①
Es war ein Wildschwein, das Inuta Kobungo vollkommen unverhofft in beträchtliche Schwierigkeiten brachte.
Einige Tage nach den Kämpfen am Berg Arameyama lief er in der
Gegend von Senzoku nahe Asakusa im Lande Musashi auf einem Weg zwischen
Reisfeldern. Im Westen zeichneten sich die Hügel von Nippori,
Yushima und Kanda vor dem Abendhimmel ab, eine Schar Krähen zog
über ihm vorüber.
Die fünf Hundekrieger waren überein gekommen, es sei zu
gefährlich, gemeinsam Kôzuke
zu verlassen, und hatten sich mit dem Versprechen getrennt, sich
später wieder zu treffen. So war Kobungo allein bis hierher
gelangt, nachdem er samt seinen vier Gefährten dem Gefecht am Arameyama
entronnen war.
Instinktiv hatte er die Schritte in Richtung seiner Heimat
Gyôtoku in Shimôsa gelenkt, aber seit er mithilfe des
abgeschlagenen Hauptes von Yamabayashi Fusahachi seinen 'Bruder' Inuzuka Shino
gerettet hatte, war es, zumal nach dem Überfall auf den Richtplatz von
Kôshinzuka und dem Gefecht am Arameyama, höchst
wahrscheinlich, dass er reichsweit zur Fahndung ausgeschrieben war, so
dass er sich nicht ohne weiteres in seiner Heimatstadt zeigen durfte.
Als er nun mit seinem Strohhut auf dem Kopf vor sich hinschritt,
ertönte
auf einmal aus der Gegenrichtung eiliges Getrappel auf dem Weg; ein
wildes Tier kam mit voller Kraft auf ihn zugerannt. Der
einzige Weg war auf beiden Seiten von tiefen Nassreisfeldern
gesäumt, die unter Wasser standen. Er erkannte, dass es ein
riesiges Wildschwein war, beinahe so groß wie ein Kalb. Zum
Ausweichen reichte der Platz nicht. Kobungo vollführte einen
großen Salto in der Luft, um den Keiler durchzulassen. Daraufhin
machte das wilde Tier kehrt und kam mit schrecklichem Grunzen wieder mit
seinen Hauern direkt auf ihn zu. Kobungo bekam es gerade so an den Ohren
zu fassen, ließ eine Hand los und schlug mit der Faust der
anderen Hand auf die Stirn des Keilers. Fünf, ....sieben, ....zehn
Schläge, dann spie das Untier Blut und verendete.
Ha, nicht mal in den Bergen von Kôzuke hatte er je ein
Wildschwein gesehen, und ausgerechnet hier musste ihm eines begegnen!
Kobungo wunderte sich und trottete langsam weiter.
Inuta Kobungo
Etwa hundert Meter weiter fand er auf demselben Weg einen Mann, der
bewusstlos auf dem Rücken lag. Er mochte um die 40 Jahre alt sein.
Er trug ein kurzes Baumwollgewand und schlichte Gamaschen aus Baumrinde
und besaß einen Handspeer. Sein Gesicht war grob geschnitten. Er
mochte ein Jäger sein.
Kobungo richtete ihn auf und schüttelte ihn. Die
zusammengebissenen Zähne des Mannes lösten sich. Als
Sumô-Ringer trug Kobungo stets Arznei für Prellungen und
dergleichen bei sich. Die holte er hervor und träufelte sie dem
Mann in den Mund. Der schlug die Augen auf.
"Ah, du bist wieder zu dir gekommen. Sicherlich von einem Wildschwein umgerannt worden?", fragte Kobungo.
Der Mann kam vollends zu sich und sagte, sich den Kopf kratzend, er sei
ein armer Mann, der in Senzoku sein Leben friste. In jüngster Zeit
sei ein Wildschwein aus der Gegend des Torigoe-Berglands hierher
gekommen und zerwühle zum Leidwesen der Bauern die
Rübenfelder. Sie hatten für die Erlegung des Tiers eine
Belohnung von 3 kan Münzgeld ausgesetzt, und weil er früher
auf dem Land Erfahrung mit der Wildschweinjagd hatte, habe er sich
darum beworben. Leider mit dem Ergebnis, dass er nun mit den Hauern des
Keilers in betrüblichen Konflikt geraten sei.
Sie gingen gemeinsam zurück zu dem Kadaver des Wildschweins, und
als er hörte, wie Kobungo das Tier erledigt hatte, blieb dem Mann
vor Verblüffung die Spucke weg.
Kobungo wollte weiterziehen, aber der Andere sagte: "Ich hörte,
Ihr seiet auf Reisen. In welcher Herberge wollt Ihr die kommende Nacht
verbringen?"
Kobungo erwiderte, er habe noch nichts im Sinn.
"Dann erweist mir unbedingt die Ehre, in meinem Haus zu nächtigen.
Wenn ich für den Keiler 3 kan Münzgeld erhalte,
will ich Euch jedenfalls als Dank dafür mit einem guten Schluck
Sake bewirten. Ich hole jetzt das tote Wildschwein und trage es
zum Dorfvorsteher, um die Belohnung dafür zu erhalten. Geht Ihr
nur schon einmal voraus zu meiner schäbigen Hütte, die
unter dem großen Zürgelbaum am Dorfrand steht. Ich werde
hier Kamomejiri Namishirô genannt", sagte der Jäger und
fügte noch hinzu, dass dieses Gebiet dem Herrn Chiba
unterstehe, in letzter Zeit jedoch öfter Spione feindlicher
Fürsten auftauchten, weshalb kaum jemand seine Tür für
Leute aus anderen Domänen öffne.
"Als Beweis, dass ich Euch
über Nacht eingeladen habe, zeigt dies meiner Frau", sagte er,
nestelte sein Feuerzeug vom Gürtel ab und drückte es Kobungo
in die Hand.
1000 Bronzemünzen ergaben 1 kan. Die Münzen hatten ein Loch, durch das sie auf Schnüre gezogen wurden.
Es mochte zwar Dankbarkeit dafür sein, dass Kobungo ihm geholfen
hatte, aber man konnte sein Verhalten durchaus auch als ein wenig
aufdringlich empfinden.
Mit einem gezwungenen Lächeln trennte sich Kobungo von dem
Jäger, und als er das Dorf Senzoku erreichte, war die Sonne
untergegangen, aber wo er auch anklopfte, für eine
Übernachtung blieben ihm in der Tat alle Türen verschlossen.
Also musste er gezwungenermaßen doch die Hütte des
Kamomejiri Namishirô aufsuchen.
Als er an der Tür klopfte, durch deren Ritzen ein schwacher
Lichtschein drang, streckte eine Frau mit einem Kerzenhalter in der
Hand den Kopf heraus. Als Kobungo ihr von der Laterne halb beleuchtetes
Gesicht erblickte, machte er große Augen. Sie mochte um die Mitte
dreißig sein und war eine bildschöne Frau von einzigartig
erotischem Reiz, die ganz und gar nicht zu jenem Namishirô
passte. Sie hielt eine schwarze Katze im Arm.
Als er ihr die Umstände erläuterte, ließ sie ihn sofort
ein und versorgte Kobungo aufs Allerbeste. Aus dem Brunnen im kleinen
Garten hinter dem Haus holte sie frisches Wasser, stellte ein
Feuerbecken auf den Bohlengang,
verteilte darin Holzstücke zur Abwehr der Stechmücken, fachte
mit einem Fächer die Glut an und servierte ihm bald darauf
gekochte Forelle und Sake.
Diese Gastfreundschaft genoss Kobungo einerseits, andrerseits aber
brachte den gerade knapp über Zwanzigjährigen die Koketterie
dieser reiferen Frau, die aus Kragen und Säumen ihres
dünnen Sommerkimonos dermaßen überzuströmen
schien, dass er kaum den Blick von ihr wenden konnte, in arge
Verlegenheit. Und dass immerfort die schwarze Katze um sie herumstrich,
kam ihm sogar ein wenig unheimlich vor. Als er sich nach ihrem Namen
erkundigte, antwortete sie betörend lächelnd: "Ich
heiße Funamushi."
Es wurde spät,
aber Namaishirô kam noch immer nicht nach Hause. Schon war es Mitternacht. Kobungo wollte
möglichst bald schlafen gehen, aber sich in einem Haus, dessen
Herr abwesend war, von dessen Ehegattin das Lager bereiten zu lassen,
erschien ihm unpassend. Er zauderte, aber Funamushi meinte:
"Wenn Ihr Euch deswegen grämt - Namishirô wird sich im Haus
des Dorfvorstehers mit Sake betrinken. Wenn es Sake gibt, vergisst er
alles andere, und wenn Ihr auf seine Rückkehr warten wolltet,
würde es darüber womöglich Morgen werden."
In einer Kammer bereitete sie ihm das Bettzeug und stellte ein Mosquitonetz auf.
In Ostasien kennt man etliche Kräuter und Holzsorten, deren Rauch Stechmücken
vertreiben. Selbstverständlich existierten auch an der Decke aufgehängte Mosquitonetze für die
Nachtruhe, aber solange man noch nicht zu Bett ging, war (und ist auch
heute oft noch) solches Räucherwerk die erste Wahl. |
Schon von außen sah die Hütte baufällig aus, und auch
in diesem Raum klafften unten an der Wand Lücken, vor die von
außen hölzerne Läden geschoben waren.
Wenn Kobungo einschlief, dann pflegte er sofort in den Tiefschlaf zu
sinken, aber in dieser Nacht -nein, die Umstände dieses
sonderbaren Obdachs bedrückten ihn nicht- musste er an seine von
ihm getrennten Gefährten denken, und daran, was er nun als nächstes
tun sollte; so lag er noch eine geraume Weile wach, aber
schließlich übermannte ihn doch der Schlaf.
Wie lange mochte er geschlafen haben? Plötzlich war er wach und
sah durch das Mosquitonetz, dass sich die Holzläden vor den
erwähnten Lücken öffneten. Einbrecher?
Kobungo ließ das Bettzeug so liegen, als ob jemand darin
schliefe, schlich sich aber unter dem Mosquitonetz hinaus. Bald sah er
ein Schwert funkeln, und ein dunkler Schatten kam durch die Lücke
herein, schnitt das Netz an zwei Stellen los, sprang zugleich mit dem
Netz auf das Bettzeug und stach mit den Schwert kräftig hinein. Im
selben Augenblick sprang Kobungo, der an der Wand gelauert hatte, auf
und hieb den Eindringling in Stücke.
"Verehrte Hausherrin, Gnädigste!", rief er laut. "Hier ist ein Räuber! Bringt Licht her!"
Eilig kam die Gattin des Hauses in hastig übergeworfener Gewandung mit einer Handlaterne gelaufen.
Während er erzählte, was geschehen war, erblickte Kobungo das
Gesicht des auf dem Bettzeug in einer Blutlache liegenden Mannes und
war verblüfft. Das war kein andrer als jener Mann, dem er vorher
geholfen hatte, der Herr dieses Hauses, der Jäger mit Namen
Kamomejiri Namishirô!
"Weh, da habe ich etwas nicht Wiedergutzumachendes getan!"
Die Ehefrau, die regungslos auf den Toten niedergeblickt hatte, heulte auf einmal auf und schrie:
"Das war die Strafe des Himmels!"
"Wie? Die Strafe des Himmels?"
Die Frau sprach schluchzend:
"Dieser Mann ist ein Bandit, der mich aus Habgier auf mein urbares Land
und Besitztümer, die ich von meinen Eltern geerbt hatte, zur Heirat
gezwungen und sich hier eingenistet hat. Er pflügte die Felder nicht, sondern schlug seine Tage mit Sake und Glücksspiel tot, und
bisweilen, glaube ich, betätigte er sich auch als Räuber.
Jedenfalls war er ein gewalttätiger Mensch, und ich konnte nichts tun. Die lange Zeit mit ihm kam mir vor wie die reinste Hölle...!"
Richtig, von Anfang an hatte Kobungo gespürt, dass die beiden
nicht zueinander passten. Aber dass die Frau namens Funamushi sich nun an seine Brust
schmiegte und ihm schöne Augen machte, verwirrte ihn. Ihr
lüsterner Hauch streifte seine Lippen.

Funamushi
"Aber dass er ausgerechnet Euch, der ihm das Leben gerettet hat, heute
Nacht überfallen wollte...! Ich wusste auch nicht, wann er nach
Hause gekommen ist..."
Kobungo meinte, vorhin, als er den Mann hochgezogen hatte, um ihm die
Medizin einzuflößen, da mag er wohl den Geldbeutel
gesehen haben und dadurch auf schlimme Gedanken gekommen sein.
"Wie dem auch sei, so können wir das nicht lassen", sagte Kobungo,
die Frau von sich fortschiebend. "Erstattet bei dem Dorfschulzen oder
Vorsteher Meldung. Ich werde erläutern, was passiert ist."
"Nein, nein!" Die Frau schüttelte energisch den Kopf. "Wenn ich
das täte, würde das ganze Dorf erfahren, dass Namishirô
ein Räuber war. Alles, was meinen Mann betrifft, fällt als
Schande auf mich zurück. Bitte lasst alles so und geht Eurer
Wege."
"Ich kann doch nicht....."
"Geht und sprecht zu keinem Menschen darüber, ich ersuche Euch
untertänigst darum!", bat die Frau namens Funamushi mit Nachdruck.
Schließlich fügte sich Kobungo den innigen Wünschen
dieser Frau und bereitete eilig seine Abreise vor. Aber Funamushi
sorgte sich offenbar noch weiter darum, dass die Sache ruchbar werden
könnte, holte ein seltsames Ding unter dem Hausaltar im
Nachbarraum hervor und drängte es Kobungo auf. Es war eine Art
langer Stock, der in einem alten Beutel aus Goldbrokat steckte, der
überhaupt nicht zu dieser Hütte passte.
"Das ist eine Bambusflöte, die ich von meinem Vater ererbt habe.
Sie soll sehr alt und wertvoll sein. Weil ich so etwas besaß,
hatte Namishirô sich an mich gehängt. Er wollte sie
unbedingt verkaufen, aber ich habe sie mit aller Kraft gehütet.
Ich verehre sie Euch als Entschädigung für das, was er Euch
angetan hat, und zugleich mit der Bitte, dies alles zu verschweigen."
"Nein, ich plaudere nichts aus, da könnt Ihr beruhigt sein. Eine
Gabe dafür brauche ich nicht", wehrte Kobungo verwirrt ab. Was es
auch sei, aus der Hütte eines Räubers wollte er nichts
annehmen.
"Nein, wenn Ihr es nicht annähmet, würde ich mich allzu sehr
sorgen.... Falls es Euch unangenehm sein sollte, dann gebt es mir bei
Eurer Rückreise wieder, wenn sich das Aufsehen gelegt haben wird."
Kobungo fügte sich widerwillig und nahm den Beutel mit der Bambusflöte entgegen.
"Was macht Ihr mit dem Leichnam?"
"Ich werde ihn in dem Acker dahinten vergraben. Er war ein
Herumstreuner, und wenn er ausbleibt, wird sich im Dorf niemand
darüber Gedanken machen. Oh, es wird schon Morgen! Ich werde Euch
aus dem restlichen Reis noch Reiseproviant zubereiten."
Bald darauf verließ Kobungo eilig sein Obdach. Hinter ihm riss
die Katze ihr rotes Maul auf und fauchte ihm laut hinterher.
Die Flöte in dem Beutel hatte eine Länge von knapp 60 cm,
weshalb er sie zwangsläufig in der Hand tragen
musste. Während der Morgenhimmel des kommenden Tags
allmählich heller wurde, lenkte Kobungo seine Schritte in die
Richtung des Flusses Sumidagawa.

②
Als Inuta Kobungo die Flussaue
erreichte, hörte er hinter sich das Geräusch nahender
Schritte vieler Leute, die ihn umringten, während er nach einer Fähre
Ausschau hielt. Es waren offenkundig Gendarmen und Amtsbüttel.
"Wartet!", rief deren Anführer.
"Du bist der Räuber, der den Herrn eines Hauses im Dorfe Senzoku
umgebracht hat und auf der Flucht ist. Auf eine Eilnachricht hin sind
wir dir nachgefolgt. Ich bin der Exekutivoffizier des Stellvertreters
des Landesherrn Chiba und heiße Hatagami Gorô. Rühr
dich nicht vom Fleck!"
"Ich? Ein Räuber?", brachte der verblüffte Kobungo heraus. "Wie kommt Ihr darauf?"
Er wollte noch weitersprechen, als er hinter der Gruppe von
Häschern die Gestalt der Frau von vorhin erblickte. Als sich ihre
Blicke trafen, kam die Frau herbei und wies mit dem Finger auf ihn.
"Der Beweis dafür ist die Bambusflöte, die du in der Hand
hältst, der größte Schatz meines Hauses. Um sie zu
rauben, hast du meinen Ehegatten umgebracht und bist entflohen!"
Das bildschöne Gesicht der Funamushi verzerrte sich zur Fratze
einer lüsternen Intrigantin. Kobungo starrte sie fest an und brach
in lautes Gelächter aus.
"Das war mir gleich seltsam vorgekommen", gab er zurück und
löste mit einem Ruck die Schnur des Beutels in seiner Hand. "Das
soll dein größter Schatz sein? Schau her!"
Aus dem Beutel kam ein gewöhnlicher Scheit Brennholz zum Vorschein.
"Das ist ein Stück von deinem Räucherholz für die
Stechmücken. Die Bambusflöte, die du mir aufgedrängt
hast, habe ich in deinem Haus gelassen, in das blutige
Bettzeug eingewickelt."
Dass er dermaßen hereingelegt würde, hatte Kobungo zwar
nicht vorhergesehen, aber eine Bambusflöte als Gabe
entgegenzunehmen, war ihm doch allzu unangenehm gewesen, und
während Funamushi den Reis als Reiseproviant zubereitete, hatte er
dort die Flöte zurückgelassen und stattdessen ein Holzscheit
in den Beutel gesteckt.
"Was hat das zu bedeuten, Funamushi?", fragte der Amtmann Hatagami,
sich so betreten zu
ihr umwendend, als sei er von einem Fuchskobold gefoppt worden.
Funamushi sprang auf Kobungo los, einen Dolch in der
Hand schwingend.
"Du Mörder meines Gatten!"
"Du Mörder meines Gatten!"
Mit Leichtigkeit packte Kobungo ihr Handgelenk, warf sie zu Boden nieder und stellte seinen Fuß auf ihren Körper.
"Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich eine menschliche Giftschlange erblicke."
Obwohl er sie nur leicht niederdrückte, schrie die schöne
Funamushi vor Schmerzen so hysterisch, dass ihr schier die Augen aus
den Höhlen quollen.
"Ich weiß nicht, was du gegen mich hast."
Hatagami Gorô war verlegen.
"Fesselt erst mal diese Frau!"
Nachdem Funamushi gefesselt war, sagte er zu Kobungo:
"Die Angelegenheit muss noch weiter geklärt werden. Ich bitte auch Euch, zum Amt des Stellvertreters des Landesherrn mitzukommen."
Schließlich ging es nicht allein um Diebstahl, sondern es war
auch ein Mensch ums Leben gekommen, weshalb Kobungo einwilligte.
Als er beim Verhör seinen Namen nennen sollte, kam Kobungo
in Verlegenheit; sein Name Inuta Kobungo würde ihn
möglicherweise in Gefahr bringen. Deshalb gab er den Namen
Yamabayashi Nuinosuke als seinen eigenen aus. Es war eine Kombination
aus den Namen seiner ums Leben gekommenen Freunde Yamabayashi Fusahachi
und Onui. Alles andere schilderte er so, wie es sich zugetragen hatte;
wegen der Untersuchung wurde Kobungo den ganzen Tag im Amt
festgehalten. Derweil ging es ringsumher zunehmend aufgeregter zu. Als er sich am Abend nach der Ursache erkundigte,
berichtete einer der Amtsleute mit erregter Miene:
"Die Bambusflöte, die in dem Haus dieser Frau gefunden wurde, ist
ein wertvolles Instrument, das vor knapp zwanzig Jahren aus dem Haus
des Landesherrn Chiba gestohlen wurde. Man hat
festgestellt, dass es sich um die Bambusflöte Arashiyama (Sturmberg) handelt."
Als Kobungo weiter nachfragte, erfuhr er, dass diese Bambusflöte
mit Birkenrinde umwickelt und mit schwarzem Lack überzogen sei,
auf den der Gedichttext 'Einsames Bergdorf im Herbst / einzig
vom Heulen des Sturmes / heimgesucht, welcher stets / einzig auf dieser einen /
Seite den Berghang herabfegt' gepinselt und illustriert war. Weil dies
keine gewöhnliche Bambusflöte ist, habe man sie dem Vogt der
nahen Burg Ishihama vorgelegt und diese Auskunft erhalten.
Bambusflöte mit Brokatbeutel
Kobungo war zwar überrascht, glaubte aber, dass dies alles mit ihm
nichts zu tun habe. Am andern Morgen nahm die Sache jedoch eine
unerwartete Wende.
Die Frau Funamushi war zwar im Haus des Dorfvorstehers unter Arrest
gestellt worden, aber in der Nacht kam ein Bote des Hatagami Gorô
vom Amt des Stellvertreters mit sieben oder acht Amtsbütteln, die
sie zu einem dringenden Verhör abführten. Es habe sich
nämlich herausgestellt, dass die Bambusflöte eine komplette
Fälschung war. Hinter dieser Frau musste, was die Anzahl der
für Planung und Anfertigung einer solchen Fälschung
erforderlichen Leute betrifft, eine ganze Bande von Dunkelmännern
stecken.
"Ob Ihr damit in Verbindung steht, ist uns nicht bekannt, aber bei
diesem Stand der Dinge können wir Euch nicht so einfach laufen
lassen", teilte man Kobungo mit.
So wurde Kobungo, von einer furchterregenden Anzahl von Samurai
bewacht, in ein Anwesen am Fluss Sumidagawa gebracht. Es hieß, es
sei das Anwesen des Vogts Makuwari Daiki des Landesherrn Chiba.
Kobungos Aufenthaltsraum war ein aus Holz gezimmertes
Nebengebäude, das sogar über Bad und Toilette verfügte.
Im Garten waren künstliche Hügel angelegt. Aber an jedem der
Tore der Mauer, die dieses Anwesen umgab, standen mehrere Bewaffnete.
Und seine Schwerter hatte man Kobungo selbstverständlich abgenommen.
Männer vom Samuraistand, zu denen alle Hundekrieger zählen, trugen üblicherweise im Gürtel
ein Langschwert zum Kampf und ein Kurzschwert als Dolch,
Kampfschwert-Ersatz oder zum Seppuku. Wenn vom "Schwert" (im
Singular) die Rede ist, meint man damit üblicherweise das lange
Kampfschwert. Dass man Kobungo "seine Schwerter" (im Plural) abnahm,
bedeutet, dass er komplett entwaffnet wurde. |
Nach sieben Tagen erschien der Vogt Makuwari Daiki. Er war ein etwas
über 50 Jahre alter Mann mit ungemein durchtrieben wirkenden
Gesichtszügen. Als Gefolge begleiteten ihn mehr als ein halbes Dutzend
kräftige Männer mit akkurat gestutzten Bärten.
"Ihr seid Yamabayashi Nuinosuke?"
"So ist es."
Kobungo verneigte sich höflich und äußerte, dass er nicht einsehe,
warum er hier immerfort als Räuber eingesperrt bleibe, obwohl die
wirklich Schuldige doch bekannt sei. Es habe doch längst nichts
mehr mit ihm zu tun, weshalb er um seine baldigste Freilassung ersuche.
"Nun ja", gab Makuwari Daiki mit ernster Miene zurück. "Wir haben
Nachforschungen zu Eurem wirklichen Namen angestellt. Es dürfte
sich bei Euch um Kobungo vom Gasthaus Konaya handeln, gebürtig aus
Gyôtoku. Wir haben auch herausgefunden, dass Ihr in der Nachbardomäne an dem
Überfall auf den Richtplatz des Hauses Ôishi am Fluss Todagawa beteiligt wart."
Kobungo erschrak, antworte aber sogleich wieder gefasst:
"Sind das nicht Dinge, die sich auf fremden Ländereien zugetragen haben?"
"Fremde Ländereien ja, aber das Haus Ôishi untersteht ebenso
wie das Haus Chiba dem Shogunatsfürsten Ôgiyatsu. Wir sind verpflichtet,
Euch wegen des Überfalls auf den Richtplatz an Herrn
Ôishi auszuliefern. So lautete die Entscheidung meines Herrn
Yoritane."
Nach einem Augenblick des Schweigens erwiderte Kobungo.
"Wenn Ihr dieser Ansicht seid, so tut, wie es Euch beliebt."
"Langsam, langsam. Dies war der Beschluss meines Herrn. Wenn ich
derselben Ansicht wäre, würde ich ihn unverzüglich
ausführen."
Daiki grinste listig.
"Schon vorher, als Ihr noch in Gyôtoku lebtet, hatte ich von
Eurer Kampfkraft gehört, und je mehr ich davon hörte, desto
mehr habe ich darüber gestaunt. Es wäre schade darum, Euch
dem Nachbarn auszuliefern und Euer Schwert verrosten zu lassen."
Er rückte etwas näher und senkte die Stimme.
"Wollt Ihr nicht in die Dienste des Hauses Chiba eintreten? Falls Ihr
dazu geneigt sein solltet, werde ich meinem Herrn Bescheid geben."
Kobungo schüttelte den Kopf.
"Danke für das Entgegenkommen, aber dazu bin ich nicht geneigt."
"Wie?"
"Ich habe andere Aufgaben zu erfüllen."
Das Gesicht des Daiki wurde zusehends verdrossener. Eine Weile starrte
er Kobungo an, aber dann kehrte sein listiges Grinsen zurück.
"Na, lehnt das nur nicht so übereilt ab. Denkt an das Gedicht
'Auch wer sich nicht sputet, / wird nicht stets durchnässt. / Nach
dem Regenschauer / klart auch für den Reisenden / der Himmel
wieder auf.' Die befohlene Auslieferung an den benachbarten
Landesherrn werde ich Euch zuliebe noch eine Weile aufschieben. Aber
aus den genannten Gründen kann ich Euch derzeit nicht laufen
lassen. Ihr bleibt hier, um es Euch noch einmal gründlich zu
überlegen."
Vogt Makuwari Daiki und Gefolgsleute - die runden Symbole auf Übergewände und Ärmeln sind Wappen
Mit diesen Worten erhob sich der Vogt von seinem Sitz. Seine Gefolgsleute
warfen drohende Blicke auf Kobungo und folgten ihm nach.
③
Danach blieb Kobungo in diesem Raum im Anbau des Anwesens eingesperrt.
Der Sommer ging, der Herbst wechselte zum Winter, und endlich wurde
es wieder Frühjahr. Ihm persönlich ging es nicht schlecht.
Ein alter Diener kümmerte sich um ihn, die Verpflegung ließ
keine Wünsche offen; nur die Bewachung an allen Toren war
offenkundig noch strenger geworden. Nicht dass Kobungo sie
gefürchtet hätte, aber als jemand, nach dem gefahndet wird,
dürfte es schwierig werden, einer großen Anzahl von Feinden zu
entkommen.
Während Kobungo bei vorzüglicher Behandlung eingesperrt sein
Dasein fristete, sprach ihn eines Tages zu Sommeranfang der alte Diener
Shinashichi leise an.
"Herr Kobungo, bis jetzt habe ich geschwiegen, aber ich wusste von
Anfang an, dass Ihr Herr Inuta Kobungo seid, der Sohn des Wirts der Herberge Konaya in
Gyôtoku. Ihr werdet es vergessen haben, aber Ihr habt mir
einmal sehr geholfen."
"Ha?"
"Ja, vor vier oder fünf Jahren, als ich mit einem Boot zwecks
Einkäufen für das Haus Chiba nach Gyôtoku kam, hatte es
der dortige Spitzbube Akashima Kajikurô auf mich abgesehen und mich
in Schwierigkeiten gebracht; Ihr habt ihn daraufhin in den Fluss
geworfen...."
Akashima Kajikurô war jener Räuber, der die Gegend zwischen
Gyôtoku und Ichikawa unsicher gemacht hatte, und Kobungo hatte
ihn wiederholt verprügelt; es war also gut möglich,
dass auch dieser Fall dazu zählte.
"Der Herr Vogt hat
herausgefunden, dass Ihr Herr Kobungo vom Hause Konaya seid, aber ich
habe es ihm nicht verraten. Es muss einer meiner damaligen Begleiter
gewesen sein", wisperte Shinashichi. "Ich bin Euch zwar zu Dankbarkeit
verpflichtet, aber mehr noch erregt Eure offensichtliche, noble Haltung mein Mitleid, seit Ihr hier eingesperrt seid.
Ich kann keine Ruhe finden, wenn ich Euch nicht etwas Wichtiges
mitteile."
"Und zwar?"
"Dass Euch der Herr Vogt sofort hier unter Arrest setzte, ist, weil er
befürchtete, dass Ihr das Geheimnis der Bambusflöte Arashiyama von Funamushi erfahren haben könntet. Damit hat es das Folgende auf sich...."
Der alte Diener Shinashichi
Shinashichi erzählte, dass sich das Haus Chiba vor gut
siebzehn Jahren in zwei Linien gespalten hatte. Der ältere
Bruder
bekam Burg Ishihama, und der jüngere wurde Herr der Burg Akazuka.
Der ältere aber war kinderlos und kränklich und legte in
seinem Testament fest, dass er Burg Ishihama nach seinem Tod seinem
Bruder Yoritane überlassen werde. Als der
Burgvogt Makuwari Daiki das erfuhr, wurde er sehr zornig. Es kam ihm vor, als würde ihm
seine Burg entführt. Am meisten fürchtete er Aihara Tanenori,
den ersten Vogt von Burg Akazuka. Dieser war von äußerst
unbeugsamem Charakter, und es stand nicht zu erwarten, dass Daiki mit
ihm gütlich zurecht käme. Daraufhin heckte er mit
höchster Arglist eine schreckliche Intrige aus, um Aihara
zu Fall zu bringen. Und weil er wusste, dass dem zweiten
Vogt von Burg Akazuka, Komiyama Ittôta, jener Aihara ein
Dorn im Auge war, machte er ihn zum heimlichen Komplizen seiner
Ränke. Er entnahm die Bambusflöte Arashiyama dem
Schatz des Hauses Chiba und brachte sie zu Aihara Tanenori.
"Wisst Ihr Bescheid über die Gerüchte, dass der Herr
Shogunatsfürst und der Statthalter des Shogunats, die lange Zeit
in Fehde lagen, sich in nächster Zeit aussöhnen wollen? Unser Haus Chiba steht auf Seiten des
Shogunatsfürsten, aber falls die Aussöhnung zustande kommt,
wird unser Haus dem Herrn Statthalter fortan
äußerst ungelegen sein. Der Burgherr von Ishihama
äußerte daher, es sei angebracht, sich zuvor die Gunst des
Herrn Statthalters zu sichern."
"Ja, gewiss."
"Und zwar wolle er dem Herrn Statthalter die hochberühmte Bambusflöte Arashiyama aus dem geheimen Schatz von Burg Ishihama verehren. Wenn nun jedoch diese Gabe an den Herrn Statthalter durch den Burgherrn von Ishihama
überbracht würde, käme das zu diesem Zeitpunkt beim
Shogunatsfürsten nicht gut an. Deshalb fragte der Herr an, ob die
Übergabe nicht durch den jüngeren Bruder Yoritane von Burg
Akazuka erfolgen könne."
"Ja gewiss, das sehe ich ein."
Es ging um den Shogunatsfürsten in Kamakura und den Statthalter
des Shogunats in Koga. Wer unter den Adelshäusern der
Kantô-Region zu einem dieser beiden Kontrahenten gehörte,
befand sich in ständiger Sorge wegen der Beziehungen zwischen
beiden Seiten. Deswegen hatte Aihara Tanenori sehr viel
Verständnis für das, was ihm Makuwari Daiki erzählte,
und erklärte sich einverstanden.
In
der historischen Realität hatte der hier als "jüngerer
Bruder" bezeichnete Landesherr Chiba Yoritane keinen kränklichen
älteren Bruder, sondern nur eine Schwester. Deshalb wird dieser
Bruder hier auch nicht mit Namen genannt, sondern stets als "Burgherr
von Ishihama" bezeichnet. Die hier dargestellten Tatsachen sind
für den Verlauf der Erzählung notwendige Fiktion des
Autors Takizawa Bakin.
Der Statthalter des Shogunats war Fürst Ashikaga Shigeuji von Burg Koga (s.Kapitel 3), während der rivalisierende Shogunatsfürst
Ôgiyatsu in Kamakura residierte. Diesem Fürstenhaus diente auch der
militärische Oberbefehlshaber der Region, Fürst Ôishi Norikata,
dessen Richtplatz die Hundekrieger zertrümmert hatten. |
Aihara besprach es mit seinem Herrn Yoritane. Yoritane war ganz
derselben Ansicht und äußerte sogar, er wolle der
Bambusflöte Arashiyama seinerseits noch die berühmten Schwerter Ozasa (Sassagras) und Rakuyô (fallendes Laub)
aus dem Burgschatz von Akazuka hinzufügen. Insgeheim zog er in
Koga Erkundigungen ein und erfuhr, dass der Statthalter die Gaben
mit Freude annehmen würde.
Aihara Tanenori packte also diese drei Wertgegenstände in eine
Truhe aus Paulowniaholz und verließ einige Tage später mit
einem Dutzend Gefolgsleuten Burg Akazuka.
Danach suchte Makuwari Daiki die Burg Akazuka auf. Ihr Herr Yoritane bat
Daiki, seinem Herrn Bruder auszurichten, dass Aihara dessen Wunsch
entsprechend am Morgen aufgebrochen sei, um die Bambusflöte Arashiyama dem Burgherrn von Koga zu überbringen. Daiki spielte ihm daraufhin eine entsetzte Miene vor.
"Von einem solchen Wunsch ist mir nichts bekannt. Herr Aihara hatte vor wenigen Tagen gesagt, er wolle diese Bambusflöte ausleihen, um sie Euch, dem Herrn dieser Burg, zu zeigen, woraufhin ich sie ihm geborgt
habe. Was Ihr als Herr Bruder meines Herrn im Sinn habt, ist mir
nicht bekannt, aber einen hochwertvollen Schatz von Burg Ishihama einem
fremden Fürstenhaus zu verehren, das kommt auf gar keinen Fall in
Frage, zumal ich für das Verleihen dieser Flöte zur Rechenschaft gezogen würde!"
Yoritane war bestürzt.
Yoritane und Daiki im Zwiegespräch: entsetzte Mienen
"Das kann doch nicht wahr sein, dass Herr Aihara....."
Mit vielsagender Miene sprach Daiki:
"Nun wird mir einiges klar, was mir vorher aufgefallen ist. Ich habe
von meinen Spionen Kunde erhalten, dass dieser Herr in jüngster
Zeit heimlich Kontakte zu Burg Koga pflege. Und bei jenem
Zwiegespräch vor einigen Tagen hatte ich ihm indirekt von
solchen Aktivitäten abgeraten. Offenbar hatte ich ins Schwarze
getroffen, und er fasste daraufhin gewiss den Entschluss, mit dem
berühmten Instrument als Gabe nach Koga überzulaufen."
Yoritane war verunsichert; er rief seinen zweiten Burgvogt Komiyama
Ittôta zu sich und befahl ihm, Aihara auf der Stelle zu verfolgen
und zu klären, ob der obige Sachverhalt wahr sei. Falls Aiharas
Verrat offenkundig würde und er Widerstand leisten sollte,
bliebe nichts übrig, als ihn zu erschlagen.
Mit mehr als fünfzig Rittern nahm Komiyama
Ittôta die Verfolgung auf. Er war noch recht jung und
leichtsinnig, um die dreißig, aber an Kampfkraft der
stärkste Vasall des Hauses Chiba. Gegen Abend erreichte er Aiharas
Zug, der in der Zwischenzeit schon acht oder neun Meilen
zurückgelegt hatte, in einem Kiefernwald bei Sugito.
"In der Burg hat es einen Vorfall gegeben. Ihr mögt bitte auf der Stelle umkehren!", rief Ittôta,
während er sich näherte. Den Aihara Tanenori, der ihn mit
ernster Miene erwartete, schlug er mit den Worten "im Auftrag
meines Herrn!" mit einem Streich von der Schulter bis zur Brust zu
Tode. Zu allem Überfluss brachte er mit seinen Leuten auch die Ritter in Aiharas
Gefolge, die nicht wussten, wie ihnen geschah, allesamt um.
Bis hierhin war alles bestens nach dem Plan verlaufen, den Komiyama
Ittôta zusammen mit Makuwari ausgeheckt hatte. Es
blieb ihm nur noch, seinem Herrn zu melden, dass Aihara sich als
Verräter erwiesen und Widerstand geleistet habe, woraufhin er ihn
wie geheißen erschlagen habe. Nun ergab sich jedoch das Problem,
dass die Kiste, welche die drei Schätze Bambusflöte und zwei
Schwerter enthalten sollte, nicht auffindbar war, als er nach dem Ende
des Gemetzels danach Ausschau hielt. Wo konnte sie sein? Alle Leute des Aihara
hatten sie totgeschlagen; auf seiner eigenen Seite war niemand
fahnenflüchtig. Kein Mensch hatte eine Ahnung, wo die Schätze
geblieben waren. Einer der Ritter sagte, während der
Auseinandersetzung hätten sich in dem Kiefernwald ein Mann und
eine Frau mit verhüllten Gesichtern ins Unterholz geduckt.
Und jetzt? Die Aufregung war groß, aber nun war es zu spät.
Komiyama Ittôta trieb seine Untergebenen wie von Sinnen zur
Suche an, aber letztendlich fanden sie nichts, und wegen
dieser Schande für seine Ehre verschwand er selbst
ebenfalls spurlos. Gewiss hatte er auch deshalb so hastig die
Flucht ergriffen, weil er sich selbst in der Falle, die er Aihara
gestellt hatte, verfangen hatte und wusste, was ihn erwartete, falls er dermaßen blamiert zur Burg zurückkehrte.
Kurz danach verstarb der Burgherr von Ishihama, und sein Bruder
Yoritane übernahm seine Burg. Die beiden Linien des Hauses Chiba
waren wieder vereint, aber von den drei Burgvögten der beiden
Linien war nur einer übrig geblieben: Makuwari Daiki. Er hatte auch
Aiharas Angehörige allesamt umbringen lassen, und alle
Ritter, die Komiyama unterstanden, wurden strafversetzt oder
degradiert.
Chiba Yoritane war zwar nun auch Herr über Burg Shirahama, hatte
jedoch viel von seiner früheren Macht, als er nur Burgherr von
Akazuka war, eingebüßt. Überdies glaubte er, dass der Verlust
der berühmten Bambusflöte Arashiyama
seine eigene Schuld sei, weshalb er sich vor seinem Vogt
Makuwari Daiki schämte. Folglich war der eigentliche Machthaber im
Herrschaftsbereich des Hauses Chiba nunmehr Makuwari Daiki.
Kobungo, der sich diese Erzählung angehört hatte, seufzte
abgrundtief. "So ein Mensch ist also dieser Herr Makuwari Daiki!"
"Unter Betrachtung der gegenwärtigen Umstände waren
diejenigen, die die Bambusflöte und Schwerter gestohlen haben und
damit verschwunden sind, wohl das Ehepaar Kamomejiri Namishirô
und Funamushi. Auch das dürften sie auf Anweisung des Herrn
Makuwari getan haben. Aber die beiden sind echte Gauner; ich nehme
an, dass sie sich über die Entlohnung nicht einig geworden sind oder
Herrn Makuwari betrogen und sich davongemacht haben. Weil sie
nun plötzlich aufgeflogen sind, geriet Herr Makuwari in Panik; die
falschen Amtsleute, die Funamushi, die zunächst in der Amtsstube
des Dorfvorstehers festgesetzt worden war, herausholten und zum
Verhör mitnahmen, sind meiner Meinung nach von Herrn Makuwari
entsandt worden. Dass Ihr hier unter Arrest steht,
geschah anfangs wegen des Verdachts, dass Ihr um das Geheimnis der
Flöte Arashiyama
Bescheid wissen könntet, aber dass man Euch auch nach Klärung
der Sachlage weiter hier festhält, liegt, wie ich glaube, daran,
dass Herr Makuwari Euch vermutlich als besonders kampfstarken Recken
ansieht und für seine Ritterschaft gewinnen möchte."
"So ein Dummbold!" Kobungos mächtige Schulter zuckte. "Aber
es stimmt. Kurz nachdem ich hier herkam, erschien Makuwari und wollte
mich für den Eintritt in die Dienste dieses Hauses anwerben, aber
ich habe abgelehnt."
"Wenn er 'in die Dienste dieses Hauses' sagte, meinte er wohl vielmehr 'in seinen eigenen Dienst'."
"Aber mal was andres, Shinashichi. Über welche Quellen
weißt du eigentlich über diese Geschichten Bescheid, und
warum hast du mir das alles erzählt?"
"Ich war einstmals der Rossführer eines engen Vertrauten des Herrn
Komiyama. Als dieser zur Burg Shirahama kam, wurde er wegen des dummen Fehlers seines Herrn zum Seppuku gezwungen, und ich
wurde zum Kerkeraufseher degradiert. Und seit Ihr hier seid, bin ich
beauftragt, für Euch zu sorgen." Shinashichis faltiges Gesicht
wurde etwas rot. "Ich bin von einer so niedrigen Stellung, dass Herr
Makuwari mich gar nicht zur Kenntnis nimmt. Aber ich war stets gut
informiert über alles, was meinen Herrn angeht. Mein Herr hat sich
im Glauben, es geschehe zugunsten seines Herrn, an dem Überfall
auf Herrn Aihara beteiligt, und ich war, ehrlich gestanden, als
Rossführer gleichfalls mit dabei. Dass dies alles offenbar auf einer
Intrige des Herrn Makuwari beruhte, verstand ich erst viel
später im Gespräch mit Gefährten, die ebenso wie ich
schon jahrelang ihre Stellung verloren hatten."
"Ich verstehe."
"Jedenfalls ist das alles schon gut siebzehn Jahre her. Seither habe
ich mich damit abgefunden, dass es mein Los ist, ein solch armseliges
Dasein zu führen, und als Kerkeraufseher dahingelebt, aber nun bin
ich dafür zuständig, mich um Euch zu kümmern. Ich dachte
immer, jemand wie Ihr darf sich keinesfalls mit Herrn Makuwari gemein
machen, und weil ich fürchte, dass Herr Makuwari jetzt gerade
wieder etwas Schlimmes im Schilde führt, brachte mich diese Sorge
dazu, all meinen Mut zusammenzunehmen und Euch diese Geschichte zu
erzählen."
"Herr Makuwari? Wieder etwas Schlimmes?"
"Das kann ich nicht sagen. Es ist so fürchterlich, dass ich es
nicht über die Lippen bringe", winkte Shinashichi mit der Hand ab.
"Und Komiyama? Ist er noch immer untergetaucht?"
"Ja, bis heute."
"Komiyama ganz auf sich allein gestellt... Und Aihara Tanenori tut mir leid, mitsamt allen Angehörigen umgebracht..."
"Ja, bis auf eine Person; eine Nebenfrau soll mit ihrem Kind in ihr Heimatland Sagami entkommen sein, habe ich gehört."
Während Kobungo sich die Erzählung über solche
beispiellose Schlechtigkeit und bodenlose Unbarmherzigkeit
anhörte, ertönte aus der Ferne, vom Wind herbeigetragen, der
Klang von Flötenspiel, Trommeln und Frauengesang. Es handelte sich
gewiss um die reisende Schaustellergruppe aus Frauen, die Herr Makuwari
Daiki vor einigen Tagen herbeigrufen hatte und in diesem Anwesen wohnen
ließ.
"Shinashichi, wie steht's? Könntest du mir ein Schwert besorgen?", fragte Kobungo.
"Wollt Ihr fliehen?"
"Ja. Nach deiner Erzählung habe ich keine Lust, noch einen
Augenblick länger hier zu bleiben, zumal ich nun weiß, dass
Makuwari mich nicht ohne Weiteres entlassen wird."
"So ist es. Obwohl dies der Wohnsitz des Herrn Burgvogts ist, umgeben mehrere Reihen von Mauern und sogar ein Graben das Anwesen; vor allem dieser Anbau wird strengstens überwacht."
"Das weiß ich; umso wichtiger ist es, ein Schwert zu bekommen. Ohne das hätte ich keine Chance."
"In diesem Anbau gibt es kein Versteck für ein Schwert. Wenn es
entdeckt würde, wäre ich meinen Kopf los", wehrte Shinashichi ab. "Ich
habe Euch diese Geschichten nicht
erzählt, damit Ihr irgendetwas für mich tut. Ich wollte nur,
dass Ihr erkennt, was für ein Mensch dieser Herr Makuwari Daiki
ist....", sagte Shinashichi, bemerkte aber wohl doch den Widerspruch,
gleichsam erst Feuer zu legen und dann Wasser zum Löschen
daraufzugießen.
"Nun ja, sei es drum. Ich verstehe, dass es nicht gut ist, wenn Ihr
hier auf ewig eingesperrt bleibt. Ich werde Acht geben, und wenn ich
eine Möglichkeit für Euch sehe, zu entkommen, bringe ich Euch
ein Schwert", nickte er. Dann erhob er sich hastig, als ob er soeben
seinen klaren Verstand wiedergewonnen hätte.
Ihm nachblickend dachte Kobungo bei sich:
'Weil der Himmel keine Stimme besitzt, lässt er Menschen für sich sprechen...'
Danach aber zeigte sich Shinashichi nicht mehr. An seiner Stelle
brachte ab dem nächsten Tag ein Mann mit einem Gesicht wie eine
Noh-Maske Kobungo das Essen und sorgte für ihn. Als Kobungo sich
erkundigte, was mit dem alten Shinashichi sei, erhielt er zur Antwort:
"Er ist krank, hat vielleicht etwas Verdorbenes gegessen."
Noh-Masken aus der Zeit des Autors sind starre, hölzerne Ganzgesichtsmasken
Nach sieben Tagen kamen gegen Abend wieder andere Leute, drei Samurai von offensichtlich hohem Rang.
"Herr Inuta, kommt bitte mit uns", lächelten sie.
"Wohin?"
"In einer Ecke dieses Anwesens am Fluss Sumidagawa befindet sich ein
Gebäude mit Namen Taigyûrô. Dorthin begeben wir uns."
"Und weshalb?"
"Heute hält der Herr Burgvogt ein Bankett ab, zu dem er eine
Frauentanzgruppe kommen ließ. Er wünscht, dass auch
Herr Inuta sich daran ergötze, und möchte während der
Sakefeier mit Euch sprechen."
Er will wohl noch einmal fragen und hören, was ich ihm sage,
dachte sich Kobungo. Auf dem Weg wichen die drei Samurai rechts und
links und hinter ihm keinen Zoll von ihm ab.
"Geht es dem kranken alten Shinashichi jetzt besser?", fragte Kobungo
wie nebenbei, während sie durch den Garten des Anwesens schritten.
"Shinashichi? Ach, der ist vor drei Tagen gestorben", antwortete der
Samurai zu Kobungos Rechten. Derjenige zu seiner Linken streifte ein
Blatt ab, das auf seine Schulter gefallen war, und ergänzte:
"Es ergab sich eine Gelegenheit, ein entdecktes, störendes welkes Blatt abzustreifen", lachte er süffisant.
Kobungo war entsetzt. Shinashichi war also umgehend denunziert und beseitigt worden.

④
Die Halle
Taigyûrô war durch einen langen, überdachten
Holzbohlengang mit dem Hauptgebäude des Anwesens verbunden und ein
Bau von erlesener Schönheit. Es war Anfang Sommer, die
papierbespannten Türen waren daher aufgeschoben und gaben den Blick
frei auf den breiten, türkisblauen Fluss Sumidagawa und die dort
fahrenden Schiffe. Darüberhinaus waren im Licht der
dunstverschleierten Abendsonne die im Fluss wie ein Rind liegende Insel
Ushijima (Rinderinsel) und die schmal wie ein Weidenzweig dahingestreckte Insel Yanagishima (Weideninsel), und in der Ferne der von den Dörfern im Kasai-Distrikt aufsteigende Rauch sichtbar. "Taigyûrô" bedeutet "Halle, die der Rinderinsel gegenüber liegt".
In der Banketthalle saßen die Ritter aufgereiht vor ihren
Speisetischlein, und an der Stirnseite hielt Makuwari Daiki, umgeben
von sehr jungen Samurai um die zwanzig sowie etwa acht Damen, seine
Sakeschale in der Hand. In weiteren, mehrfachen Halbkreisen
umgaben ihn eine Anzahl von Gardisten, die alle aussahen, als wären sie
früher Ringkämpfer gewesen, und sprachen dem Sake zu.
Ritter beim Umtrunk, aus der Sicht des Ehrensitzes an der Stirnseite
"Ah, unser großer Recke geruht zu erscheinen", empfing Daiki lachend Kobungo und wies ihm ein Sitzkissen zu, das etwa einen Meter von ihm entfernt lag.
"Diese wunderbare Aussicht und den später folgenden Auftritt der
Künstlerinnen wollte ich Euch unbedingt vorführen."
Mit einem Gesicht, als sei er von einem Fuchskobold verhext worden,
ließ sich Kobungo dort nieder. Sofort wurden ihm durch die Hand
weiblicher Bediensteter die erlesensten Köstlichkeiten aus Wald
und Meer aufgetischt und eine große Schale mit Sake
gefüllt.
"Vor dem Auftritt der Tanzkünstlerinnen vergiften
wir Euch noch nicht. Ihr könnt unbesorgt trinken", lachte Daiki, und
schon wurde eine Tür aufgeschoben und gut zwei Dutzend junge
Frauen, angetan mit Gewändern ähnlich denen von
Noh-Schauspielern, aber weitaus prächtiger, strömten in den
Saal. In den Händen hielten sie kleine und große
Trommeln, Flöten, Glöckchen, Ratschen und dergleichen, und
drei von ihnen trugen sogar Biwas (Lauten).
"Abgesehen von der schönen Aussicht hier, seht Euch erst mal den
Dengaku-Tanz der Frauen an. Außer den Tänzen gibt es
Puppenspiel, Gaukelkunst, Stelzenakrobatik, Seiltanz und vieles Andere,
woran man sich nicht sattsehen kann. Sie fangen mit dem Tanz
der Asakeno an."
Daiki hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als schon eine Frau,
offenbar die Leiterin des Ensembles, die Ankündigung sprach:
"Wir sind Frauen, aus Kamakura gekommen, in Sternenmondnächten... Den Regen, der auf die
noch nicht ganz geöffneten Kirschblüten tröpfelt,
stellt Asakeno durch das Tappen ihrer Füße,
den Wind mit dem Fächer in ihrer Hand dar. Nicht alles mag vollkommen sein, aber wir bitten, unseren Tanz mit Nachsicht zu genießen..."
Aus der Mitte der Truppe erhob sich sachte eine Frau. Sie trug ihr Haar
besonders hoch aufgebunden und von der Seite her mit einer silbernen
Haarnadel mit Pfirsichkopf geziert. Sie trug zu ihrem
langärmeligen Frauenkimono mit Glitterbesatz einen breiten, hinten
gebundenen Obi und hielt einen Fächer in der Hand. Sie mochte etwa
siebzehn oder achtzehn Jahre alt sein.
Junge Frauen tragen Furisode-Kimonos, deren Ärmel bis fast zum Boden reichen (Furisode = wehende Ärmel).
Der Obi (Kimonoschärpe aus Brokat) wird zu einer kunstvollen Schleife gebunden.
Dass
hübsche junge Mädchen von Natur aus den Reiz ihrer
Jugendfrische besitzen, ist nicht verwunderlich, aber wie konnte diese
Frau darüberhinaus noch eine solch hinreißende Erotik
ausstrahlen! Sie war derart, dass durch die Reihen der Gefolgsleute des
Makuwari, die nun schon mehrere Tage hintereinander diese Tänzerinnen
gesehen haben sollten, ein vielstimmiges Raunen ging,
und sogar Kobungos Brust entfuhr ein Aufstöhnen. Mit einer Stimme,
die wie ein Silberglöckchen klang, begann Asakeno mit Gesang und
Tanz.
"Ich sehne mich so nach der Hauptstadt,
nun wird wohl das Wasser des Flusses,
des Kamogawa, wieder klar glänzen.
Ein Wagen rollt auf der Gojô-Straße,
wes Wagen mag es wohl sein,
mit Abendwicken geziert...?"
Es waren nicht nur Männer anwesend; junge Mägde und weibliche
Bedienstete lugten, einander schiebend und drängelnd, wie gebannt
durch die hier und da einen Spalt geöffneten Schiebetüren.
Nur Makuwari Daiki wandte den Blick von dem Schauspiel ab und sprach
Kobungo an:
"Nun, Herr Kobungo, habt Ihr es Euch in der Zwischenzeit überlegt?"
"Was?"
"Ich hatte Euch doch empfohlen, in die Dienste dieses Hauses zu treten."
"Eigentlich nicht." Kobungo schüttelte den Kopf.
Während dieses Gesprächs spielten die Instrumente auf,
und Asakeno, die Tänzerin mit dem Fächer,
tanzte weiter.
"Ich sage es Euch noch einmal. Wenn Ihr in die Dienste dieses Hauses
tretet, erwäge ich, Euch den halben Distrikt Kasai als
Lehen zu geben", fuhr Daiki fort. "Wenn ich von 'diesem Haus'
spreche, meine ich nicht das Haus Chiba. Ich meine das Haus Makuwari.
Ich will ganz offen zu Euch sein. Der jetzige Burgherr Yoritane ist ein
unfähiger Dummkopf. Wenn er so weitermacht, wird er seine
Ländereien an die Nachbarfürsten verlieren. Ich habe vor,
in Zukunft diesen Jungen zu seinem Nachfolger zu machen."
Mit dem Kinn wies er auf einen jungen Samurai. Dem Augenschein nach ein
arroganter junger Mann, der dem Daiki wie aus dem Gesicht geschnitten
war. Dass es sich um Daikis einzigen Sohn Kurayago handelte, wusste
Kobungo bereits.
"Dabei wird es sich nicht vermeiden lassen, dass ein wenig Blut fließt. Und dazu benötige ich Eure Kampfkraft."
Aus Daikis Augen funkelte schon seine Mordlust.
"Wenn Ihr mir diesen Wunsch erfüllt, sollt Ihr noch eine
zusätzliche Belohnung erhalten. Und zwar jetzt, auf der Stelle.
Diese Tanzgruppe wird morgen weiterziehen. Aber falls Ihr es
wünscht, behalte ich die Tänzerin Asakeno hier und verehre sie Euch."
"Herr Vater!", wandte Kurayago scharf ein. "Das geht doch etwas zu weit....!"
Er hatte offenkundig Einwände dagegen, die schöne Tänzerin Kobungo zu überlassen.
"Halt den Mund!", blaffte Daiki mit zornigem Blick zurück. "Nun, wie steht's? Habt Ihr keine Lust, bei mir mitzumachen?"
"So ein Blödsinn", entgegnete Kobungo angewidert. "Inuta Kobungo mag
vielleicht ein treuer und aufrichtiger Hund sein, aber ein
Aufrührer und Lump wird er niemals."
"Was soll das heißen?"
"Herr Makuwari, Ihr seid ein abgrundtief schlechter Mensch."
Daiki gab mit den Augen einen Wink, woraufhin drei oder vier
Gefolgsleute ganz in der Nähe aufsprangen. Währenddessen
glitt die Tänzerin Asakeno tanzend sachte näher. Hinter
ihr traten mehr als zehn andere Tänzerinnen zum Gruppentanz an.
Vermutlich war das die normale Abfolge der Vorstellung, aber Asakeno
ließ ihren Fächer ruhen, überließ den Tanz den
anderen Frauen und rückte an Kobungo heran. Nur eine leichte
Berührung, schon saß er wie erstarrt.
"Oh, mein Herr, solch ein Bild von einem Mann habe ich mein Lebtag noch
nicht gesehen", schmeichelte Asakeno, die sich niedersetzte und an
Kobungo heranrückte. "Seit ich Euch erblickte, bin ich vollkommen
entzückt."
Nicht allein Kobungo, sondern auch Daiki und die anderen Samurai
starrten die Tänzerin an wie gebannt und wussten nicht, wie sie
reagieren sollten. Mehr als ihre Worte war es ihre Koketterie, die alle
wider Willen in Bann schlug, je näher sie heranrückte.
"Euer Name ist Inuta Kobungo? Ich vernahm, dass der Herr Burgvogt
soeben sagte, er wolle mich Euch verehren, und Ihr habt es ihm
rundweg abgeschlagen.... Mögt Ihr mich etwa nicht?"
Daiki, der einige Augenblicke sprachlos gewesen war, schrie sie mit wütendem Blick an:
"Was fällt dir ein?"
Auch Kobungo war verblüfft. Konnte diese Tänzerin, die bis eben da drüben zu der lauten Musik getanzt und obendrein noch selbst gesungen hatte, das hier geführte Gespräch gehört haben?
"Macht doch nicht so ein böses Gesicht!", lächelte Asakeno
charmant, an Daiki gewandt. "Herr Burgvogt, überlasst mir bitte
diesen Herrn. Ich werde sicherlich sein Herz gewinnen. Gewährt mir
morgen noch ein weiteres Treffen!"
Sie erhob sich, öffnete wieder ihren Fächer und kehrte tanzend zu ihren Kolleginnen zurück.

"Mögt Ihr mich etwa nicht?" - Tanzkünstlerin Asakeno
"Ich wusste zwar, dass sie Zaubertricks beherrscht, aber so eine ...
seltsame Frau...!", murmelte Daiki, der ihr wie nach der Begegnung
mit einem Dämon hinterherblickte.
"Aufstehn!", wies sein Kinn auf Kobungo.
Kobungo wusste, dass drei Samurai mit gezücktem Kurzschwert dicht hinter ihm standen. Er selbst war waffenlos.
Nachdem er aufgestanden war, begleiteten ihn drei Samurai mehr als auf
dem Hinweg. Jeder von ihnen von einer Statur, die Kobungo in jeder
Hinsicht ebenbürtig war.
Er kam wieder in seinen Anbau und legte sich schlafen. Um seinen Raum
herum wachten auf allen Seiten zahlreiche Kriegsleute, die sich bei der
Bewachung ablösten, aber Kobungo schlief tief und fest wie immer.
⑤
'Ich
werde sicherlich sein Herz gewinnen. Gewährt mir morgen noch ein
weiteres Treffen!', hatte diese Frau zwar gesagt, aber bis zum Abend
des folgenden Tages gab es keinerlei Anzeichen für irgendetwas
dieser Art. Natürlich waren das keine Worte, auf die Verlass war.
Immerhin hatte Kobungo das verbrecherische Ansinnen des Makuwari Daiki
abgelehnt. Dieser dürfte auch wissen, dass Kobungo von dem alten
Shinashichi alle seine früheren Missetaten erfahren hatte. Somit
würde Kobungo hier nicht mehr lebend herauskommen. Offenkundig wurde aber auch kein Befehl erteilt, ihn zu ermorden.
Auch die sechs Samurai, die Kobungo tagsüber bewachten, waren augenscheinlich
verwirrt. Aus ihren Gesprächen konnte Kobungo entnehmen, dass die Dengaku-Tanztruppe vor der Mittagsstunde das Anwesen verlassen hatte, Asakeno aber noch geblieben war.
Einige glaubten, Daiki habe es befohlen, andere meinten, es sei ihr
eigener Wunsch gewesen. Darüber wussten die Kriegsleute wohl auch
nicht Bescheid. Verständlich wäre, dass
Daiki die Tänzerin aus Misstrauen dabehalten habe. Nicht sehr
verständlich wäre, dass sie aus freien
Stücken blieb. Noch unbegreiflicher war, dass Daiki, sein
Sohn und deren
Gefolgsleute in der Halle Taigyûrô offenbar auch heute bis in
die Nacht hinein, nur mit Asakeno, ein Trinkgelage abhielten. Bis
spät nachts waren Gelächter und Trinklieder zu hören.
Kobungo schlief.
Er erwachte erst durch den Lärm seiner Bewacher - zu welcher Stunde mag es gewesen sein?
"Was gibt's?" - "Was ist denn los?" - "Zwei von Euch, lauft hin!"
Solche Rufe ertönten, und jemand schien fortzurennen. Daraufhin
waren aus der Ferne -in der Tat aus der Richtung der Halle Taigyûrô- Schreie und aneinanderklirrende Klingen zu hören. Oder vielmehr hatte das schon längst vorher begonnen.
Es folgte eine Weile unheimlicher Stille. Dann erscholl ein
grauenvoller Schrei. Jemand kam durch den Garten herbei. Zwei
weitere Bewacher liefen dem Ankommenden entgegen, und erneut klirrten
zwei-, dreimal die Schwertklingen, diesmal aber ganz in der Nähe
im Garten, und man hörte den dumpfen Laut zu Boden stürzender Leiber.
Kobungo erhob sich und trat schläfrig ins Freie. Es war schon
etwas hell. Angesichts der Gestalt, die im Licht der
Morgendämmerung langsam auf ihn zukam, riss freilich selbst Kobungo die
Augen weit auf.
Das hochgebundene Haar war aufgelöst und fiel wirr auf den
Rücken nieder. Die Säume des Frauengewands waren hochgerollt,
die beiden weißen Beine offen sichtbar. Von oben bis unten rot
besudelt, von der blitzenden Klinge in der Hand troff das Blut. Diese
Gestalt - das war niemand anders als die grauenvolle und zugleich
betörende Gestalt der Tänzerin Asakeno von der
Dengaku-Schaustellertruppe!
Die beiden noch bei ihm weilenden Wachen schauten kurz zu Kobungo her,
hatten aber keine Zeit mehr, sich um ihn zu kümmern.
Schreckensschreie ausstoßend rannten sie auf die Frau zu, die wie
eine Schlafwandlerin aus einer Dämonenwelt herzuschritt, und
wurden mit je einem Hieb nach rechts und nach links erschlagen.

Asakeno mit blankem Schwert
"Siebenundzwanzig", sagte Asakeno, lächelnd ihre weißen
Zähne zeigend. Es dauerte eine geraume Weile, bis Kobungo begriff,
dass sie damit die Anzahl der erschlagenen Ritter meinte.
"Ich bin Euch zu Hilfe gekommen, Herr Inuta Kobungo", lächelte Asakeno.
Der wie benommen dastehende Kobungo fand endlich seine Sprache wieder.
"Ihr? Wieso? Warum ... mir zu Hilfe?"
"Ich bin in Euch verliebt."
"So ein Unsinn. Um eines Unbekannten willen sogar Leute umzubringen...."
"Alle, die ich getötet habe, waren verruchte Schurken. Ihr habt
sämtliche Wünsche dieser Verbrecherbande klipp und klar
abgewiesen. Rechtschaffenen Menschen muss man zu Hilfe kommen."
Sie hatte also das ganze Zwiegespräch gestern mit Makuwari Daiki
genau mitbekommen. Während sie tanzte und selbst dazu sang, hatte
sie alles gehört. Vor Staunen kippte Kobungo beinahe aus den
Sandalen. War diese Frau überhaupt ein Wesen von dieser Welt?
Aber danach geschah noch etwas, das Kobungo vollends aus der Fassung brachte.
"Natürlich war es nur ein Nebeneffekt, dass ich Euch zu Hilfe
gekommen bin", lachte Asakeno scherzhaft. "Ich habe an Makuwari Daiki
und seinen Kumpanen nur meinen Vater und meine gesamte Familie
gerächt und alle siebenundzwanzig Kerle totgeschlagen."
Triumphierend reckte sie ihr Kinn empor.
"Die Mörder deines Vaters? Wer bist du?"
"Ich bin der einzige Sohn des Aihara Tanenori, der vor siebzehn Jahren
in eine von Makuwari Daiki gestellte Falle tappte und ermordet wurde. Mein Name ist Inuzaka Keno."
Er mutete zwar jugendlich an, aber seine Stimme war, so wie er jetzt
sprach, offenkundig die Stimme eines Mannes. Asakeno war also kein
wunderschönes Mädchen, sondern ein hübscher junger Mann!
Inuzaka Keno im langärmeligen Frauenkimono
"Oh, die Geschichte des Herrn Aihara Tanenori habe ich kürzlich
von jemandem gehört!", rief Kobungo aus. "Aber er sagte, dass die
ganze Familie mit umgebracht worden sei."
"Oh, Ihr wisst Bescheid? Ja, wegen dieses Makuwari Daiki ist meine
gesamte Familie umgekommen, aber eine einzige Nebenfrau, nämlich
meine Mutter, entkam in das Bergdorf Inuzaka im Distrikt Ashigara im Lande
Sagami. Dort brachte sie mich zur Welt", erzählte
Asakeno, nein, Inuzaka Keno. "Danach trat meine Mutter, um ihren
Lebensunterhalt zu verdienen, einer Dengaku-Tanztruppe bei, und
ich wuchs unter lauter Tanzkünstlerinnen auf. Dort lernte ich
alle Gaukelkünste, Akrobatik und Tänze, aber als ich
dreizehn war, starb meine Mutter. Der Wunsch nach Rache für die
Verbrechen des Makuwari Daiki, die mir erzählt worden waren,
trieb mich dazu, mich im Waffenkampf auszubilden. Und heute war der
Zeitpunkt zur Ausführung der Rache gekommen. Ob ich mich
freuen oder schämen soll, dass ich meine femininen
Gesichtszüge genutzt und mich als Frau verkleidet habe? Jedenfalls
habe ich jetzt den Makuwari Daiki, seinen Sohn Kurayago und seine
Sippschaft sowie die wichtigsten Gefolgsleute volltrunken gemacht und
in der Halle Taigyûrô einen nach dem andern erschlagen."
'Volltrunken gemacht' hatte er zwar gesagt, aber dass Keno die Ritter nicht
ganz so einfach wie Spargel umgehauen hatte, war aus dem Klirren der
Klingen vorhin
und aus seinem vom Kampf gezeichneten Aussehen deutlich abzulesen. Und
nun war aus der Halle Taigyûrô erneut erregtes Geschrei zu
hören. Herbeigeeilte Ritter mussten erschüttert
die Stätte des großen Gemetzels entdeckt haben.
"Ho, uns bleibt keine Zeit, uns hier weiter zu unterhalten", sagte
Keno. "Machen wir uns aus dem Staub! Mir bleibt ein Feind, den ich
noch erschlagen muss; der Mensch mit Namen Komiyama Ittôta, der
meinen Vater eigenhändig erschlagen hat, ist noch am
Leben. Dieses Anwesen habe ich zum Glück während meines
Aufenthalts bis in den letzten Winkel
ausgekundschaftet. Hier geht's entlang!"
Keno lief vorweg, und Kobungo nahm sich die Schwerter eines erschlagenen
Samurai und eilte ihm hinterdrein. Sie überstiegen eine Mauer,
gingen durch ein Holztor, schlichen sich durch den Baumbestand im
Garten und erreichten den Graben. Inzwischen war auch aus dem Anbau,
den sie gerade verlassen hatten, aufgeregtes Geschrei zu hören.
Der Graben war breit, mehr als zehn Meter. Keno löste von seiner
Hüfte eine schon vorbereitete Leine mit einem Haken, band das eine
Ende um eine Baumwurzel und schleuderte das Ende mit dem Haken in einen Baum
auf der anderen Seite. Dies tat er mit einer zweiten Leine noch einmal,
so dass nun zwei Seile über den Graben gespannt waren.
"Los!"
Kobungo wusste nicht recht, wie er daran auf die Gegenseite
gelangen sollte, und zögerte. Daraufhin lud sich Keno den weitaus
robuster gebauten Kobungo ohne Mühe auf den Rücken und begann
dann wie
ein Seiltänzer auf dem doppelten Seil hinüberzuspazieren.
Inuzaka Keno sah noch immer beinahe so aus wie eine wunderhübsche
junge Frau, und Kobungo, der einen wilden Keiler mit der bloßen
Faust totschlagen konnte, fühlte sich beinahe wie ein
Kleinkind auf dem Rücken seiner Mutter.
Es tagte schon. Als die beiden die Flussaue des Sumidagawa erreicht hatten,
hörten sie allerdings von hinten das Getrappel einer riesigen
Schar von Pferden. Es gab hier nichts, wo sie sich verstecken, und kein
Boot, mit dem sie das andere Ufer erreichen konnten. Da trieb von
Senjû her ein Schifflein heran, das mit Brennholz beladen war,
natürlich nicht, um hier anzulegen, sondern um flussabwärts
weiterzufahren.
"Heee, wir wollen mitfahren!", schrie Kobungo, und die Leute auf dem
Kahn schauten zwar herüber, machten aber keine Anstalten, den Kurs
zu ändern. Die beiden liefen rund hundert Meter am Flussufer neben
dem Schiff her. An einer Stelle, an der die Distanz bis zum Kahn
zufällig nur rund 5 Meter betrug, meinte Keno:
"Ich halte den Kahn jetzt erst einmal an."
Kobungo nickte, und Keno nahm Anlauf am Flussufer und flog dann wie
eine Schwalbe über die Wasserfläche hinweg auf den
Holzfrachter. An Bord erfolgte ein kurzes Handgemenge, bei dem die drei
Mann Besatzung mit Tritten ins Flusswasser befördert wurden. Aber
währenddessen wurde der Kahn von der Strömung weitergetrieben
und verschwand flussabwärts außer Sicht.
Kobungo war zwar bärenstark, aber solche übermenschlichen
Sprünge hätte er nicht vollführen können. Die
Reiterschar hinter ihm kam inzwischen näher; jemand wies mit der
Hand auf ihn, und nun galoppierten sie alle auf ihn zu, dass die Kiesel
am Flussufer davonstoben. Da tauchte von flussaufwärts her erneut
ein Schiff auf, voll beladen, aber weit größer als der
vorige Kahn. Kobungo sprang in den Fluss und schwamm los. Er erreichte
das Schiff und klammerte sich mit der Hand mühsam an der
Brüstung fest. Die erschrockene Besatzung lief herbei, einige von
ihnen schwangen die Ruder.
"Halt, wartet! Das ist doch Herr Kobungo aus Gyôtoku!", rief
einer hastig und hielt die anderen vom Zuschlagen ab. Kobungo erfuhr,
dass dieses Schiff dem Betrieb Inueya in Ichikawa gehörte und der
Kapitän ein Angestellter des Inueya mit Namen Yorisuke war. Zu
diesem Zeitpunkt war die Verfolgerschar der Reiter längst am
Flussufer eingetroffen und blieb dort ratlos stehen.
Jedenfalls war Kobungo dem für ihn gefährlichen Gebiet
entronnen. Von dem Kahn, mit dem Inuzaka Keno fuhr, war nichts zu
sehen. Bei Kobungo hinterließ dieser hübsche junge Mann den
Eindruck einer betörenden Blüte, die von einem heftigen
Sturmwind verweht worden war.
Von Yorisuke erfuhr Kobungo auf dem Schiff, was in der Zwischenzeit in
seinem Heimatdorf geschehen war. Nachdem sie im 6.Monat des vergangenen
Jahrs nach Ôtsuka aufgebrochen und auch nach zehn Tagen nicht
wiedergekommen waren, sei Chudai, einer der beiden Wandermönche,
ihnen aus Sorge um ihr Ergehen nachgereist. Danach sei Myôshin,
die Witwe vom Inueya, von dem Bösewicht Akashima Kajikurô
bedroht worden und habe mit dem Kleinkind Shinbei auf dem Arm zusammen
mit dem anderen Mönch die Flucht in Richtung Ichikawa ergriffen,
sei auf dem Weg aber von Kajikurô, der ihnen aufgelauert hatte,
überfallen worden. Darauf sei in einem schrecklichen Unwetter ein
riesiges dämonenhaftes Ross erschienen und habe zwar den
Kajikurô mit seinen Hufen totgetreten, den kleinen Shinbei aber
ergriffen und an einen unbekannten Ort entführt.
Danach habe sich Myôshin auf Anraten des Wandermönchs nach
Awa begeben. Kobungos Vater Bungobei sei erkrankt und am 15.Tag des
2.Monats von hinnen gegangen.
Dass Kobungos Herz beim Anhören dieses Berichts von Wogen aus
Schrecken und Schmerz ergriffen wurde, muss nicht eigens erwähnt
werden.
So kehrte er nach Gyôtoku zurück. Mehrere Tage verbrachte er
am Grab seines Vaters. Danach begab er sich erneut auf Wanderschaft. Er
wollte die Hundekriegergefährten, von denen er sich im Vorjahr am
Berg Arameyama getrennt hatte, wiedersehen und die noch unbekannten
Hundekrieger finden. Er ahnte ja nicht, dass ein Mann, den er bereits
getroffen hatte, einer der vom Schicksal bestimmten, gesuchten
Gefährten war.