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Legende der acht Hundekrieger


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Im Herbst desselben 14.Jahres Bunmei (1482), in dem sich Inuzaka Keno auf der Straße durch Shinano von Inukawa Sôsuke und Inuta Kobungo getrennt hatte, zogen Inukai Genpachi und Inumura Daikaku auf Wegen des Landes Musashi dahin. Um die schon bekannten und noch unbekannten Hundekrieger zu finden, setzten sie ihre Wanderung von der Landstraße Tôkaidô aus rings durch die Lande von Ostjapan fort; sie hielten sich einmal hier ein halbes Jahr, dann wieder dort drei Monate lang auf, und jetzt schritten sie über die Felder in der Nähe von Senju, um nach Gyôtoku im Lande Shimôsa zu gelangen, das Genpachi gut kannte. 
Der Abend war schon nahe, weshalb sie den Fluss Sumidagawa am andern Morgen überqueren und sich für die Nacht eine Herberge irgendwo in der Nähe suchen wollten. Während sie einem Dorf am Ende der Wiese zustrebten, setzte aus dem dunkel bewölkten Himmel ein herbstlicher Schauer ein.
"Beeilen wir uns!"
Erst begann Genpachi, dann auch Daikaku in Richtung des Ortes in den Laufschritt überzugehen. Da kam ihnen ein Mann mit einem Tuch um die Mundpartie auf dem Feldweg entgegengerannt. Als sie aneinander vorüberliefen, löste sich das Bündel Reisegepäck, das Daikaku schräg auf dem Rücken trug, und fiel auf den Weg. Einige Schritte lief Daikaku noch weiter, dann blieb er stehen und sah sich um. Der Mann hob gerade das Bündel vom Boden auf. Daikaku meinte, er höbe es für ihn auf, aber als sich ihre Blicke trafen, schlug sich der junge Mann mit Daikakus Bündel stracks seitlich ins Gebüsch und eilte davon.
"Halt!", rief Daikaku und rannte ihm gleich nach. Genpachi, der dies gewahrte, kam sofort zurückgeeilt und nahm ebenfalls die Verfolgung auf.
"Ein Dieb?"
"Scheint so."
"So ein Gauner!"
Zornig liefen die beiden hinterher, aber der Dieb war schnell. Hinein in das zur Seite schlagende, wogende Gestrüpp, sie verloren ihn beinahe aus den Augen. Auf einem Damm, der sich weiter vorne erhob, war noch eine Gestalt zu sehen. Neben sich hatte der Mann eine Art Kiepe stehen. Der Dieb hier im Gras rief ihm irgendetwas zu, woraufhin der Mann auf dem Damm hastig die Kiepe schultern wollte. Als er aber die zwei verfolgenden Krieger erblickte, setzte er sie sofort wieder ab. Von oben hörte man ihn brüllen:
"Was ist mit dir?"
"Dieses Reisegepäck, ich hab es mir schnell gegriffen..."
"Du Dummkopf!" 
"Jetzt hilf mir doch!"
Unter solchem Wortwechsel kletterte der Dieb den Damm hinauf. Und hinter ihm Daikaku und Genpachi.
Der fliehende Dieb sah mehr wie ein streunender Strolch aus, aber der Mann, der ihn oben erwartete, war ein großgewachsener Mensch in einem ausgebleichten formellen Gewand mit Wappen, wenn auch der eine Ärmel zerschlissen war und der rechte Ärmel gänzlich fehlte. Er schien ein heruntergekommener Samurai zu sein. Er erhob einen Knüppel, den er in der Hand hielt, und wollte damit auf Genpachi eindreschen. Genpachi wich ihm geschickt aus und packte ihn am Arm, ohne auch nur das Schwert zu ziehen. Der andere, der Dieb, stürzte auf Daikaku los.
Nach einem sehr kurzen Kampf waren die beiden Männer zu Boden geschlagen, aber als Genpachi und Daikaku sie festhalten wollten, sprangen sie in irrer Todesangst auf, rannten den Damm hinunter, platschten in den Fluss hinein und schwammen davon wie Wassermänner.
"Mein Gepäck habe ich wieder, aber einen Ärmel haben sie mir abgerissen", sagte Daikaku mit bitterem Lächeln, während sie den Fliehenden nachschauten. Sein rechter Arm war von der Schulter an entblößt.
"Aber was ist hier drin?", fragte Genpachi mit Blick auf die stehen gelassene Kiepe. Weil der Verschluss abgebrochen war, öffnete er den Deckel und blickte hinein. Wegen des Regens verschloss er ihn gleich wieder, aber er hatte darin die Ausrüstung eines Kriegers erblickt; einen 
Offiziersmantel, einen Kürass, gepanzerte Handschuhe, Ledergamaschen und dergleichen.
"Das haben diese Halunken sicher irgendwo gestohlen", meinte Daikaku. "Einer hat es bis hierhin geschleppt und dann gewartet, bis sein Kumpan nachkam. Oder der andre ist von hier fortgelaufen, um z
u sehen, ob die Luft rein ist, und beim Vorüberrennen hat er mir das Bündel weggenommen und ist damit davongerannt."
"Vermutlich wird es so sein. Eine üble Sache für die zwei", lachte diesmal Genpachi bitter. "Aber gestohlen haben sie es vermutlich aus einem der Häuser des Weilers da vorn. Der Inhalt ist ja eher ungewöhnlich. Sicher ist es irgendwem sehr wichtig. Wir wollten ohnehin dort hingehen. Wir nehmen es am besten mit und geben es da zurück."
Genpachi lud sich die Kiepe auf den Rücken. Der Regenschauer war vorbei. Die beiden stiegen den Damm hinab, schlugen sich wieder durch das Gebüsch und kamen zu ihrem früheren Weg zurück. Da sahen sie, wie aus der Richtung jenes Dorfs mehrere Dutzend Männer herbeigelaufen kamen. In den Händen hielten sie Sicheln, Spaten, Knüppel und derlei, einige hatten auch Schwerter und Spieße. Als sie die zwei Hundekrieger erblickten, schrien sie:
"Heee, da sind sie!"
"Das Diebesgesindel mit der Kiepe sind die da!"
Als die Männer wütend hergelaufen kamen, erschraken die beiden Gefährten.


kiepe

Kiepen aus Binsengeflecht, mitunter durch Holzrahmen verstärkt oder durch Lackierung gegen Regen geschützt,
mit und ohne Deckel, gab es in allen erdenklichen Größen und Formen

"Nein, wir sind doch nicht die Diebe! Wir haben die Kiepe gefunden und nur eigens aufgesetzt, um sie euch zurückzubringen!"
So riefen sie zwar, aber dabei wurden sie schnell von den Leuten umringt. Es waren zwar Dorfbewohner, aber keine gewöhnlichen Bauern. Nicht nur, weil sie Schwerter und Spieße trugen, sondern von ihren kampfbereiten Gesichtern war das für die beiden intuitiv spürbar.
Ihr Versuch, dieses merkwürdige Geschehnis zu erklären, wurde von der wütenden Schar abrupt unterbrochen.
Genpachi setzte erst mal die Kiepe auf die Erde.
"Eine lästige Sache. Wir machen ein bisschen Rabatz und dann verschwinden wir", flüsterte er Daikaku zu.
"Aber es geht nicht an, die Dorfleute totzuschlagen. Wir dürfen nur mit dem Schwertrücken zuschlagen", wisperte Daikaku zurück.   
Das Geflüster bemerkten die Bauern sehr wohl.
"Passt auf, dass sie nicht entkommen!"
"Gebt ihnen Saures!", brüllten die Leute aus dem Dorf.
Daraufhin trat ein Alter aus der Schar hervor und rief ihnen zu: "Halt, wartet!"
Er trug eine schwarze Uniform, hatte silbergraue Haare, ein rosiges Gesicht, und kein einziger Zahn fehlte ihm. Kurzum, er war ein würdevoller alter Herr.
"Ihr jungen Leute, ihr seht mir aus wie Samurai. Wenn ihr Ehrgefühl besitzt, dann sträubt euch nicht und redet euch nicht heraus, sondern lasst euch widerstandslos fesseln und folgt mir in mein Haus. Ich bin der Herr des hiesigen Lehens Hokita und heiße Higaki Natsuyuki. Wenn ihr folgsam seid, will ich euch behilflich sein und euch eventuell sogar ein Wegegeld geben."
"Du Dummbeutel, was schwatzt du so anmaßend?", polterte Genpachi. "Ihr beschuldigt uns zu Unrecht. Ich habe doch gerade eben gesagt, dass ihr die Falschen erwischt habt!" 
"Was soll das heißen, 'zu Unrecht', 'die Falschen erwischt'?", knurrte der Alte und sagte etwas zu dem Dörfler hinter ihm. Der zog irgendetwas aus seiner Brusttasche und gab es dem Alten.
"Sag mal, Samurai, wo hast du denn deinen einen Ärmel gelassen?"
Er schwenkte den Stofffetzen, der er in der Hand hielt. "Den habe ich nämlich hier."
Es war ein schwarzer Gewandärmel mit Wappen.
"Heute wollte ich meinen Erdspeicher renovieren und habe dessen Inhalt im Garten gelagert. Weil während der Arbeiten dummerweise ein Regenschauer kam, sind wir alle ins Haus hineingeflüchtet. In dieser kurzen Zeit hat mir irgendwer diese Kiepe gestohlen. Aber die Diebe waren auch in Hast; als sie mit der Kiepe auf dem Rücken davonliefen, blieb dieser Ärmel an der Dornenhecke
hängen, die sie durchbrochen hatten. Wie ich sehe, fehlt an deinem Gewand ein Ärmel!"
Er wies auf Daikakus entblößten Arm.
"Es ist zwar unbegründet, aber es dürfte schwer sein, das plausibel zu erklären, Genpachi."
"Gut, dann ergreifen wir die Flucht!", wisperten die beiden. Sie zogen drohend die Schwerter und taten so, als ob sie den alten Herrn attackieren wollten, liefen dann aber sofort nach hinten davon. Sieben oder acht Bauern, die Hiebe von den Schwertrücken abbekamen, wurden umgeworfen. Den fortrennenden Gefährten eilten die Dorfleute wie ein schwarzer Wirbelwind hinterdrein.
Nach einigen hundert Metern Verfolgungsrennen erreichten die Hundekrieger die Flussaue von Senju. Damals existierte natürlich die Brücke von Senju noch nicht. Aber hinter dem Uferschilf war ein kleiner Kahn zu sehen, auf den Genpachi und Daikaku zuliefen.
"Heee, in dem Schiff, wartet! Nehmt uns bitte mit!"
In dem Kahn waren zwei Männer, die zwar herüberschauten, aber einer ergriff schleunigst das Ruder und fuhr das Schifflein vom Ufer weg. Und als sie weit genug entfernt waren, streckte der andere Mann ihnen die Zunge raus.
"Aaah! Diese Kerle!"
Die beiden Gefährten waren verdattert. Der Kerl, der ihnen die Zunge herausgestreckt hatte, war einer der beiden Kiepenräuber, und zwar derjenige, dem ein Ärmel fehlte. Und der andere, der das Ruder führte, war sein Kumpan. Weshalb trieben sie sich noch immer hier in dieser Gegend herum?
Was sie von dem Begehren von Genpachi und Daikaku hielten, zeigten sie durch ihr schallendes Lachen, das die Zähne sehen ließ, während ihr Boot sich weiter entfernte.
Die verfolgenden Dörfler waren schon nahe. Genpachi und Daikaku standen mit blank gezogenen Schwertern wie Niô-Statuen mit dem Rücken zum Fluss am Ufer. Es widerstrebte zwar ihrer Absicht, aber sie waren darauf gefasst, dass es nun nicht mehr ohne Blutvergießen abginge, um zu entrinnen.


nio

Was an der Disco der Rausschmeißer ist, sind in den Tempeltoren die Niô-Statuen, die immer zu zweit Japans Heiligtümer bewachen.
Jeder Dämon wird es sich zweimal überlegen, ob er Ärger mit den Niô riskiert.



Da ertönte ein lauter Ruf von hinten. Durch die Schar bahnten sich zehn Bogenschützen den Weg nach vorn, stellten sich in einer Reihe nebeneinander und legten ihre Pfeile auf Genpachi und Daikaku an.
"Halt!", schrie der Alte von vorhin wie ein Vogel Gryff und kam schon wieder hervorgelaufen. Er reckte verwundert den Hals in Richtung Genpachi und Daikaku aus --- nein, genauer gesagt, er schaute hinter den beiden auf den Fluss.
Genpachi drehte sich um und rief "Oooh!"
Über den hell schimmernden Fluss kam der Kahn nämlich zurückgefahren. Das Ruder führte Inuyama Dôsetsu. Neben ihm stand Inuzuka Shino, und zu ihren Füßen lagen die beiden Diebe. Das Boot legte direkt am Ufer an.
"Genpachi, was ist denn da los?!", rief Dôsetsu.
"Die Begrüßung später. Bring erst mal diese zwei Burschen her", erwiderte Genpachi, worauf Shino die zwei Diebe hochzog und einen nach dem andern wie Bälle aufs Ufer hinaufwarf. Sie waren vielleicht bewusstlos gewesen, aber durch den Aufprall kamen sie zu sich und wälzten sich stöhnend am Boden.
Daikaku hielt sie mit dem Fuß nieder, und Genpachi rief:
"Heda, Alter, mach die Augen auf und sieh dir die Kerle gut an. Das sind deine Kiepenräuber!"
"Dem einen fehlt der Ärmel. Frag ihn, wo er ihn gelassen hat", ergänzte Daikaku, schnappte die Diebe und warf sie der Schar der Bauern zu. Die Dorfleute umringten die Kerle
erregt und schrien lauthals durcheinander.

Genpachi und Daikaku kümmerten sich nicht darum. Genpachi hatte nicht einmal Zeit, seine Freude über das Wiedersehen seit der Trennung am Berg Arameyama zu äußern; er berichtete kurz, was ihnen heute zugestoßen war, und fragte dann:
"Wie kommt ihr denn hierher?"
Dôsetsu und Shino waren, nachdem sie Fräulein Hamaji von Kai aus bis hierher geleitet hatten, am Fluss Sumidagawa unterwegs, als sie in dem Gefilde von Musashi von dem Herbstregenschauer überrascht wurden. Sie suchten auf dem hier angebundenen Kahn Schutz vor dem Regen. Und während sie einnickten, betraten auf einmal zwei Männer das Schiff und ruderten davon. Durch die Latten spähend, sahen die Gefährten, dass der Mann, der dem Kahn vom Ufer aus nachschrie, Inukai Genpachi war. Deshalb überwältigten sie die beiden Männer und kamen zurückgerudert.
"Aber viel wichtiger...", fiel es Genpachi ein. "Inuzuka Shino! Schau, mein Gefährte ist einer unserer 'Brüder', den ich in Kôzuke gefunden habe, Inumura Daikaku!"


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Inumura Daikaku und seine Kristallkugel mit dem Schriftzeichen REI

 
Schon vorher hatten sich Shino und Daikaku verwundert angesehen, und jetzt plötzlich liefen sie auf einander zu.
"Oooh, Akaiwa Kakutarô!"  --- "Und du bist doch Shino?", riefen sie und fielen sich in die Arme.
Es war für beide ein Wiedersehen nach dreizehn Jahren, seit dem Frühjahr des 2.Jahres Bunmei (1470), als die beiden elfjährigen Freunde Shino und Kakutarô in dem Weiler Ôtsuka auf dem mit verwehten Pfirsichblüten besprenkelten Weg zum Fluss Kaniwagawa von einander Abschied genommen hatten. Keiner von beiden hatte geahnt, dass sie schon damals durch ein gemeinsames Schicksal als Hundekrieger miteinander verbunden waren. Daikaku hatte natürlich bereits durch Genpachi von Shino erzählt bekommen.

Eine zögernde Stimme war neben ihnen zu hören.
"Wir haben den Fall aufklären können. Es tut mir unendlich leid.... Es ist genau, wie Ihr gesagt habt."
Es war Higaki Natsuyuki. Bei diesen Worten kniete der alte Mann nieder und senkte sein Haupt bis auf den Erdboden.
"Ich ersuche die Herrschaften untertänigst um Verzeihung."
Den alten Herrn, der in all seiner Würde von ihnen das Haupt zu Boden gesenkt hielt, aufs Neue anzubrüllen, brachten Genpachi und Daikaku nicht fertig. Sie sagten nur:
"Wenn das Missverständnis geklärt ist, dann ist es ja gut."  ---  "Steht auf,
alter Herr!"
Der alte Natsuyuki beteuerte, seinen heutigen Fehler könne er nicht so einfach auf sich beruhen lassen. Sie möchten bitte in sein Anwesen mitkommen und bei ihm übernachten. Diesen fast flehend vorgetragenen Wunsch nahmen die vier Hundekrieger schließlich an. Vor allem deshalb, weil sie sonst keine Bleibe für die kommende Nacht hatten.
Die Wohnung des Dorfvorstehers von Hokita, Higaki Natsuyuki, war zwar ein schlichtes, aber so weiträumig angelegtes Anwesen, dass die Hundekrieger angesichts der sich ewig lang hinziehenden Mauern, die es umschlossen, und der Bauten mit den alten, zeitgeschwärzten Pfeilern große Augen machten. An diesem Abend bot das Haus Higaki ein großartiges Festmahl mit allen Köstlichkeiten von Land und Meer auf; dass die Hundekrieger während des Essens abwechselnd ihre Erlebnisse "seit damals" austauschten, versteht sich von selbst. Bei diesem Bankett wandte sich Inukai Genpachi mit einer Frage an den Gastgeber Natsuyuki:
"Übrigens, mein Herr, was Eure Kiepe von vorhin betrifft.... Es ist zwar eine Unhöflichkeit, aber ich habe mir deren Inhalt kurz angesehen. 
Darin erblickte ich die Ausrüstung eines Kriegsmannes, Offiziersmantel, Kürass, gepanzerte Handschuhe, Ledergamaschen und dergleichen. Was hat es damit auf sich?"
Natsuyuki antwortete lachend:
"Das sind Erinnerungsstücke aus der Zeit, als ich an den Kämpfen um die belagerte Burg Yûki teilnahm..."
Er berichtete, dass er nach dem Fall der Burg Yûki entkommen sei und bei einem alten Bekannten, dem Dorfvorsteher dieses Weilers Hokita, Unterschlupf gefunden habe. Dieser Dorfvorsteher sei kurz darauf wegen einer Streitsache um ein Stück Land nach Kyôto gereist, um Klage zu erheben, aber dort erkrankt und verstorben. Von dessen Angehörigen wurde Natsuyuki die Nachfolge im Amt des Dorfvorstehers angetragen. Nach und nach kamen immer mehr seiner einstigen Untergebenen hierher und ließen sich als Bauern in Hokita nieder, wo sie bis heute leben.
Jetzt wurde
Genpachi und Daikaku klar, weshalb die Dorfleute, die sie verfolgt hatten, nicht ausgesehen hatten wie gewöhnliche Bauern!
"Übrigens, weil Ihr die Schlacht um die Burg Yûki erwähntet: Mein Vater, Inuzuka... nein, Ôtsuka Bansaku, hatte an derselben Schlacht teilgenommen", warf Shino ein.
"Was, Ôtsuka Bansaku? Der war ein enger Freund und Kampfgefährte von mir!"


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Inuzuka Shino



Nun wurde die Feier noch erheblich freundschaftlicher. Higaki Natsuyuki betrachtete nun Inuzuka Shino, ach was, alle vier Hundekrieger mit liebevoll-väterlichen Augen, und sie erzählten Natsuyuki, was es mit der brüderlichen Gemeinschaft der Hundekrieger auf sich habe. Mit
Augen, die nicht allein vom Sake, sondern mehr noch von Begeisterung und Anteilnahme glänzten, sprach Natsuyuki:
"Ihr Herren Hundekrieger solltet dieses Haus zu Eurer Heimatfestung machen. Oder vielmehr, ich bin es, der Euch darum bittet und einlädt!"
Daraufhin erklärten Shino und Dôsetsu, dass sie im Lande Kai, in Isawa, eine weitere Heimstatt besäßen, den Tempel Shigetsuin, und dass Genpachi und Daikaku, die noch nie dort gewesen waren, den Tempel aufsuchen und den Priester Chudai treffen müssten. Genpachi und Daikaku nickten zustimmend. Nur Dôsetsu zog die Brauen hoch und entgegnete:
"Dass ich nach Musashi gekommen bin, ist deswegen, weil sich der Shogunatsfürst Ôgiyatsu Sadamasa derzeit auf Burg Isarago aufhalten soll...."
Dieser Racheteufel hatte sein wichtigstes Ziel keineswegs vergessen. Aber Ôgiyatsu Sadamasa war ein mächtiger Feind. Sie kamen überein, dass vorerst einmal Dôsetsu und Shino in die Gegend von Isarago gehen und die Bewegungen des Sadamasa auskundschaften sollten.

Inukai Genpachi und Inumura Daikaku, die bald ins Land Kai aufbrachen, erreichten sicher Isawa und trafen dort nicht nur den Priester Chudai an, sondern auch ihre dort weilenden 'Brüder' Inukawa Sôsuke und Inuta Kobungo. Daikaku lernte erstmals Kobungo kennen, aber mit Sôsuke war es für Daikaku nicht die erste Begegnung. Er kannte ihn noch aus Ôtsuka, als Sôsuke noch Gakuzô hieß. Beide vergossen Freudentränen über das Wiedersehen nach so langer Zeit.
Chudai klatschte in die Hände.
"Somit sind alle acht Hundekrieger vollzählig! Nur wissen wir nicht, wo sich Inuzaka Keno und Inue Shinbei derzeit aufhalten."
Ein paar Tage später sprach Chudai:
"Obwohl wir von zweien nicht wissen, wo sie stecken, sind uns immerhin die Namen aller acht Hundekrieger bekannt. Ich meine, wir sollten die Gelegenheit nutzen, um
eine große Totenfeier zum Gebet für das Seelenheil des Herrn Suemoto, Vater unseres früheren Fürsten Satomi Yoshizane, auszurichten und zwar am einstigen Schlachtfeld bei Burg Yûki, wo er gefallen ist. Alle acht Hundekrieger sind schließlich Söhne der Fürstentochter Fusehime aus dem Hause Satomi. Man kann euch 'Brüder' also durchaus auch als die Urenkel des Herrn Suemoto betrachten. Welche Freude für dessen Totenseele würde es sein, wenn zumindest diese sechs Hundekrieger gemeinsam an einer solchen Feier teilnähmen! Die Burg Yûki ist am 16.Tag des 4.Monats gefallen; die Gedenkfeier möchte ich an ebendiesem Tag durchführen." 
Die vier anwesenden Hundekrieger waren einverstanden.
"Aber auch Inuzaka Keno weiß eigentlich über den Treffpunkt Shigetsuin Bescheid. Es ist durchaus möglich, dass er es sich anders überlegt und irgendwann urplötzlich hier aufkreuzt", wandten Kobungo und Sôsuke ein, von denen sich Keno auf dem Weg nach Isawa unterwegs getrennt hatte. Weil noch Zeit bis zum 4.Monat verblieb, beschlossen sie, erst einmal bis zum Jahreswechsel hier im Shigetsuin zu warten.
Erst im 1.Monat des folgenden Jahrs legte Chudai die dunkle Gewandung eines Wandermönchs an, setzte sich den Binsenhut auf und trat die Reise ins Land Hitachi mit dem Ziel Yûki an. Inuzaka Keno hatte sich in der Zwischenzeit schließlich doch nicht gezeigt.
Einige Tage später traten auch die vier Hundekrieger die Reise an. Da sie ohnehin in dieses Land Kai gekommen waren, wollten sie die Gelegenheit nutzen, um die Tempel am Berge Minobusan aufzusuchen, und wählten deshalb eine andere Wegstrecke als Priester Chudai. Sie vereinbarten, sich in Musashi im Weiler Hokita, im Anwesen des Herrn Higaki, wieder zu treffen.



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Am 15.Tag des 1.Monats im selben 15.Jahre Bunmei (1483) trat auf dem Gelände des Yushima Tenjin Schreins im Distrikt Toshima im Lande Musashi
ein Iai-Künstler auf, lauthals seine Darbietungen anpreisend.
Das damalige Edo bestand eigentlich weitgehend aus Ansiedlungen, die nahe den sogenannten Burgen im weiten Flachland von Musashi hier und da verstreut lagen. Was man dort als 'Burgen' bezeichnete, hatte weder Gräben noch Türme; man sollte also eher von Feldlagern oder Befestigungen reden. In diesem Edo war einzig der Yushima Tenjin Schrein eine Attraktion, die Tag für Tag Gläubige von nah und fern anlockte. Vor dem Schrein reihten sich Teehäuser und Andenkenläden aneinander, und auf dem Schreingelände gingen Schausteller mit mancherlei Fertigkeiten ihrem Gewerbe nach.


Iai nennt man die Kunst, im Schneidersitz oder aus einer anderen schwierigen Lage ein sehr langes Schwert blitzschnell zu ziehen und zu führen. Iai wurde, wie andere Schwertkampftraditionen, besonders in dem Zen-Tempel des Kurama-Bergs nördlich von Kyôto gepflegt. Bis heute ist der Kurama-Stil (kurama-ryû) für seine Verquickung von Zen und Kampfsport bekannt.
Bei dem Ort Edo handelt es sich um das heutige Tokyo. Der Yushima Tenjin Schrein im Arrondissement Taitô ist noch immer eine Besucherattraktion. Auf dem Schreingelände werden heutzutage unter anderem Flohmärkte abgehalten.


Unter diesen befand sich besagter junger Mann. Er hatte ein dunkelblaues Tuch als Hintergrund aufgehängt und davor, auf einem Podest, einen Arzneikasten aus Messing placiert. Vor diesem standen zu einem unbekannten Zweck auf dem Boden zwanzig oder gar dreißig dreieckige Holzkissen zu einem Haufen aufgetürmt. Der Schausteller trug ein grellbuntes Gewand mit hellroten Ärmelbändern, und
auf dem Kopf eine Zipfelmütze. Er stand auf Geta mit hohen Stegen; an seiner Seite steckte ein fürchterlich langes Schwert.

   
kissen hakomakura takageta

Holzkissen (mit aufgelegtem Strohsack) wurden vorwiegend von jungen Frauen verwendet, damit ihre kunstvollen Frisuren nicht durch den nächtlichen Schlaf litten.
Geta (offene Holzschuhe) mit hohen Stegen geben auf nassen, schlammigen Landstraßen Halt und schützen die Füße vor Pferdemist und Unrat.


"Herbei, ihr Leute, holla, herbei und bestaunt meine geheim überlieferte Kunst des Schwertziehens! Und zugleich stelle ich eine weitere, ebenfalls geheime Kunst vor: Mit meiner Zahnmedizin sitzen lockere Zähne gleich wieder fest, und faule, entzündete und schlechte Zähne ziehe ich auf der Stelle mit dieser wie Eis blitzenden Klinge, meine Iai-Kunst ist Kurama-Stil!", rasselte er herunter. "Birnen zerteile ich, Bambus spalte ich direkt in der Luft", sang er, "ein Hieb teilt den Rumpf, ein Hieb quer durch die Schulter zur Hüfte, Schwertkampf im Kurama-Stil!"
Währenddessen stieg der Iai-Künstler, auf seinen hohen Geta balancierend, auf den Holzkissenturm. Auf einem Bein stand er schließlich ganz oben und rief:
"Seht her! Die Schwertlänge beträgt anderthalb Meter! Das Schwert ist lang, der Arm ist kurz, mit dem Arm kann man es nicht ziehen, sondern mit der Hüfte! Jaaa, hopp!" 
Ein Aufblitzen, und das
1,46 m lange Schwert flog zum Himmel auf. Es glitzerte wie Sternschnuppen nach dem Monduntergang, wie ein Regenbogen nach dem Ende des Schauers, wie Schneeflocken, die im kalten Nordwind funkelnd herniederwirbeln. Der Berg von Holzkissen, auf dem der Fuß des Mannes ruhte, bewegte sich dabei kein bisschen.
Die versammelten Zuschauer brachen angesichts dieses bravourösen Kunststücks in laute Beifallsrufe aus. Und weil der junge Iai-Künstler dazu noch ein äußerst hübsches Gesicht aufwies, befanden sich auch zahlreiche Frauen unter der riesigen Menge von Zuschauern.

"Platz da, zur Seite!", hörte man auf einmal rufen. "Auch die Schausteller und Zuschauer, weg da, beiseite! Wer nicht mehr fort kann, knie zu Boden und verneige sich respektvoll!"
Es war ein knappes Dutzend Amtsleute, die angelaufen kamen.
"Es naht die erlauchte Frau Gemahlin ihrer fürstlichen Hoheit, des Herrn Ôgiyatsu Sadamasa, zum Schreinbesuch!" 
Die Zuschauer der Schausteller rannten davon, als habe ein Platzregen eingesetzt, und die Schausteller räumten ihre Utensilien fort. Von der Straße her, an der sich die Teehäuser und Andenkenläden aneinanderreihten, näherte sich eine Prozession von knapp vierzig Leuten. Der Zug bestand zur Hälfte aus einer Samuraigarde und zur Hälfte aus Dienstzofen; alle Frauen trugen Damenschleier. In der Mitte wurde eine prachtvolle Sänfte getragen, und zwei hochrangige Gefolgsleute, ein junger und ein älterer Samurai, schritten direkt dahinter. In der Sänfte wurde die Gemahlin des Shogunatsfürsten Ôgiyatsu Sadamasa, Fürstin Kaname, herbeigeschaukelt. 
Der junge Kriegsmann, der die Sänfte begleitete, blieb plötzlich stehen und rief:
"Ist das nicht Frau Masaki?"
Unter den Vordächern der Läden zu beiden Seiten der Straße knieten und kauerten die Gäste wie auch die Kellnerinnen der Teehäuser in respektvoller Haltung. Und vor einem dieser Häuser hatte sich eine alte Frau niedergeworfen, und als sie kurz aufschaute, traf ihr Blick sich mit dem des Gefolgsmannes, weshalb er diesen Ausruf getan hatte.
"Was, die Masaki?", fragte der ältere Samurai erstaunt.
"Oh, der junge Herr Kawagoi....!", rief nun auch die alte Frau und kam eilig hergelaufen. Sie war eine würdevolle alte Frau und sah nicht aus wie die üblichen Kellnerinnen eines Teehauses.
Daraufhin ertönte aus dem Innern der Sänfte ein seltsames Kreischen. "Kiiiih!" Der Vorhang wurde zerfetzt, und ein Äffchen kam herausgesprungen. Es bleckte seine Zähne gegen die alte Frau und drohte sie anzufallen.
"Oooh!", rief der junge Samurai und wollte die alte Frau beschützen, woraufhin ihm der Affe auf die Schulter sprang und sich von da aus flink auf das Dach des Teehauses hinaufschwang. Von Dach zu Dach turnte das Tier und lief in Richtung des Waldes von Yushima davon.
"Was ist denn los?", ertönte eine weibliche Stimme aus der Sänfte. "Du hast irgendwas geschrien, und dadurch ist Utsubo erschrocken..."
Es war die Stimme von Fürstin Kaname. Utsubo war der Name des Makaken, den ihre Durchlaucht zu verwöhnen geruhte. Bis hierhin hatte er still in der Sänfte auf ihrem Schoß gesessen.
"Ich verstehe nicht, was geschehen sein könnte", gab der junge Samurai so geknickt
zur Antwort, als sei er von einem Fuchs gebissen worden. Der Ältere sagte währenddesen zu der alten Frau: "Masaki, wir kommen später wieder", und den Sänftenträgern befahl er: "Auf geht's, vorwärts!"
Beim Eintritt in das Schreingelände geriet der Zug aber erneut ins Stocken. Die Scharen der Besucher, die dort am Boden kauerten, blickten alle nach oben.
"Ah, ein Makake!" --- "Da drüber ist er!" --- "Gesprungen, hinübergesprungen!", riefen sie erregt. Fürstin Kaname ließ ihre Sänfte absetzen und geruhte, ihren Sitz zu verlassen.


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Fürstin Kaname


Sie war eine Edelfrau etwa Mitte vierzig. Ihr Äffchen saß auf einem zehn Armlängen hohen, blattlosen Ginkobaum,
oben, nahe dem Wipfel, und kratzte sich am Hinterteil.
"Gonnosuke!", befahl sie den alten Samurai herbei. "Lass mir Utsubo einfangen!"
"Jawoll!"
Der hochrangige Gefolgsmann des Fürsten mit Namen Kawagoi Gonnosuke blickte nach oben und machte ein ratloses Gesicht.
"Satarô!" Fürstin Kaname sah den jungen Samurai an. "Ich weiß auch nicht, warum Utsubo auf einmal wild geworden ist, aber es war jedenfalls eine Reaktion auf dein Geschrei. Sieh zu, dass du ihn mir wieder herschaffst!"
Der junge Samurai Satarô war der Sohn des Kawagoi Gonnosuke; er hatte zwar mannhafte Züge, die aber jetzt äußerst betreten wirkten. 
"Wenn ihr hier noch länger herumsteht, läuft Utsubo mir noch weg. Macht schnell!"
Von ihrer Hoheit zur Eile gedrängt, befahl Gonnosuke:
"Satarô, leih dir irgendwo einen Bogen!"
Satarô wollte losrennen, aber die Fürstin schimpfte:
"Ihr Schwachköpfe, ihr wollt wohl Utsubo gar totschießen?"
Kawagoi Gonnosuke galt nach Ôta Dôkan als der beste Stratege des Hauses Ôgiyatsu, und zusammen mit seinem Sohn Kawagoi Satarô zählte er zu dessen mächtigsten Gefolgsleuten, aber nach diesem Rüffel blieb ihnen nur, verschämt zu erröten. Gonnosuke blickte mit einem Gesicht, das höchste Qual ausdrückte, in die Runde.
"Gibt es hier irgendjemanden, der den Affen einfangen kann? Wem es gelingt, der erhält eine großzügige Belohnung!"
Aber niemand rührte sich. Die Leute hier waren schließlich keine Vasallen. Den Affen unversehrt aus dem Wipfel des Ginkobaums herunterzuholen, das wäre selbst dann so gut wie unmöglich, wenn man sich in einen Reiher verwandeln könnte.
Da erblickte Gonnosuke in der Menge ein Gesicht, das dermaßen grinste, dass die weißen Zähne hervorblitzten.
"Du da, du hast gelacht." Er wies mit den Fingern auf den Mann. "In einer solchen Lage zu lachen, ist eine Unbotmäßigkeit. Oder willst du etwa damit sagen, dass du den Affen einfangen
kannst?"
"Och, ich schaff das schon", erwiderte der Mann, der gelacht hatte. Es war jener Iai-Schwertkünstler.
Er stand auf, trat aus der Menge hervor und ging auf den Ginkobaum zu. Er hatte ein bildhübsches Gesicht und trug ein Lächeln wie ein Kleinkind auf seinen Zügen.
Als er unter dem Ginkobaum stand, holte er aus seiner Tasche ein Knäuel Seil hervor. Er zog es lang und warf das eine Ende erst um den Ast über seinem Kopf. An dem Ende der Leine war eine Art Haken befestigt, der sich an dem Ast verfing, so dass der Mann sich daran auf den Ast hinaufziehen konnte. Er zog das auf dem Boden liegende Ende zu sich hinauf und verhakte das Seil an dem nächsten Ast über sich, und das alles flink wie der Wind. Nachdem er das ein paarmal wiederholt hatte, war er dem Makaken auf wenige Meter Distanz nahe gekommen.


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Allzweckleine mit Haken (hier in Genpachis Händen)


Utsubo hatte dem Mann unter sich verwundert zugesehen, aber nun kreischte er hastig "kiiiih!" und wollte auf einen entfernteren Ast davonspringen. Aber das war zu spät. Die Leine kam schon durch die Luft geflogen und wickelte sich um den Körper des Äffchens.



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Etwa eine Stunde später saßen in einem Raum der Priesterwohnung, die sich in einer Ecke des Schreingeländes befand, Kawagoi Gonnosuke und der Iai-Schausteller einander gegenüber. Die Fürstin wurde in einem Empfangsraum im Innern des Hauses durch den Schreinpriester mit Tee bewirtet. Den unwilligen Schausteller, dem dies sichtlich lästig war, hatte Gonnosuke zu sich rufen lassen. Es war ein Raum, von dem aus jenseits des schmalen Gärtchens und der rot eingefassten Schreinmauer die Besucherscharen sichtbar waren, die dort entlang gingen. Für die winterliche Jahreszeit war der Tag zwar eher warm, aber aus irgendeinem Grund hatte Gonnosuke eigenhändig die papierbespannte Schiebetür vor dem runden Fenster geöffnet.


rundfenster

Japanische Fenster hatten keine Glasscheiben. Außen waren sie durch Läden, innen durch Papierschiebetüren abdeckbar.
Sie dienten in erster Linie, um Licht hereinfallen zu lassen, und in zweiter Linie, um den Blick auf den sorgfältig angelegten Garten zu genießen.


Gonnosuke mit seinen strengen, würdevollen Gesichtszügen legte beide Hände auf die Knie, neigte leicht sein Haupt und äußerte erneut seinen Dank; er fragte, was sich der Künstler zur Belohnung wünsche.
"Ach was, ich habe das aus Spaß getan, ich habe keine besonderen Wünsche", wehrte dieser kopfschüttelnd ab.
Eine Weile betrachtete Gonnosuke ihn schweigend und sprach dann.
"Nenn mir deinen Namen."
"Ich heiße Hôkaya Monoshirô (Schausteller Dingsmann)."
"Du wirst doch außer dem Künstlernamen noch einen richtigen Namen haben."
In diesem Augenblick betrat Gonnosukes Sohn Satarô den Raum.
"Herr Vater, Masaki ist aus dem Teehaus verschwunden und nirgendwo auffindbar!"
"Hmm?"
Gonnosuke runzelte die Stirne und wandte sich dann wieder an den Schausteller.
"Entschuldige die Unterbrechung. Aber wir haben vorhin an einem Teehaus die frühere Ziehmutter meines Sohnes, eine Frau mit Namen Masaki, die mehr als zwanzig Jahre lang spurlos verschwunden war, zufällig gesehen. Als wir sie überrascht ansprachen, ist der Affe ihrer fürstlichen Hoheit wild geworden und es kam zu der Situation, in der wir dir diese große Mühe bereitet haben", erklärte er.
"Satarô, heb dir die Sache mit Masaki für später auf. Ich habe eine Bitte an diesen Mann. Falls fremde Ohren mithörten, könnte es missliche Folgen haben. Ich habe deshalb vorsichtshalber das Fenster geöffnet. Aber sei so gut und schau mal draußen nach!", befahl er. Er achtete sehr umsichtig darauf, dass es keine heimlichen Lauscher gab. Satarô ging zum offenen Fenster und schaute hinaus.
"Niemand zu sehen", berichtete er.
"Gut. Jetzt bleib hier und hör mit zu."
"Hôkaya Monoshirô", sprach er den jungen Schausteller an, "das dürfte ein Name sein, um dich vor der Öffentlichkeit zu verstellen. Ich habe vorhin deine Fertigkeit mit dem Wurfseil gesehen und von dem Schreinpriester gehört, dass du dein Einkommen damit bestreitest, auf einem Turm übereinandergestellter Holzkissen balancierend ein a
nderthalb Meter langes Schwert kunstfertig zu ziehen. Dass du in diesen Kriegszeiten, obwohl du solche Künste beherrschst, damit als Schausteller umherziehst, fasse ich als Tarnung für ein anderes, großes Ziel auf, das dich umtreibt."
Über die schönen Gesichtszüge des jungen Künstlers huschte ein Lächeln.
"Deine wahren Absichten sind mir nicht bekannt. Nun sagtest du gerade, du brauchtest keine Belohnung. Jemanden, der so anspruchslos ist, auf diese Weise anzusprechen, mag lachhaft sein, aber da ich dich nun halbwegs durchschaut habe, möchte ich mich mit einer Bitte an dich wenden. Was meinst du dazu?"
"Worum wollt Ihr mich denn bitten?", fragte
Hôkaya Monoshirô zurück, als wäre er auf einmal neugierig geworden.
"Es handelt sich um ein Geheimnis des Hauses Ôgiyatsu." Gonnosuke senkte die Stimme.
"Unser Shogunatsfürstenhaus l
iegt schon seit langer Zeit mit dem anderen Shogunatsfürstenhaus Yamanouchi samt dessen Vasallenhaus Nagao in einer endlosen Fehde. Im vergangenen Jahr konnten wir den ehrgeizigen Hôjô Sôun in Odawara samt seiner Streitmacht auf unsre Seite ziehen. Nun wurden bei unseren Vasallen Stimmen laut, dass wir unsere Kräfte mit denen des Hôjô vereinen und die Gelegenheit nutzen sollten, um das Haus Yamanouchi und seinen Vasallen Nagao, die uns im Wege stehen, anzugreifen und zu vernichten. Auch unser Fürst, Herr Sadamasa, ist dazu geneigt..."
"Herr Vater!", warf Satarô ein und machte Handzeichen, über das Thema zu schweigen. "Sprecht nicht darüber! Oder allenfalls nach allerreiflichster Überlegung!"


gonnosuke

"Herr Vater, sprecht nicht darüber!"  --- Gonnosuke und Satarô



Gonnosuke schüttelte den Kopf.
"Aus anderer Sicht lässt sich auch das als eine Art Strategie bezeichnen. Meiner Meinung nach führt die Verbündung mit Hôjô zum Untergang unseres Fürstenhauses Ôgiyatsu. Dieser Hôjô Sôun ist zu fürchten. In bin der Ansicht, dass sich unser Haus Ôgiyatsu lieber mit dem Hause Yamanouchi und deren Vasallenhaus Nagao zusammentun und gegen Hôjô zu Felde ziehen sollte."
"Herr Vater!", rief Satarô schon wieder, "das könnt Ihr doch nicht einem vollkommen unbekannten Mann...."
"Schweig still! Mein Kennerblick hat diesen Mann durchschaut. Ich übernehme die Verantwortung für meine Worte. Ich sehe in diesem Mann eine Person, die für uns die Rolle des Jing Ke übernehmen könnte."
Jing Ke war ein todesmutiger Attentäter, der den chinesischen Kaiser Qin Shihuangdi erdolchen wollte.
Gonnosuke wurde heftig.
"Nun, den Schachzug, sich mit diesem
Hôjô Sôun zusammenzutun, hat sich ein Mann ausgedacht, der vor einigen Jahren neu in den Kreis der Berater des Fürsten berufen wurde. Ich sehe in ihm einen tückischen Menschen, vor dem man sich gut in Acht nehmen sollte, und sein listiger Plan dient lediglich seinem Ehrgeiz, beim Fürsten in ein besseres Licht zu rücken und eine wichtigere Rolle zu spielen. Ließe man ihn gewähren, wäre er ein gefährlicher Mensch, der das Haus Ôgiyatsu garantiert zu Fall bringen wird", fuhr Gonnosuke fort. "Nein, 'gewähren ließe' ist nicht der richtige Ausdruck. Er hat unseren Fürsten nämlich schon so eingewickelt, dass selbiger Mann in sechs Tagen, am 21.Tag dieses Monats, von Burg Isarago aus als Bote nach Odawara aufbrechen und Herrn Hôjô den Bündnisvertrag unterbreiten wird."
Die aufsteigende Röte im Gesicht des Gonnosuke verriet seinen Zorn.
"Falls das geschähe, wäre alles zu spät. Das quält mich. Und dieser Mensch wittert wohl schon längst, dass ihm Gefahr drohen könnte. Er lässt sich von einer Garde aus mehr als dreißig exzellenten Schwertkämpfern schützen, so dass es keineswegs leicht wird, ihm etwas anzutun. Und wenn ich irgendwie eingriffe, steht zu befürchten, dass mein Herr es als eine Handlung ansähe, die aus purem Neid auf seinen neuen Berater geschah."
Gonnosuke sah den Schausteller fest an.
"Unter diesen Umständen ist es wünschenswert, dass einer, der den Kerl totschlägt, nichts mit dem Hause Ôgiyatsu zu tun hat. Ich traue dir mit deiner Schwertkunst zu, diese Aufgabe zu erledigen. Willst du sie nicht übernehmen?"
Hôkaya Monoshirô lachte.
"Das wäre eine Sache, die Euch ziemlich zupass käme."
"Das ist mir voll und ganz bewusst. In diesem Bewusstsein bitte ich dich darum. Als Belohnung werde ich alles tun, damit du dein eigenes großes Ziel erreichst. Sag mir also, worum es dir geht."
"Mein großes Ziel ist, so leid mir das tut, weder Ansehen noch Geld noch sonst etwas dieser Art."
Monoshirô sah aus dem Fenster, als habe er jegliches Interesse verloren. Leichthin fragte er noch:
"Und wie heißt der Gefolgsmann, der als Bote zu Hôjô gehen soll?"
"Komiyama Ittôta...."
Bei der Nennung dieses Namens fuhr 
Monoshirô blitzartig zu Gonnosuke herum, wandte sich dann aber wieder ab und schaute durch das Fenster auf die Menschenmenge, die jenseits von Garten und Mauer sichtbar war.
"Oh, Inuta Kobungo!", entfuhr es ihm.
Er wird wohl irgendeinen Bekannten erblickt haben, dachten Vater und Sohn Kawagoi überrascht, aber im nächsten Augenblick tat der Schausteller etwas Unerwartetes. Er sprang nämlich auf und hechtete durch das geöffnete runde Fenster ins Freie. Noch einmal wandte er sich um und rief:
"Was soeben besprochen wurde, geht in Ordnung!"
Er lief durch das Gärtchen, sprang über die Außenmauer und tauchte in der Menschenmenge unter. Sein wirklicher Name war Inuzaka Keno.


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Einmal als reisende Tänzerin, dann wieder als armseliger Bettler, und nun als Straßenschausteller --- Kenos Auftreten in vielerlei Gestalt war wirklich erstaunlich!
Dass er im vergangenen Herbst in Aoyagi im Lande Shinano seine 'Brüder' Inuta Kobungo und Inuzuka Shino im Stich gelassen hatte, bereitete auch Inuzaka Keno selbst keineswegs unerhebliche Gewissensbisse. Als er nun Kobungo
zusammen mit einem unbekannten Mann mit angespannter Miene den Weg neben dem Schreingelände von Yushima durch die Menge gehen sah, hatte er unwillkürlich einen Ruf ausgestoßen und war ihm nachgelaufen. Aber Kobungo war schon außer Sicht. Kobungos Begleiter war Inumura Daikaku gewesen, den Keno aber noch nicht kannte. Die beiden waren mit Inukawa Sôsuke und Inukai Genpachi aus dem Lande Kai aufgebrochen, hatten unterwegs den Berg Minobusan besichtigt und waren nun endlich in Edo angekommen. Bevor sie zum Lehen Hokita gingen, waren sie zur Besichtigung des Yushima Tenjin Schreins hergekommen, hatten jedoch auch ihrerseits in der Menge ein unerwartetes, bekanntes Gesicht entdeckt, das ihnen die Haare zu Berge stehen ließ. Sie waren dabei, diese Person zu verfolgen. Es handelte sich um die unvergessene Giftschlange Funamushi. Aber auch sie hatten dieses verführerische Weib aus den Augen verloren. Funamushi hatte sie nämlich bemerkt und war geflohen. Sie war auf- und davongeschwirrt wie ein Vogeldämon.


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Funamushi


Dass Funamushi als Weib des Räubers Kamomejiri Namishirô in der Nähe von Senzoku bei Asakusa gelebt hatte, war nun knapp sechs Jahre her. Danach war ihre betörende Gestalt, auf irgendeine Weise zur Frau des Schwertmeisters Akaiwa Ikkaku
geworden, in Kôzuke aufgetaucht, bevor sie in Echigo als 'blinde' Sängerin und zugleich als Geliebte des Räuberhauptmanns Shutenji einen weiteren Auftritt hatte.
Dies war die Zusammenfassung ihrer Begegnungen mit den Hundekriegern. Was sie sonst in den Zwischenzeiten trieb? Niemand kann wissen, was für ein Leben sie geführt hat, seit sie in diese Welt geboren wurde. Der einzige, der es wissen müsste, ist der höllenschwarze Satan, denn wo immer dieses Weib sich zeigte, verursachte sie bei unbescholtenen Leuten vergossene Tränen und vergossenes Blut; Unschuldige wurden der Schuld bezichtigt, friedliche Menschen kamen zu Tode.
Im 4.Monat des Vorjahrs wäre sie in Ojiya in Echigo beinahe von Inuta Kobungo und Inukawa Sôsuke erledigt worden, war jedoch mit knapper Not entkommen. Was hatte sie seitdem gemacht? Jedenfalls war dieses Höllenweib Funamushi nun auf einmal hier in Edo aufgetaucht. Und vermutlich hatte sie heute die Gegend des Yushima Tenjin Schreins aufgesucht, um auf irgendeine Weise an Geld zu kommen. Und während sie hier herumstreunte, hatte sie in der Menge unverhofft auf einmal Inuta Kobungo und Inumura Daikaku entdeckt. Oder genauer gesagt, sie war kurz davor von diesen beiden entdeckt worden.
"Oooh, dieses Weib!", hatte Kobungo ausgerufen und war mit Daikaku, sich brachial eine Schneise durch die Menge bahnend, auf sie zugestürzt gekommen, und daraufhin hatte dieses Teufelsweib schreckensbleich das Weite gesucht. In ihrer Todesangst war sie wie von Sinnen losgerannt und hatte es geschafft, Kobungo und Daikaku abzuschütteln.

Das Ziel ihrer Flucht war eine der Baracken, die sich in Yatsuyama bei Shinagawa aneinanderreihen. Am Eingang drehte sie sich noch einmal um, und auch nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, stand sie noch eine Weile völlig außer Atem da. Ein Mann, der auf einer Matte dieser Bude neben einer schwarzen Katze hockte und sich
schon seit dem Mittag mit Sake volllaufen ließ, fragte:
"Was ist denn los?"
"Am Yushima Schrein bin ich Kakutarô begegnet."
"Kakutarô?"
"Der Sohn des Akaiwa Ikkaku aus dem Dorf Akaiwa in Kôzuke. Der ist mit einem weiteren Mann, den ich auch kenne, am Yushima Schrein herumgelaufen. Die haben mich gesehen und sind mir nachgelaufen."
"Mit einem weiteren Mann? War das nicht dieser Inukai Genpachi?"
"Nein, der war es nicht. Es war ein Kerl namens Inuta Kobungo."
"Hmm."
"Jedenfalls habe ich es geschafft, sie abzuhängen, aber wenn die mich finden, komme ich nicht so einfach davon."
Der bärtige Mann betrachtete eine Weile Funamushis bleiches Gesicht.
"Wie steht dieser Kakutarô wohl zu Herrn Komiyama?"
"So sehr wie mich wird er ihn wohl nicht hassen, glaubt aber, dass er mit mir gemeinsame Sache macht. In Akaiwa bin ich gemeinsam mit Komiyama zu Kakutarôs Klause gekommen, und er ist mit mir zusammen geflohen."
"Und was hält Herr Komiyama von Kakutarô?"
"Wieso fragt Ihr?"
"Wenn wir ihm erzählen, dass Akaiwa Kakutarô in Edo aufgetaucht sei, um Herrn Komiyama als einen seiner Feinde zu erschlagen, wird er uns das glauben?"
"Das hängt davon ab, wie glaubhaft man ihm das vorträgt."
"Ausgezeichnet. Das werde ich ihm als 
Gabe meines guten Willens für meinen Wiedereintritt in die Dienste des Fürsten vorflunkern!"
Der Mann schlug sich erfreut auf die Schenkel. Er war einer der einstigen 'vier Himmelskönige' des Komiyama Ittôta und hieß Hattô Tôta. In der Schwertkampfschule von Akaiwa im Lande Kôzuke war er seinerzeit von Inukai Genpachi mit dem Holzschwert niedergehauen worden. Später hatte
Hattô Tôta zusammen mit seinem Herrn Komiyama Ittôta den Dienst im Hause Nagao quittiert und war ein Gefolgsmann des Fürstenhauses Ôgiyatsu geworden. Er hatte sich dann jedoch mit Ittôta überworfen und war verstoßen worden. Seitdem war er zu einem Kerl verkommen, der sein Auskommen als Wegelagerer bestritt. Einem Mann, der den Schwertkampf derart beherrschte, dass er einst zu den 'vier Himmelskönigen' des Herrn Komiyama gezählt wurde, blieb nichts anderes übrig, als seine Schwertkunst als Straßenräuber einzusetzen. Und in dieser finsteren Unterwelt war er auf Funamushi gestoßen, die ebenfalls eine Räuberbraut war. Sie hatte Ittôta auf der Flucht aus Akaiwa mit ihrer Verführungskunst bezirzt, ihm alles Geld, das er mit sich führte, abgenommen und sich dann aus dem Staub gemacht. Daraufhin wollte Hattô Tôta Funamushi festsetzen und zu Herrn Ittôta schaffen.


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Funamushi und Hattô Tôta
 

"Haha, bringt mich ruhig zu Herrn 
Ittôta! Nicht mich, sondern Euch wird er bestrafen!", hatte Funamushi höhnisch gelacht, und Hattô Tôta war sofort eingeknickt. Obwohl sie Komiyama Ittôta derlei angetan hatte, besaß sie ihm gegenüber offenbar ein beträchtliches Selbstvertrauen. Aber Tôta hielt es für durchaus wahrscheinlich, dass es tatsächlich so kommen könnte, wie Funamushi gesagt hatte. Außerdem war auch er den Betörungskünsten dieser koketten Verführerin erlegen und lebte jetzt, wie man sieht, in dieser Bruchbude mit ihr zusammen.  
"Übrigens habe ich neulich auf der Straße einen anderen der 'vier Himmelskönige des Komiyama' getroffen", sagte 
Hattô Tôta. "Als er meine heruntergekommene Gestalt erblickte, bekam er Mitleid und sagte, er wolle mir behilflich sein, in den fürstlichen Dienst zurückzukehren, aber Herr Komiyama müsse am 21.Tag des Monats mit einer Schar Gefolgsleuten als Gesandter nach Odawara reisen; deshalb könne er mein Anliegen erst nach dessen Rückkehr nach Isarago zur Sprache bringen. Außerdem benötige er irgendeine Gabe als Zeichen meines guten Willens."
Hattô Tôta war nach seiner Entlassung durch den Herrn des Hauses Chiba zum Haus Nagao gewechselt, und weil er es dort zu nichts brachte, zum Haus des Shogunatsfürsten Ôgiyatsu --- nach dieser Reihe von Wechseln war er von seinem Talent, eine recht beachtliche Stellung zu erreichen, vollkommen überzeugt und brannte darauf, schnell wieder in die Entourage des Fürsten zu gelangen.
"Wenn der Kakutarô hier ist, wird auch dieser Inukai Genpachi nicht weit sein. Der hat sogar einen Schwertmeister wie den Akaiwa Ikkaku erschlagen. Der ist zu fürchten. Ich werde also melden, dass Akaiwa Kakutarô zusammen mit einer Menge erstklassiger Schwerthelden es auf Herrn Komiyama abgesehen habe. Und ihm empfehlen, eilig eine Schwertkämpfertruppe für einen Gegenangriff aufzustellen und auch mich dieser Truppe einzugliedern. Wie wäre das?"
Hattô Tôta blickte auf Funamushi, die sich auf die Matte gesetzt hatte.
"Und wenn die Kampftruppe steht, dann lass dich nochmal in der Gegend des Yushima Schreins blicken. Der Kakutarô, der nichts lieber täte, als dich umzubringen, wird dann garantiert auf der Suche nach dir da herumlaufen. Dann überfallen und erledigen wir ihn. Es ist zwar gefährlich, aber wenn du das für uns tust, wird Herr Komiyama dir sicherlich verzeihen."
Der Vorschlag war einleuchtend, und Funamushi willigte ein.
"Gut, ich will es tun. Jedenfalls kann ich nicht ruhig schlafen, solange dieser Kakutarô nicht beiseite geräumt ist", nickte sie, den Kopf ihrer schwarzen Katze kraulend.
"Man soll das Eisen schmieden, solange es heiß ist", sagte 
Tôta. Aber war es wirklich heiß?
"Wenn ich jetzt zur Burg Isarago liefe, würde man mich, so wie ich aussehe, nicht mal zum Tor hereinlassen." 
Tôta schaute auf sein schmuddeliges, mit Flicken übersätes Gewand. "Herr Komiyama soll am 21.Tag nach Odawara aufbrechen. Ich will unterwegs auf ihn warten und ihm diese Nachricht verkünden. Das wäre ein handfester Anlass, mich ihm wieder anzunähern. Jedenfalls kann ich in dieser Aufmachung unmöglich vor den Herrn treten. Wenn ich mich nicht anständig präsentieren kann, hört er sich das, was ich ihm zu berichten habe, nicht einmal an."
Er schaute zu Funamushi herab.
"Das Geld, das für eine neue Gewandung nötig ist, muss in den nächsten Tagen herbeigeschafft werden.... Funamushi, machst du für mich wieder wie immer den Lockvogel?"
Funamushi hob ihre schwarze Katze auf den Arm und ließ sich von ihr die wollüstigen Lippen ablecken. Ihr Gesicht war aber zu 
Tôta gewandt.
"Ja gut, das mache ich."
Sie wand sich aufreizend und zeigte ihm lächelnd ihre weißen Zähne.
Sie musste schon über vierzig sein, war aber noch immer so attraktiv, dass Männer, die ihr begegneten, sich nach ihr umdrehten.


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Funamushi

Ihre Reize, nach außen Göttin, innerlich Teufelin, und alle Verführungskünste hatte sie stets eingesetzt; letzten Endes aber hauste sie in einer solchen Baracke zusammen mit einem zum Straßenräuber heruntergekommenen ehemaligen Schwertkämpfer. Ein Leben voller Mühe und Plage, möchte man beinahe bedauernd ausrufen, aber dieses Weib empfand vermutlich beim Begehen übelster Taten eine Art von Rausch, der ihr Leben erfüllte und ihm einen Sinn gab.
Funamushi stellte sich von Zeit zu Zeit am Meer bei Shinagawa an die Landstraße, um als Gassenhure Kunden anzulocken. Während des Vollzugs lockte sie die Zunge des Kunden in ihren Mund und biss sie dann fest durch. Dann raubte sie alles, was der Verblutende in den Taschen hatte; so verwendete sie ihre Wollust als Werkzeug. Es war der Todesbiss einer Lustdämonin. Sie nannte ihre Methode 'Zungenspecht'. Wenn es mitunter einmal misslang und ihr Kunde Lärm schlug, eilte der in der Nähe Schmiere stehende
Tôta herbei und brachte das Opfer mit dem Schwert um. Egal wie die Leute zu Tode kamen, ihre Leichen wurden einfach ins Meer geworfen.
Jedenfalls wollte dieses Raubmörderpaar dem Komiyama Itt
ôta, der am 21.Tag Burg Isarago verlassen sollte, eine Warnung zukommen lassen. Mochte die Geschichte erfunden sein oder tatsächlich irgendjemand dem Ittôta nach dem Leben trachten, als Warnung taugte sie auf jeden Fall.


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Drei Tage später, nach Einbruch der Dämmerung, gingen die beiden an der Landstraße am Strand Shibahama ihrem Gewerbe nach. Der Mond war zwar über dem Meer aufgegangen, aber in dieser winterlichen Nacht war kein Kunde in Sicht. Selbst Reisende kam nur wenige vorbei. Und solche, die nach Geld aussahen, erst recht nicht. Derjenige, den sie sich schließlich als Opfer aussuchten, war ein Bauer, der eine Laterne in der Hand trug und einen Ochsen am Halfter führte.
"Uns bleibt keine andere Wahl. Nimm den halt! Geld wird er nicht haben, aber das ist ein prachtvolles rotes Rind. Wenn wir das morgen verkaufen, kriegen wir mehr dafür als aus den Taschen eines armen Schluckers", wisperte Hattô Tôta.
Funamushi griente unzufrieden, ging aber auf den Bauern zu und machte ihn an. Dabei verwandelte sie sich in eine bezaubernde Fee, deren Verlockungen selbst der Teufel persönlich nicht widerstehen könnte.
"Hallo, mein Herr! Ich habe meinen Ehemann verloren und muss meine kranke Schwiegermutter versorgen. Ich schäme mich zwar sehr, aber ich bin eine Frau, die ihre Reize zum Kauf feilbietet. Bitte seid so gütig, mich zu kaufen, und denkt daran, dass Ihr damit anderen Menschen helft!"
Der Bauer schien überrascht, aber als er im Mondlicht Funamushis schönes Gesicht erblickte, war es angesichts ihres betörenden Lächelns sofort um ihn geschehen; er willigte ein. Nahebei gab es eine zerfallene Enma-Halle ohne Türen. Daneben band der Bauer seinen Ochsen fest, und während er auf den Bohlen der Halle zum Paradies der Leibeslust emporstieg, stürzte er zugleich in die Hölle des 'Zungenspechts'. Dieses tragische Schauspiel betrachtete eine schwarze Katze mit ihren goldgrünen Augen, die am Rand des Bohlenganges saß. Sie war Funamushis Lieblingstier.


Enma ist der buddhistische Höllenfürst, die Entsprechung des Ploutos (Pluto) der griechischen Mythologie. Die Symbolik, dass der Raubmord in einer verlassenen, einst dieser Gottheit geweihten Tempelhalle stattfindet, ist nicht zu übersehen.


Zu dem Toten, der mit einem Schmerzensschrei von dem Bohlengang heruntergefallen war, lief Tôta mit hochgekrempelten Beinkleidern hin und knurrte:
"So ein Mist....., gerade mal 100 mon hat der Kerl dabei gehabt!"
Offensichtlich hatte der Bauer in einem Nachbardorf das Rind gekauft und befand sich auf dem Heimweg. Mehr Geld war ihm nicht mehr verblieben.
"Selbst wenn wir das Vieh verkaufen.... Schnapp dir noch einen oder zwei Kunden!"
Er schleifte den Leichnam fort, warf ihn ins Meer und versteckte sich dann wieder.
Das lüstern giftige Spinnenweib ging erneut zur Straße und spann seine Netze, um ihr zweites Opfer einzufangen. Eine halbe Stunde verging, da kam aus westlicher Richtung ein einzelner Mann, ein Samurai mit Reisehut aus Binsenstroh, des Wegs. Funamushi lief mit flatternden Ärmeln auf ihn zu.
"Hallo, Herr Rittersmann! Ich habe meinen Ehemann verloren und muss meine kranke Schwiegermutter versorgen. Ich schäme mich zwar sehr, aber ich bin eine Frau, die ihre Reize zum Kauf feilbietet. Bitte seid so gütig, mich zu kaufen, und denkt daran, dass Ihr damit anderen Menschen helft!"


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Funamushi bei ihrem Gewerbe als Hure



Der Samurai packte schweigend ihren Arm und lüftete mit der anderen Hand seinen Strohhut.
"Wen glaubst du angesprochen zu haben?"
Als Funamushi zu dem vom Mondlicht erhellten Gesicht des Mannes aufblickte, erfasste sie ein solches Entsetzen, wie es in der weiten Welt noch nie erlebt worden war. Der Mann war Inumura Daikaku - beziehungsweise, wie Funamushi ihn kannte, Akaiwa Kakutarô! 
"Aaaah!", schrie sie, riss sich mit unerhörter Kraft wie irre los und rannte davon. Sie kam zehn Schritte weit, da stieß sie auf einen weiteren Samurai. Ein Krieger mit einem Körper so massig wie ein kleiner Berg, der sich
das Weib mit Leichtigkeit schnappte und unter seinem Binsenhut brummte:
"Diesmal kommst du uns nicht davon, Funamushi! Ich bin Inuta Kobungo."
"Zu Hilfe, Herr Tôta!", schrie Funamushi verzweifelt. Aus der Finsternis kam mit gezücktem Schwert Hattô Tôta gelaufen, aber da tauchte im Mondlicht ein dritter Samurai mit Binsenhut vor ihm auf und verstellte ihm den Weg.
"Halt!"
"Huuch, Inuta Genpachi!", schrie Tôta erschrocken, blieb stehen und sank dann schlaff in sich zusammen.
"Ha, du kennst mich also. Wer bist du? Ja, dein Gesicht habe ich schon mal irgendwo gesehen!"
Während Genpachi ihn mit dem Fuß niederhielt und nachdachte, erschienen aus der Dunkelheit drei weitere Schatten und näherten sich: Inuzuka Shino, Inuyama Dôsetsu und Inukawa Sôsuke.
Auch Inukawa Sôsuke erblickte Funamushi und rief: "Oh, dieses Weib!"
Er hatte sie in Ojiya versehentlich vor dem Gottesurteil gerettet und als die leider entwischte Räuberbraut des Banditen Shutenji in Erinnerung. Auch Shino und Dôsetsu kannten dieses teuflische Weib
aus den Erzählungen der Gefährten.
"Was treibst du denn hier, du giftige Hexe?", murmelte Kobungo. Er hielt Funamushi nur leicht am Handgelenk fest, aber sie wand sich, als wäre sie in eine eiserne Klemme gespannt. Der eigentlich gutmütige Kobungo, der einmal von ihr in eine Falle gelockt und einmal von ihr beinahe erdolcht worden wäre, hatte keinen Funken Mitleid mehr mit ihr. Obendrein hatte dieses Weib die Intrige gesponnen, die Hinaginu, die Ehefrau seines 'Bruders' Inumura Daikaku, in den grauenvollen Selbstmord getrieben hatte. Jetzt war das Maß voll.
Ebendieser Inumura Daikaku, ein auf den ersten Blick umgänglicher junger Mann, schaute sie mit düster funkelnden Augen an und sprach:
"Ich mag es wirklich nicht, Menschen umzubringen, aber einzig bei dieser Frau stellte es mich nicht einmal dann zufrieden, wenn ich ihr eigenhändig den Kopf abschlüge."
Nicht nur Funamushi, sondern auch Hattô Tôta bekam vor Todesangst eine Gänsehaut. Die beiden wurden mit ihren Gürtelbändern nebeneinander an einen Baum nahe der Enma-Halle angebunden. Als 
Tôta merkte, dass die sechs Krieger anfingen, sich zu beraten, schauderte es ihn. Er jammerte:
"Ich weiß auch, dass die da ein schlimmes Weib ist. Und ich weiß auch, dass sie diejenige ist, die die Frau Gemahlin des Herrn Akaiwa Kakutarô in den grausamen Tod getrieben hat. Aber ich habe damit nichts zu schaffen! Ich habe sie heute Abend als Hure anschaffen lassen, damit sie mir Mittel beschafft, um zu meinem einstigen Schwertmeister zurückkehren zu können. Ich ersuche darum, mein Handeln aus der Notlage eines Samurai anzuerkennen!"
Ohne auf die verzweifelten Rechtfertigungsversuche des Tôta näher einzugehen, fragte Inumura Daikaku:
"Dein ehemaliger Schwertmeister, ist das Komiyama Ittôta?"
Er kannte Tôta von damals, vom Dorf Akaiwa her. 

"Jawohl."
Dass Tôta wahrheitsgemäß antwortete, rührte daher, dass er nicht wusste, wie Kakutarô über Komiyama Ittôta dachte.
"Wo befindet sich Komiyama Ittôta?", fragte Inukawa Sôsuke, hellhörig geworden. Er hatte Inuzaka Kenos Berichte über Komiyama Ittôta gehört. Tôta stellte fest, dass diese Krieger ein ungewöhnliches Interesse für
Komiyama Ittôta an den Tag legten.
"Herr Komiyama befindet sich derzeit auf Burg Isarago. Er ist ein enger Gefolgsmann des Shogunatsfürsten", erklärte er mit einschmeichelndem Ton. "Ich habe es mir heute Nacht anders überlegt. Ich schlage mir den Dienst beim Fürsten aus dem Sinn. Lasst mich bitte frei. Im Gegenzug gebe ich Euch die Vorhaben des Komiyama preis. Er wird nämlich am 21.Tag dieses Monats als Gesandter des Herrn Fürsten nach Odawara aufbrechen."
"Ha....!"
Die Hundekrieger wechselten vielsagende Blicke. Aber diese sechs Gefährten hatten mit 
Komiyama Ittôta nichts zu schaffen. Auch Daikaku und Genpachi, die Ittôta aus dem Dorf Akaiwa kannten, hatten keineswegs vor, die Kenntnis seiner Reisepläne zu irgendwelchen Taten zu nutzen.
"Ja, wenn Keno hier wäre....", murmelte Kobungo
. Er ahnte ja nicht, dass Keno ihnen am Yushima Tenjin Schrein vergebens hinterhergelaufen war. Allen war bekannt, dass Komiyama Ittôta für Keno als Mörder seines Vaters der größte Todfeind war. Wollten sie jedoch ohne seine Beteiligung gegen ihn vorgehen, würde er ihnen womöglich deswegen zürnen.
"Solange Sadamasa seine Burg nicht verlässt, bringt uns das nichts", brummte Dôsetsu missmutig. Dôsetsu war einzig darauf aus, sich an Sadamasa zu rächen.


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Inuyama Dôsetsu



Seit dem letzten Herbst waren die anderen fünf Hundekrieger gekommen, um von ihrer "Festung" in Hokita aus Dôsetsu beizustehen, der Tag und Nacht die Bewegungen des Sadamasa, der auf Burg Isarago weilte, ausspionierte. An diesem Tag hatten sich auch die anderen fünf Gefährten in dieser Gegend unauffällig umgetan und auf dem Rückweg unverhofft das Teufelsweib Funamushi mit ihrem selbstgesponnenen Netz einfangen können.
"Auf jeden Fall würde es die Ehre eines Hundekriegers beschmutzen, eigenhändig die Klinge über solch ein Ungeziefer (Funamushi = Strand-Assel) zu senken. Sich mit ihr an einem solchen Ort abzugeben, ist mir schon zuwider", tönte Dôsetsu stolz. "Deshalb soll ein Vieh dieses Vieh richten!"
Seine Schwertklinge blitzte auf, aber sie durchtrennte nur das Seil, mit dem der Ochse nebenan festgebunden war. Dieser Ochse, den Tôta zuvor als
'prachtvolles rotes Rind' gepriesen hatte, ein furchtloses, fast wildes Tier, wollte gleich losrennen, als sein Halfter durchtrennt worden war, aber Kobungo, der sich vor dem Rind aufgebaut hatte, packte den Ochsen ohne Furcht fest an den Hörnern. Dieser Kobungo, der einst in Echigo beim Stierkampffest einen wilden Stier mit bloßen Händen zu Boden gezwungen hatte, drehte den Kopf des Ochsen in die Gegenrichtung und rief: "Die da sollst du aufspießen!", und schlug ihm derb aufs Hinterteil.
Über die gewaltige Kraft dieses Schlags erschrocken oder in Wut geraten, senkte der Ochse den Kopf, raste los und rammte den beiden vor ihm festgebundenen Menschen seine Hörner in den Leib. Wer den Schrei ausgestoßen hatte, erfuhr man nicht, aber dieser Schrei, der nicht der Kehle eines irdischen Lebewesens zu entstammen schien, stachelte den Ochsen zu noch heftigerem Zorn an. Er stieß seine eisenharten Hörner noch zwei-, dreimal in Bauch, Brust und Kopf von Funamushi und Tôta. Die beiden, deren Gewandbänder fortgerissen waren, krümmten sich halbnackt so heftig vor Schmerzen, dass ihre Fesseln
beinahe zerrissen.   
Diese unvergleichlich grausame Hinrichtung beobachteten schweigend nur eine schwarze Katze, die auf dem Rand des Bohlengangs der Tempelhalle saß, und im Innern der verfallenen, türlosen Halle die abgewetzte, hölzerne Statue des Höllenfürsten Enma.
Die sechs Hundekieger waren schon nicht mehr vor Ort. Von Weitem hörte man durch den Mondschein noch ihre befreit lachenden Stimmen, die sich, das Rauschen der Brandung übertönend, allmählich entfernten.
Ohne es zu wissen, hatten die sechs Hundekrieger damit den einzigen Menschen, der Komiyama Ittôta vor einem Attentat warnen wollte, rechtzeitig ausgeschaltet.
 

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Am Morgen des 21.Tags des 1.Monats im 15.Jahre Bunmei (1483) überfiel Inuzaka Keno die Gesandtschaft des Komiyama Ittôta, der sich von Burg Isarago aus als Bote in Richtung Odawara auf die Reise begeben hatte. Weil diese Mission geheim bleiben sollte und außerdem, wie hinzuzufügen ist, seiner eigenen Initiative entsprang, führte er als Gefolge nicht mehr als gut dreißig Kriegsleute mit sich.
Es war zwar Morgen, aber ein eisiger Wind wehte, und die tuscheschwarzen Wolken hingen so tief, dass der Tag so düster war, als wollte die Nacht niemals enden. Als der Zug zwischen Meer und Wald --- es war der später als Richtplatz bekannte Wald Suzugamori --- an eine schmale Stelle gelangte, an der es nur einen einzigen Weg gab, erschien in ihrer Wegrichtung ein Mann, gekleidet ganz in Weiß wie ein Schneereiher, und rief sie an.
"Holla, Komiyama Ittôta! Halt mal eine Weile an! Hier wird dich dein hassverzehrter Todfeind Inuzaka Keno, der nicht vergessen hat, dass du ihm im Winter des 3.Jahres Kanshô (1463) den Vater Aihara Tanenori
heimtückisch ermordet hast, jetzt erschlagen!" 
Seinen Haarschopf, den er auf dem Rücken zusammengebunden hatte, umschlang ein weißes Stirnband, und mit einem weißen Übergewand über dem Kettenhemd schnellte er mit blankem Schwert schnell wie der Wind auf Ittôta zu. Der enge Gefolgsmann des Hauses Ôgiyatsu, Kawagoi Gonnosuke, der Keno das Datum der Abreise des Komiyama Ittôta verraten hatte, rechnete sicherlich damit, dass das Attentat durch irgendeinen Trick gelingen würde, nachdem er Kenos wundersame Künste selbst erlebt hatte. Aber Inuzaka Keno griff seinen Feind nach alter Ritterart
aufrecht und frontal an.


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Inuzaka Keno und seine Kristallkugel mit dem Schriftzeichen CHI ---
 ein
Mann von weiblicher Anmut, der tausenderlei Künste und Tricks beherrscht


Im Nu stürzten drei oder vier Mitstreiter des Komiyama erschlagen von den Pferden, aber sein Gefolge bestand aus über dreißig Mann, die fast alle beritten waren. Überdies führte Komiyama nur handverlesene, besonders kampfstarke Gardisten mit sich.
"Du Schurke, komm nur her!"
Nach den ersten Schrecksekunden ließ die Reitertruppe ihre Schwerter und Lanzen aufblitzen und versuchte, den Angreifer einzukesseln, aber die Stelle war schmal, es gab nur diesen einen Weg. Keno wieselte, nein, flog flink zwischen den Pferden hindurch. War es auch ein Überfall nach alter Manier, so hatte es doch beinahe den Anschein, als flöge ein weißer Vogel durch die Lüfte. Ein halbes Dutzend weitere Gegner stürzten in Blutfontänen von ihren Rössern. Das Schwert, das Keno schwang, war das berühmte Schwert Rakuyô.
Allerdings setzte Keno auch auf Schaustellertricks. Während er das Schwert schwang, sammelte er mit der anderen Hand Steine auf und schleuderte sie auf die von vorn und hinten, von rechts und links angreifenden Feinde. Jeder Stein ein Treffer, der den Angreifer vom Pferd stürzen oder bewusstlos werden ließ.
Der heftige Kampf ging weiter. Kenos weißes Übergewand färbte sich blutrot, und zwar nicht allein von Feindesblut. Die Feinde wichen zurück, und Keno, der ihnen nachsetzte, fand sich mit einem Mal im Kampf auf einem zum Meer hin offenen, weiten Feld. Der Feind wich zwar zurück, floh aber nicht.
"Nitayama, wende dich südlich, Kosugi, greif vom Norden her an!", befahl Komiyama Ittôta von seinem Ross aus, und seinem Befehl folgend formierten sich die Berittenen präzise wie ein Webstuhl und griffen Keno von allen vier Richtungen her an. Die Blicke aus seinen blutunterlaufenen Augen zeigten Keno, dass er Ittôta noch immer nicht nahe gekommen war. Als das tödliche Kampfgemenge sich auf den Waldrand zubewegte, erschien aus diesem Wald eine Kampftruppe von mehreren Dutzend in Schwarz gekleideten Rittern, schwarz wie die Wolken am Himmel. Alle trugen schwarze, pfirsichförmige Helme auf dem Kopf, schwarze Kürasse, Handschützer und Beinschienen, alles war schwarz.


momohelm

Ausrüstung eines einfachen Kämpfers zur Zeit des Autors und seiner Leserschaft:
"Pfirsichförmiger" Helm, Kürass, Handschutz, Beinschienen...



Und während sie herzustürmten, ertönte ein lauter Ruf wie Sturmgeheul:
"Inuzaka Keno, wir eilen dir zu Hilfe! Hier kommt Inuta Kobungo!"
"Hier kommt Inukawa Sôsuke! Und außerdem sind noch unsere 'Brüder' Inuyama Dôsetsu, Inukai Genpachi, Inumura Daikaku mit dabei...!"
Schnell geriet die Truppe des Komiyama in Bedrängnis. Das Ross mit Ittôta auf dem Rücken, der wie von Sinnen in Richtung Burg Isarago entkommen wollte, wurde von einem Reiter verfolgt. Als die Distanz auf knapp zehn Meter geschrumpft war, kam aus der Hand des Verfolgers eine Leine geflogen und wickelte sich von hinten um Ittôtas Hals. Er wurde nach hinten gerissen und stürzte vom Pferd. Das Seil hatte Inuzaka Keno geworfen, der sich auf das Ross eines toten Gegners geschwungen hatte. Keno stieg ab, und als er Komiyama Ittôta köpfte, standen alle Männer, die ihm zu Hilfe geeilt waren, um ihn herum. Komiyamas Leute lagen sämtlich verstreut umher.
Kobungo und Sôsuke stellten Keno die 'Brüder' vor, die er noch nicht kannte: Inuyama Dôsetsu, Inukai Genpachi und Inumura Daikaku.
Aber da waren ja noch viel mehr schwarz gerüstete Kämpfer!
"Das sind Leute aus dem Lehen Hokita nördlich von Edo. Alles Nähere dazu werde ich dir erzählen, wenn wir uns dorthin zurückgezogen haben", sagte Sôsuke und blickte nach Norden.
Aus dieser Richtung näherte sich soeben lautes Gebrüll, so mächtig wie die hereinbrechende Brandung. Die Lanzen und geschwungenen Schwerter der Leute sahen aus, als bliese der Wind einen ganzen Wald herbei, eine überwältigende Menge neuer Feinde!
Die Hundekrieger erschraken überhaupt nicht, als sie der Meute angesichtig wurden. Mit der Hand über den Augen hielt Dôsetsu Ausschau.
"Ob Ôgiyatsu Sadamasa aus der Burg gekommen ist? Ich hoffe, er ist auch mitgekommen!", knurrte er. Schließlich wartete er nur darauf.

Die Hundekrieger, die Funamushi hingerichtet hatten, wussten zwar, dass Komiyama heute als Gesandter aufbrechen würde, aber nicht, dass Inuzaka Keno ihn heute überfallen wollte. Erst hatten sie Komiyama unbehelligt lassen wollen, aber danach überlegte Dôsetsu es sich anders. Wenn sie nämlich ganz in der Nähe der Burg Isarago Komiyama Ittôta attackierten und die gesamte Gesandtschaft umbrächten, würde der leicht aufbrausende Ôgiyatsu Sadamasa um seiner Ehre willen persönlich an der Spitze einer Streitmacht ausrücken, hoffte er. Diese Vermutung überzeugte auch die anderen fünf Hundekrieger und den Herrn des Lehens von Hokita, Higaki Natsuyuki. Natsuyuki ließ auch seine Untergebenen, die Dorfkrieger, bei dem Feldzug mitmachen. Für jeden Hundekrieger zehn Mann, das ergab eine Streitmacht von 60 Kämpfern. Wie das himmlische Schicksal es fügte, endete dieser Feldzug damit, dass sie Keno retteten. Und wie erwartet kamen die Feinde aus Burg Isarago heraus, mit Ôgiyatsu Sadamasa an ihrer Spitze.
Zuerst hatte ihm ein zurückgeeilter Samurai aus Komiyamas Truppe berichtet, dass im Wald Suzugamori 
ein Schwertkämpfer aufgetaucht sei. Als Sadamasa, der diese Meldung nicht sonderlich wichtig nahm, jedoch die Eilnachricht erhielt, dass die Anzahl der Angreifer mehr als doppelt so stark wie Komiyamas Gefolge war und dieser in Bedrängnis geraten sei, schoss auch Sadamasa die Zornesröte ins Gesicht; er benachrichtigte seine Vögte, dass er auf der Stelle selbst in den Kampf ziehen werde.
Während der Fürst, kochend vor Ärger, sich mit Kürass und Helm rüsten und seinem Ross den Sattel auflegen ließ, sprach sein enger Berater Kawagoi Gonnosuke, der ihm nicht von der Seite wich:
"Komiyama Ittôta hat schon etlichen Herren gedient und ist ein Mann, dessen wahre Absichten unergründlich sind. Diejenigen, die ihn überfallen haben, dürften Leute sein, die noch von früher eine Rechnung mit ihm offen hatten. Dass Ihr, mein Fürst, Euch höchstpersönlich solchen Feinden
unbekannter Herkunft entgegenstellen wollt, ist leichtfertig und bringt Euch in Gefahr!"
Er suchte ihn vom Eingreifen abzuhalten, aber Sadamasa erwiderte:
"Ach was, du bist schon immer gegen Komiyama gewesen. Ich habe jetzt kein Ohr für deine Schmähreden. Dass mir mein Gesandter beinahe in Sichtweite der Burg totgeschlagen wird, ist nicht nur gegenüber Hôjô Sôun in Odawara, sondern auch gegenüber dem Reich ein gewaltiger Gesichtsverlust des Ôgiyatsu Sadamasa. Beiseite, Kawagoi!"
Er ließ die Peitsche heftig knallen und verließ an der Spitze seiner Streitmacht die Burg. Auf den Zügen des ihm nachblickenden Kawagoi Gonnosuke zeichnete sich Todesfurcht ab. Er hatte einen unbekannten jungen Mann mit dem Attentat auf Komiyama Ittôta
beauftragt, den er für einen Verräter hielt, der die Existenz seines Fürstenhauses bedrohte, aber nicht damit gerechnet, dass sich als Folge davon sein Fürst höchstselbst in große Gefahr begeben könnte.


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Endlich!
Kaum wurde klar, dass es wie erhofft gelungen war, Ôgiyatsu Sadamasa, den Herrn der gegnerischen Streitmacht
, aus seiner Burg herauszulocken, da führte der unerschrockene wilde Kriegsheld Inuyama Dôsetsu regelrechte Freudentänze auf. Nicht nur Dôsetsu, sondern auch die anderen Hundekrieger und ihre Streitmacht, die Dorfkrieger von Hokita, stellten sich mutig zum Kampf.
Die Wolken hingen noch tiefer und waren noch schwärzer geworden; es glich einem Kampf in der Unterwelt. Den Hundekriegern und ihren gerade einmal knapp sechzig Mitstreitern standen auf Seiten der Ôgiyatsu-Streitmacht, die Sadamasa anführte, weit über dreihundert Krieger gegenüber. Die Hundekrieger waren indes Recken, denen auch zehntausend Gegner nicht gewachsen sind; außerdem war Sadamasa in größter Hast zu Felde gezogen und wusste nicht einmal, wer seine Feinde waren. Recht bald gerieten seine Kämpfer in die Klemme. Und jetzt erreichte sie auch noch die Nachricht, dass Burg Isarago, die sie soeben verlassen hatten, in Flammen stehe --- wie konnte das geschehen?
Mit seinen zehn Kampfgenossen aus dem Dorf Hokita war Inuzuka Shino, der an den bisherigen Kämpfen nicht direkt teilgenommen hatte, über diejenigen Kriegsleute des Sadamasa hergefallen, die sich flüchtend in die Burg retten wollten. Sie hatten sich deren Fahnen angesteckt, waren, als geschlagene Streiter des Sadamasa getarnt, in die Burg gelangt und hatten Feuer gelegt.


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Zur Unterscheidung zwischen Freund und Feind wurden die Kämpfer durch unterschiedliche, auf dem Rücken befestigte Fahnen gekennzeichnet



"Sadamasa, bleib stehen!"
Mit wirrem Haarschopf hatte sich Inuyama Dôsetsu auf ein Pferd geschwungen, das er einem Feind abgenommen hatte, und kam pfeilschnell auf ihn zu geritten, ganz wie Marishiten, die Gottheit der kriegführenden Samurai. Ôgiyatsu Sadamasa trieb sein Ross zur Flucht an. Weil er die Nachricht kannte, dass Burg Isarago in Flammen stehe, wandte er sich in die Richtung seiner zweiten Burg Mukaigaoka in Ueno; seine Gefolgsleute waren in alle Winde zerstreut, er ritt ganz allein.
"Ich bin Inuyama Dôsetsu, ein alter Vasall des wegen dir in jenem 9.Jahre Bunmei vernichteten Hauses Nerima. Wenn du deiner Stellung als Shogunatsfürst keine Schande bereiten willst, wende mutig dein Ross zu mir herum und empfange aufrecht den Vergeltungshieb von meiner Klinge!"
Ob er das hörte oder nicht, Sadamasa duckte sich flach in den Sattel und floh auf seinem Ross weiter, so schnell es galoppieren konnte. 
"Herr Inuyama!"
Ein weiterer Reiter kam herbeigeprescht, ein junger Mann in weißer Gewandung schloss zu Dôsetsu auf.
"Hier kommt Inuzaka Keno. Als Dank dafür, dass Ihr mir beim Erschlagen meines Erzfeindes geholfen habt, stehe ich Euch bei der Rache an Eurem Feind ebenfalls bei!"
Mit der Linken hielt er die Zügel, mit seiner Rechten schwang er eine große Wurfleine mit Schlinge.
Da zockelte von vorne her auf dem Weg eine Sänfte auf sie zu, die ein junger Samurai begleitete. Als dieser Samurai den herangaloppierenden Fürsten Sadamasa erblickte, rief er ihm etwas zu, aber Sadamasa preschte haarscharf an der Sänfte vorbei, ohne auf den Ruf zu reagieren.
"Weg da, aus dem Weg, ihr stört hier!"
Dôsetsu machte Anstalten, mit seinem Ross über die Sänfte hinwegzuspringen. Keno, der das sah, schrie:
"Haltet an, Herr Inuyama!"
Nicht wegen des Rufs, sondern weil er etwas Seltsames erblickte, das sich an der Sänfte zutrug, zog Dôsetsu die Zügel an und brachte sein Ross zum Stillstand. Um die Sänfte, die auf dem Weg niedergestellt war, züngelten plötzlich zahlreiche blaue Flammen empor. 
"Ihr seid....", rief Keno, "...des Herrn Kawagoi Gonnosuke...."
"Ja, dessen Sohn Satarô", antwortete der junge Samurai. Er war derjenige, der am Yushima Tenjin Schrein neben seinem Vater mit im Raum gesessen hatte. Keno sprach:
"Den Auftrag des Herrn Gonnosuke, Komiyama Ittôta zu erschlagen, habe ich gewissenhaft erfüllt."
"Und als Folge davon hat unser Fürst seine Burg verlassen und ist offenbar wie befürchtet geschlagen worden...."
Wegen dieser Reden ungehalten, rief Dôsetsu, den Haarschopf hochgebunden wie ein Höllenteufel, ungeduldig von der Seite her: "Jetzt weg von hier, sonst reite ich euch über den Haufen!" 
Bei diesen Worten loderten aufs Neue blaue Flammen um und über die Sänfte hoch bis zum dunklen Himmel empor.

bluflem


"Mein Vater ist schon tot", sagte Satarô und hob den Vorhang der Sänfte hoch. "Er hat als Sühne für die Schuld, seinen Herrn, den Fürsten, in Gefahr gebracht zu haben, vorhin Seppuku begangen. 'Derjenige, der Komiyama überfallen hat, war vermutlich der junge Schausteller vom Yushima Tenjin Schrein; zeig ihm meinen Leichnam und rette meinem Herrn das Leben!', das war der letzte Wunsch meines Vaters, und deswegen bin ich nun hierher gekommen."
In der Sänfte lag Gonnosukes lebloser Körper, von oben bis unten ganz in Weiß gekleidet, aber am Unterleib von blutigem Rot verfärbt. Keno blickte unverwandt darauf und sprach dann mit qualvoller Stimme:
"Herr Inuyama, es tut mir leid. Es gibt einen triftigen Grund. Nehmt es mir bitte nicht übel, dass ich an Eure Samurai-Ethik appellierend darum bitte, heute und hier von der weiteren Verfolgung des Ôgiyatsu Sadamasa abzusehen. Ich, Inuzaka Keno, werde bei späterer Gelegenheit auf jeden Fall meine Schuld bei Euch abtragen."
Dôsetsu, der verärgert und mit unwirschem Gesicht auf seinem Ross saß, hatte Sadamasa schon aus den Augen verloren.
"So ein mieser Fehlschlag!", brummte er zähneknirschend. "Sind diese Geisterflammen eben aus dem Körper des Toten gekommen?"
"Geisterflammen?"
Kawagoi Satarô machte ein erstauntes Gesicht und sah ihn fragend an. "Ich habe nichts Derartiges gesehen."
Von hinten kamen nun die anderen Hundekrieger und ihre Mitstreiter, alle beritten, herbei. Die Mehrzahl der Feinde war erschlagen oder davongelaufen. Auch Inuzuka Shino war mit seinen Leuten gekommen. Sie hatten ihre Verwundeten eingesammelt und waren auf dem Weg, den Kampfplatz zu verlassen.
Von hier ritten die Hundekrieger und ihre Mannen ans Meer bei Shinagawa. Und auf demselben Weg, auf dem sie gekommen waren, verteilten sie sich auf ihre Schiffe, fuhren vom Meer aus den Fluss Sumidagawa hinauf und kehrten zu ihrer Heimatfestung Hokita zurück. Schnell wie der Wind, schnell wie ein Blitz war die
Streitmacht verschwunden; aus der Sicht ihrer Feinde musste es den Anschein haben, als seien die Angreifer von den dunklen Wolken am Himmel verschluckt worden.




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