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Legende der acht Hundekrieger


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In demselben 1.Monat des 15.Jahres Bunmei (1485), in dem die sieben Hundekrieger bei Suzugamori in Edo die Streitmacht des Ôgiyatsu Sadamasa vernichtend geschlagen hatten, ereilte ein plötzliches Unheil das Haus Satomi im Süden der Bôsô-Halbinsel. Es ging von dem böswilligen Nachbarn Hikita Motofuj
i aus, dem Herrn der Burg Tateyama im Lande Kazusa.
Die einfachste Beschreibung des Charakters des Hikita Motofuji wäre zu sagen, dass er ein Räuber war. Er war überdies der Sohn des unmenschlichen Raubmörders Hikita Sekiroku, der am Berg Ibukiyama im Lande Ômi seine Räuberhöhle hatte, und zu dessen zahllosen Missetaten gehörte
, wie man sich erzählte, dass er schwangere Frauen entführte, ihnen bei lebendigem Leibe den Bauch aufschlitzte und mit Vorliebe deren Föten als Beilage zum Sake verspeiste.


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Räuberhauptmann Hikita Sekiroku



Vor einigen Jahren hatte Sekiroku
, damals über sechzig Jahre alt, Kyôto besucht und sich das Schreinfest von Gion angesehen; dabei wurde er gefasst und hingerichtet. Als er diese Eilnachricht erfuhr, raffte sein Sohn Motofuji alle gestohlenen Reichtümer zusammen und floh vom Berg Ibukiyama. Nachdem er sich einige Monate in der Kantô-Region herumgetrieben hatte, kam er nach Tateyama in Kazusa. Er hatte erfahren, dass der dortige Landesherr Komariya Shumenosuke dem Sake höchst zugetan und nicht sonderlich wachsam sei, und war eigens deswegen nach Kazusa gekommen. Als professioneller Räuber hatte Motofuji seinen Raubvogelblick. Er stellte gleich fest, dass es in dem Land schlecht um die Ordnung bestellt war; allerorts hörte er von den Bauern, dass das Eintreiben der Abgaben mit großer Grausamkeit vollzogen werde. Alle beklagten sich bitter über ihren Herrn und priesen voller Neid das Fürstenhaus Satomi im benachbarten Lande Awa. Es gab nicht einmal eine Herberge in der Burgstadt, in der man übernachten konnte.
Am Abend des siebten Tags nach seiner Ankunft in Tateyama geriet Motofuji in ein Gewitter und suchte im nächsten erreichbaren Schrein Schutz. Alle Ländereien von Schreinen und Tempeln der Region waren vom Lehnherrn konsfisziert worden. Viele sakrale Bauten waren heruntergekommen. Auch der Suwa Schrein, in dem Motofuji Zuflucht gesucht hatte, taugte kaum als Schutz vor dem Regen. Motofuji sah sich um und fand einen sehr großen Kampferbaum auf dem Schreingelände, dessen Stamm unten hohl war; dort kroch er hinein.
Der Kampferbaum musste schon tausend oder zweitausend Jahre alt sein. Selbst ein halbes Dutzend Leute wären nicht ausreichend gewesen, um an den Händen gefasst den Baum vollständig zu umschließen. Bis zu einem Meter über dem Boden bildeten die herausragenden Wurzeln ein schlangengleiches Knäuel, und darüber befand sich die Höhlung. Im Innern häufte sich hineingefallenes Laub zu einer dicken Unterlage, auf der sich drei Menschen mit Leichtigkeit ausstrecken konnten. Dort lag man sehr viel bequemer als in einem schmuddeligen Gasthaus. 
Dem Gewitter folgte ein Sturm. Während der Nacht schlief Motofuji in der Finsternis des hohlen Baums und hatte einen seltsamen Traum. Oder vielleicht drang die heisere Frauenstimme vielmehr durch das heulende Unwetter an sein Ohr:
"Ich habe auf dich gewartet. Ich habe gewartet, dass jemand wie du hierher kommt. Du wirst es schon wissen, dass sich der hiesige Landesherr Komariya Shumenosuke sein eigenes Grab schaufelt. Wenn du ihn stürzt, kannst du selbst Burgherr werden. Es ist nicht schwer. Auch Satomi Yoshizane im benachbarten Lande Awa war nichts weiter als ein geschlagener Kriegsmann, als er hierher kam, den Fürsten Yamashita Sadakane vernichtete und sich das gesamte Land Awa unter den Nagel riss. Das kannst du auch. Du bist der rechte Mann dafür. Und ich sage dir auch, wie du dabei vorgehen sollst....."
War das eine Stimme des Himmels oder einer Teufelin?

Einige Tage später tauchte Hikita Motofuji im Hause des Verwalters von Tateyama auf und gab sich als ein Schamane aus Kyôto aus, verteilte an die Leute ein Wunderwasser, mit dem er angeblich im Lande Ômi die Kranken geheilt hatte, und spendete überdies, ohne zu geizen, den Armen Geld. Das Wasser war Regenwasser, das sich in einer Ecke des hohlen Baums gesammelt hatte, und das Geld entstammte der Beute der Raubzüge am Ibukiyama. In kürzester Zeit galt er
in dieser Gegend als heiliger Mann.
Es handelte sich zwar um Motofuji mit seinem ausgeprägten Banditengesicht, aber sein Tun zeigte Erfolge. Das verteilte Geld
wirkte beim Volk ebensolche Wunder wie sein Heilwässerchen bei den Kranken. Nicht nur die Bauern, sondern auch die Samurai des Hauses Komariya kamen, um sich seinen Gesundheitstrank verabreichen zu lassen.


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Bandit Hikita Motofuji als Schamane



Dem Burgherrn Shumenosuke gelangte die Kunde von dem Wunderheiler zu Ohren. Seinem Gendarmeriehauptmann Uchimata Kôyata befahl er:
"Der ist ein Gauner, der die törichten Leute mit Hexerei betrügt. Ich will ihn baldmöglichst verhören; schaff mir den Kerl herbei!"
Dieser Gendarmerieoffizier dachte allerdings daran, dass seine eigene Tochter, als sie krank war, das Heilwasser dieses Schamanen eingenommen hatte. Also rang er sich zu dem Entschluss durch,
den Verwalter rechtzeitig vorher aufzusuchen und zu warnen, damit er Motofuji nahelege, sich davonzumachen. Als er aber zum Amtsgebäude kam, empfing ihm Motofuji dreist und furchtlos auf dem Beamtensitz, Verwalter und viele Bauern untertänigst zu seinen Füßen, und redete eindringlich auf den Gendarmeriechef ein, dass ein Aufstand gegen den Landesherrn notwendig und gerechtfertigt sei. Uchimata Kôyata ließ sich überzeugen.
An diesem Tag kehrte
Uchimata Kôyata mit dem gefesselten Schamanen zur Burg zurück, hieß den Gefangenen im Burghof niedersitzen, trat unter dem Vorwand vor Shumenosuke, ihm Bericht zu erstatten und schlug den Burgherrn tot. Er rief:
"Durch göttlichen Willen ereilte
den Tyrannen die Strafe des Himmels!" 
In diesem Augenblick warf der scheinbar gebundene Motofuji im Burggarten seine Fesseln ab und lief zu Uchimata. Bis hierhin war alles im Einverständnis von Uchimata Kôyata geschehen, aber dass ihm Motofuji jetzt das Schwert aus der Hand riss und ihn mit dem Ruf "
Durch göttlichen Willen ereilte den Aufrührer die Strafe des Himmels!" köpfte, damit hatte er nicht gerechnet.
Den Rittern der Burg, die voller Entsetzen weder ein noch aus wussten, hielt Motofuji mit tränenerstickter Stimme eine Rede. Sie alle wüssten, dass die Bauern in Kazusa unter dem Joch des Landesherren litten; nun sei der Tyrann ermordet worden. Mag er auch ein schlechter Herrscher gewesen sein, so ist doch der Herr der Herr, weshalb er den verräterischen Untertan soeben erschlagen habe. Das sei nichts anderes als himmlische Gerechtigkeit.
"Von jetzt an werde ich diese Burg übernehmen. Dass ein Fremder aus einem fernen Land zum Burgherrn wird und ein Paradies auf Erden erschaffen kann, sieht man am Beispiel unsres Nachbarlands Awa. Lasst uns alle zusammenstehen und dem Fürstenhaus Satomi nacheifern!"
Die Burgritter ergaben sich letztendlich seiner Führung. Allerdings traf er auch auf Widerstand. Komariya Shumenosuke hatte zwei Geliebte, die eine hieß Asagao, die andere Yûgao. Hikita Motofuji ließ die Damen kommen, war von ihrer Schönheit entzückt und wollte beide in der Nacht als Bettgenossinnen bei sich behalten, aber die zwei Kurtisanen weigerten sich und durchschnitten sich eigenhändig die Kehle.

Die Übernahme des Landes Kazusa durch Hikita Motofuji war eine perfekte Imitation der Taten des Satomi Yoshizane. Aber was danach folgte, unterschied sich wie Tag und Nacht. Sogleich ließ Motofuji seine früheren Räuberkumpanen vom Berg Ibukiyama kommen, denn er brauchte Leute, auf die er sich verlassen konnte. Mit denen begann er Orgien mit Seen von Sake und Bergen aus Fleisch zu feiern. Die Bauern knutete er noch weit stärker als der bisherige Landesherr. Als die Burgritter sich wegen der unerwarteten Wendung der Ereignisse berieten, waren sämtliche Schlüsselpositionen längst von den neuen Gefolgsleuten des Landesherrn, nämlich jener gewissenlosen, verruchten Räuberbande, besetzt.


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Hikita Motofuji als Burgherr und seine Räuberbande als Burgritter



So vergingen einige Jahre. Im Sommer des 14.Jahres Bunmei (1484) reiste Hikita Motofuji, als Bettler verkleidet, mit drei, vier Kumpanen heimlich nach Awa. Es ging ihm nur darum, die Stimmung des Volks von Awa auszukundschaften, aber dabei traf er zufällig auf eine Reisegruppe von Fräulein Hamaji vom Hause Satomi, die sich auf einer Wallfahrt zum Schrein von Sunosaki befand. Er erblickte nur ganz kurz Hamaji, die gerade ihrer Sänfte entstieg, aber dieser Blick versetzte ihn augenblicklich in heftige Begierde. Hier war er nur ein Bettler, aber nach der Rückkehr zu seiner Burg war er immerhin der Landesherr.
Er erfuhr, dass es im Hause Satomi acht ledige Töchter gab, deren fünfte (jap. Gonokimi) Fräulein Hamaji war. Überdies war sie lange verschollen gewesen und erst im Vorjahr plötzlich zurückgekehrt.
Hikita Motofuji pflegte sich jedes schöne Mädchen seines Landes, das in seine Reichweite kam, kommen zu lassen und sich mit tierischer Wollust an seinen Opfern zu vergehen, war jedoch auch begierig auf standesgemäßes Ansehen und hatte noch keine offizielle Gemahlin. Wenn er also dem Hause Satomi seinen Wunsch nach einer ehelichen Verbindung antrüge, wäre er gewiss kein unstandesgemäßer Freier, und da es sich um ein Fräulein mit einer solch undurchsichtigen Vergangenheit handelte, dürfte sein Antrag dem Hause Satomi auch nicht sonderlich unliebsam sein. Überdies hatte er, seit er sich zum Herrn von Burg Tateyama gemacht hatte, aus Anlass der Neujahrsfeiern in weiser Voraussicht stets Geschenke an das Haus Satomi geschickt. So sandte Motofuji eine Botschaft, dass er Fräulein Hamaji zur Braut begehre. Vom Hause Satomi kam unverzüglich eine ablehnende Antwort.
Aber damit nicht genug; bald darauf hörte Motofuji, dass Satomi Yoshizane, der im Ruhestand lebende frühere Landesherr, über diesen Antrag lauthals gelacht und gesagt habe:
"Dieser von irgendwo dahergelaufene Hikita wünscht eine Tochter des Hauses Satomi zur Ehefrau; dem hat es wohl ins Gehirn geregnet!"
Motofuji bekam einen Wutanfall.
"Da hast du dich getäuscht, alter Knacker! Ich werde dir auf der Stelle zeigen, dass Hikita Motofuji zu fürchten ist! Um jeden Preis werde ich diese Hamaji in die Finger kriegen und unter meinen Füßen zertreten!"
Vor Zorn und Geilheit knirschte er mit den Zähnen. Aber dass er mit Gewalt und unter Einsatz von Kampfkraf
t dem Fürstenhaus Satomi, jener Trutzburg aller vier Provinzen des Landes Awa, nicht beikommen würde, das war auch dem ehemaligen Räuberhauptmann Motofuji durchaus klar.


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Da hörte er von dem Gerede, dass in der Burgstadt Tateyama in jüngster Zeit eine wundertätige Wanderschamanin mit Namen Yaobikuni auftrete und Gläubige um sich schare. Es hieß, sie könne geliebte Männer, geliebte Frauen aus weiter Ferne, ja sogar aus dem Jenseits herbeirufen und vor aller Augen wie lebend erscheinen lassen.
"Holt mir diese Yao
bikuni oder wie sie heißt, her!", befahl Motofuji. Wie befohlen kam diese Schamanin in einer Sänfte zur Burg. Als sie die Sänfte verließ, riss Motofuji die Augen auf. Welch eine betörende Schönheit!
Sie trug eine weiße Nonnenhaube und ein weißes Gewand aus glänzend gewalkter Seide sowie einen schwarzen Schleier, dünn wie Zikadenflügel, darüber eine brokatne Nonnenschärpe und um die Hand gewickelt eine Gebetskette. Ihr Alter, wenn man es unbedingt nennen sollte, mochte um die Anfang vierzig liegen. Ihre schmale Gestalt strahlte die Würde einer älteren Dame aus, aber zugleich auch die betörenden Reize einer schlanken, jungen Frau.


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Wanderschamanin Yaobikuni



"Auf Euer Geheiß bin ich zur Burg gekommen."
Das Lächeln dieser Schamanin war so verführerisch, dass der ohnedies triebhafte Motofuji, der sie eigentlich mit anderen Absichten hatte kommen lassen, auch auf diese Frau fleischliche Gelüste empfand.
Erst aber fand der offizielle Empfang statt.
"Von woher bist du gebürtig?"
"Ich habe meine Gründe, den Ort nicht zu nennen, komme aber aus dem Lande Awa."
"Wie alt?"
"Achthundert Jahre", lächelte sie betörend.


Yaobikuni (auch Happyakubikuni) bedeutet Achthundertjährige Wandernonne. Es handelt sich um eine in ganz Japan bekannte Sagengestalt. Laut Sage setzte man einem Mann, der von Unbekannten zum Essen eingeladen wurde, das Fleisch eines Fischmenschen (halb Mensch, halb Fisch) vor, wie er durch einen zufälligen Blick in die Küche erkannte. Er verzichtete darauf, davon zu essen, nahm aber, um nicht unhöflich zu sein, eine Schale davon mit nach Hause, wo seine Tochter ahnungslos davon aß. Diese Tochter gewann dadurch ewiges Leben, blieb jedoch äußerlich weiter jung. Nachdem alle ihre Verwandten, Bekannten und etliche Ehemänner gestorben waren, trat sie in den Nonnenstand und zog durch die Lande. Nach 800 Jahren wurde sie, inzwischen als Wunderheilige betrachtet, im Lande Wakasa zu dem todkranken Fürsten gerufen und um Gebete für seine Genesung ersucht. Es gelang ihr durch die Kraft des Glaubens, ihr restliches Leben auf den Fürsten zu übertragen und selbst endlich zu sterben. Diese Sage wird in etlichen Versionen in vielen Regionen Japans überliefert.


Sie schien sich über ihn lustig zu machen, aber Motofuji, von ihrer Schönheit entzückt, dachte nicht daran, ihr zu zürnen.
Ihre Stimme klang ein wenig heiser. Ihm war, als hätte er sie schon einmal gehört.
"Der Grund, dass ich dich heute hergerufen habe....", fing er an, aber Yaobikuni nickte und unterbrach ihn:
"...war, dass ich Euch jemanden herbeirufen soll, den Ihr liebt."
"Das weißt du?"
"Natürlich. Also...."
Auf Geheiß der Schamanin wurden in einem Raum der Burg alle Fenster abgedunkelt und acht Kerzenständer aufgestellt. Auf ein niedriges Tischlein stellte sie ein mitgebrachtes Räuchergefäß. Es hatte offensichtlich die Form eines Marderhunds. In dem dunklen Raum blieben nur Yaobikuni und Hikita Motofuji.
Von dem Rauch, der dem Gefäß entquoll, wurden alle Lichter der acht silbernen Kerzenständer trübe, und in dem Dämmerlicht des noch dichter werdenden Qualms erschienen schemenhaft die Gestalten zweier Frauen.
Motofuji sperrte die Augen auf.
"Asagao und Yûgao!"
Es waren die Geliebten des vorigen Burgherrn, die sich selbst das Leben genommen hatten, als Motofuji sich dieser Burg bemächtigte.
Die Kerzen leuchteten wieder so hell wie zuvor. Aber die zwei Frauen, die ihn abgewiesen und sich selbst getötet hatten, blickten ihn jetzt an und lächelten verlockend.


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Im Qualm erschienen schmenhaft die Gestalten zweier Frauen



Was ihm entgangen war, blieb ihm teuer. Danach hatte er sich zwar Dutzende von schönen Frauen geholt und sie nach der Schändung fortgeworfen, aber diese beiden schönen Kurtisanen, die hätte er wirklich gern gekriegt, hatte er schon oft bedauernd gedacht. Aber bevor ihm seltsam vorkam, woher diese Schamanin das überhaupt wissen konnte, rief er schon laut:
"Nein, das sind die falschen! Ich wollte eine andere Frau erscheinen lassen!"
"Das Fräulein aus dem Hause Satomi?", fragte Yaobikuni ungerührt. "Aber, mein Herr. Unterlassen wir es lieber, dieses Edelfräulein mit meiner Beschwörungskunst hier erscheinen zu lassen!"
"Und weshalb?"
"Wie soll ich es Euch erklären...? Die Gestalten, die ich beschwöre, sind ja nur Schatten. Im Falle des Fräuleins Hamaji dürfte es Euch nicht ausreichen, nur ihren Schatten hier vor Euch erscheinen zu lassen. Ihr wollt doch gewiss das lebendige Original."
"Das ist richtig. Gibt es denn keine Möglichkeit, das Original herzuschaffen?"
"Die gibt es."
"Und zwar wie?"
"Und zwar...." Mit gesenkter Stimme flüsterte Yaobikuni auf Motofuji ein.
Mehr als wegen der unerwarteten Arglist, mehr als wegen der Kühnheit dieser Pläne entfuhr Motofujis Kehle ein Überraschungsschrei, weil die Schmanin als Werkzeug zur Ausführung des Vorhabens den großen Kampferbaum auf dem Gelände des Suwa Schreins erwähnte. Die heisere Stimme dieser Schamanin --- war das nicht genau dieselbe Stimme, die in jener Sturmnacht, als er in der Höhlung im Baum schlief, an sein Ohr gedrungen war? War diese Frau damals irgendwo in derselben Höhle gewesen? Warum hatte sie ihm solche Dinge gesagt?
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Ich habe auf dich gewartet. Ich habe gewartet, dass jemand wie du hierher kommt', hatte sie gesagt.
"Wer bist du?"
"Es ist besser, wenn Ihr es nicht wisst, hoho, hohoo.....", lachte Yaobikuni. "Sagt mir lieber, ob Ihr es ausführen wollt, wie ich es Euch gesagt habe."
"Gewiss doch!", nickte Motofuji heftig beipflichtend.
"Nun, üblicherweise würde ich die Schatten von
Asagao und Yûgao, die ich eben heraufbeschworen habe, gleich wieder löschen, aber falls Ihr es wünscht, lasse ich sie noch eine geraume Zeit hier, um Euch, mein Herr, als Partnerinnen im Feenland zu verwöhnen. Wie wäre es?"
"Ich bitte darum."
Motofuji sah sich nach den beiden Schönheiten um und schnalzte begehrlich mit der Zunge.
Am folgenden Tag sagte Yaobikuni, die er noch immer bei sich auf der Burg behalten hatte:
"Es wäre doch seltsam, wenn ich weiterhin hier bliebe", lächelte ihn charmant an und verschwand, ihm noch "mein Herr, legt Euch tüchtig ins Zeug!" zurufend, mit einem Zauberschweif aus der Burg.

Nur wenige Tage später begannen die Instandsetzungsarbeiten am verwahrlosten Suwa Schrein. Als die Arbeiten, die Tag und Nacht ununterbrochen durchgeführt wurden, zum Abschluss kamen, sandte das Haus Hikita die Nachricht von der Wiederherstellung des Suwa Schreins 
an das Haus Satomi und ließ den Boten dazu ausrichten:
"Da es sich um ein Heiligtum handelt, das zu den Vorfahren des Hauses Satomi, dem Adelsgeschlecht derer von Minamoto, in Bezug steht, würden wir es begrüßen, wenn zur Feier der Neueinweihung am kommenden 15.Tag auch der Erbfolger des Hauses Satomi, Herr Tarô, zugegen wäre."
Diese Botschaft wurde im 1.Monat des folgenden 15.Jahres Bunmei (1485) übermittelt.
"Was tun? Nachdem wir kürzlich das Ehegesuch um Hamaji abgewiesen haben, können wir es uns leisten, auch diesen Wunsch abzuschlagen?"
"Sein Ansinnen ist ebendeswegen gefährlich. Einem Mann wie dem Hikita ist keinesfalls zu trauen", wandte Satomi Yoshizane sorgenvoll ein, aber niemandem fiel eine Ausrede ein, diese einleuchtende Einladung abzulehnen. Schließlich willigte Yoshizane unter dem Vorbehalt ein, vorher Spione auszusenden und die Lage auszukundschaften.
Der Erbfolger Tarô war Yoshizanes zehnjähriger Enkel.
Am Tag der Einweihung, dem 15.Tag des 1.Monats, zogen der fürstliche Erbfolger und mehr als 300 Kriegsleute als Gardisten zu seinem Schutz von Burg Takita aus in das Hoheitsgebiet von Tateyama zum Besuch des Suwa Schreins. Es war exakt derselbe Tag, an dem Inuzaka Keno am Yushima Schrein in Edo den Affen einfing. Allerdings war dieser Suwa Schrein ein kleines Heiligtum, das nicht einmal ein Zehntel der Fläche des Yushima Schreins aufwies. Es war nachgerade albern, die Wiederherstellung so pompös zu begehen. Die dreihundert Gardisten des Hauses Satomi passten bei Weitem nicht alle auf das Schreingelände. Die Mehrzahl musste vor der Schreinmauer warten, und Herr Tarô begab sich mit nur dreißig Gardisten unter Führung des Burgvogts vom Hause Hikita zum Schreingebäude. Vor dem Schrein wurden sie von Hikita Motofuji und zehn Gefolgsleuten
respektvoll empfangen.


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Ländlicher Schrein (shintoistisches Heiligtum)



Das Laub der Bäume auf dem Schreingelände war weitgehend abgefallen; außer den genannten war keine Menschenseele zu sehen. Die Entfernung bis zur Burg betrug etwa zweihundert Meter, und die Kundschafter hatten berichtet, dass sich in dieser Gegend keinerlei Truppen von Hikitas Seite befinden. Und trotzdem tauchten plötzlich wie aus dem Nichts, als sich Tarô gerade dem Schrein näherte, innerhalb des Schreingeländes gleich schwarzen Wolken massenhaft
Kriegsleute auf, die im Handumdrehn den Erbfolger und seine Gefolgsleute übermannten und obendrein noch nach allen vier Seiten über die Schreinmauern hinweg Musketen und Bögen mit angelegten Pfeilen nach außen richteten. Nicht allein nach allen vier Seiten --- es wurden zusehends so viele, dass sie das Schreingelände vollkommen ausfüllten, es mussten fünf- bis sechshundert Krieger sein. Die dreihundert draußen wartenden Samurai des Hauses Satomi trauten kaum ihren Augen. Wie war das möglich, wo waren alle diese feindlichen Krieger hergekommen?
Sie waren alle aus dem hohlen Baumloch des Kampferbaums gekrochen. Die Öffnung wies auf das Hauptgebäude des Heiligtums und war deshalb für jemanden, der auf das Heiligtum zuschritt, nicht zu sehen. Aber selbst wenn sie sichtbar gewesen wäre, hätte sich niemand vorstellen können, dass solch eine Menge vollbewaffneter Kämpfer dort herausquellen würden. Sogar für Hikita Motofuji, der diesen Plan ausgeheckt hatte, sah es aus wie Zauberei.
Die Verwunderung der Gardisten währte nur einen Augenblick. Nun stießen sie ihren Kriegsruf aus und stürmten auf den Schrein zu. Ohne Erbarmen regnete es von der Schreinmauer her Gewehrkugeln und Pfeile auf die Angreifer. Die Kämpfer des Hauses Satomi stürzten tot nieder, kamen verwirrt zum Stehen oder ergriffen panisch die Flucht. Vom Rücken her flogen ihnen Pfeilgrüße nach. Die wenigen Samurai des Hauses Satomi, die fliehend nach Burg Takita zurückgelangten, erstatteten dem Burgherrn Yoshinari Bericht.
Von Hikita kam die Forderung:
"Solange Fräulein Hamaji nicht an Burg Tateyama ausgeliefert wird, behalten wir stattdessen Euren Erbfolger hier."
Selbst der gütige Fürst Satomi Yoshinari verlor angesichts dieser entsetzlichen Wendung die Berrschung. Auf der Stelle setzte er ein Heer von tausend Streitern in Marsch zum Angriff auf Burg Tateyama. Einige Male gerieten sie unter Beschuss der Musketen, aber mehr als das war es die Geisel, der Erbfolger Tarô, der die Streitmacht von Satomi
zum Stillstand zwang. Der grausame, brutale Hikita Motofuji ließ nämlich einen Kreuzigungspfahl, an den man den zehnjährigen Tarô gefesselt hatte, oben auf der Burg aufrichten. Daneben hatte er eine Stange aufgestellt, von der ein Banner wehte, auf dem groß geschrieben stand:
"Solange Fräulein Hamaji nicht ausgeliefert wird, bleibt im Gegenzug Euer Erbfolger hier."
Nicht nur Yoshinari, sondern auch die Recken des Hauses Satomi vergossen blutrote Tränen. Von Burg Takita kam Fräulein Hamaji herbeigeeilt und bat ihren Vater, sie an Burg Tateyama auszuliefern. Yoshinari schüttelte den Kopf.
"Nichts da, das kommt nicht in Frage. Einer solch feigen Erpressung nachzugeben, wäre bis zu den Generationen unserer Kindeskinder ein Schandfleck auf der Ehre des Hauses Satomi. Selbst wenn Tarô dabei umkäme, werde ich dich niemals als Menschenopfer darbringen!"
Aber Tag für Tag wurde der Marterpfahl mit dem daran festgebundenen Tarô aufgerichtet. Auch an Regentagen und an Sturmtagen. Obwohl er bereits streng zum Samurai erzogen wurde, war er doch immer noch ein zehnjähriges Kind. Es war deutlich zu sehen, wie sein weinendes, schreiendes Gesicht jeden Tag abgezehrter wurde. Und man konnte nichts dagegen tun. Keine Strategie würde verfangen.


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Ratlos:  Satomi Yoshinari und seine Streitmacht vor Burg Tateyama



Zur gleichen Zeit fochten die sieben Hundekrieger den Kampf beim Wald Suzugamori aus, aber hier wusste niemand etwas davon. Yoshinari hatte zwar von Amasaki Jûichirô mehrfach Berichte von den Hundekriegern gehört, aber wie hätte er daran denken sollen, die Hundekrieger, die er noch nie gesehen hatte, zu rufen und um Hilfe zu bitten! Und selbst wenn es ihm gelänge, sie herbeizurufen, sie hätten in dieser Situation allergrößter Not ebenso wenig ausrichten können wie er.


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Während die Belagerung von Burg Tateyama fortdauerte, verstrichen die höllengleichen Tage; der 3.Monat hatte begonnen. Selbst der alte Fürst Satomi Yoshizane wusste sich keinen Rat. Nach vielen Qualen kam er nun auf den Gedanken, das Grab der Fusehime aufzusuchen und dort um göttlichen Beistand zu beten. Mochte Fusehime auch seine eigene Tochter sein, für ihn war sie längst zu einer Heiligen geworden.


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Sancta Fusehime im Manga



Der Großteil seiner Streitmacht stand vor Burg Tateyama. So bestieg Yoshizane, nur von einem Dutzend bewaffneter Getreuen begleitet, den Berg Toyama. Die schwierige Überquerung des reißenden Gebirgsflusses Tanikawa ging problemlos vonstatten, denn der Fluss war seltsamerweise ausgetrocknet. Der Bergwald prangte in voller Frühlingspracht; nur jene Stelle wirkte nach wie vor so unwirtlich und wild wie eine andere Welt.
Vor Fusehimes Grab nahe ihrer Höhle verbeugte sich Yoshizane gerade andächtig, als plötzlich aus dem Wald auf allen Seiten Angreifer, die wie Jäger aussahen, herbeigestürmt kamen, ein Trupp von etwa 30 Mann. Es waren Räuber aus Hikitas Bande, die hier spionierten.
Hikita Motofuji war es nämlich leid, dass die Belagerung immer weiterging, ohne dass das Fürstenhaus Satomi ihm Fräulein Hamaji auslieferte. Falls der Erbfolger Tarô stürbe, wäre die Vernichtung von Burg Tateyama so gut wie sicher. Wenn man also nicht nur den Erbfolger, sondern auch noch den alten Fürsten als Faustpfand bekäme, dann würde selbst der starrsinnige Yoshinari nachgeben. Aufgrund dieser Überlegungen hatte er seine Räuber aus Ibukiyama in die Gegend der kaum noch bewehrten Burg Takita entsandt, damit sie die Bewegungen des alten Fürsten ausspähten.
Dessen Gefolge bestand nur aus gut zehn Mann, von denen die Hälfte zu Fuß und nur leicht bewaffnet war. Schließlich waren sie zum Gebet an das Grab gekommen. Sie wurden von einer dreifachen Übermacht angegriffen, die zudem noch unerschrockene Räuber waren. Hier, tief im Bergwald, konnte es keine Hilfe, kein Entrinnen geben.
Yoshizanes Gefolgsleute fielen einer nach dem andern; drei, vier lagen tot da, und Yoshizane selbst stand mit gezücktem Schwert vor dem Grab seiner Tochter, auf seinen Tod gefasst.
Da hörte man von fern, vom Tal her, Hufgetrappel. Yoshizane focht bereits mit seinen Gegnern. Er war zwar schon alt, aber ein starker Recke, der in jungen Jahren so manche Schlacht geschlagen und die Feinde das Fürchten gelehrt hatte. Zwei Räuber hatte er schon erschlagen, aber auch ihm selbst troff das Blut von Schulter und Arm herab.
Das Hufgetrappel kam näher. Die Banditen wandten sich um und blieben mit offenem Mund stehen.
Es kam ein einziges Pferd hergaloppiert, aber es war ein riesiges Ross, mehr als doppelt so groß wie normale Pferde. Und auf seinem Rücken ritt ... ein kleiner Junge!
Er hatte ein weißes Band um die Stirn gewunden, ein brokatner Überhang wehte von seinen Schultern, und in der Hand hielt er einen zwei Meter langen Stock.
"Zu Diensten! Hier tritt einer der acht namhaften Helden, der Hundekrieger des Hauses Satomi, auf, meine Wenigkeit Inue Shinbei! Her, ihr Kerle, zeigt, was ihr könnt!"
Während er dies mit seiner hellen Knabenstimme rief, preschte das Ross
heran, elegant über die zerklüfteten Felsen und Spitzen hinwegtänzelnd. Der Junge sah aus wie Momotarô auf der Teufelsinsel oder Kintarô in den Bergen von Ashigara.

 
Momotarôist eine japanische Märchenfigur. Der Junge war einem Pfirsich entsprungen, den ein kinderloses Ehepaar gefunden hatten. Liebevoll an Kindes Statt erzogen, wandert der nie erwachsen werdende Däumling später mit seinen Freunden Affe, Hund und Fasan durch die Lande zu seinem siegreichen Kampf gegen Dämonen und Teufel.
Kintarô wuchs bei einer Bergfee in den Ashigara-Bergen auf und stellte sich laut Legende als Kämpfer mit übernatürlichen Kräften in den Dienst des mittelalterlichen Feldherrn Minamoto no Yorimitsu (948-1021).


Aber welche Geschwindigkeit, welche Kraft! Wo sein Eichenstock, der sich wie ein Windrad drehte, gesurrt kam, gerieten die dreißig Räuber unter die Hufe seines Rosses oder wurden davon gewirbelt wie Laub im Wind. Im Handumdrehn waren alle erledigt. Der Knabe sprang vom Ross und warf sich vor Yoshizane zu Boden, das Hinterteil hoch in die Luft gereckt.

"Ich erlaube mir erstmals, vor Eure Hoheit zu treten, und entbiete Euch meinen freudigen, untertänigsten Respekt. Mir ward noch nicht die Ehre zuteil, in Euren Diensten zu stehen. Meine Wenigkeit nennt sich Inue Shinbei. Da ich mir gestattet habe, wie gezeigt alle Banditen aus dem Weg zu räumen, geruht, fürstliche Hoheit, Euch ohne Sorge fortzubewegen!"
Yoshizane, der diese Grußworte völlig sprachlos vernommen hatte, fragte endlich zurück:
"Inue Shinbei?"
Den Mönch Chudai hatte Yoshizane schon mehr als zwanzig Jahre lang nicht mehr gesehen, aber durch Amasaki Jûichirô, der an dessen Stelle bisweilen gekommen war und Bericht erstattet hatte, waren ihm die Namen der acht Hundekrieger wie auch ihre Aufenthaltsorte und Bewegungen im Großen und Ganzen geläufig.
"Das bedeutet... du bist derjenige, der vor vielen Jahren... von meinem Ross Seigaiha entführt worden ist..."
"Jawohl, zu Diensten!"
Yoshizane war noch nicht danach zumute, über diese übertrieben altmodische Ausdrucksweise aus kindlichem Mund zu lachen. Er erhob seine verwundert aufgerissenen Augen zu dem Ross, das plötzlich hinter ihm stand, und rief stöhnend:
"Seigaiha!"
Ja, es war das Ross Seigaiha, das vor fünfundzwanzig Jahren Fusehime auf diesen Berg Toyama getragen und dann in den Fluten des Flusses Tanikawa verschwunden war! Danach war es einmal, wie man ihm berichtet hatte, plötzlich im Lande Shimotsuke aufgetaucht und hatte den vierjährigen Knaben und Hundekrieger, diesen Inue Shibei, entführt! Und nun war es wie ein unsterbliches Götterross hier vor ihm erschienen, mit Inue Shinbei auf seinem Rücken.


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Der jüngste und letzte der Hundekrieger, Inue Shibei im Manga


"Wie alt bist du eigentlich?", fragte Yoshizane jedenfalls.
"Gestatten, neun Jahre, zu Diensten!"
Als er spurlos verschwand, war er in der Tat ein vier Jahre altes Kleinkind gewesen. Klar, dass er jetzt zu diesem Alter herangewachsen war. Er war zu großer, kräftiger Statur gediehen, und sah aus wie ein Zwölf- oder gar Dreizehnjähriger. Aber trotzdem war er noch immer gerade mal einen Meter groß, und sein Gesicht mit den roten Bäckchen war noch ganz das eines Knaben.
"Hast du auch eine Kristallkugel?"
"Jawohl, zu Diensten!"
Der kleine Hundekrieger streckte, noch immer vor Yoshizane kniend, die Hand aus. In der Kristallkugel auf seinem kindlichen Handteller schimmerte das Schriftzeichen NIN.

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Inue Shinbei hat  das Schriftzeichen NIN in seiner Kristallkugel, das "Humanität" bedeutet.

Er kämpft mit dem Stock anstelle des Schwertes, um seine Feinde nicht zu töten.


"Shinbei, sag an, auf welche Art bist du herangewachsen, auf welche Weise bist du hier hergelangt?"
Yoshizane war offenbar von Shinbeis Ausdrucksweise angesteckt worden.
"Geruht, Eure Frage an diejenigen zu richten, die gerade vom Fuß des Berges heraufgestiegen kommen. Oh....!"
Urplötzlich sprang Shinbei auf, sauste zwanzig Meter hinüber und schlug ein Schwert weg. Einer der überlebenden Samurai des Fürsten hatte einen der Angreifer, der sich auf dem Boden wälzte, hochgezogen und wollte ihn gerade köpfen.
"Geruht, vom Töten Abstand zu nehmen!", rief Shinbei. "Habt die Güte, die Leute, ohne auch nur einen zu töten, zu fesseln und zur Burg abzuführen!"
Er stellte seinen Stab, der
doppelt so groß war wie er selbst, aufrecht hin und wachte darüber, dass die Ritter des Hauses Satomi die bewusstlosen Räuber fesselten. Wenn einer zu sich kam und zu fliehen versuchte, flog er wie ein Vogel dorthin und schlug ihn aufs Neue mit dem Stock zu Boden. 
Währenddessen kamen vier Leute, nein, genauer gesagt sechs Personen, Männer und Frauen, herangeschritten.
Der Grund, dass wir die Zahl korrigiert haben, ist, dass es sich um einen alten Mann, eine alte Frau und zwei junge Frauen handelte, die aber noch zwei etwa fünfjährige Knaben mit sich führten. Sie traten vor Yoshizane und knieten ehrerbietig vor ihm nieder.
"Ich bin Obayuki Yoshirô und betreibe am Fuß des Berges ein Teehaus. Dies ist meine Ehefrau Otone", sagte der alte Mann. "Und hier sind meine Töchter Hikute und Hitoyo mit ihren Söhnen Rikijirô und Shakuhachi."
"Was, ihr seid doch seinerzeit vom Berg Arameyama in Kôzuke zu Ross geflohen....!", staunte Yoshizane schon wieder.
"Ihr wisst davon?"
"Ich habe die Nachricht durch meinen Gefolgsmann Amasaki Jûichirô erhalten, der es wiederum von den Hundekriegern erfahren hat."
Mit bewegter Miene schilderte Obayuki Yoshirô, dass er und Otone auf der Flucht vom Berge Arameyama auf zwei Pferden, gemeinsam mit Hikute und Hitoyo, unterwegs in Ohnmacht gefallen seien. Als sie wieder zu sich kamen, befanden sie sich in einer rauen Bergwildnis --- nämlich hier. Es ist wirklich nicht zu glauben, aber auch Hikute und Hitoyo seien unterwegs auf dem Sattel ihres Rosses bewusstlos geworden und hätten nicht gewusst, wie sie hierher gelangt sind. Neben ihnen lagen die zwei Pferde tot am Boden.
An Leib und Beinen hatten sie schreckliche Verletzungen davongetragen, und weil ihnen aus den Nüstern Blut troff, konnte es nur so sein, dass sie mit äußerster Kraft und ohne Unterbrechung bis hierher galoppiert waren, wo sie Blut spien, als sie tot umfielen. Die Schädel von Obayukis Söhnen Rikijirô und Shakuhachi, die noch am Bauch der Pferde festgebunden waren, lagen nahebei und trugen noch immer auf ihren Zügen das Todeslächeln, obwohl sie schon nach Verwesung stanken.
Erst später erfuhren die Flüchtlinge, dass dies der Berg Toyama in Awa sei, der Ort, an dem Fräulein Fusehime sich das Leben genommen hatte. Eigentlich hatten ihnen die Hundekrieger Inuyama Dôsetsu und Inuta Kobungo, die sie auf die Pferde gesetzt hatten, als Ziel ihrer Flucht das Gasthaus Konaya in Gyôtoku im Land Shimôsa genannt, aber ohnmächtig waren sie
unterwegs daran vorbei und gleich bis nach Awa gelangt. Wie war es nur möglich, dass sie auf dem Wege von niemandem gesehen wurden und dass sie, trotz der Bewusstlosigkeit von Hikute und Hitoyo, die die Zügel führten, bis hierher gekommen waren? Es konnte nicht anders sein, als dass diese beiden Totenschädel sie beschützt und hierher geleitet hatten.
Als sie nun zu viert, er selbst, Otone, Hikute und Hitoyo, dasaßen und sich verwundert anschauten, hörten sie von irgendwoher ein Kind weinen. Sie standen auf und sahen sich um. Hinter einem Felszinken weidete ein riesiges Ross im Gras, und zu seinen Füßen saß ein etwa vierjähriger Knabe und weinte. In seiner Tasche fanden sie eine Kristallkugel, die das Schrifztzeichen NIN enthielt, und an seiner Hüfte fand sich auch richtig das Päonienmal. Sie dachten sich gleich, dass es sich um den kleinen Hundekrieger Inue Shinbei handeln müsse, von dem Inuta Kobungo in der einzigen Nacht, die sie am Berg Arameyama mit Erzählungen verbracht hatten, gesprochen hatte. Dass das Kind, das seinerzeit im Gasthaus Konaya verblieben war, hier aufgetaucht war, kam ihnen vor wie der Streich eines Fuchskobolds.
Später hatte Obayuki Yoshirô seine Schwiegertöchter Hikute und Hitoyo heimlich nach Gyôtoku entsandt, wo sie erfuhren, dass dieser Knabe sich zusammen mit seiner Großmutter Myôshin auf die Reise nach Awa begeben habe, unterwegs aber spurlos verschwunden sei. Dies musste sich, wie sie hörten, just zu derselben Zeit zugetragen haben, als sie vom Arameyama geflohen waren.
Sie stiegen also zu Tal und wollten das Kind dem Hause Satomi übergeben, aber mit vier Jahren wäre es zu nichts nütze gewesen. Dass sie ausgerechnet hier auf den Knaben gestoßen waren, sahen sie als Auftrag des verstorbenen Fräuleins Fusehime an, dieses Kind aufzunehmen und großzuziehen. Und weil es den Leuten verdächtig vorkommen könnte, wenn sie das Kind und das Pferd zu Gesicht bekämen, ließen sie Ross und Knaben auf dem Berg in Fusehimes Höhle wohnen, eröffneten am Fuß des Berges ein Teehaus und stiegen abwechselnd den Berg hinauf, um Kind und Ross zu versorgen.
Als der Junge sechs bis sieben Jahre alt war, hatte Yoshirô ihn die Geschichte der Hundekrieger, Japans Samurailiteratur und den Inhalt des Shuihuzhuan, und Otone die Märchen aus alter Zeit gelehrt. Shinbeis altertümliche Ausdrucksweise rührte zweifellos von diesen literarischen Vorbildern her.

 
Shuihuzhuan ist der Titel des ältesten in der damaligen Umgangssprache verfassten chinesischen Abenteuerromans aus dem 14.Jh. von Shi Naian und Luo Ganzhong. Es gilt als eines der vier großen Romanwerke der klassischen Literatur Chinas. In japanischer Übersetzung war und ist das Werk unter dem Titel Suikoden auch in Japan sehr populär und gilt in mancher Hinsicht als Vorlage, die Takizawa Bakin zu seiner Hundekrieger-Legende inspiriert hat. In der deutschen Übersetzung lautet der Titel Die Räuber vom Liangshan Moor. Die anderen drei klassischen Romane Chinas sind Hongloumeng (jap. Kôrômu, dt. Traum der roten Kammer), Sanguozhi (jap. Sankokushi, dt. Geschichte der drei Reiche) und Xiyouji (jap. Saiyûki, dt. Reise in den Westen).


"Auch in der Schwertkunst habe ich ihn unterwiesen, aber Shinbei erklärte, dass ein Besitzer der Kristallkugel mit dem Schriftzeichen NIN keine Menschen umbringen dürfe, und legte sich vor etwa einem Jahr diesen Stock zu. In den Bergen ritt er auf dem Ross Seigaiha umher und übte täglich das Herumwirbeln des Stocks. In diesem einen Jahr entwickelte er seine übermenschliche Körperkraft.
Dass er jetzt wie Momotarô aussieht, war ein Scherz von Hikute und Hitoyo. Beide Frauen, die ehemaligen Bräute meiner Söhne, entdeckten
hier gleich nach ihrer Ankunft, dass sie schwanger waren. Diese Schwangerschaft, obwohl sie jungfräulich waren, weil ihre Bräutigame noch vor der Hochzeitsfeier erschlagen worden waren, erschien uns zunächst verdächtig, aber beide beteuerten, dass sie vollkommen rein geblieben seien. Als die beiden Knaben zur Welt kamen, war es für jedermann offenkundig: Sie glichen ihrem jeweiligen Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Ich habe lange nachgedacht, was es bedeuten könnte, dass damals am Arameyama die Totengeister von Rikijirô und Shakuhachi erschienen waren, aber nun war mir endlich alles klar. Die Totengeister hatten zweifellos, um ihre Bräute zu schwängern, am Berge Arameyama mit ihnen die Hochzeit vollzogen. Und das Ergebnis waren diese beiden Jungen. Sie erhielten die Namen ihrer Väter, Rikijirô und Shakuhachi.
Wohlan, vorhin sahen wir in unserem Teehaus, dass unser alter Fürst mit seinen Getreuen den Berg Toyama bestieg und ihm kurze Zeit später eine Bande verdächtiger Jäger nachfolgte. Das sieht nach Unheil aus, dachten wir und stiegen ebenfalls hinauf. Unterwegs riefen wir Shinbei, der mit seinem Ross Seigaiha spielte, und hießen ihn voranreiten....", berichtete Obayuki Yoshirô und fügte hinzu:
"Wir haben schon von dem großen Unheil vernommen, das über das Haus Satomi hereingebrochen ist. Wir hatten vor, diesen Knaben erst dann in den Dienst Eures Hauses zu geben, wenn er zumindest seine Volljährigkeitsfeier hinter sich hätte, aber dafür ist jetzt keine Zeit mehr... Er ist zwar erst neun Jahre alt, aber wie Ihr soeben gesehen habt, steht eigentlich nichts mehr im Wege, Euch zu dienen. --- Shinbei, komm her!", rief er den Knaben, der in einiger Entfernung mit seinem Stock dastand.
"Shinbei, würdest du dir zutrauen, den Erbfolger unseres Fürstenhauses, der in Burg Tateyama in Gefangenschaft ist, zu retten?", fragte er.
"Sehr wohl, allzeit untertänigst zu Diensten!", antwortete der jüngste Hundekrieger, sein lenzhaft zartes, reizendes Gesicht zu Yoshizane emporhebend. Mit gerührter Miene murmelte der alte Fürst Yoshizane:
"Was ich von dir erzählt bekommen habe, ist recht erstaunlich. Von den Berichten des Amasaki wusste ich, dass es noch einen spurlos verschwundenen Hundekrieger gebe, aber dass er ausgerechnet jetzt und hier bei mir aufgetaucht ist...."

Sie kehrten erst einmal zu Burg Takita zurück.
Dass dieser merkwürdige Zug des alten Fürsten, bestehend aus toten und verwundeten Gefolgsleuten, einer großen Anzahl von Gefangenen und weiteren Männern, Frauen und sogar Kindern, für die Ritter der Burg wunderlich aussah, ist klar, aber sie machten erst recht große Augen angesichts des Knaben, der wie der kleine Momotarô aussah, auf dem riesigen Ross Seigaiha ritt und einen langen Stock in der Hand hielt.


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Japans Märchenheld Momotarô mit Affe, Hund und Fasan bei seiner Ankunft auf der Teufelsinsel



Eine ältere Frau stieß einen Schrei aus: "Shinbei....! Das ist.... dieser Shinbei?"
Sie starrte den Jungen lang an und rief dann: "Oh, Daihachi! Du bist doch mein Daihachi!"
Sie klammerte sich an den Jungen und fing an, laut zu weinen. Shinbei stand steif da; dass er sich dabei unwohl fühlte, stand ihm ins Gesicht geschrieben.
Die ältere Dame war seine Großmutter Myôshin. Vor fünf Jahren, nachdem Shinbei entführt worden war, hatte Amasaki Jûichirô sie, halbtot vor Trauer und Kummer, nach Awa gebracht. Sie lebte jetzt auf Burg Takita als Betreuerin von Fräulein Hamaji.     
Shinbei hatte kaum noch Erinnerung an die Zeit, als er weniger als vier Jahre alt war. Und davon erzählte nun Myôshin unter Freudentränen, und alle, die dabeistanden und die beiden sahen, mussten mitweinen.
Ihnen blieb jedoch nicht viel Zeit zum Lachen, Weinen und Erzählen über das glückliche Wiedersehen von Großmutter und Enkel. Auch Myôshin selbst konnte sich nicht endlos ihrer Freude über den wiedergefundenen Jungen hingeben. Sie setzte sich gleich daran, für Shinbei, der am nächsten Tag als Bote zur feindlichen Burg reiten sollte, passende Gewandung zu schneidern.


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Die Leute auf Burg Tateyama trauten ihren Augen nicht angesichts des seltsamen Wesens, das sie anderntags auf die Burg zureiten sahen. Die Gestalt, die auf dem Ross von einer nie geschauten Größe ritt, angetan mit langen Beinkleidern, förmlichem Gewand mit Wappen und hohem Amtshut, war augenscheinlich ein Knabe. Neben dem Ross schritt nur ein einziger Gefolgsritter mit weißem Haarknoten, der einen zwei Meter langen Stock mit sich führte. Vor der Brücke, die den Burggraben überspannte, hörten sie eine Kinderstimme rufen:
"Ich erlaube mir, Euch kundzutun, dass mir die Ehre zuteil wurde, als Bote
mit Namen Inue Shinbei vom Fürstenhaus Satomi entsandt zu sein. Nur meine Wenigkeit und ein einziger Gefolgsritter ersuchen Euch, ohne Erschrecken und ohne Furcht das hölzerne Tor zu öffnen und uns eine Audienz bei Herrn Hikita Motofuji zu gestatten!"
Die verblüfften Räuberritter meldeten es Motofuji.
"Hat er Fräulein Hamaji dabei? Wenn nicht, weist ihn ab!"
Aber auch Motofuji, der erst einmal ablehnend reagiert hatte, wunderte sich und meinte dann:
"Wartet! Was sagt ihr? Der Bote ist ein zehnjähriger Bubi? Und sein Begleiter ein alter Mann?" Nach kurzem Überlegen befahl er:
"Na gut, dann kann es keinen Schaden bringen, sie reinzulassen. Ich will mir mal anhören, was sie wollen. Holt sie her!"
Im Burghof ließ Shinbei Ross und Begleiter am Eingang warten und
dann schlurfte der kindliche Gesandte, seine überlangen Beinkleider nachschleifend, hinein. Überall standen schwerbewaffnete Kriegsleute dicht beisammen und machten große Augen. Für sie sah das Kind nur aus wie ein mit formeller Gewandung und Hut als Gesandter verkleideter Momotarô.
Er betrat den Burgsaal, lief direkt vor den Sitz des Burgherrn, zog die nachschleifenden Beinkleider heran und befahl in stolzem Ton:
"Hikita Motofuji, her zu mir!"
Schon bevor er auch nur ein Wort aus dem Mund des Gesandten vernahm, schoss Motofuji die Zornesröte ins Gesicht.
"Grrrr, du magst ein noch so junger Bote sein, dein Benehmen ist eine Frechheit! Satomi hat anscheinend schon den Verstand verloren, uns so einen Knirps als Boten zu schicken. Schafft mir den Kerl vor meiner Nase weg!" rief er, sich nach rechts und links umblickend.
"Du bist also der Hikita Motofuji", sagte Shinbei und trat mit schleifenden Beinkleidern noch näher heran. Motofuji blieb nicht ruhig sitzen, als Shinbei auf ihn zukam, sondern witterte wohl instinktiv eine Gefahr und zog sein Schwert. Sofort packte Shinbei seinen Arm.
"Oooh!", tönte es aus allen Kehlen der ringsumher sitzenden Räuberritter, denn hoch über dem Kopf des kleinen Gesandten flogen die Beine des groß gewachsenen Motofuji in die Luft, bis er wie ein Wasserrad herumgewirbelt auf den Boden knallte. Der Knabe setzte Motofuji, der sich wieder aufrappeln wollte, den Fuß auf die Brust und rief:
"Das untertänigste Anliegen dieser Gesandtschaft betrifft die allfällige Zurückgabe des Herrn Tarô. Geruht, uns Herrn Tarô hierher zu holen!"
Die Räuberritter sprangen durcheinander auf und wollten sich wie eine Lawine auf Shinbei stürzen.
"Gestatten, meine Wenigkeit liebt es nicht, Lebewesen zu töten."
Shinbei blickte sie reihum an. Motofuji ächzte unter dem kleinen Füßchen, als laste ein zentnerschwerer  Felsen auf ihm, und verkrampfte Arme und Beine. Die Kriegsleute standen wie gelähmt.
"Ich ersuche darum, Herrn Tarô herbeizuholen", sagte Shinbei und lockerte leicht seinen Fuß.
"Holt den Herrn Tarô her!", brüllte Motofuji, dem ein dünnes Rinnsal von Blut aus den Mundwinkeln aufs Kinn niederrann.
Der Erbfolger des Hauses Satomi wurde herbeigeführt. Den blassen, abgezehrten Herrn Tarô lächelte Shinbei freundlich an.
"Meine Wenigkeit Inue Shinbei hat sich erlaubt, zu Eurer Rettung gekommen zu sein. Geruht also, Euch nach Hause zu begeben!"
Mit Leichtigkeit zog er den unter seinen Füßen liegenden Motofuji hoch und schritt voran, ohne dessen Handgelenk loszulassen.
"Mein Herr...! Mein Herr...!", riefen die Räuberritter und wollten näherkommen, aber Motofuji, der am Handgelenk gezogen hinter Shinbei dreinstolperte, stieß fürchterliche Schmerzensschreie aus und wies sie zurück. So gelangten alle drei zum Ausgang. Der alte Gefolgsmann, der dort wartete, übergab Shinbei den Stock, holte ein Seil hervor und machte sich daran, Motofuji zu fesseln.
Wie irre stürmten die Räuberkrieger auf sie zu, aber kaum begann Shinbeis Stock zu wirbeln, überschlugen sich bei jeder Drehung gleich sieben oder acht Räuber in der Luft und krachten auf den Boden.
Wie einen Strohsack legte Shinbei den Motofuji auf den Rücken des Rosses, lud sich den Herrn Tarô auf den Arm ---dabei war er ein ganzes Jahr jünger als Herr Tarô--- und bestieg mit ihm sein Pferd.
"Zu Diensten, hiermit ist alles ordnungsgemäß erledigt und zu einem glücklichen Ende gelangt", rief er und ließ das Pferd zum Ausgang des Burghofs trotten. Der alte Gefolgsmann schritt nebenher. Es handelte sich um Obayuki Yoshirô.


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lm Film sieht Inue Shinbei ein wenig älter aus als zehn Jahre



Das Ross begann schneller zu traben. Etliche Kämpfer stellten sich ihm in den Weg, aber das riesige Ross trat sie mit den erhobenen Vorderhufen zur Seite. Den Burgkämpfern blieb nichts anderes übrig, als tatenlos zuzuschauen.
In dieser Lage, in der tausend wackere Ritter mit ihrer Belagerung nichts ausrichten konnten, war das ausgesandte Bübchen ganz allein in die feindliche Burg hineingeritten und hatte im Handumdrehn nicht allein die Geisel, sondern auch noch den feindlichen Burgherrn herausgeholt. Ihres Tyrannen beraubt, fiel Burg Tateyama den Belagerern in die Hände.
In der Tat war alles glatt erledigt worden. So sah es zumindest aus, aber so einfach ging die Rechnung leider nicht auf.

Yoshinari wollte den Motofuji, den Shinbei gefangen genommen hatte, auf der Stelle hinrichten lassen. Aber Shinbei war dagegen.
"Es ist verständlich, dass einem Missetäter, der das Haus Satomi dermaßen gequält hat, der Kopf abgeschlagen werden soll, aber meine Wenigkeit gestattet sich die untertänigste Ansicht, dass es dem Hause Satomi zum Ruhm gereichen dürfte, diesem Bösewicht stattdessen eine Lektion in Sachen Menschlichkeit zu erteilen und sein Leben zu verschonen."
Der kleine Hundekrieger hatte vor Yoshinari respektvoll Platz genommen und diese Worte mit kirschrosa glänzenden Bäckchen gesprochen. Yoshinari zeigte sich überrascht, und die vor ihm aufgereihten Samurai gerieten vor Unverständnis beinahe außer Fassung, aber am Ende nickte Yoshinari.
"Aus unserer Notlage hat uns Shinbei ganz allein herausgeholfen. Es geht nicht an, seinen Wunsch zu missachten. Motofuji und seine Banditen sollen ein jeder hundert Peitschenhiebe und eine Tätowierung erhalten, verbannt und dann freigelassen werden."
Einige Tage später bekamen Motofuji und seine Leute, die ehemaligen Räuber vom Berge Ibukiyama, ihre hundert Peitschenhiebe und, damit sie sich nicht erneut hier herumtrieben, auf die Stirn eine schwarze Mondsichel als Kennzeichen tätowiert. Dann wurden sie auf Schiffe verladen, bis zum Sumidafluss in Edo verschifft und auf sein Westufer abgeschoben. Die Burg Tateyama fiel an das Haus Satomi. Was allerdings seltsam war: Bei Motofuji sollen sich zwei Geliebte mit Namen Asagao und Yûgao aufgehalten haben. Nach der Eroberung seiner Burg blieben sie unauffindbar, so sehr man sie auch suchte. Wohin mochten sie verschwunden sein? Auch keiner der Räuberritter konnte dazu eine Auskunft geben.   

Nach Awa kehrte jedenfalls der paradiesische Frühling zurück, und wie vom Lenzwind hergeweht kehrte auch Amasaki Jûichirô in seiner Tracht als Wandermönch gut gelaunt zurück und brachte gute Nachricht mit. Er war ja der Mittelsmann zwischen dem Mönch Chudai, der durch die Lande schweifte, und dem Hause Satomi; von Chudai brachte er Kunde, und vom Hause Satomi die finanziellen Mittel zu den Hundekriegern, das war seine Aufgabe.
Wie er mitteilte, waren alle sieben Hundekrieger beisammen; am 16.Tag des kommenden 4.Monats würden sie in Yûki eine große Gedenkfeier zu Ehren des in der Schlacht von Burg Yûki gefallenen Herrn Vaters des Fürsten Yoshizane, Satomi Suemoto, veranstalten. Bis dahin hielten sie sich derzeit nördlich von Edo im Hause des Verwalters des Lehens Hokita auf.
"Der achte Hundekrieger ist hier bei uns,
Jûichirô!", sprach Yoshizane und wies auf den bei ihm sitzenden Shinbei. "Daihachi, der Sohn des Yamabayashi Fusahachi von jener Tragödie im Gasthaus Konaya in Gyôtoku, von der du uns berichtet hast, ist dieser Inue Shinbei!"
"Was, das kleine Kindchen von damals....?"
Amasaki Jûichirô nahm Shinbei genau in Augenschein - ihm kullerten vor Rührung die Tränen von den Wangen. Schließlich war er mit dabei gewesen, als der kleine Daihachi nach jenen Vorgängen von einem Geisterpferd entführt worden war.
"Ich wünsche mir, dass alle Hundekrieger nach Awa kommen", begann Yoshizane. "Aber wie wäre es, wenn auch du, Shinbei, vorher zu dieser großen Feier in Yûki gingest? Alle anderen Hundekrieger sollen sich dort befinden, und unter ihnen auch Inuta Kobungo, der dein Onkel ist. Du willst ihn sicher so schnell wie möglich kennen lernen. Du solltest dort hingehen und dann alle Hundekrieger hierher mitbringen."
Shinbei verbeugte sich ehrerbietig.
"Zu Diensten! Dies sind für meine Wenigkeit höchst dankenswerte Worte!"
"Aber bis zum 16.Tag des 4.Monats bleibt noch ein wenig Zeit..."
"Nein, mein Herr", erwiderte Shinbei, der sich wie ein neunjähriger Junge mit den Fäusten auf die Schenkel schlug. "Meine Wenigkeit hat sich, seit ich die Dinge zu begreifen begann, nirgendwo anders
aufgehalten als im Bergwald von Toyama; ich gestatte mir, den Wunsch zu äußern, eine Besichtigungsreise unternehmen zu dürfen. Und falls es sich ergeben sollte, dass ich frühzeitig in Edo eintreffe, so würde ich mich glücklich schätzen, falls es genehm sei, die Wartezeit bis zum Tag der Feier gemeinsam mit meinen älteren Brüdern, den Hundekriegern, zu verbringen."
So brach Inue Shinbei schon wenige Tage später aus Awa auf. Und zwar nicht in der Momotarô-Aufmachung, sondern, obwohl er noch ein Knirps war, mit Binsenhut, Reisemantel und ordentlichen Beinkleidern zum Wandern, die seine Großmutter Myôshin mit großer Sorgfalt für ihn vorbereitet hatte. Darüberhinaus schulterte er nur noch seinen zwei Meter langen Stock, der doppelt so groß war wie er selbst. 


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Unter dem Schleierwolkenhimmel der Gefilde von Musashi, an dem eine rötliche Mondsichel stand, irrte Hikita Motofuji durch das Brachland. Wie viele Tage waren vergangen, seit er mit einem Schiff des Hauses Satomi hierher gebracht und irgendwo am Ufer des Flusses Sumidagawa ausgesetzt worden war? Schon bevor er auf das Schiff gebracht wurde, waren sein Rücken durch die Peitschenhiebe, und seine Stirn durch die Tätowierung vereitert. Er litt an hohem Fieber. Und das war nicht alles; seine Rippen, auf denen der Fuß jenes wunderlichen Knaben gelastet hatte, und sein Handgelenk schmerzten ihn so sehr, als würden seine Knochen knarren. Motofuji, der ganz allein an einer anderen Stelle ausgesetzt worden war als seine Kumpanen, hatte zwei Tage und zwei Nächte im Gestrüpp gelegen und gestöhnt.
Als er endlich aufstehen und humpeln konnte, verübte er in den zwei oder drei Tagen danach erneut zwei Raubüberfälle. Die Opfer waren ein alter Mann auf Reisen und eine Frau. Er nahm an, dass die Säcke, die beide auf den Schultern trugen, etwas Essbares enthielten, und brüllte nur vom Wegrand her: "Her mit was zu essen!"
Jedesmal ließen die Angerufenen, kaum dass sie sein tätowiertes Gesicht sahen, entsetzt ihre Beutel fallen und rannten davon. 


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Wegelagerer Hikita Motofuji


Jedenfalls tat ihm sein ganzer Leib noch dermaßen weh, dass er nicht daran denken konnte, kräftig aussehende Leute zu überfallen. Ein Schwert hatte er auch nicht. Und mehr als Geld benötigte er erst mal Nahrung. So stand es um ihn, der bis vor Kurzem noch Herr über eine Burg gewesen war. Und obwohl er in Kazusa Burgherr gewesen war, hatte Motofuji, seiner Herkunft nach tatsächlich eine Person von Stand, keine Ahnung, in welcher Gegend der Gefilde von Musashi er sich überhaupt befand. Hinter sich in der Ferne erstreckte sich die breite Fläche des Flusses, und außerdem roch es nach der See, weshalb er annahm, dass er sich irgendwo in der Nähe der Mündung des Sumidagawa befinden müsse.
Auf dem Feldweg kamen ihm drei Frauen entgegen, die Hauben trugen wie Frauen in den Städten. Obwohl es sich um Damen von Stand zu handeln schien, begleitete sie erstaunlicherweise kein Samurai als Gardist. Stärker als seine Verwunderung war Motofujis Hunger. Er sprang aus dem Gestrüpp auf den Weg und schrie:
"Habt ihr nichts zu fressen? Her damit!"
Die drei Frauen, zwei vorneweg und die dritte dahinter, blieben stehen.
"Hört ihr schlecht? Ich will was zu fressen!", schrie Motofuji noch einmal, woraufhin ein Gelächter ertönte.
"Man sieht, dass Menschen, so hoch sie auch hinauskommen, nach ihrem Sturz wieder zum tierischen Wesen zurückkehren. Das passt sehr gut zu einem einstigen Räuber von Ibukiyama, hoho, hohoo!"
Es war die hintere Frau, die gesprochen und gelacht hatte. "Ihr beiden, zeigt ihm eure Gesichter!"
Die beiden vorderen Frauen schoben ihre Hauben hoch.
"Asagao, Yûgao!", rief Motofuji, starr vor Staunen. Dann sah er sich die Frau dahinter an.
"Deine Stimme ist doch die Stimme der Yaobikuni!"
Was nach seiner Gefangennahme geschehen war, wusste Motofuji nicht. Aber abgesehen davon, dass Motofuji sich wunderte, dass seine Bettkurtisanen Asagao und Yûgao, die während der Kämpfe um die Burg spurlos verschwunden waren, zusammen mit Yaobikuni seltsamerweise ausgerechnet hier herumliefen, bleckte Motofuji die Zähne, als wollte er gleich zubeißen.
"Ha, du Nonne, auf deine Anweisungen hin habe ich den Sohn des Satomi als Geisel genommen, damit ich die Hamaji kriege. Wo warst du und was hast du gemacht, als ich schmählich überwältigt wurde? Warum hast du mich nicht gerettet?", schimpfte er.
"Als sie dich stürzten, war ich am Berg Ibukiyama", antwortete Yaobikuni. "Aber selbst wenn ich dabei an deiner Seite gewesen wäre, hätte ich nichts ausrichten können. Gegen diesen Wunderknaben bin ich machtlos. Nicht weil er stark ist, sondern weil er ein vollkommen unschuldiges Kind ist, kann ich nichts ausrichten."
Yaobikuni schien schon alles zu wissen.
"Und mit einer Geiselnahme scheitert man nun einmal, wenn die bedrohte Gegenseite nicht nachgibt. Vor allem bestand die Mehrzahl Eurer Ritter von Burg Tateyama aus ehemaligen Vasallen des Hauses Komariya; deshalb waren sie nicht mit ganzem Herzen bei der Sache. Und deshalb bin ich, für den Fall, dass es schiefgeht, zu Eurer Heimat Ibukiyama gegangen und habe sämtliche Räuber und Wegelagerer aus der gesamten Gegend, weit mehr als hundert Kämpfer, mitgebracht."

Das Fürstenhaus Komariya, das früher in Kazusa herrschte, war mit dem Haus Satomi befreundet. Wir erinnern uns daran, dass Isarago, die Ehegattin des Satomi Yoshizane und Mutter der Fusehime, dem Hause Komariya entstammte. Dessen Vasallen standen dem Haus Satomi im Prinzip nicht feindlich gegenüber.

"He?" Motofuji riss die Augen auf. "Wo sind sie denn?"
"Dort drüben."
Motofuji drehte sich um in die Richtung, die Yaobikuni ihm wies, und erblickte unter der roten Mondsichel zwei große Schiffe, die i
n der Flussmündung ankerten.
"Da sollt Ihr auch mitfahren", sagte Yaobikuni. "Noch in der Nacht kommt Ihr in Awa an und holt Euch dann die Burg Tateyama zurück. Zum Glück ist dieses Wunderkind gerade abwesend. Jetzt habt Ihr die einmalige Gelegenheit, die Burg zurückzugewinnen."
"Die Burg zurückholen? Ho, da sind jetzt die Ritter des Satomi drin. So ein Missgeschick wie vorher mit den Rittern von Komariya soll mir nicht nochmal passieren. Selbst wenn ich mehr als einhundert Kämpfer zur Verfügung habe, kann ich denn damit die Burg zurückerobern?"

"Dummkopf! Ich habe Euch doch vorher die List mit dem hohlen Kampferbaum am Suwa Schrein erläutert, aber Ihr habt sie nur für die Entführung des Erbfolgers genutzt. Diese Höhle hat noch weitere Vorzüge!"
Selbst dieser so gerissene Motofuji stand wie belämmert da.
"Ein Mann wie der große Räuberhauptmann Hikita Motofuji vom Berg Ibukiyama lässt nach nur einmaligem Scheitern schon den Kopf hängen und gibt sich damit zufrieden, zum schäbigen Wegelagerer zu verkommen? Schämt Ihr Euch denn nicht?"
Die teuflische Nonne grinste spöttisch.
"Oder seid Ihr aus Rührung über die große Gnade des Satomi, dass er Euch gerade mal das Leben geschenkt hat, handzahm geworden? Ihr scheint wohl mit der Tätowierung in Eurem Gesicht und Euren wackeligen Gliedern so einfach in der Wildnis krepieren zu wollen?"


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Die teuflische Nonne und Schamanin Yaobikuni



"Natürlich nicht", sagte Motofuji zähneknirschend. "Ich will es dem Satomi noch einmal heimzahlen. Und vor allem diesem rotzigen Bengel die Visage polieren!"  Er spuckte geradezu schwarzen Qualm. "Aber du hast gesagt, der Kerl ist nicht da?"
"Zur Belohnung durfte er eine Reise unternehmen."
"Und wenn er zurückkommt?"
"Ich bin sicher, dass er nicht zurückkommt."
"Wieso denn?"
"Dass Euer Leben verschont worden ist, verdankt Ihr einzig der Fürsprache dieses Jungen. Wenn Ihr Euch nun die Burg Tateyama zurückholt, werden alle Ritter so zornig mit den Füßen stampfen über
die Schmach, die ihnen der kindliche Leichtsinn dieses Bengels beschert hat, dass er sich kein zweites Mal im Haus Satomi blicken lassen kann."
"In der Tat."
"Hier in meinem Innern weiß ich sämtliche Mittel, um nicht allein das Wunderkind, sondern das ganze Haus Satomi, das sich mit seiner Güte brüstet, in die Klemme zu bringen und zu piesaken!"
Irgendwie klang Yaobikunis Ton nicht mehr so respektvoll wie vorher, sondern mit Verachtung durchsetzt. Alles seit dem Plan, durch den Motofuji zum Burgherrn geworden war, hatte sich also diese Schamanin ausgedacht! Motofujis Respekt wuchs.
"Also, wie hole ich mir die Burg zurück?"
"Das erfahrt Ihr auf dem Schiff."
Geführt von der Teufelsnonne und den beiden Kurtisanen schritt Hikita Motofuji unter der roten Mondsichel auf die Schiffe zu, die mit aufgespannten Segeln in der Flussmündung des Sumidagawa bereit lagen.



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