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Legende der acht Hundekrieger


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Es war ein Wildschwein, das Inuta Kobungo
vollkommen unverhofft in beträchtliche Schwierigkeiten brachte.
Einige Tage nach den Kämpfen am Berg Arameyama lief er in der Gegend von Senzoku nahe Asakusa im Lande Musashi auf einem Weg zwischen Reisfeldern. Im Westen zeichneten sich die Hügel von Nippori, Yushima und Kanda vor dem Abendhimmel ab, eine Schar Krähen zog über ihm vorüber.
Die fünf Hundekrieger waren überein gekommen, es sei zu gefährlich, gemeinsam Kôzuke zu verlassen, und hatten sich mit dem Versprechen getrennt, sich später wieder zu treffen.
So war Kobungo allein bis hierher gelangt, nachdem er samt seinen vier Gefährten dem Gefecht am Arameyama entronnen war.
Instinktiv hatte er die Schritte in Richtung seiner Heimat Gyôtoku in Shimôsa gelenkt, aber seit er mithilfe des abgeschlagenen Hauptes von Yamabayashi Fusahachi seinen 'Bruder' Inuzuka Shino gerettet hatte, war es, zumal nach dem Überfall auf den Richtplatz von Kôshinzuka und dem Gefecht am Arameyama, höchst wahrscheinlich, dass er reichsweit zur Fahndung ausgeschrieben war, so dass er sich nicht ohne weiteres in seiner Heimatstadt zeigen durfte.
Als er nun mit seinem Strohhut auf dem Kopf vor sich hinschritt, ertönte auf einmal aus der Gegenrichtung eiliges Getrappel auf dem Weg; ein wildes Tier kam mit voller Kraft auf ihn zugerannt. Der einzige Weg war auf beiden Seiten von tiefen Nassreisfeldern gesäumt, die unter Wasser standen. Er erkannte, dass es ein riesiges Wildschwein war, beinahe so groß wie ein Kalb. Zum Ausweichen reichte der Platz nicht. Kobungo vollführte einen großen Salto in der Luft, um den Keiler durchzulassen. Daraufhin machte das wilde Tier kehrt und kam mit schrecklichem Grunzen wieder
mit seinen Hauern direkt auf ihn zu. Kobungo bekam es gerade so an den Ohren zu fassen, ließ eine Hand los und schlug mit der Faust der anderen Hand auf die Stirn des Keilers. Fünf, ....sieben, ....zehn Schläge, dann spie das Untier Blut und verendete. 
Ha, nicht mal in den Bergen von Kôzuke hatte er je ein Wildschwein gesehen, und ausgerechnet hier musste ihm eines begegnen! Kobungo
wunderte sich und trottete langsam weiter.


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Inuta Kobungo



Etwa hundert Meter weiter fand er auf demselben Weg einen Mann, der bewusstlos auf dem Rücken lag. Er mochte um die 40 Jahre alt sein. Er trug ein kurzes Baumwollgewand und schlichte Gamaschen aus Baumrinde und besaß einen Handspeer. Sein Gesicht war grob geschnitten. Er mochte ein Jäger sein.
Kobungo richtete ihn auf und schüttelte ihn. Die zusammengebissenen Zähne des Mannes lösten sich. Als Sumô-Ringer trug Kobungo stets Arznei für Prellungen und dergleichen bei sich. Die holte er hervor und träufelte sie dem Mann in den Mund. Der schlug die Augen auf.
"Ah, du bist wieder zu dir gekommen. Sicherlich von einem Wildschwein umgerannt worden?", fragte Kobungo.
Der Mann kam vollends zu sich und sagte, sich den Kopf kratzend, er sei ein armer Mann, der in Senzoku sein Leben friste. In jüngster Zeit sei ein Wildschwein aus der Gegend des Torigoe-Berglands hierher gekommen und zerwühle zum Leidwesen der Bauern die Rübenfelder. Sie hatten für die Erlegung des Tiers eine Belohnung von 3 kan Münzgeld ausgesetzt, und weil er früher auf dem Land Erfahrung mit der Wildschweinjagd hatte, habe er sich darum beworben. Leider mit dem Ergebnis, dass er nun mit den Hauern des Keilers in betrüblichen Konflikt geraten sei.
Sie gingen gemeinsam zurück zu dem Kadaver des Wildschweins, und als er hörte, wie Kobungo das Tier erledigt hatte, blieb dem Mann vor Verblüffung die Spucke weg. 
Kobungo wollte weiterziehen, aber der Andere sagte: "Ich hörte, Ihr seiet auf Reisen. In welcher Herberge wollt Ihr die kommende Nacht verbringen?"
Kobungo erwiderte, er habe noch nichts im Sinn.
"Dann erweist mir unbedingt die Ehre, in meinem Haus zu nächtigen. Wenn ich für den Keiler 3 kan Münzgeld erhalte, will ich Euch jedenfalls als Dank dafür mit einem guten Schluck Sake bewirten. Ich hole jetzt das tote Wildschwein und trage es zum Dorfvorsteher, um die Belohnung dafür zu erhalten. Geht Ihr nur schon einmal voraus zu meiner schäbigen Hütte, die unter dem großen Zürgelbaum am Dorfrand steht. Ich werde hier Kamomejiri Namishirô genannt", sagte der Jäger und fügte noch hinzu, dass dieses Gebiet dem Herrn Chiba unterstehe, in letzter Zeit jedoch öfter Spione feindlicher Fürsten auftauchten, weshalb kaum jemand seine Tür für Leute aus anderen Domänen öffne.
"Als Beweis, dass ich Euch über Nacht eingeladen habe, zeigt dies meiner Frau", sagte er, nestelte sein Feuerzeug vom Gürtel ab und drückte es Kobungo in die Hand.


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1000 Bronzemünzen ergaben 1 kan. Die Münzen hatten ein Loch, durch das sie auf Schnüre gezogen wurden.



Es mochte zwar Dankbarkeit dafür sein, dass Kobungo ihm geholfen hatte, aber man konnte sein Verhalten durchaus auch als ein wenig aufdringlich empfinden.
Mit einem gezwungenen Lächeln trennte sich Kobungo von dem Jäger, und als er das Dorf Senzoku erreichte, war die Sonne untergegangen, aber wo er auch anklopfte, für eine Übernachtung blieben ihm in der Tat alle Türen verschlossen. Also musste er gezwungenermaßen doch die Hütte des Kamomejiri Namishirô aufsuchen.
Als er an der Tür klopfte, durch deren Ritzen ein schwacher Lichtschein drang, streckte eine Frau mit einem Kerzenhalter in der Hand den Kopf heraus. Als Kobungo ihr von der Laterne halb beleuchtetes Gesicht erblickte, machte er große Augen. Sie mochte um die Mitte dreißig sein und war eine bildschöne Frau von einzigartig erotischem Reiz, die ganz und gar nicht zu jenem Namishirô passte. Sie hielt eine schwarze Katze im Arm.
Als er ihr die Umstände erläuterte, ließ sie ihn sofort ein und versorgte Kobungo aufs Allerbeste. Aus dem Brunnen im kleinen Garten hinter dem Haus holte sie frisches Wasser, stellte ein Feuerbecken
auf den Bohlengang, verteilte darin Holzstücke zur Abwehr der Stechmücken, fachte mit einem Fächer die Glut an und servierte ihm bald darauf gekochte Forelle und Sake. 
Diese Gastfreundschaft genoss Kobungo einerseits, andrerseits aber brachte den gerade knapp über Zwanzigjährigen die Koketterie dieser reiferen Frau, die aus Kragen und Säumen ihres dünnen Sommerkimonos dermaßen überzuströmen schien, dass er kaum den Blick von ihr wenden konnte, in arge Verlegenheit. Und dass immerfort die schwarze Katze um sie herumstrich, kam ihm sogar ein wenig unheimlich vor. Als er sich nach ihrem Namen erkundigte, antwortete sie betörend lächelnd: "Ich heiße Funamushi."
Es wurde spät, aber Namaishirô kam noch immer nicht nach Hause. Schon war es Mitternacht. Kobungo wollte möglichst bald schlafen gehen, aber sich in einem Haus, dessen Herr abwesend war, von dessen Ehegattin das Lager bereiten zu lassen, erschien ihm unpassend. Er zauderte, aber Funamushi meinte:
"Wenn Ihr Euch deswegen grämt - Namishirô wird sich im Haus des Dorfvorstehers mit Sake betrinken. Wenn es Sake gibt, vergisst er alles andere, und wenn Ihr auf seine Rückkehr warten wolltet, würde es darüber womöglich Morgen werden."
In einer Kammer bereitete sie ihm das Bettzeug und stellte ein Mosquitonetz auf.
 

In Ostasien kennt man etliche Kräuter und Holzsorten, deren Rauch Stechmücken vertreiben. Selbstverständlich existierten auch an der Decke aufgehängte Mosquitonetze für die Nachtruhe, aber  solange man noch nicht zu Bett ging, war (und ist auch heute oft noch) solches Räucherwerk die erste Wahl.


Schon von außen sah die Hütte baufällig aus, und auch in diesem Raum klafften unten an der Wand Lücken, vor die von außen hölzerne Läden geschoben waren.
Wenn Kobungo einschlief, dann pflegte er sofort in den Tiefschlaf zu sinken, aber in dieser Nacht -nein, die Umstände dieses sonderbaren Obdachs bedrückten ihn nicht- musste er an seine von ihm getrennten Gefährten denken, und daran, was er nun als nächstes tun sollte; so lag er noch eine geraume Weile wach, aber schließlich übermannte ihn doch der Schlaf.
Wie lange mochte er geschlafen haben? Plötzlich war er wach und sah durch das Mosquitonetz, dass sich die Holzläden vor den erwähnten Lücken öffneten. Einbrecher?
Kobungo ließ das Bettzeug so liegen, als ob jemand darin schliefe, schlich sich aber unter dem Mosquitonetz hinaus. Bald sah er ein Schwert funkeln, und ein dunkler Schatten kam durch die Lücke herein, schnitt das Netz an zwei Stellen los, sprang zugleich mit dem Netz auf das Bettzeug und stach mit den Schwert kräftig hinein. Im selben Augenblick sprang Kobungo, der an der Wand gelauert hatte, auf und hieb den Eindringling in Stücke.
"Verehrte Hausherrin, Gnädigste!", rief er laut. "Hier ist ein Räuber! Bringt Licht her!"
Eilig kam die Gattin des Hauses in hastig übergeworfener Gewandung mit
einer Handlaterne gelaufen.
Während er erzählte, was geschehen war, erblickte Kobungo das Gesicht des auf dem Bettzeug in einer Blutlache liegenden Mannes und war verblüfft. Das war kein andrer als jener Mann, dem er vorher geholfen hatte, der Herr dieses Hauses, der Jäger mit Namen Kamomejiri Namishirô!
"Weh, da habe ich etwas nicht Wiedergutzumachendes getan!"
Die Ehefrau, die regungslos auf den Toten niedergeblickt hatte, heulte auf einmal auf und schrie:
"Das war die Strafe des Himmels!" 
"Wie? Die Strafe des Himmels?" 
Die Frau sprach schluchzend:
"Dieser Mann ist ein Bandit, der mich aus Habgier auf
mein urbares Land und Besitztümer, die ich von meinen Eltern geerbt hatte, zur Heirat gezwungen und sich hier eingenistet hat. Er pflügte die Felder nicht, sondern schlug seine Tage mit Sake und Glücksspiel tot, und bisweilen, glaube ich, betätigte er sich auch als Räuber. Jedenfalls war er ein gewalttätiger Mensch, und ich konnte nichts tun. Die lange Zeit mit ihm kam mir vor wie die reinste Hölle...!"
Richtig, von Anfang an hatte Kobungo gespürt, dass die beiden nicht zueinander passten. Aber dass die Frau namens Funamushi sich nun an seine Brust schmiegte und ihm schöne Augen machte, verwirrte ihn. Ihr lüsterner Hauch streifte seine Lippen.


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Funamushi



"Aber dass er ausgerechnet Euch, der ihm das Leben gerettet hat, heute Nacht überfallen wollte...! Ich wusste auch nicht, wann er nach Hause gekommen ist..."
Kobungo meinte, vorhin, als er den Mann hochgezogen hatte, um ihm die Medizin einzuflößen, da mag er wohl den Geldbeutel gesehen haben und dadurch auf schlimme Gedanken gekommen sein.
"Wie dem auch sei, so können wir das nicht lassen", sagte Kobungo, die Frau von sich fortschiebend. "Erstattet bei dem Dorfschulzen oder Vorsteher Meldung. Ich werde erläutern, was passiert ist."
"Nein, nein!" Die Frau schüttelte energisch den Kopf. "Wenn ich das täte, würde das ganze Dorf erfahren, dass Namishirô ein Räuber war. Alles, was meinen Mann betrifft, fällt als Schande auf mich zurück. Bitte lasst alles so und geht Eurer Wege."
"Ich kann doch nicht....."
"Geht und sprecht zu keinem Menschen darüber, ich ersuche Euch untertänigst darum!", bat die Frau namens Funamushi mit Nachdruck.
Schließlich fügte sich Kobungo den innigen Wünschen dieser Frau und bereitete eilig seine Abreise vor. Aber Funamushi sorgte sich offenbar noch weiter darum, dass die Sache ruchbar werden könnte, holte ein seltsames Ding unter dem Hausaltar im Nachbarraum hervor und drängte es Kobungo auf. Es war eine Art langer Stock, der in einem alten Beutel aus Goldbrokat steckte, der überhaupt nicht zu dieser Hütte passte.
"Das ist eine Bambusflöte, die ich von meinem Vater ererbt habe. Sie soll sehr alt und wertvoll sein. Weil ich so etwas besaß, hatte Namishirô sich an mich gehängt. Er wollte sie unbedingt verkaufen, aber ich habe sie mit aller Kraft gehütet. Ich verehre sie Euch als Entschädigung für das, was er Euch angetan hat, und zugleich mit der Bitte, dies alles zu verschweigen."
"Nein, ich plaudere nichts aus, da könnt Ihr beruhigt sein. Eine Gabe dafür brauche ich nicht", wehrte Kobungo verwirrt ab. Was es auch sei, aus der Hütte eines Räubers wollte er nichts annehmen.
"Nein, wenn Ihr es nicht annähmet, würde ich mich allzu sehr sorgen.... Falls es Euch unangenehm sein sollte, dann gebt es mir bei Eurer Rückreise wieder, wenn sich das Aufsehen gelegt haben wird."
Kobungo fügte sich widerwillig und nahm den Beutel mit der Bambusflöte entgegen.
"Was macht Ihr mit dem Leichnam?"
"Ich werde ihn in dem Acker dahinten vergraben. Er war ein Herumstreuner, und wenn er ausbleibt, wird sich im Dorf niemand darüber Gedanken machen. Oh, es wird schon Morgen! Ich werde Euch aus dem restlichen Reis noch Reiseproviant zubereiten."
Bald darauf verließ Kobungo eilig sein Obdach. Hinter ihm riss die Katze ihr rotes Maul auf und fauchte ihm laut hinterher.
Die Flöte in dem Beutel hatte eine Länge von knapp 60 cm, weshalb er sie zwangsläufig in der Hand tragen musste. Während der Morgenhimmel des kommenden Tags allmählich heller wurde, lenkte Kobungo seine Schritte in die Richtung des Flusses Sumidagawa.


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Als Inuta Kobungo die Flussaue erreichte, hörte er hinter sich das Geräusch nahender Schritte vieler Leute, die ihn umringten, während er nach einer Fähre Ausschau hielt. Es waren offenkundig Gendarmen und Amtsbüttel.
"Wartet!", rief deren Anführer.
"Du bist der Räuber, der den Herrn eines Hauses im Dorfe Senzoku umgebracht hat und auf der Flucht ist. Auf eine Eilnachricht hin sind wir dir nachgefolgt. Ich bin der Exekutivoffizier des Stellvertreters des Landesherrn Chiba und heiße Hatagami Gorô. Rühr dich nicht vom Fleck!" 
"Ich? Ein Räuber?", brachte der verblüffte Kobungo heraus. "Wie kommt Ihr darauf?"
Er wollte noch weitersprechen, als er hinter der Gruppe von Häschern die Gestalt der Frau von vorhin erblickte. Als sich ihre Blicke trafen, kam die Frau herbei und wies mit dem Finger auf ihn.
"Der Beweis dafür ist die Bambusflöte, die du in der Hand hältst, der größte Schatz meines Hauses. Um sie zu rauben, hast du meinen Ehegatten umgebracht und bist entflohen!"
Das bildschöne Gesicht der Funamushi verzerrte sich zur Fratze einer lüsternen Intrigantin. Kobungo starrte sie fest an und brach in lautes Gelächter aus.
"Das war mir gleich seltsam vorgekommen", gab er zurück und löste mit einem Ruck die Schnur des Beutels in seiner Hand. "Das soll dein größter Schatz sein? Schau her!"
Aus dem Beutel kam ein gewöhnlicher Scheit Brennholz zum Vorschein.
"Das ist ein Stück von deinem Räucherholz für die Stechmücken. Die Bambusflöte, die du mir aufgedrängt hast, habe ich in deinem Haus gelassen, in das blutige Bettzeug eingewickelt."
Dass er dermaßen hereingelegt würde, hatte Kobungo zwar nicht vorhergesehen, aber eine Bambusflöte als Gabe entgegenzunehmen, war ihm doch allzu unangenehm gewesen, und während Funamushi den Reis als Reiseproviant zubereitete, hatte er dort die Flöte zurückgelassen und stattdessen ein Holzscheit in den Beutel gesteckt.
"Was hat das zu bedeuten, Funamushi?", fragte der Amtmann Hatagami, sich so betreten
zu ihr umwendend, als sei er von einem Fuchskobold gefoppt worden.
Funamushi sprang auf Kobungo los, einen Dolch in der Hand schwingend.
"Du Mörder meines Gatten!"


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"Du Mörder meines Gatten!"



Mit Leichtigkeit packte Kobungo ihr Handgelenk, warf sie zu Boden nieder und stellte seinen Fuß auf ihren Körper.
"Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich eine menschliche Giftschlange erblicke."
Obwohl er sie nur leicht niederdrückte, schrie die schöne Funamushi vor Schmerzen so hysterisch, dass ihr schier die Augen aus den Höhlen quollen.
"Ich weiß nicht, was du gegen mich hast."
Hatagami Gorô war verlegen.
"Fesselt erst mal diese Frau!"
Nachdem Funamushi gefesselt war, sagte er zu Kobungo:
"Die Angelegenheit muss noch weiter geklärt werden. Ich bitte auch Euch, zum Amt des
Stellvertreters des Landesherrn mitzukommen."
Schließlich ging es nicht allein um Diebstahl, sondern es war auch ein Mensch ums Leben gekommen, weshalb Kobungo einwilligte.
Als er beim Verhör seinen Namen nennen sollte, kam Kobungo in Verlegenheit; sein Name Inuta Kobungo würde ihn möglicherweise in Gefahr bringen. Deshalb gab er den Namen Yamabayashi Nuinosuke als seinen eigenen aus. Es war eine Kombination aus den Namen seiner ums Leben gekommenen Freunde Yamabayashi Fusahachi und Onui. Alles andere schilderte er so, wie es sich zugetragen hatte; wegen der Untersuchung wurde Kobungo den ganzen Tag im Amt festgehalten. Derweil ging es ringsumher zunehmend aufgeregter zu. Als er sich am Abend nach der Ursache erkundigte, berichtete einer der Amtsleute mit erregter Miene:
"Die Bambusflöte, die in dem Haus dieser Frau gefunden wurde, ist ein wertvolles Instrument, das vor knapp zwanzig Jahren aus dem Haus des Landesherrn Chiba gestohlen wurde. Man hat festgestellt, dass es sich um die Bambusflöte Arashiyama 
(Sturmberg) handelt."
Als Kobungo weiter nachfragte, erfuhr er, dass diese Bambusflöte mit Birkenrinde umwickelt und mit schwarzem Lack überzogen sei, auf den der Gedichttext 'Einsames Bergdorf im Herbst / einzig vom Heulen des Sturmes / heimgesucht, welcher stets / einzig auf dieser einen / Seite den Berghang herabfegt' gepinselt und illustriert war. Weil dies keine gewöhnliche Bambusflöte ist, habe man sie dem Vogt der nahen Burg Ishihama vorgelegt und diese Auskunft erhalten.


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Bambusflöte mit Brokatbeutel



Kobungo war zwar überrascht, glaubte aber, dass dies alles mit ihm nichts zu tun habe. Am andern Morgen nahm die Sache jedoch eine unerwartete Wende.
Die Frau Funamushi war zwar im Haus des Dorfvorstehers unter Arrest gestellt worden, aber in der Nacht kam ein Bote des Hatagami Gorô vom Amt des Stellvertreters mit sieben oder acht Amtsbütteln, die sie zu einem dringenden Verhör abführten. Es habe sich nämlich herausgestellt, dass die Bambusflöte eine komplette Fälschung war. Hinter dieser Frau musste, was die Anzahl der für Planung und Anfertigung einer solchen Fälschung erforderlichen Leute betrifft, eine ganze Bande von Dunkelmännern stecken.
"Ob Ihr damit in Verbindung steht, ist uns nicht bekannt, aber bei diesem Stand der Dinge können wir Euch nicht so einfach laufen lassen", teilte man Kobungo mit.
So wurde Kobungo, von einer furchterregenden Anzahl von Samurai bewacht, in ein Anwesen am Fluss Sumidagawa gebracht. Es hieß, es sei das Anwesen des Vogts Makuwari Daiki des Landesherrn Chiba. Kobungos Aufenthaltsraum war ein aus Holz gezimmertes Nebengebäude, das sogar über Bad und Toilette verfügte. Im Garten waren künstliche Hügel angelegt. Aber an jedem der Tore der Mauer, die dieses Anwesen umgab, standen mehrere Bewaffnete. Und seine Schwerter hatte man Kobungo selbstverständlich abgenommen.  

Männer vom Samuraistand, zu denen alle Hundekrieger zählen, trugen üblicherweise im Gürtel ein Langschwert zum Kampf und ein Kurzschwert als Dolch, Kampfschwert-Ersatz oder zum Seppuku. Wenn vom "Schwert" (im Singular) die Rede ist, meint man damit üblicherweise das lange Kampfschwert. Dass man Kobungo "seine Schwerter" (im Plural) abnahm, bedeutet, dass er komplett entwaffnet wurde.


Nach sieben Tagen erschien der Vogt Makuwari Daiki. Er war ein etwas über 50 Jahre alter Mann mit ungemein durchtrieben wirkenden Gesichtszügen. Als Gefolge begleiteten ihn mehr als ein halbes Dutzend kräftige Männer mit akkurat gestutzten Bärten.
"Ihr seid Yamabayashi Nuinosuke?"
"So ist es."
Kobungo verneigte sich höflich und äußerte, dass er nicht einsehe, warum er hier immerfort als Räuber eingesperrt bleibe, obwohl die wirklich Schuldige doch bekannt sei. Es habe doch längst nichts mehr mit ihm zu tun, weshalb er um seine baldigste Freilassung ersuche.
"Nun ja", gab Makuwari Daiki mit ernster Miene zurück. "Wir haben Nachforschungen zu Eurem wirklichen Namen angestellt. Es dürfte sich bei Euch um Kobungo vom Gasthaus Konaya handeln, gebürtig aus Gyôtoku. Wir haben auch herausgefunden, dass Ihr
in der Nachbardomäne an dem Überfall auf den Richtplatz des Hauses Ôishi am Fluss Todagawa beteiligt wart."
Kobungo erschrak, antworte aber sogleich wieder gefasst:
"Sind das nicht Dinge, die sich auf fremden Ländereien zugetragen haben?"
"Fremde Ländereien ja, aber das Haus Ôishi untersteht ebenso wie das Haus Chiba dem Shogunatsfürsten Ôgiyatsu. Wir sind verpflichtet, Euch wegen des Überfalls auf den Richtplatz an Herrn Ôishi auszuliefern. So lautete die Entscheidung meines Herrn Yoritane."
Nach einem Augenblick des Schweigens erwiderte Kobungo.
"Wenn Ihr dieser Ansicht seid, so tut, wie es Euch beliebt."
"Langsam, langsam. Dies war der Beschluss meines Herrn. Wenn ich derselben Ansicht wäre, würde ich ihn unverzüglich ausführen."
Daiki grinste listig.
"Schon vorher, als Ihr noch in Gyôtoku lebtet, hatte ich von Eurer Kampfkraft gehört, und je mehr ich davon hörte, desto mehr habe ich darüber gestaunt. Es wäre schade darum, Euch dem Nachbarn auszuliefern und Euer Schwert verrosten zu lassen."
Er rückte etwas näher und senkte die Stimme.
"Wollt Ihr nicht in die Dienste des Hauses Chiba eintreten? Falls Ihr dazu geneigt sein solltet, werde ich meinem Herrn Bescheid geben."
Kobungo schüttelte den Kopf.
"Danke für das Entgegenkommen, aber
dazu bin ich nicht geneigt."
"Wie?"
"Ich habe andere Aufgaben zu erfüllen."
Das Gesicht des Daiki wurde zusehends verdrossener. Eine Weile starrte er Kobungo an, aber dann kehrte sein listiges Grinsen zurück.
"Na, lehnt das nur nicht so übereilt ab. Denkt an das Gedicht 'Auch wer sich nicht sputet, / wird nicht stets durchnässt. / Nach dem Regenschauer / klart auch für den Reisenden / der Himmel wieder auf.' Die befohlene Auslieferung an den benachbarten Landesherrn werde ich Euch zuliebe noch eine Weile aufschieben. Aber aus den genannten Gründen kann ich Euch derzeit nicht laufen lassen. Ihr bleibt hier, um es Euch noch einmal gründlich zu überlegen."


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Vogt Makuwari Daiki und Gefolgsleute - die runden Symbole auf Übergewände und Ärmeln sind Wappen


Mit diesen Worten erhob sich der Vogt von seinem Sitz. Seine Gefolgsleute warfen drohende Blicke auf Kobungo und folgten ihm nach.


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Danach blieb Kobungo in diesem Raum im Anbau des Anwesens eingesperrt. Der Sommer ging, der Herbst wechselte zum Winter, und endlich wurde es wieder Frühjahr. Ihm persönlich ging es nicht schlecht. Ein alter Diener kümmerte sich um ihn, die Verpflegung ließ keine Wünsche offen; nur die Bewachung an allen Toren war offenkundig noch strenger geworden. Nicht dass Kobungo sie gefürchtet hätte, aber als jemand, nach dem gefahndet wird, dürfte es schwierig werden, einer großen Anzahl von Feinden zu entkommen.
Während Kobungo bei vorzüglicher Behandlung eingesperrt sein Dasein fristete, sprach ihn eines Tages zu Sommeranfang der alte Diener Shinashichi leise an.
"Herr Kobungo, bis jetzt habe ich geschwiegen, aber ich wusste von Anfang an, dass Ihr Herr Inuta Kobungo
seid, der Sohn des Wirts der Herberge Konaya in Gyôtoku. Ihr werdet es vergessen haben, aber Ihr habt mir einmal sehr geholfen."
"Ha?"
"Ja, vor vier oder fünf Jahren, als ich mit einem Boot zwecks Einkäufen für das Haus Chiba nach Gyôtoku kam, hatte es der dortige Spitzbube Akashima Kajikurô auf mich abgesehen und mich in Schwierigkeiten gebracht; Ihr habt ihn daraufhin in den Fluss geworfen...."
Akashima Kajikurô war jener Räuber, der die Gegend zwischen Gyôtoku und Ichikawa unsicher gemacht hatte, und Kobungo hatte ihn wiederholt verprügelt; es war also gut möglich, dass auch dieser Fall dazu zählte.
"Der Herr Vogt
hat herausgefunden, dass Ihr Herr Kobungo vom Hause Konaya seid, aber ich habe es ihm nicht verraten. Es muss einer meiner damaligen Begleiter gewesen sein", wisperte Shinashichi. "Ich bin Euch zwar zu Dankbarkeit verpflichtet, aber mehr noch erregt Eure offensichtliche, noble Haltung mein Mitleid, seit Ihr hier eingesperrt seid. Ich kann keine Ruhe finden, wenn ich Euch nicht etwas Wichtiges mitteile."
"Und zwar?"
"Dass Euch der Herr Vogt sofort hier unter Arrest setzte, ist, weil er befürchtete, dass Ihr das Geheimnis der Bambusflöte Arashiyama von Funamushi erfahren haben könntet. Damit hat es das Folgende auf sich...."


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Der alte Diener Shinashichi


Shinashichi erzählte, dass sich das Haus Chiba vor gut siebzehn Jahren in zwei Linien gespalten hatte. Der ältere Bruder bekam Burg Ishihama, und der jüngere wurde Herr der Burg Akazuka. Der ältere aber war kinderlos und kränklich und legte in seinem Testament fest, dass er Burg Ishihama nach seinem Tod seinem Bruder Yoritane überlassen werde. Als
der Burgvogt Makuwari Daiki das erfuhr, wurde er sehr zornig. Es kam ihm vor, als würde ihm seine Burg entführt. Am meisten fürchtete er Aihara Tanenori, den ersten Vogt von Burg Akazuka. Dieser war von äußerst unbeugsamem Charakter, und es stand nicht zu erwarten, dass Daiki mit ihm gütlich zurecht käme. Daraufhin heckte er mit höchster Arglist eine schreckliche Intrige aus, um Aihara zu Fall zu bringen. Und weil er wusste, dass dem zweiten Vogt von Burg Akazuka, Komiyama Ittôta, jener Aihara ein Dorn im Auge war, machte er ihn zum heimlichen Komplizen seiner Ränke. Er entnahm die Bambusflöte Arashiyama dem Schatz des Hauses Chiba und brachte sie zu Aihara Tanenori.
"Wisst Ihr Bescheid über die Gerüchte, dass der Herr Shogunatsfürst und der Statthalter des Shogunats, die lange Zeit in Fehde lagen, sich in nächster Zeit aussöhnen wollen? Unser Haus Chiba steht auf Seiten des Shogunatsfürsten, aber falls die Aussöhnung zustande kommt, wird unser Haus dem Herrn Statthalter fortan äußerst ungelegen sein. Der Burgherr von Ishihama äußerte daher, es sei angebracht, sich zuvor die Gunst des Herrn Statthalters zu sichern."
"Ja, gewiss."
"Und zwar wolle er
dem Herrn Statthalter die hochberühmte Bambusflöte Arashiyama aus dem geheimen Schatz von Burg Ishihama verehren. Wenn nun jedoch diese Gabe an den Herrn Statthalter durch den Burgherrn von Ishihama überbracht würde, käme das zu diesem Zeitpunkt beim Shogunatsfürsten nicht gut an. Deshalb fragte der Herr an, ob die Übergabe nicht durch den jüngeren Bruder Yoritane von Burg Akazuka erfolgen könne."
"Ja gewiss, das sehe ich ein."
Es ging um den Shogunatsfürsten in Kamakura und den Statthalter des Shogunats in Koga. Wer unter den Adelshäusern der Kantô-Region zu einem dieser beiden Kontrahenten gehörte, befand sich in ständiger Sorge wegen der Beziehungen zwischen beiden Seiten. Deswegen hatte Aihara Tanenori sehr viel Verständnis für das, was ihm Makuwari Daiki erzählte, und erklärte sich einverstanden.

In der historischen Realität hatte der hier als "jüngerer Bruder" bezeichnete Landesherr Chiba Yoritane keinen kränklichen älteren Bruder, sondern nur eine Schwester. Deshalb wird dieser Bruder hier auch nicht mit Namen genannt, sondern stets als "Burgherr von Ishihama" bezeichnet. Die hier dargestellten Tatsachen sind für den Verlauf der Erzählung notwendige Fiktion des Autors Takizawa Bakin.
Der Statthalter des Shogunats war Fürst Ashikaga Shigeuji von Burg Koga (s.Kapitel 3), während der rivalisierende Shogunatsfürst Ôgiyatsu in Kamakura residierte. Diesem Fürstenhaus diente auch der militärische Oberbefehlshaber der Region, Fürst Ôishi Norikata, dessen Richtplatz die Hundekrieger zertrümmert hatten.


Aihara besprach es mit seinem Herrn Yoritane. Yoritane war ganz derselben Ansicht und äußerte sogar, er wolle der Bambusflöte Arashiyama seinerseits noch die berühmten Schwerter Ozasa
(Sassagras) und Rakuyô (fallendes Laub) aus dem Burgschatz von Akazuka hinzufügen. Insgeheim zog er in Koga Erkundigungen ein und erfuhr, dass der Statthalter die Gaben mit Freude annehmen würde.
Aihara Tanenori packte also diese drei Wertgegenstände in eine Truhe aus Paulowniaholz und verließ einige Tage später mit einem Dutzend Gefolgsleuten Burg Akazuka.
Danach suchte Makuwari Daiki die Burg Akazuka auf. Ihr Herr Yoritane bat Daiki, seinem Herrn Bruder auszurichten, dass Aihara dessen Wunsch entsprechend am Morgen aufgebrochen sei, um die Bambusflöte Arashiyama dem Burgherrn von Koga zu überbringen. Daiki spielte ihm daraufhin eine entsetzte Miene vor.
"Von einem solchen Wunsch ist mir nichts bekannt. Herr Aihara hatte
vor wenigen Tagen gesagt, er wolle diese Bambusflöte ausleihen, um sie Euch, dem Herrn dieser Burg, zu zeigen, woraufhin ich sie ihm geborgt habe. Was Ihr als Herr Bruder meines Herrn im Sinn habt, ist mir nicht bekannt, aber einen hochwertvollen Schatz von Burg Ishihama einem fremden Fürstenhaus zu verehren, das kommt auf gar keinen Fall in Frage, zumal ich für das Verleihen dieser Flöte zur Rechenschaft gezogen würde!"
Yoritane war bestürzt.


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Yoritane und Daiki im Zwiegespräch: entsetzte Mienen


"Das kann doch nicht wahr sein, dass Herr Aihara....."
Mit vielsagender Miene sprach Daiki:
"Nun wird mir einiges klar, was mir vorher aufgefallen ist. Ich habe von meinen Spionen Kunde erhalten, dass dieser Herr in jüngster Zeit heimlich Kontakte zu Burg Koga pflege. Und bei jenem Zwiegespräch vor einigen Tagen hatte ich ihm indirekt von solchen Aktivitäten abgeraten. Offenbar hatte ich ins Schwarze getroffen, und er fasste daraufhin gewiss den Entschluss, mit dem berühmten Instrument als Gabe nach Koga überzulaufen."
Yoritane war verunsichert; er rief seinen zweiten Burgvogt
Komiyama Ittôta zu sich und befahl ihm, Aihara auf der Stelle zu verfolgen und zu klären, ob der obige Sachverhalt wahr sei. Falls Aiharas Verrat offenkundig würde und er Widerstand leisten sollte, bliebe nichts übrig, als ihn zu erschlagen.
Mit mehr als fünfzig Rittern nahm
Komiyama Ittôta die Verfolgung auf. Er war noch recht jung und leichtsinnig, um die dreißig, aber an Kampfkraft der stärkste Vasall des Hauses Chiba. Gegen Abend erreichte er Aiharas Zug, der in der Zwischenzeit schon acht oder neun Meilen zurückgelegt hatte, in einem Kiefernwald bei Sugito. 
"In der Burg hat es einen Vorfall gegeben. Ihr mögt bitte auf der Stelle umkehren!", rief 
Ittôta, während er sich näherte. Den Aihara Tanenori, der ihn mit ernster Miene erwartete, schlug er mit den Worten "im Auftrag meines Herrn!" mit einem Streich von der Schulter bis zur Brust zu Tode. Zu allem Überfluss brachte er mit seinen Leuten auch die Ritter in Aiharas Gefolge, die nicht wussten, wie ihnen geschah, allesamt um.
Bis hierhin war alles bestens nach dem Plan verlaufen, den
Komiyama Ittôta zusammen mit Makuwari ausgeheckt hatte. Es blieb ihm nur noch, seinem Herrn zu melden, dass Aihara sich als Verräter erwiesen und Widerstand geleistet habe, woraufhin er ihn wie geheißen erschlagen habe. Nun ergab sich jedoch das Problem, dass die Kiste, welche die drei Schätze Bambusflöte und zwei Schwerter enthalten sollte, nicht auffindbar war, als er nach dem Ende des Gemetzels danach Ausschau hielt. Wo konnte sie sein? Alle Leute des Aihara hatten sie totgeschlagen; auf seiner eigenen Seite war niemand fahnenflüchtig. Kein Mensch hatte eine Ahnung, wo die Schätze geblieben waren. Einer der Ritter sagte, während der Auseinandersetzung hätten sich in dem Kiefernwald ein Mann und eine Frau mit verhüllten Gesichtern ins Unterholz geduckt. Und jetzt? Die Aufregung war groß, aber nun war es zu spät.
Komiyama 
Ittôta trieb seine Untergebenen wie von Sinnen zur Suche an, aber letztendlich fanden sie nichts, und wegen dieser Schande für seine Ehre verschwand er selbst ebenfalls spurlos. Gewiss hatte er auch deshalb so hastig die Flucht ergriffen, weil er sich selbst in der Falle, die er Aihara gestellt hatte, verfangen hatte und wusste, was ihn erwartete, falls er dermaßen blamiert zur Burg zurückkehrte.
Kurz danach verstarb der Burgherr von Ishihama, und sein Bruder Yoritane übernahm seine Burg. Die beiden Linien des Hauses Chiba waren wieder vereint, aber von den drei Burgvögten der beiden Linien war nur einer übrig geblieben: Makuwari Daiki. Er hatte auch Aiharas Angehörige allesamt umbringen lassen, und alle Ritter, die Komiyama unterstanden, wurden strafversetzt oder degradiert.
Chiba Yoritane war zwar nun auch Herr über Burg Shirahama, hatte jedoch viel von seiner früheren Macht, als er nur Burgherr von Akazuka war, eingebüßt. Überdies glaubte er, dass der Verlust der berühmten Bambusflöte Arashiyama seine eigene Schuld sei, weshalb er sich vor seinem Vogt Makuwari Daiki schämte. Folglich war der eigentliche Machthaber im Herrschaftsbereich des Hauses Chiba nunmehr Makuwari Daiki.

Kobungo, der sich diese Erzählung angehört hatte, seufzte abgrundtief. "So ein Mensch ist also dieser Herr Makuwari Daiki!"
"Unter Betrachtung der gegenwärtigen Umstände waren diejenigen, die die Bambusflöte und Schwerter gestohlen haben und damit verschwunden sind, wohl das Ehepaar Kamomejiri Namishirô und Funamushi. Auch das dürften sie auf Anweisung des Herrn Makuwari getan haben. Aber die beiden sind echte Gauner; ich nehme an, dass sie sich über die Entlohnung nicht einig geworden sind oder Herrn Makuwari betrogen und sich davongemacht haben. Weil sie nun plötzlich aufgeflogen sind, geriet Herr Makuwari in Panik; die falschen Amtsleute, die Funamushi, die zunächst in der Amtsstube des Dorfvorstehers festgesetzt worden war, herausholten und zum Verhör mitnahmen, sind meiner Meinung nach von Herrn Makuwari entsandt worden. Dass Ihr hier unter Arrest steht, geschah anfangs wegen des Verdachts, dass Ihr um das Geheimnis der Flöte Arashiyama Bescheid wissen könntet, aber dass man Euch auch nach Klärung der Sachlage weiter hier festhält, liegt, wie ich glaube, daran, dass Herr Makuwari Euch vermutlich als besonders kampfstarken Recken ansieht und für seine Ritterschaft gewinnen möchte." 
"So ein Dummbold!" Kobungos mächtige Schulter zuckte. "Aber es stimmt. Kurz nachdem ich hier herkam, erschien Makuwari und wollte mich für den Eintritt in die Dienste dieses Hauses anwerben, aber ich habe abgelehnt."
"Wenn er 'in die Dienste dieses Hauses' sagte, meinte er wohl vielmehr 'in seinen eigenen Dienst'."
"Aber mal was andres, Shinashichi. Über welche Quellen weißt du eigentlich über diese Geschichten Bescheid, und warum hast du mir das alles erzählt?"
"Ich war einstmals der Rossführer eines engen Vertrauten des Herrn Komiyama. Als dieser zur Burg Shirahama kam, wurde er wegen des dummen Fehlers seines Herrn zum Seppuku gezwungen, und ich wurde zum Kerkeraufseher degradiert. Und seit Ihr hier seid, bin ich beauftragt, für Euch zu sorgen." Shinashichis faltiges Gesicht wurde etwas rot. "Ich bin von einer so niedrigen Stellung, dass Herr Makuwari mich gar nicht zur Kenntnis nimmt. Aber ich war stets gut informiert über alles, was meinen Herrn angeht. Mein Herr hat sich im Glauben, es geschehe zugunsten seines Herrn, an dem Überfall auf Herrn Aihara beteiligt, und ich war, ehrlich gestanden, als Rossführer gleichfalls mit dabei. Dass dies alles offenbar auf einer Intrige des Herrn Makuwari beruhte, verstand ich erst viel später im Gespräch mit Gefährten, die ebenso wie ich schon jahrelang ihre Stellung verloren hatten."
"Ich verstehe."
"Jedenfalls ist das alles schon gut siebzehn Jahre her. Seither habe ich mich damit abgefunden, dass es mein Los ist, ein solch armseliges Dasein zu führen, und als Kerkeraufseher dahingelebt, aber nun bin ich dafür zuständig, mich um Euch zu kümmern. Ich dachte immer, jemand wie Ihr darf sich keinesfalls mit Herrn Makuwari gemein machen, und weil ich fürchte, dass Herr Makuwari jetzt gerade wieder etwas Schlimmes im Schilde führt, brachte mich diese Sorge dazu, all meinen Mut zusammenzunehmen und Euch diese Geschichte zu erzählen."
"Herr Makuwari? Wieder etwas Schlimmes?"
"Das kann ich nicht sagen. Es ist so fürchterlich, dass ich es nicht über die Lippen bringe", winkte Shinashichi mit der Hand ab.
"Und Komiyama? Ist er noch immer untergetaucht?"
"Ja, bis heute."
"Komiyama ganz auf sich allein gestellt... Und Aihara Tanenori tut mir leid, mitsamt allen Angehörigen umgebracht..."
"Ja, bis auf eine Person; eine Nebenfrau soll
mit ihrem Kind in ihr Heimatland Sagami entkommen sein, habe ich gehört."
Während Kobungo sich die Erzählung über solche beispiellose Schlechtigkeit und bodenlose Unbarmherzigkeit anhörte, ertönte aus der Ferne, vom Wind herbeigetragen, der Klang von Flötenspiel, Trommeln und Frauengesang. Es handelte sich gewiss um die reisende Schaustellergruppe aus Frauen, die Herr Makuwari Daiki vor einigen Tagen herbeigrufen hatte und in diesem Anwesen wohnen ließ.
"Shinashichi, wie steht's? Könntest du mir ein Schwert besorgen?", fragte Kobungo.
"Wollt Ihr fliehen?"
"Ja. Nach deiner Erzählung habe ich keine Lust, noch einen Augenblick länger hier zu bleiben, zumal ich nun weiß, dass Makuwari mich nicht ohne Weiteres entlassen wird."
"So ist es. Obwohl dies der Wohnsitz des Herrn Burgvogts ist, umgeben mehrere Reihen von Mauern und 
sogar ein Graben das Anwesen; vor allem dieser Anbau wird strengstens überwacht."
"Das weiß ich; umso wichtiger ist es, ein Schwert zu bekommen. Ohne das hätte ich keine Chance."
"In diesem Anbau gibt es kein Versteck für ein Schwert. Wenn es entdeckt würde, wäre ich meinen Kopf los", wehrte Shinashichi ab. "Ich habe Euch diese Geschichten
nicht erzählt, damit Ihr irgendetwas für mich tut. Ich wollte nur, dass Ihr erkennt, was für ein Mensch dieser Herr Makuwari Daiki ist....", sagte Shinashichi, bemerkte aber wohl doch den Widerspruch, gleichsam erst Feuer zu legen und dann Wasser zum Löschen daraufzugießen.
"Nun ja, sei es drum. Ich verstehe, dass es nicht gut ist, wenn Ihr hier auf ewig eingesperrt bleibt. Ich werde Acht geben, und wenn ich eine Möglichkeit für Euch sehe, zu entkommen, bringe ich Euch ein Schwert", nickte er. Dann erhob er sich hastig, als ob er soeben seinen klaren Verstand wiedergewonnen hätte.
Ihm nachblickend dachte Kobungo bei sich:
'Weil der Himmel keine Stimme besitzt, lässt er Menschen für sich sprechen...'
Danach aber zeigte sich Shinashichi nicht mehr. An seiner Stelle brachte ab dem nächsten Tag ein Mann mit einem Gesicht wie eine Noh-Maske Kobungo das Essen und sorgte für ihn. Als Kobungo sich erkundigte, was mit dem alten Shinashichi sei, erhielt er zur Antwort: "Er ist krank, hat vielleicht etwas Verdorbenes gegessen."


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Noh-Masken aus der Zeit des Autors sind starre, hölzerne Ganzgesichtsmasken


Nach sieben Tagen kamen gegen Abend wieder andere Leute, drei Samurai von offensichtlich hohem Rang.
"Herr Inuta, kommt bitte mit uns", lächelten sie.
"Wohin?"
"In einer Ecke dieses Anwesens am Fluss Sumidagawa befindet sich ein Gebäude mit Namen Taigyûrô. Dorthin begeben wir uns."
"Und weshalb?"
"Heute hält der Herr Burgvogt ein Bankett ab, zu dem er eine Frauentanzgruppe kommen ließ. Er wünscht, dass auch Herr Inuta sich daran ergötze, und möchte während der Sakefeier mit Euch sprechen."
Er will wohl noch einmal fragen und hören, was ich ihm sage, dachte sich Kobungo. Auf dem Weg wichen die drei Samurai rechts und links und hinter ihm keinen Zoll von ihm ab.
"Geht es dem kranken alten Shinashichi jetzt besser?", fragte Kobungo wie nebenbei, während sie durch den Garten des Anwesens schritten.
"Shinashichi? Ach, der ist vor drei Tagen gestorben", antwortete der Samurai zu Kobungos Rechten. Derjenige zu seiner Linken streifte ein Blatt ab, das auf seine Schulter gefallen war, und ergänzte:
"Es ergab sich eine Gelegenheit, ein entdecktes, störendes welkes Blatt abzustreifen", lachte er süffisant.
Kobungo war entsetzt. Shinashichi war also umgehend denunziert und beseitigt worden. 


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Die Halle
Taigyûrô war durch einen langen, überdachten Holzbohlengang mit dem Hauptgebäude des Anwesens verbunden und ein Bau von erlesener Schönheit. Es war Anfang Sommer, die papierbespannten Türen waren daher aufgeschoben und gaben den Blick frei auf den breiten, türkisblauen Fluss Sumidagawa und die dort fahrenden Schiffe. Darüberhinaus waren im Licht der dunstverschleierten Abendsonne die im Fluss wie ein Rind liegende Insel Ushijima (Rinderinsel) und die schmal wie ein Weidenzweig dahingestreckte Insel Yanagishima (Weideninsel), und in der Ferne der von den Dörfern im Kasai-Distrikt aufsteigende Rauch sichtbar. "Taigyûrô" bedeutet "Halle, die der Rinderinsel gegenüber liegt".
In der Banketthalle saßen die Ritter aufgereiht vor ihren Speisetischlein, und an der Stirnseite hielt Makuwari Daiki, umgeben von sehr jungen Samurai um die zwanzig sowie etwa acht Damen, seine Sakeschale in der Hand. In weiteren, mehrfachen Halbkreisen umgaben ihn eine Anzahl von Gardisten, die alle aussahen, als wären sie früher Ringkämpfer gewesen, und sprachen dem Sake zu.


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Ritter beim Umtrunk, aus der Sicht des Ehrensitzes an der Stirnseite



"Ah, unser großer Recke geruht zu erscheinen", empfing Daiki lachend 
Kobungo und wies ihm ein Sitzkissen zu, das etwa einen Meter von ihm entfernt lag.
"Diese wunderbare Aussicht und den später folgenden Auftritt der Künstlerinnen wollte ich Euch unbedingt vorführen."
Mit einem Gesicht, als sei er von einem Fuchskobold verhext worden, ließ sich Kobungo dort nieder. Sofort wurden ihm durch die Hand weiblicher Bediensteter die erlesensten Köstlichkeiten aus Wald und Meer aufgetischt und eine große Schale mit Sake gefüllt.
"Vor dem Auftritt der Tanzkünstlerinnen vergiften wir Euch noch nicht. Ihr könnt unbesorgt trinken", lachte Daiki, und schon wurde eine Tür aufgeschoben und gut zwei Dutzend junge Frauen, angetan mit Gewändern ähnlich denen von Noh-Schauspielern, aber weitaus prächtiger, strömten in den Saal. In den Händen hielten sie kleine und große Trommeln, Flöten, Glöckchen, Ratschen und dergleichen, und drei von ihnen trugen sogar Biwas (Lauten).
"Abgesehen von der schönen Aussicht hier, seht Euch erst mal den Dengaku-Tanz der Frauen an. Außer den Tänzen gibt es Puppenspiel, Gaukelkunst, Stelzenakrobatik, Seiltanz und vieles Andere, woran man sich nicht sattsehen kann. Sie fangen mit dem Tanz der Asakeno an."  
Daiki hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als schon eine Frau, offenbar die Leiterin des Ensembles, die Ankündigung sprach:
"Wir sind Frauen, aus Kamakura gekommen, in Sternenmondnächten... Den Regen, der auf die noch nicht ganz geöffneten Kirschblüten tröpfelt, stellt Asakeno durch das Tappen ihrer Füße, den Wind mit dem Fächer in ihrer Hand dar. Nicht alles mag vollkommen sein, aber wir bitten, unseren Tanz
mit Nachsicht zu genießen..."
Aus der Mitte der Truppe erhob sich sachte eine Frau. Sie trug ihr Haar besonders hoch aufgebunden und von der Seite her mit einer silbernen Haarnadel mit Pfirsichkopf geziert. Sie trug zu ihrem langärmeligen Frauenkimono mit Glitterbesatz einen breiten, hinten gebundenen Obi und hielt einen Fächer in der Hand. Sie mochte etwa siebzehn oder achtzehn Jahre alt sein.


obi

Junge Frauen tragen Furisode-Kimonos, deren Ärmel bis fast zum Boden reichen (Furisode = wehende Ärmel).
Der Obi (Kimonoschärpe aus Brokat) wird zu einer kunstvollen Schleife gebunden.

  
Dass hübsche junge Mädchen von Natur aus den Reiz ihrer Jugendfrische besitzen, ist nicht verwunderlich, aber wie konnte diese Frau darüberhinaus noch eine solch hinreißende Erotik ausstrahlen! Sie war derart, dass durch die Reihen der Gefolgsleute des Makuwari, die nun schon mehrere Tage hintereinander diese Tänzerinnen gesehen haben sollten, ein vielstimmiges Raunen ging, und sogar Kobungos Brust entfuhr ein Aufstöhnen. Mit einer Stimme, die wie ein Silberglöckchen klang, begann Asakeno mit Gesang und Tanz.

"Ich sehne mich so nach der Hauptstadt,
nun wird wohl das Wasser des Flusses,
des Kamogawa, wieder klar glänzen.
Ein Wagen rollt auf der Gojô-Straße,
wes Wagen mag es wohl sein,
mit Abendwicken geziert...?"

Es waren nicht nur Männer anwesend; junge Mägde und weibliche Bedienstete lugten, einander schiebend und drängelnd, wie gebannt durch die hier und da einen Spalt geöffneten Schiebetüren. Nur Makuwari Daiki wandte den Blick von dem Schauspiel ab und sprach Kobungo an:
"Nun, Herr Kobungo, habt Ihr es Euch in der Zwischenzeit überlegt?"
"Was?"
"Ich hatte Euch doch empfohlen, in die Dienste dieses Hauses zu treten."
"Eigentlich nicht." Kobungo schüttelte den Kopf.
Während dieses Gesprächs spielten die Instrumente auf, und Asakeno, die Tänzerin mit dem Fächer, tanzte weiter.
"Ich sage es Euch noch einmal. Wenn Ihr in die Dienste dieses Hauses tretet, erwäge ich, Euch den halben Distrikt Kasai als Lehen zu geben", fuhr Daiki fort. "Wenn ich von 'diesem Haus' spreche, meine ich nicht das Haus Chiba. Ich meine das Haus Makuwari. Ich will ganz offen zu Euch sein. Der jetzige Burgherr Yoritane ist ein unfähiger Dummkopf. Wenn er so weitermacht, wird er seine Ländereien an die Nachbarfürsten verlieren. Ich habe vor, in Zukunft diesen Jungen zu seinem Nachfolger zu machen."
Mit dem Kinn wies er auf einen jungen Samurai. Dem Augenschein nach ein arroganter junger Mann, der dem Daiki wie aus dem Gesicht geschnitten war. Dass es sich um Daikis einzigen Sohn Kurayago handelte, wusste Kobungo bereits.
"Dabei wird es sich nicht vermeiden lassen, dass ein wenig Blut fließt. Und dazu benötige ich Eure Kampfkraft."
Aus Daikis Augen funkelte schon seine Mordlust.
"Wenn Ihr mir diesen Wunsch erfüllt, sollt Ihr noch eine zusätzliche Belohnung erhalten. Und zwar jetzt, auf der Stelle. Diese Tanzgruppe wird morgen weiterziehen. Aber falls Ihr es wünscht, behalte ich die
Tänzerin Asakeno hier und verehre sie Euch."
"Herr Vater!", wandte Kurayago scharf ein. "Das geht doch etwas zu weit....!"
Er hatte offenkundig Einwände dagegen, die schöne Tänzerin Kobungo zu überlassen.
"Halt den Mund!", blaffte Daiki mit zornigem Blick zurück. "Nun, wie steht's? Habt Ihr keine Lust, bei mir mitzumachen?"
"So ein Blödsinn", entgegnete Kobungo angewidert. "Inuta Kobungo mag vielleicht ein treuer und aufrichtiger Hund sein, aber ein Aufrührer und Lump wird er niemals."
"Was soll das heißen?"
"Herr Makuwari, Ihr seid ein abgrundtief schlechter Mensch."
Daiki gab mit den Augen einen Wink, woraufhin drei oder vier Gefolgsleute ganz in der Nähe aufsprangen. Währenddessen glitt die Tänzerin Asakeno tanzend sachte näher. Hinter ihr traten mehr als zehn andere Tänzerinnen zum Gruppentanz an. Vermutlich war das die normale Abfolge der Vorstellung, aber Asakeno ließ ihren Fächer ruhen, überließ den Tanz den anderen Frauen und rückte an Kobungo heran. Nur eine leichte Berührung, schon saß er wie erstarrt. 
"Oh, mein Herr, solch ein Bild von einem Mann habe ich mein Lebtag noch nicht gesehen", schmeichelte Asakeno, die sich niedersetzte und an Kobungo heranrückte. "Seit ich Euch erblickte, bin ich vollkommen entzückt."
Nicht allein Kobungo, sondern auch Daiki und die anderen Samurai starrten die Tänzerin a
n wie gebannt und wussten nicht, wie sie reagieren sollten. Mehr als ihre Worte war es ihre Koketterie, die alle wider Willen in Bann schlug, je näher sie heranrückte.
"Euer Name ist Inuta Kobungo? Ich vernahm, dass der Herr Burgvogt soeben sagte, er wolle mich Euch verehren, und Ihr habt es ihm rundweg abgeschlagen.... Mögt Ihr mich etwa nicht?"
Daiki, der einige Augenblicke sprachlos gewesen war, schrie sie mit wütendem Blick an:
"Was fällt dir ein?"
Auch Kobungo war verblüfft. Konnte diese Tänzerin, die bis eben da drüben
zu der lauten Musik getanzt und obendrein noch selbst gesungen hatte, das hier geführte Gespräch gehört haben?
"Macht doch nicht so ein böses Gesicht!", lächelte Asakeno charmant, an Daiki gewandt. "Herr Burgvogt, überlasst mir bitte diesen Herrn. Ich werde sicherlich sein Herz gewinnen. Gewährt mir morgen noch ein weiteres Treffen!"
Sie erhob sich, öffnete wieder ihren Fächer und kehrte tanzend zu ihren Kolleginnen zurück.


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"Mögt Ihr mich etwa nicht?" - Tanzkünstlerin Asakeno

"Ich wusste zwar, dass sie Zaubertricks beherrscht, aber so eine ... seltsame Frau...!", murmelte Daiki, der ihr wie nach der Begegnung mit einem Dämon hinterherblickte.
"Aufstehn!", wies sein Kinn auf Kobungo.
Kobungo wusste, dass drei Samurai mit gezücktem Kurzschwert dicht hinter ihm standen. Er selbst war waffenlos.
Nachdem er aufgestanden war, begleiteten ihn drei Samurai mehr als auf dem Hinweg. Jeder von ihnen von einer Statur, die Kobungo in jeder Hinsicht ebenbürtig war.  
Er kam wieder in seinen Anbau und legte sich schlafen. Um seinen Raum herum wachten auf allen Seiten zahlreiche Kriegsleute, die sich bei der Bewachung ablösten, aber Kobungo schlief tief und fest wie immer.


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'Ich werde sicherlich sein Herz gewinnen. Gewährt mir morgen noch ein weiteres Treffen!', hatte diese Frau zwar gesagt, aber bis zum Abend des folgenden Tages gab es keinerlei Anzeichen für irgendetwas dieser Art. Natürlich waren das keine Worte, auf die Verlass war. Immerhin hatte Kobungo das verbrecherische Ansinnen des Makuwari Daiki abgelehnt. Dieser dürfte auch wissen, dass Kobungo von dem alten Shinashichi alle seine früheren Missetaten erfahren hatte. Somit würde Kobungo hier nicht mehr lebend herauskommen. Offenkundig wurde aber auch kein Befehl erteilt, ihn zu ermorden. 
Auch die sechs Samurai, die Kobungo tagsüber bewachten, waren augenscheinlich verwirrt. Aus ihren Gesprächen konnte Kobungo entnehmen, dass
die Dengaku-Tanztruppe vor der Mittagsstunde das Anwesen verlassen hatte, Asakeno aber noch geblieben war. Einige glaubten, Daiki habe es befohlen, andere meinten, es sei ihr eigener Wunsch gewesen. Darüber wussten die Kriegsleute wohl auch nicht Bescheid. Verständlich wäre, dass Daiki die Tänzerin aus Misstrauen dabehalten habe. Nicht sehr verständlich wäre, dass sie aus freien Stücken blieb. Noch unbegreiflicher war, dass Daiki, sein Sohn und deren Gefolgsleute in der Halle Taigyûrô offenbar auch heute bis in die Nacht hinein, nur mit Asakeno, ein Trinkgelage abhielten. Bis spät nachts waren Gelächter und Trinklieder zu hören.
Kobungo schlief.
Er erwachte ers
t durch den Lärm seiner Bewacher - zu welcher Stunde mag es gewesen sein?
"Was gibt's?" - "Was ist denn los?" - "Zwei von Euch, lauft hin!"
Solche Rufe ertönten, und jemand schien fortzurennen. Daraufhin waren aus der Ferne -in der Tat aus der Richtung der Halle 
Taigyûrô- Schreie und aneinanderklirrende Klingen zu hören. Oder vielmehr hatte das schon längst vorher begonnen.
Es folgte eine Weile unheimlicher Stille. Dann erscholl ein grauenvoller Schrei. Jemand kam durch den Garten herbei. Zwei weitere Bewacher liefen dem Ankommenden entgegen, und erneut klirrten zwei-, dreimal die Schwertklingen, diesmal aber ganz in der Nähe im Garten, und man hörte den dumpfen Laut zu Boden stürzender Leiber.
Kobungo erhob sich und trat schläfrig ins Freie. Es war schon etwas hell. Angesichts der Gestalt, die im Licht der Morgendämmerung langsam auf ihn zukam, riss freilich selbst Kobungo die Augen weit auf.
Das hochgebundene Haar war aufgelöst und fiel wirr auf den Rücken nieder. Die Säume des Frauengewands waren hochgerollt, die beiden weißen Beine offen sichtbar. Von oben bis unten rot besudelt, von der blitzenden Klinge in der Hand troff das Blut. Diese Gestalt - das war niemand anders als die grauenvolle und zugleich betörende Gestalt der Tänzerin Asakeno von der Dengaku-Schaustellertruppe!
Die beiden noch bei ihm weilenden Wachen schauten kurz zu Kobungo her, hatten aber keine Zeit mehr, sich um ihn zu kümmern. Schreckensschreie ausstoßend rannten sie auf die Frau zu, die wie eine Schlafwandlerin aus einer Dämonenwelt herzuschritt, und wurden mit je einem Hieb nach rechts und nach links erschlagen.


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Asakeno mit blankem Schwert



"Siebenundzwanzig", sagte Asakeno, lächelnd ihre weißen Zähne zeigend. Es dauerte eine geraume Weile, bis Kobungo begriff, dass sie damit die Anzahl der erschlagenen Ritter meinte.
"Ich bin Euch zu Hilfe gekommen, Herr Inuta Kobungo", lächelte Asakeno.
Der wie benommen dastehende Kobungo fand endlich seine Sprache wieder.
"Ihr? Wieso? Warum ... mir zu Hilfe?"
"Ich bin in Euch verliebt."
"So ein Unsinn. Um eines Unbekannten willen sogar Leute umzubringen...."
"Alle, die ich getötet habe, waren verruchte Schurken. Ihr habt sämtliche Wünsche dieser Verbrecherbande klipp und klar abgewiesen. Rechtschaffenen Menschen muss man zu Hilfe kommen."
Sie hatte also das ganze Zwiegespräch gestern mit Makuwari Daiki genau mitbekommen. Während sie tanzte und selbst dazu sang, hatte sie alles gehört. Vor Staunen kippte Kobungo beinahe aus den Sandalen. War diese Frau überhaupt ein Wesen von dieser Welt?
Aber danach geschah noch etwas, das Kobungo vollends aus der Fassung brachte.
"Natürlich war es nur ein Nebeneffekt, dass ich Euch zu Hilfe gekommen bin", lachte Asakeno scherzhaft. "Ich habe an Makuwari Daiki und seinen Kumpanen nur meinen Vater und meine gesamte Familie gerächt und alle
siebenundzwanzig Kerle totgeschlagen."
Triumphierend reckte sie ihr Kinn empor.
"Die Mörder deines Vaters? Wer bist du?"
"Ich bin der einzige Sohn des Aihara Tanenori, der vor siebzehn Jahren in eine von Makuwari Daiki gestellte Falle tappte und ermordet wurde. Mein Name ist Inuzaka Keno."
Er mutete zwar jugendlich an, aber seine Stimme war, so wie er jetzt sprach, offenkundig die Stimme eines Mannes. Asakeno war also kein wunderschönes Mädchen, sondern ein hübscher junger Mann!


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Inuzaka Keno im langärmeligen Frauenkimono



"Oh, die Geschichte des Herrn Aihara Tanenori habe ich kürzlich von jemandem gehört!", rief Kobungo aus. "Aber er sagte, dass die ganze Familie mit umgebracht worden sei."
"Oh, Ihr wisst Bescheid? Ja, wegen dieses Makuwari Daiki ist meine gesamte Familie umgekommen, aber eine einzige Nebenfrau, nämlich meine Mutter, entkam in das Bergdorf Inuzaka im Distrikt Ashigara im Lande Sagami. Dort brachte sie mich zur Welt", erzählte Asakeno, nein, Inuzaka Keno. "Danach trat meine Mutter, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, einer Dengaku-Tanztruppe bei, und ich wuchs unter lauter Tanzkünstlerinnen auf. Dort lernte ich alle Gaukelkünste, Akrobatik und Tänze, aber als ich dreizehn war, starb meine Mutter. Der Wunsch nach Rache für die Verbrechen des Makuwari Daiki, die mir erzählt worden waren, trieb mich dazu, mich im Waffenkampf auszubilden. Und heute war der Zeitpunkt zur Ausführung der Rache gekommen. Ob ich mich freuen oder schämen soll, dass ich meine femininen Gesichtszüge genutzt und mich als Frau verkleidet habe? Jedenfalls habe ich jetzt den Makuwari Daiki, seinen Sohn Kurayago und seine Sippschaft sowie die wichtigsten Gefolgsleute volltrunken gemacht und in der Halle
Taigyûrô einen nach dem andern erschlagen."
'Volltrunken gemacht' hatte er zwar gesagt, aber dass Keno die Ritter nicht ganz so einfach wie Spargel umgehauen hatte, war aus dem Klirren der Klingen
vorhin und aus seinem vom Kampf gezeichneten Aussehen deutlich abzulesen. Und nun war aus der Halle Taigyûrô erneut erregtes Geschrei zu hören. Herbeigeeilte Ritter mussten erschüttert die Stätte des großen Gemetzels entdeckt haben.
"Ho, uns bleibt keine Zeit, uns hier weiter zu unterhalten", sagte Keno. "Machen wir uns aus dem Staub! Mir bleibt ein Feind, den ich noch erschlagen muss; der Mensch mit Namen Komiyama Ittôta, der meinen Vater eigenhändig erschlagen hat, ist noch am Leben. Dieses Anwesen habe ich zum Glück während meines Aufenthalts bis in den letzten Winkel ausgekundschaftet. Hier geht's entlang!"
Keno lief vorweg, und Kobungo nahm sich die Schwerter eines erschlagenen Samurai und eilte ihm hinterdrein. Sie überstiegen eine Mauer, gingen durch ein Holztor, schlichen sich durch den Baumbestand im Garten und erreichten den Graben. Inzwischen war auch aus dem Anbau, den sie gerade verlassen hatten, aufgeregtes Geschrei zu hören.
Der Graben war breit, mehr als zehn Meter. Keno löste von seiner Hüfte eine schon vorbereitete Leine mit einem Haken, band das eine Ende um eine Baumwurzel und schleuderte das Ende mit dem Haken in einen Baum auf der anderen Seite. Dies tat er mit einer zweiten Leine noch einmal, so dass nun zwei Seile über den Graben gespannt waren.
"Los!"
Kobungo wusste nicht recht, wie er daran auf die Gegenseite gelangen sollte, und zögerte. Daraufhin lud sich Keno den weitaus robuster gebauten Kobungo ohne Mühe auf den Rücken und begann dann
wie ein Seiltänzer auf dem doppelten Seil hinüberzuspazieren. Inuzaka Keno sah noch immer beinahe so aus wie eine wunderhübsche junge Frau, und Kobungo, der einen wilden Keiler mit der bloßen Faust totschlagen konnte, fühlte sich beinahe wie ein Kleinkind auf dem Rücken seiner Mutter.

Es tagte schon. Als die beiden die Flussaue des Sumidagawa erreicht hatten, hörten sie allerdings von hinten das Getrappel einer riesigen Schar von Pferden. Es gab hier nichts, wo sie sich verstecken, und kein Boot, mit dem sie das andere Ufer erreichen konnten. Da trieb von Senjû her ein Schifflein heran, das mit Brennholz beladen war, natürlich nicht, um hier anzulegen, sondern um flussabwärts weiterzufahren.
"Heee, wir wollen mitfahren!", schrie Kobungo, und die Leute auf dem Kahn schauten zwar herüber, machten aber keine Anstalten, den Kurs zu ändern. Die beiden liefen rund hundert Meter am Flussufer neben dem Schiff her. An einer Stelle, an der die Distanz bis zum Kahn zufällig nur rund 5 Meter betrug, meinte Keno:
"Ich halte den Kahn jetzt erst einmal an."
Kobungo nickte, und Keno nahm Anlauf am Flussufer und flog dann wie eine Schwalbe über die Wasserfläche hinweg auf den Holzfrachter. An Bord erfolgte ein kurzes Handgemenge, bei dem die drei Mann Besatzung mit Tritten ins Flusswasser befördert wurden. Aber währenddessen wurde der Kahn von der Strömung weitergetrieben und verschwand flussabwärts außer Sicht.
Kobungo war zwar bärenstark, aber solche übermenschlichen Sprünge hätte er nicht vollführen können. Die Reiterschar hinter ihm kam inzwischen näher; jemand wies mit der Hand auf ihn, und nun galoppierten sie alle auf ihn zu, dass die Kiesel am Flussufer davonstoben. Da tauchte von flussaufwärts her erneut ein Schiff auf, voll beladen, aber weit größer als der vorige Kahn. Kobungo sprang in den Fluss und schwamm los. Er erreichte das Schiff und klammerte sich mit der Hand mühsam an der Brüstung fest. Die erschrockene Besatzung lief herbei, einige von ihnen schwangen die Ruder.
"Halt, wartet! Das ist doch Herr Kobungo aus Gyôtoku!", rief einer hastig und hielt die anderen vom Zuschlagen ab. Kobungo erfuhr, dass dieses Schiff dem Betrieb Inueya in Ichikawa gehörte und der Kapitän ein Angestellter des Inueya mit Namen Yorisuke war. Zu diesem Zeitpunkt war die Verfolgerschar der Reiter längst am Flussufer eingetroffen und blieb dort ratlos stehen.
Jedenfalls war Kobungo dem für ihn gefährlichen Gebiet entronnen. Von dem Kahn, mit dem Inuzaka Keno fuhr, war nichts zu sehen. Bei Kobungo hinterließ dieser hübsche junge Mann den Eindruck einer betörenden Blüte, die von einem heftigen Sturmwind verweht worden war.
Von Yorisuke erfuhr Kobungo auf dem Schiff, was in der Zwischenzeit in seinem Heimatdorf geschehen war. Nachdem sie im 6.Monat des vergangenen Jahrs nach Ôtsuka aufgebrochen und auch nach zehn Tagen nicht wiedergekommen waren, sei Chudai, einer der beiden Wandermönche, ihnen aus Sorge um ihr Ergehen nachgereist. Danach sei Myôshin, die Witwe vom Inueya, von dem Bösewicht Akashima Kajikurô bedroht worden und habe mit dem Kleinkind Shinbei auf dem Arm zusammen mit dem anderen Mönch die Flucht in Richtung Ichikawa ergriffen, sei auf dem Weg aber von Kajikurô, der ihnen aufgelauert hatte, überfallen worden. Darauf sei in einem schrecklichen Unwetter ein riesiges dämonenhaftes Ross erschienen und habe zwar den Kajikurô mit seinen Hufen totgetreten, den kleinen Shinbei aber ergriffen und an einen unbekannten Ort entführt.
Danach habe sich Myôshin auf Anraten des Wandermönchs nach Awa begeben. Kobungos Vater Bungobei sei erkrankt und am 15.Tag des 2.Monats von hinnen gegangen.
Dass Kobungos Herz beim Anhören dieses Berichts von Wogen aus Schrecken und Schmerz ergriffen wurde, muss nicht eigens erwähnt werden.
So kehrte er nach Gyôtoku zurück. Mehrere Tage verbrachte er am Grab seines Vaters. Danach begab er sich erneut auf Wanderschaft. Er wollte die Hundekriegergefährten, von denen er sich im Vorjahr am Berg Arameyama getrennt hatte, wiedersehen und die noch unbekannten Hundekrieger finden. Er ahnte ja nicht, dass ein Mann, den er bereits getroffen hatte, einer der vom Schicksal bestimmten, gesuchten Gefährten war.



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