LAND DES LÄCHELNS

VIETNAM
 2001 
Hànôi, Huê'
und Sàigòn

vn1Ein Backsteinschlot ragt aus dem palmbestandenen Rondell, um das Taxis und schwere Limousinen parken, auf Gäste des 25-stöckigen Fünfsterne-Hotels Horison wartend. Der Fabrikschornstein, der sich verschämt im Hotel-Swimmingpool auf der Dachterrasse über der Eingangslobby spiegelt, kommt sich an diesem Ort gewiss so fehl am Platze vor wie ein Stadtstreicher auf dem Neujahrsempfang des französischen Botschafters, aber er ist eines der letzten Erinnerungsstücke an die Zeit, als Hànôi noch die Hauptstadt des kommunistischen Nordvietnam war, wo Werktätige beim Stahlkochen und Panzerschmieden den Buckel krümmten, just da, wo jetzt Gören aus Sachsen und Dakota auf Liegestühlen am Rand des Pools träge in die Nachmittagssonne blinzeln und an ihrem Daiquirí schlürfen. Keine Frage, Vietnam hat sich seit Onkel Hos Zeiten merklich verändert. Aber witzigerweise sieht es trotzdem aus wie Vietnam: Ein Ozean von hupenden Knatterrädern durchpflügt rund um die Uhr die mehrspurigen Boulevards, die allerorts von Straßenhändlern mit dem vn2typischen Strohhut und Bambustragestangen mit zwei überbordend gefüllten Warenkörben gesäumt sind. Fahrradrikschas, Kolonialvillen, eine im Zentrum verschimmelnde Kathedrale sowie ein Haufen Leute, die was von dir wollen. Und was wohl? - Dreimal darfst du raten. Yeah, Dollars natürlich. Die Amis haben also doch gewonnen.

Und was bekommt man für einen Greenback? 15.000 Ðong, zwei Pampelmusen, ein Postkarten-Set, fünf Packungen Kaugummi, einen Stadtplan, ein Pfund Erdnüsse oder einen volkseigenen Büstenhalter chinesischer Fabrikation. Street-Children soll man die Schulbildung finanzieren, Einarmige zu Millionären machen, Tickets für irgendwas kaufen, Rikschas mieten, Rentner ernähren, Ausflüge buchen und vn3einsame Mädchen beglücken. Ich sehe schon, in Hànôi gibt es allerhand zu tun, ich werde eine Sekretärin und einen Bilanzbuchhalter einstellen müssen, um allen Wünschen gerecht zu werden.

Nun hat uns die Natur leider zu egoistischen Zeitgenossen gemacht, die ihre eigenen Wege gehen, und die führen uns in die Altstadt an den malerischen Innenstadt-Teich Hoàn Kiê'm und von dort ins Theater, denn eine Wasserpuppen-Vorstellung sollte man in Hànôi nicht versäumen. Da schwappt ein künstlicher See im Theaterraum anstelle der sonst üblichen Bühne, und zu den Klängen einer vietnamesischen Live-Combo plitschen Fische, vn4feuerwerkspeiende Drachen, Boote, Angler und Mandarine im Puppenformat durch die Brühe, von den Puppenspielern mit Unterwasser-Stangen bewegt, und nach dem Schlussapplaus kommen die Künstler hinter den Kulissen hervor, bis zur Hüfte im nassen Becken watend. Wen die Plantscherei durstig gemacht hat, der labt sich am lokalen Hopfenbräu Bia Hà Nôi (Bier heißt tatsächlich Bia auf vietnamesisch), am besten in dem hervorragenden, aber nach unseren Maßstäben preiswerten De-luxe-Seafood-Gartenrestaurant Phô Bién, wo es mehr nach Ho-Chi-Michelin-***-Sternen als nach Sozialismus schmeckt.

Mindestens 8 Millionen Vietnamesen nennen sich Nguyên, und einer davon heißt mit Vornamen Thóng und will von mir wissen, warum die Deutschen eine Altherren-Mannschaft zur Fußball-WM nach Frankreich entsandt hätten. Gute Frage, Monsieur Nguyên! Das hätte ich nämlich auch gern gewusst. Vietnam ist restlos fußball-begeistert, über Fußball kommt man mit jedem männlichen Vietnamesen ins Gespräch, auch ohne Vietnamesisch zu beherrschen. Schalke 04? Kein Problem, ist jedem geläufig. Zwei Bundesliga-Spiele pro Woche werden im staatlichen Fernsehen übertragen, da weiß jeder Vietnamese, wo Unterhaching liegt und an welcher Verletzung "Stinkefinger" Effenberg laboriert. Ansonsten hat Mr. Nguyên eine erhebliche Schwäche für hübsche junge Damen und klärt mich auf über die Preiskategorien in Hànôi. Ich vn5erfahre von diesem Matratzen-Fachmann, dass die vielen Karaoke-Häuser an den Ausfallstraßen der City nicht nur Musik, Drinks und Mikrofone für das Amateur-Gekrächze betrunkener Schlagerfans bereitstellen, sondern meist auch Hinterzimmer mit Bett; eine Gefährtin für die Kissenschlacht kann man an der Kasse gleich dazumieten, das nenne ich neuzeitlichen Service! Die 25 Dollar für eine junge, langhaarige Schönheit habe er schon beinahe zusammen, grinst Mr. Nguyên und fasst an die Brusttasche seines Sommerhemdes, in der ein dickes Bündel Dollarnoten....
...
vor wenigen Minuten noch gesteckt hatte
.

-------- Fort !!!! Geklaut !!!

Er kann es nicht fassen, er, der Sohn des Polizeipräfekten von Hànôi, dass Taschendiebe am Ngoc So'n Tempel ihm die Barschaft aus dem Hemde gezupft haben und nicht uns, den "reichen" Touristen! Und er hat es nicht mal gemerkt! Kein Duett im Karaoke-Puff, keine Matratzen-Aerobics morgen Abend.... Seine Enttäuschung ist riesengroß, aber unser Mitgefühl hält sich in Grenzen.

Obwohl Vietnam, im Gegensatz zu den anderen Ländern Südostasiens, Stäbchen benutzt und in Baustil, Speisekarte, Sprache, Religion und Mentalität den starken chinesischen Einfluss nicht verleugnen kann, ist es das einzige Land dieser Region, das Lateinschrift verwendet; die heutige Generation kann die chinesischen Inschriften an den Tempelhallen und auf den Tuschebildern ihrer Vorfahren nicht mehr lesen.

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Versuche, aus chinesischen Zeichen eine eigene Schrift zu entwickeln, erwiesen sich als zu kompliziert, so dass die französischen Missionare, die zwischen Annam und Tongking die Lateinschrift einführten, ihre Schreibweise als bis heute verbindliche Schrift durchsetzen konnten.

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"Haarschnitt gefällig?", fragt lächelnd die junge Frau aus dem straßenseitig offenen Barbierladen, mit dem Finger auf mich deutend. Sie hat ja Recht, nach mehr als zwei Reisewochen sehe ich ziemlich struppig aus, und wenn wir mehr Zeit hätten, würde ich mich gerne mal von zarter Vietnamesinnen-Hand aufpeppen lassen, aber am Vormittag hatten wir zu lange über die endlose vn7Warteschlange vor dem Onkel-Ho-Mausoleum und über die Erdbebensicherheit der One-Pillar-Pagode meditiert und müssen nun zusehen, dass wir heute noch die Halong-Bucht erreichen.

Über eine schnurgerade vierspurige Autobahn rollt das Vehikel flott auf die Hafenstadt Háiphòng zu, und der Blick aus dem Autofenster fällt auf eine Landschaft, die ohne weiteres in die Poebene passen würde, irgendwo zwischen Pavia und Parma, aber der Fluss heißt Sông Hô'ng, der Rote Fluss, und bei genauerem Hinsehen spiegeln sich die vielen Kirchtürme nicht im Po, sondern in Lotosteichen, und die Kneipen am Wegesrand sind keine Pizzerias oder Espresso-Bars, sondern preisen das lokale Fassbier an oder bieten entsetzlich kitschige Souvenirs feil.

Die Halong-Bucht ist von der UNESCO in die Liste der Weltnaturdenkmäler aufgenommen worden, und das zu Recht. Die ganze, weite Bucht ist voller Inselchen, die wie Stiftzähne felsensteil aus dem klaren Wasser ragen, oben mit einem grünen Dschungelhäubchen bedeckt. Vom Ufer aus sieht das Panorama zwar genügend fotogen aus, aber wer eigens bis nach Vietnam gereist ist, wird nicht nach zwei Schnappschüssen wieder abreisen. So schippert man in einem der zahllosen Ausflugsboote an einem herrlich sonnigen Morgen los, um Halong vom Wasser aus zu genießen, eine wunderbare fünfstündige Tuckerfahrt auf ruhigem Gewässer --- so weit jedenfalls die Theorie. In der Praxis sieht es schon ein wenig anders aus, nur das Wetter und das Seafood-Menü an Bord hielten, was versprochen worden war. Der Rest war ziemlich echt Asien. vn9

Ein Profi-Lächler am Hafen geleitet uns an Bord eines Schiffes, das 60 Passagieren Platz bietet. Ringsumher dümpeln weit kleinere Nussschalen, bis zur Reling gespickt mit Busladungen von Touristen. Nun glaubst du, unser Luxusliner füllte sich langsam mit weiteren Fahrgästen? Aber nein, die 6 Mann Besatzung machen die Leinen los und schippern niemanden als uns beide in dem Riesendampfer auf die blaue See hinaus.

"Nein, nein, wir verlangen doch keinen Aufpreis", beruhigt man mich; das Ticket hatten wir ohnehin schon vorher am Kassenhäuschen erworben. "Ist doch bequemer, viel Platz für sich zu haben, oder? Aber dafür können wir leider nicht ganz so lange fahren."

Aha, da lag der Mops begraben. Die fünf Stunden lustige Seefahrt schrumpften auf nur 3½, aber kaum hatten wir es uns an Deck in den Liegestühlen gemütlich gemacht, rumpelte der Kahn an die Mole der allerersten Insel, und wir durften an Land gehen. Vom Bootssteg führt ein steiler Pfad in den Dschungel; zu besichtigen ist "eine außerordentlich schöne Grotte", die allerdings eher ein außerordentlich schöner Flop war. Wer noch nie einen Berg von innen gesehen hat, den mag diese kunterbuntig illuminierte Touristenschleuse vielleicht reizen, aber die Höhle besteht nur aus einer einzigen großen Halle mit einigen grobschlächtigen, längst mausetoten Stalaktiten, und alle Wände in Reichweite sind mit Grafitti bekritzelt, während der betonierte Gehweg von Unmengen schwitzender und schwatzender Chinesen verstopft ist, ein wahrer Leiberstau, denn alle 186 Ausflugsboote von Halong fahren offenbar gleichzeitig ab und nehmen die gleiche Route. Eine geschlagene Dreiviertelstunde dauert es, bis wir uns durch den Besucherknäuel auf den schmalen Bergpfaden wieder zum Hafen zurückgekämpft haben, total vergeudete Zeit.

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Als könne er Gedanken lesen, nahm der Käpt'n danach eine andere Route als die Touristenflottille, so dass wir tatsächlich Stille und Natur genießen konnten, aber dafür waren die Inseln, die wir zu sehen bekamen, nur niedrige, eintönig grün bewachsene Höcker; die spektakulären Felszinken, die wir sehen wollten, die wachsen in der entgegengesetzten Ecke der Bucht. Gewiss hatte es einen tieferen Sinn, uns hier absichtlich zu langweilen, denn das Deck füllte sich allmählich mit Waren, die in unerschöpflicher Fülle aus dem Gedärm des Kutters heraufgetragen wurden. Seidenkimonos, Tuschegemälde, Ansichtskarten, Taschenbuddhas, was immer wir auch anderswo bereits mit Entsetzen gemieden hatten, wuchs sich zu einem Trödelmarkt aus, der malerisch unsere beiden Liegestühle umrahmte. Wir wollten die guten Leute nicht vergrätzen und griffen zu, als uns kalte Getränke offeriert wurden, aber um Kitsch zu verkaufen, hätten die Schiffer lieber eine Hundertschaft Chinesen an Bord hieven sollen. Eines steht fest: Uns vergnüglich durch die Bucht zu schippern, war für diese Boatpeople eine lästige Pflicht; ihr Hauptanliegen war, aus uns so viele Penunzen herauszuholen wie möglich.

Unser Trost war das artige Mittagsmahl, das einzige Highlight der Fahrt, vn11obwohl als 10. Gang noch ein letzter, wenn auch vergeblicher Versuch erfolgte, uns zum Erwerb von Glasperlen und bunt bedrucktem Kattun zu bewegen.

Huê', die alte Kaiserstadt, spiegelt sich im Abendlicht im Perfume River (Sông Hu'o'ng), auf dem Sampans und heimkehrende Touristenkähne goldene Furchen ziehen, während der Lichtschein der Uferrestaurants vor der angestrahlten Kulisse der Zitadelle den Flusslauf wie ein sternfunkelndes Band begleitet. Mehr als die Zitadelle, über der eine riesige rote Fahne weht, hat der Vietnam-Krieg leider von der einstigen kaiserlichen Palastanlage nicht übrig gelassen, der Rest ist plattgebombter Unkrautacker, auf dem die Bauten vn12jedoch nach und nach rekonstruiert werden.

Außerhalb der Stadt liegen zahlreiche Kaisergräber und die berühmte Thiên Mu-Pagode, Symbol von Huê' und von Vietnam. Zu erreichen sind die Sehenswürdigkeiten fast alle mit dem Flussboot, und dass alle Boote, ja selbst die Fähren, die dich in nur zweieinhalb Minuten auf die andere Seite des Flusses bringen, voller Teakholz-Elefanten, Seidenpyjamas und anderem Talmi sind, der jedem Fahrgast von Ehefrau, Mutter, Großmutter, Töchtern, Söhnen und Enkeln des steuernden Schiffers vn13ununterbrochen aufgedrängt wird, so dass man kaum die Landschaft betrachten kann, versteht sich in diesem Händlerreich von selbst. Selbst Kleinkinder, die gerade erst laufen und sprechen gelernt haben, halten die Pfote auf und leiern das vietnamesische Nationalmantra herunter:

"Moneymoneymoneymoneymoneymoneymoneymoney...."

Die Nationalstraße Nr. 1 führt nach Süden, oft an der Küste entlang, aber noch öfter durch bergiges Land, wo sich die Piste an schlappgemachten Überlandbussen vorbei in Spitzkehren über die Pässe schraubt. Nationalstraße Nr. 2 ist noch im Bau: Mit japanischen Investorengeldern wird der Hochiminh-Pfad derzeit in eine vierspurige Autobahn umbetoniert und in Kürze nur noch nostalgische Historie sein. Die Vietnamesen sind begeistert von allem, was sie als fortschrittlich ansehen. Sogar die USA haben in Vietnam mächtig gepunktet, seit viele ehemalige Flüchtlinge, die einst auf einem morschen Kahn als Boatpeople das Land verlassen hatten, nun mit Nike-Schuhen, US-Pass und amerikanisch knarzenden, mcdonald-dicken Kids die alte Heimat besuchen, in Luxushotels mit Swimmingpool residieren, in vn14Firstclass-Restaurants schlemmen, mit Dollars um sich werfen und die Verwandtschaft belächeln, die sich noch immer in den Reisfeldern krumm arbeitet.

"Letztes Jahr war der US-Präsident Clinton hier und ist in Hànôi herzlich empfangen worden," prahlte der Taxifahrer, aber der Clinton hat hier zu Lande gut Hände und Kinder drücken, schließlich hat er sich vor dem Vietnam-Krieg gedrückt.

Vom Pass herab rollen wir nach Ðànãng hinein, ein Städtchen mit mediterranem Einschlag, dessen im "amerikanischen Krieg", wie es hier heißt, zu Schrott gebombter Marinestützpunkt, im Gegensatz zu der Palastanlage in Huê', längst wieder aufgebaut und funktionsfähig ist. Wie vor Jahrzehnten bollern auch heute noch zahlreiche US-Army-Trucks durch die vn15staubigen Gassen: Beutegut, das jetzt, zum Sozialismus bekehrt, auf seine alten Tage dem Volke dient.

Aber wir halten uns nicht lang in Ðànãng auf; nur dem Cham-Museum mit wahrhaft drolligen, listig schmunzelnden Figüren hinduistischer Tradition, die das mit den Khmer verwandte Cham-Volk verehrte, widmen wir ein paar Stunden. Uns zieht es mehr ans Meer, nach Hôian. In diesem Fischerdorf ist augenscheinlich die Zeit stehen geblieben, vermutlich im 19.Jahrhundert. Der Dollar ist allerdings auch hier nicht unbekannt, denn während des vorzüglichen Dîners auf einem Flussboot-Restaurant waren wir überwiegend damit beschäftigt, circa 20 ambulante Kitschhändler abzuwimmeln. Und bei Tageslicht wird deutlich, dass die uralten Häuser, die das Dorf zu einer Art Freilichtmuseum machen, fast ausschließlich Souvenirs produzieren, wenn auchvn16 meist gehobener Qualität. Hier kann man seinen Aó Ðài (Vietnams Nationaltracht, jener elegante Hosenanzug mit den schlabberig weiten Hosenbeinen) erstehen oder zusehen, wie Seidenkokons gekocht, gesponnen, gefärbt und gewalkt werden, bis ein schicker Schal draus wird. Wer aber hört, dass Fabrikarbeiterinnen in dieser Gegend, die sich den ganzen Tag mit wirklicher Knochenarbeit abplagen, ganze 5 Dollar pro Tag verdienen, weiß, wie glücklich er ist, in Amerika, Japan oder Mitteleuropa zur Welt gekommen zu sein und für läppische Schreibtischarbeit vn17in klimatisierten Büroräumen und mit bezahltem Urlaub gut das Dreißigfache als Gehalt einzusäckeln.

Ein Abstecher von Ðànãng aus führt in die nahen Berge, die nicht zu Unrecht "Marmorberge" heißen. Obendrauf wachsen Kiefern, Tempel und Pagoden, letztere natürlich aus Marmor, und ringsherum, am profanen Fuß der Berge, wird gemeißelt, gehämmert, geschliffen und gebohrt, auf dass all der Marmor als Gartenzwerge und Löwenköpfe ende, als ob sich aus Marmor nichts anderes als tonnenschwere Souvenirs herstellen ließe.

"Wir versenden die Waren in alle Welt, kein Problem!", sucht mich eine resolute, schlanke Dame mit marmornem Lächeln zum Erwerb eines gigantischen versteinerten Drachens "für den Garten" zu bewegen. Danke, danke, so Stein-reich mag ich gar nicht werden und führe außerdem meinen eigenen (Haus-)Drachen stets mit mir....

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Ein junger Schlaks, der in Sàigòn mit uns Englisch praktizieren möchte, Journalismus und Soziologie an der VHS studiert und sich als Mr. Ðuc vorstellt, ist platt vor Staunen, als ich ihn frage, ob sein Name "Deutschland" bedeute.

"Sie sind aber clever, Sie sprechen wohl gar Vietnamesisch?", fragt er mit tellergroßen Augen. Das leider nicht, Ðuc ist das einzige Wort der vietnamesischen Sprache, das ich kenne, bin schließlich selber made in Germany. "Aber Deutsch spreche ich leider nicht", fügte der angehende Journalist vorsichtshalber schnell hinzu.

Natürlich heißt Sàigòn nicht mehr Sàigòn, sondern vorübergehend Hô Chíminh, aber da alle Vietnamesen, sogar in Hànôi, nur von "Sàigòn" sprechen, bleibe ich auch dabei. Alle Karlmarxstädte und Stalinleningrads haben sich früher oder später wieder der Bürde ihrer Paten-Mumien entledigt, und Sàigòn sieht in jedem Winkel so verrucht-verkommen nach Sàigòn aus, dass Hô Chíminh erbleichen würde, wenn er das sähe. Dafür ist es aber, besonders im Chinatown-Viertel Cho'lôn, eine richtige, herzhafte Stadt voller Kaufhäuser, Geschäfte, Boutiquen, Bars und Restaurants, wo man auch schon mal eine halbe Stunde herumlaufen kann, ohne von irgendwelchen Leuten um Dollars angezapft vn19zu werden. Hier kriegt man von einem beflissenen chinesischen Händler, ni hao ma, das zerschlissene Uhrarmband ersetzt, xiexie, macht $ 2.50, zaidian, und dann hockt man sich in eine ambulante Straßenküche, löffelt Nudelsuppe und knuspert Hühner-Chopsuey, macht auch $ 2.50, bevor man sich todesmutig in die Zweiradkavalkaden stürzt, um den ununterbrochen beknatterten Boulevard zu überqueren; wenn man berechenbar, ohne nach rechts oder links zu schauen, in stetem Trott über die Gasse geht, geschieht das Wunder, dass der zweitaktqualmige, reißende Strom einen sanften Bogen um dich macht, als seist du eine Insel, und man hat beinahe noch Muße dabei, sich über die jungen Mädchen zu wundern, die ihre Mopeds so vermummt reiten, als seien sie alle zum Islam konvertiert.

"Hier sind in Kino und Fernsehen lauter japanische Filme zu sehen", erklärt uns Freund Ðuc. "Und die japanischen Schauspielerinnen haben alle so weiße Haut, das ist jetzt das Schönheitsideal der Jugend von Sàigòn. Ein amerikanisches Gehalt, eine japanische Frau, ein......"

Zum 14. Mal lassen wir das indochinesische Glaubensbekenntnis über uns ergehen, das sich im kapitalistischen Thailand, im buddhistischen Laos, im royalistischen Cambodia und im sozialistischen Vietnam um keine Silbe unterscheidet. Vietnamesen sind allerdings noch frei von jeglichem Argwohn, dass die makellos weiße Haut japanischer Schauspielerinnen ein Produkt der Makeup-Chemie sein könnte. Japanerinnen, die mit Feuerstühlen über die Chausseen brausen, tun dies im Hochsommer jedenfalls ohne Strohhut, Sonnenbrille, Mundschutz, schulterlange Handschuhe und Leggings, die in Sàigòn als unabdingbare Accessoires der mobilen Lady gelten und keinen Fitzel Haut der Sonne aussetzen.

Abends schleichen wir uns aus dem Luxushotel, in das uns die Reisebüroleute gesteckt haben, mit unseren vor Schmutz starrenden Jeans und ausgelatschten Turnschuhen in Gegenden, die mehr zu uns passen. Da ist an einer belebten Kreuzung ein hell erleuchteter Biergarten, mit bunten Glühbirnchen um die Veranda, von der es einladend lärmt, und nach einer nur kurzen Anfangspanik angesichts der unverhofft hereingeschneiten Ausländer organisieren die kellnernden Studentinnen mit ihren verwegenen Miniröckchen die einzige, handschriftlich in englisch beschriftete Speisekarte des Lokals, die eine erstaunliche Fülle von Delikatessen preisgibt: Krebs und Garnelen sind nur der Anfang, Aal und Frosch schon gehobener Standard. Dem fortgeschrittenen Schlemmer empfehlen sich hingegen Pferd, Hund, Schlange und Ratte; gegrillte Drachenschenkel, auf die ich gerade Appetit hatte, waren leider ausverkauft. Am Nachbartisch im Obergeschoss, mit Blick auf das nächtliche hupende und blinkende Dauerchaos unter uns, waren fünf Männer mit Schweiß und Fleiß in prächtiger Laune darum bemüht, den nunmehr zweiten Kasten Bier in lauwarmen Harndrang umzuwandeln, und der stämmige, lustige junge Bursche, der drei Brocken Englisch konnte und uns als Kellner hervorragend betreute, hatte bei jedem Vorübergehen an dem Säufertisch der bezischten Mischpoke, die inzwischen fröhliche Gesänge anstimmte, einen Humpen ex zu leeren. Auch wenn er zusehends Schwierigkeiten bekam, mit dem beladenen Tablett die steile Treppe fehlerfrei zu bewältigen, herrschte eine bombige, ansteckende Stimmung in dem Lokal, die auch vor Sprachbarrieren nicht Halt machte. Als unser netter Boy, schwitzend und mit biergerötetem Kopf, uns am Ende sogar ein kostenloses Dessert herbeibalancierte, hatte er sich ein großzügiges Trinkgeld redlich verdient. Am Kiosk kauften wir uns noch eine Bottel Wasser, bevor wir wieder in unsere Nobelherberge schlurften, den indigniert dreinschauenden Lakaien am Eingangsportal ignorierend, denn ein abgestandenes, aber aus Frankreich importiertes Wässerlein aus dem Kühlschrank im Hotelzimmer kostet in Sàigòn ebenso viel wie das gesamte Ratten-und-Frosch-Menü samt Bierschwemme in dem populären Lokal an der Kreuzung. Irgendwie passe ich nicht in ein Luxushotel, ich fühle mich da wie der erwähnte Clochard auf dem Neujahrsempfang des französischen Botschafters. 

Drei Tage Sàigòn, und man träumt von einsamen Atollen mit weißem Sandstrand, vn20denn diese Stadt ist das perfekte Chaos. Nach der Chaos-Theorie ist genau dies die Voraussetzung für die Entstehung einer höheren Ordnung. Falls das stimmt, stehen Sàigòn zweifellos grandiose Zeiten bevor. Leider haben wir nicht mehr genug Zeit, um darauf zu warten, sondern sehen zu, dass wir aufs Land kommen. In Tâyninh, 100 km nordwestlich von Sàigòn, wohnen seltsam verschrobene Leute, die einem Guru huldigen, der Victor Hugo und Sun Yatsen, die beide gewiss ihre Meriten haben, zu Heiligen erklärte und Buddhismus und Christentum zu einer neuen Weltreligion verschmelzen will. In weißen Kitteln streben die Gläubigen täglich um 12 Uhr einer Art von Kathedrempel zu, wie Ärzte und Krankenschwestern auf dem Weg zur Kantine. Drinnen singen sie fromme Lieder zu den Klängen einer buddhistischen Band und preisen Sankt Sunyatsen-Victorügó. Es gibt anscheinend keinen Schwachsinn auf dem Erdenkreis, der zu idiotisch wäre, um gläubige Anhänger zu finden.

In derselben Richtung liegt auch Cu'chi, wo der Vietcong die Amerikaner gründlich geärgert hatte. Bis die GIs nämlich merkten, dass der Gegner dort unterirdisch agierte, waren viele schon mausetot. Sie hatten ihr Hauptquartier vor den Toren Sàigòns ausgerechnet in diesem Gebiet errichtet, das von Guerrilleros untertunnelt und verhöhlbohrlöchert war wie ein reifer Gruyère. Wie aus dem Nichts erschienen Vietcong des Nachts mitten in dem von Stacheldraht und hohen Mauern gesicherten Camp und spielten den Ledernacken böse Streiche. Auch nach der Entdeckung der unterirdischen Gänge, die sich, zum Teil auf 3 Etagen, insgesamt über 200 km erstreckten, hatten die vn21Amerikaner ihre liebe Not mit den einheimischen Maulwürfen: Die großen GIs blieben mit ihrem sperrigen Gepäck in den engen Gängen stecken, plumpsten in Bambusspieß- und Sprengfallen oder verfranzten sich in den stickigen Irrwegen, durch die heute schwitzende Touristen von wendigen Tunnelführern in Vietcong-Kluft geguidet werden. Vor dem Einstieg in die Katakomben wird ein Propagandafilm gezeigt: Friedliche Reisbauern, Kinder in der Schule, Mädchen beim Tanz, und dann kommen wilde Ausländer ohne Visum, ja sogar zähnebleckende Schwarze dahergetrampelt, schänden die Tempel und sprengen Dörfer in die Luft, aber die heldenhaften Vietnamesen gehen in den Untergrund und bezwingen den teuflischen Feind in einmütiger Volkssolidarität... --- so einfach ist das also gewesen mit dem Vietnamkrieg!

In der Feldküche, 2 Meter unter dem Erdboden, bekommen heutzutage alle wilden Ausländer, sogar teufelschwarze Afroamerikaner, von den Fremdenführern eine schlichte, aber kostenlose Vesper: Original "Vietcong-Food", Tee und frisch gekochte Tapioka (Cassava-Wurzel). Schmeckte ganz ausgezeichnet, besser als das Corned beef der US Army womöglich.

"Come on", sagten wir. Das ist vietnamesisch und bedeutet "vielen Dank" (càm o'n). Und dann verließen wir das Land, Vietcong-Food im Bauch, in Richtung "einsames Atoll mit weißem Sandstrand", wo die Kapitalisten unter sich sind.

 

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