sie vor der Zerstörung zu bewahren. Stalin hatte nämlich in dem mongolischen Caudillo und Blutsäufer Choibalsan einen gelehrigen Jünger, dessen Schreckensherrschaft eine kaum minder blutige Spur in der Geschichte hinterlassen hat als die seines großen sowjetischen Vorbilds. |
"Sain
baina uu", sagt die Tante, die
uns lächelnd im Tempel empfängt, ein Bündel Tickets in
der Hand. Weiß der Geier, was das heißt. Türkisch
hätte ich notfalls noch verstanden, aber Mongolisch, da
bin ich ganz auf Thomas-Mann-Niveau. Wahrscheinlich meint
sie "bitte blechen!" Nein, diesen Satz kann sie sogar auf Englisch. "Four dollars please". --- Dollars? Wir sind doch nicht in Texas! Wozu habe ich mir eigentlich heute morgen diese fledderigen Lappen mit den vielstelligen Ziffern in der Landeswährung Tögrög erfeilscht? Nun, wir kommen auch mit Tögrögs rein und bewundern dafür die fotogenen Tsam-Masken und die wertvollen, vergoldeten Buddhafigurinen des großen mongolischen Meisters Zanabazar aus dem 17.Jahrhundert. Unter den Zeremonialinstrumenten in den Glasvitrinen liegt auch eine Ganlin-Flöte aus; das ist die Zauberflöte buddhistischer Exorzisten, die jeglichen Dämon unweigerlich bannen soll. Kein Wunder, denn sie wird aus einem höchst seltenen Material gefertigt, nämlich aus dem linken Oberschenkelknochen 18jähriger Jungfrauen. Kein anderes Material, so versichert jeder Mongole mit Nachdruck, kann ihren melancholischen Klang und selbstverständlich auch ihre unfehlbare Zauberkraft erreichen. Gegen Beelzebuben wie den Choibalsan scheint sie jedoch wirkungslos zu sein. Man hätte die Mongolen vielleicht ein bisschen eher mit Plastik vertraut machen sollen, das wirkt noch viel größere Wunder, zumindest in der Form von Kreditkarten. |
"Und dafür wird jedesmal ein Mädchen geschlachtet?", erlaube ich mir zu fragen. "Natürlich nicht", lautet die entrüstete Antwort. "In Tibet hat man früher junge Mädchen geopfert, aber wir Mongolen haben stets nur Mädchen genommen, die eines natürlichen Todes gestorben sind, an Krankheiten zum Beispiel." Ach, die lieben,
lammfromm-friedlichen Mongolen! Ich tue so, als würde
ich es glauben, und frage auch aus Höflichkeit nicht
weiter, warum es ausgerechnet der linke
Oberschenkelknochen sein muss und nicht der rechte.
Vielleicht taugt der rechte nur für linkshändige
Flötisten? Akustische Probleme dürften sich, soweit
mir bekannt ist, im Falle eines rechten
Oberschenkelknochens kaum ergeben, es sei denn, das
Mädchen ist in Wirklichkeit ein alter Mann gewesen. Aber
man soll auf Reisen außer der Hotelrechnung nicht immerzu alles hinterfragen, das verdirbt einem den ganzen
Reisethrill. Schließlich will man sich ja auch
entspannen und was erleben. Auch später schlucke ich
deshalb diplomatisch und widerspruchlos all die
patriotische Propaganda, die seit einem Jahrzehnt die
sozialistische ersetzt. Statt Lenin gleißt jetzt
Chinggis Khaan als mongolischer Schutzpatron, und selbst
gebildete junge Leute behaupten ernstlich, dass die Welt
um etliches friedlicher und glücklicher wäre, wenn das
Mongolen-Weltreich unter diesem weisen und gütigen
Führer bis zum heutigen Tage Bestand hätte. Also, jetzt ist aber endgültig Schluss mit der Politik. Beim nächsten Ausrutscher klopf mir einfach eins vors Fressbrettchen, klar? |
Wie in Tibet, wo die ein-L-igen
Lamas heimisch sind, führt der Rundgang durch die
Tempelhallen immer im Uhrzeigersinn durch den Bezirk,
denn der mongolische Buddhismus ist vom genannten
Zanabazar nach dessen langem Studienaufenthalt in Tibet
in seine heutige Form gebracht worden. Anders als in
Tibet endet der Weg im Choijin-Lama-Klostermuseum
freilich sinnigerweise in einem runden Nomadenzelt, an
dessen Eingang unübersehbar
geschrieben steht und eine junge Dame die wenigen ausländischen Besucher so energisch zu sich winkt, als enthalte der Laden den bedeutendsten Schatz des Klosters. Sie ahnt nicht, dass wir den Nippes nur deswegen ausgiebig befingern, weil soeben ein tüchtiger Regenschauer losdrippelt, aber kurze Zeit später, als die Sonne wieder hervorlugte, hocken wir auf der Veranda des Cafés "Chez Bernard" und laben uns an Apfelstrudel und Zitronentee. An anderen Orten der Welt wäre dies keine Erwähnung wert, aber in einer Stadt wie Ulaanbaatar wirkt dieser Laden so deplatziert wie ein Ufo im Allgäu und ist mit Sicherheit das einzige Café in der gesamten Mongolei, das Aprikosen-Baiser-Schnitten, Nussecken und gedeckten Apfelkuchen feil bietet. |
Ein Kameramann mit klobig-professionellem Equipment tritt an unseren Tisch und sagt in bayrisch gefärbtem Englisch: "I come from the German magazine Deutsche Bäckerzeitung and want to make a photo. May I?" From me out. Ich hatte mich mit Ka gerade auf Japanisch unterhalten, und der Bäcker-Paparazzo meinte wohl, Ka sei eine Mongolin und ich ein ansässiger Russe, der fließend Mongolisch spricht. Ich wünschte, das könnte ich. Immerhin habe ich nachgelesen, was "sain baina uu" heißt, nämlich schlicht und ergreifend "Guten Tag." Der Grundstein zu meinem mongolischen Wortschatz ist gelegt. Und mein Englisch reicht gerade aus, um zusammenzuzucken, wenn einer "to make a photo" sagt anstatt "to take a photo". Aber wahrscheinlich hat der Fotobäcker ja "I want to bake a photo" gemeint, und ich Dusseltier hab mich nur verhört. |
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Es findet sich auch ein nicht-musealer Tempel in Ulaanbaatar, so weit hat sich der Buddhismus inzwischen erholt. Am Stadtrand trotzen mehrere heilige Hallen des weitläufig angelegten Gandantegchinlen Khiid (kurz: Gandan-Tempel) dem mongolischen Nieselregen. |
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MÖNCHE BEIM MINENRÄUMEN ? ... GANDAN-TEMPEL |
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Ka war höchst entzückt, als wir das State Department Store in Augenschein nahmen und feststellten, dass man dort eine bescheidene Auswahl an nützlichen Dingen und, im 4.Obergeschoss, eine ganze Etage voller Arts'n'crafts, Mongolenstiefel, Postkarten, Pferdesättel, T-Shirts, Knochenflöten aus Plastik und Nomaden-Talmi finden kann, deutlich billiger als in den Kitscherias in und an, vor und hinter den wichtigsten Sehenswürdigkeiten. |
Als
uns der nächste Schauer überfiel, wanderten wir gerade
die Straße vor dem National Drama Theater entlang. Juli
und August sind nun einmal die Regenmonate in der
Mongolei. Das Guidebook tröstet verzagte Gemüter, dass
der Regen selten lang anhalte und schnell wieder
aufklare. Doch jetzt pladderte der Abendguss dermaßen
heftig vom Himmel, dass wir uns unter die Arkaden des
Nationaltheaters flüchteten, denn simple Schirme sind
einem solchen Wolkenbruch nicht gewachsen. Auch andere
Leute sprinteten durch die Pfützen herbei, begaben sich
jedoch ins Innere des Musentempels. Was wird heute
gegeben? Puschkin auf Mongolisch?
"Mongolian music and dance", radebrechte die uniformierte Dame an der Abendkasse und gewährte uns für 5000 T (knapp 5 Euro) Asyl vor Schauern und Pfützen im nur spärlich besetzten Zuschauerraum und Zutritt zu einer eindrucksvollen Parade mongolischer Volkskunst. |
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Eine andere mongolische Kunst ist Mädchen vorbehalten: Nur 7 oder 8 Jahre alt war die Göre, die in einem glitzernden Zirkuskostüm hereinspaziert kam und dann ihren Körper schlangengleich verdrehte und verknotete, als seien die Naturgesetze vorübergehend außer Kraft gesetzt. Elegant setzte sich das Kind mit dem Po auf den eigenen Kopf oder nahm, professionell lächelnd, mit den Füßen eine volle Teetasse samt Untertasse vom Kopf und setzte das Geschirr dann vor sich auf den Boden nieder. "Kontorsionistin" kann man nur im zarten Kindesalter werden und sollte damit allerspätestens in der Pubertät aufhören. |
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MÄDEL, WO IST BEI DIR VORN UND HINTEN, OBEN UND UNTEN? |
Nach der Vorstellung kündete ein tiefes Abendrot vom Ende der Sintflut, und eine ausgedehnte Seen- und Flusslandschaft dort, wo zuvor Straßen und Gehwege waren, verrät, dass der Kanalisation von Ulaanbaatar durchaus noch eine grandiose Zukunft bevorstehen könnte. Um das per e-mail vorgebuchte Hotel nicht schwimmend erreichen zu müssen, unternahmen wir weitschweifige Spaziergänge über trockenere Umwege und lernten dabei die Innenstadt ausführlich kennen. Jetzt will ich dir noch verraten, dass es derzeit in der Mongolei 27 E-mail-Anschlüsse und 8 Internet-Cafés gibt, alle in Ulaanbaatar. |
So, wenn das heute mal kein guter Tag war! Buddhistisch geweiht und von der bayrischen Semmelpresse abgelichtet worden, einem zweistimmigen Sänger und einer biegsamen Akrobatin mit Gummiknochen, für Ganlin-Flöten völlig ungeeignet, begegnet, das ist doch für den Anfang ganz prächtig! Doch damit sind die Höhepunkte des ersten Tages noch nicht erschöpft, denn am Nachmittag waren wir auf gut Glück ins "Nomads"-Büro in einem heruntergekommenen Geschäftshaus an der Hauptstraße Enkh Taivny Örgön Chölöö hereingeschneit und hatten den unglaublichen Dusel, uns einer zehntägigen Tour dieses Veranstalters in die Gobi anschließen zu können, die just morgen früh startet. |
Normalerweise ist es weit unter unserer Würde, uns Gruppenreisen anzutun, aber in der Mongolei geht es nur dann anders, wenn man über sehr viel Zeit, Geduld, Nerven und Kraft verfügt. So gibt es im ganzen Reich keine einzige Mietwagen-Firma, keine Straßenkarte, nur neun Wegweiser und vier Verkehrsampeln, und die befinden sich alle in Ulaanbaatar. Man kann sich trotzdem einen Jeep mieten, aber nur mit Fahrer. Oder mit dem Bus in die Provinz fahren. Busse in die Provinz fahren nur zwei- bis dreimal pro Woche, und wenn man mit viel Glück oder Geschick den richtigen erwischt hat, landet man in einem öden Lattenzaun-Nest und muss sich eben dort einen Jeep oder ein Pferd leihen, um zu irgendwelchen Sehenswürdigkeiten zu gelangen. Nun hat indes jeder Jeep seinen Fahrer, jeder Gaul seinen Horseman. Und in der Provinz kann niemand Englisch oder Türkisch; mehr als ein paar Brocken Russisch darf man an Fremdsprachenkenntnissen nicht erwarten. Und dann muss man noch an sein Gepäck denken, wohlgefüllt mit Zelt, Schlafsack, Anorak, Pullis und Decken, denn auch im August können die Nächte empfindlich kalt sein, und all der gehaltvolle Rödel will auch transportiert werden. Man könnte natürlich auch per Anhalter reisen. Das Guidebook führt für hartgesottene Tramper auch die durchschnittliche Anzahl motorisierter Vehikel an, die in eine bestimmte Richtung pro Tag unterwegs sind. Gut frequentierte Chausseen kommen auf bis zu 45 Fahrzeuge, in entlegeneren Winkeln des weiten Landes "sollte man sich auf eine Wartezeit von 3 bis 5 Tagen einrichten und genug Verpflegung mitnehmen". |
Und die Chausseen... In der
gesamten Mongolei existieren knapp 300 km asphaltierte
Straßen, vorwiegend im Umkreis von Ulaanbaatar.
Ansonsten fährt jeder einfach quer durch die Steppe,
orientiert sich an Telegrafenleitungen, markanten
Bergzügen, Flussläufen oder an den Fahrspuren anderer
Fahrzeuge und holpert über Fels und Kies, schmatzt durch
Bach und Sumpf, kratzt über Dorngestrüpp und bleichende
Knochen, mahlt durch Sand und Schlamm, dotzt durch
Querrillen und Bodenfurchen, umfährt glotzende Yaks und
käuendes Rindvieh, jagt Reiher und Gazellen, bis das
Kühlwasser verdampft oder der letzte Ersatzreifen platt
ist. ![]() |