Legende der acht
Hundekrieger
4
①
In einer Welt voller Schmerzen am Grund eines stockfinsteren Gewässers,
eingeschlossen in einem mit Nägeln gespickten Eisenkäfig, der
aufstieg und wieder niedersank, drang
eine menschliche Stimme aus weiter Ferne an Inuzuka Shinos Ohr.
"Herr Genpachi! Herr Genpachi!"
Auf diese Stimme aus der Ferne hin hörte er aus nächster Nähe jemanden antworten:
"Kobungo, schau mal, dieser Mann sieht dem Fusahachi ziemlich ähnlich!"
Dass Shino Stimmen hörte, bedeutete, dass er sein Bewusstsein
wiedererlangt hatte. Wie aus dem Wasser aufgetaucht, holte er tief Atem
und schlug die Augen auf.
"Oh, er ist endlich zu sich gekommen!"
Shinos Blick fiel auf das Gesicht eines Mannes um die fünfzig. Gleichzeitig hörte er von drüben einen Ruf:
"Ah, Herr Genpachi, seid Ihr wieder lebendig?!"
Shino sah, wie der andere sich mühsam aufrichtete und, seine
Kampfeslust wiedergewinnend, eilig um sich herum nach seiner Waffe
tastete, weshalb auch er schnell nach seinem Gürtel griff, aber da
war kein Schwert.
Inukai Genpachi und Kristallkugel mit dem Schriftzeichen SHIN
Die zwei Männer gingen dazwischen, als sie das gewahrten.
"Was habt Ihr eigentlich? Ich war hier am Fischen, da trieb ein Schifflein vorüber,
in dem Ihr beide bewusstlos übereinander lagt",
sagte der Fünfzigjährige. "Alle beide blutverschmiert....
Selbst wenn Ihr miteinander gekämpft habt, finde ich es komisch,
auf einem so kleinen Kahn einen Schwertkampf auszufechten. Jedenfalls
kenne ich den einen, Herrn Genpachi von Koga, und habe mich eifrig um
ihn gekümmert. Weil ich wegen der Pflege des Verwundeten
verspätet war, kam mein Sohn Kobungo, mich abzuholen, und zu zweit
haben wir Euch versorgt."
Shino sah den Jungen an, der groß und dick war wie ein
Sumô-Ringer.
Dann erst bemerkte er, dass er selbst und Genpachi im Abendrot in einem
Kahn lagen, der im Schilf an einem Pfahl vertäut war. Als
nächstes kehrte ihm ins Gedächtnis zurück, dass er auf dem
Dach des Hôryûkaku einen blutigen Kampf ausgefochten
hatte
und danach abgestürzt war. Und dass sein Gegner sich Inukai
Genpachi genannt hatte und auf seiner Wange das Päonienmal trug.
"Falls du noch weiterkämpfen willst, verschieb es auf
später...", sagte Shino. "Vorher will ich dich etwas fragen.
Besitzt du eine Kristallkugel.... mit dem Schriftzeichen SHIN darin?"
Shinos Gedächtnis wurde allmählich klarer.
"Woher weißt du.....?", gab Genpachi sichtlich verblüfft zurück.
"Ich kenne deinen Vater", antwortete Shino.
Von dem vor Überraschung sprachlosen Genpachi wandte Shino den Blick auf die beiden, die ihnen geholfen hatten.
"Wir sind anscheinend vom Hauptgebäude der Burg Koga auf das Schiff
gestürzt, den Fluss Tonegawa hinuntergetrieben und von Euch
gerettet worden. Hierfür spreche ich Euch aufrichtigen
Dank aus. Aber sagt mir bitte, wo wir jetzt sind und wer Ihr seid."
"Hier ist Gyôtoku im Lande Shimôsa; ich bin der
Eigentümer eines Gasthauses und heiße Konaya Bungobei, und
dieser ist mein Sohn Kobungo", antwortete der Ältere.
Heute
fließt der Tonegawa nicht mehr nach Gyôtoku, sondern
mündet bei Chôshi ins Meer. Der Fluss teilt sich jedoch bei
Sakai in zwei Arme, deren südlicher unter dem neuen Namen Edogawa
nach Gyôtoku fließt, so dass es trotz geänderter Namen
der Wasserläufe durchaus möglich ist, in einem Kahn von Koga
nach Gyôtoku zu treiben. Die Entfernung beträgt etwa 80 km,
was bei der schwachen Strömung in der flachen Kantô-Region
eine sehr lange Bewusstlosigkeit der beiden Kämpfer
voraussetzt. |
Dessen Sohn
fragte aufgeregt:
"Woher wisst Ihr, dass Herr Genpachi eine Kristallkugel mit dem Schriftzeichen SHIN besitzt?"
"Schaut erst mal", antwortete Shino, holte aus dem Amulettbeutel in
seiner Tasche seine eigene Kristallkugel hervor und zeigte sie ihnen.
Genpachi und Kobungo besahen sie und lasen: "KÔ!"
Genpachi kramte in seiner Tasche und zeigte seine Kugel vor.
"Ich habe genau so eine Kugel. Und wie du gesagt hast, enthält sie das Zeichen SHIN."
Daraufhin holte auch Kobungo eine ebensolche Kristallkugel heraus.
"TEI!", rief Shino aus und starrte aufs Neue Kobungos Gesicht an.
TEI bedeutet den engen Zusammenhalt unter Geschwistern.
Genpachis Tugend ist SHIN, ihm kann man bedingungslos
vertrauen Kobungos Tugend ist TEI, er
wird keinen seiner Brüder je im Stich lassen
Shino war zwar auch groß gewachsen, aber Kobungo übertraf
ihn noch. Man nähme es ihm ohne weiteres ab, wenn er sich als
Ringkämpfer bezeichnete. Sein Name Kobungo wirkte da geradezu
lächerlich.
Zu einem grob gemusterten Kimono trug er ein langes und ein
Kurzschwert nach der Art herrenloser Samurai; er war ein gut
aussehender junger Mann von imposanter Figur.
Auch sein Vater Konaya Bungobei sah nicht aus wie ein gewöhnlicher
Herbergswirt. Als Shino seine Verwunderung darüber
ausdrückte,
erzählte er ein wenig verlegen, dass er früher in Diensten
des Fürsten Jinyo Mitsuhiro in Awa gestanden habe, nach dessen
unglücklichem Tod aber als herrenloser Samurai hierher gelangt sei
und eine Reiseherberge eröffnet habe.
Nach seinem Vater Konaya Bungobei wurde der Sohn als Kind Kobungo genannt, was so viel wie "der kleine Bungo" bedeutet.
Zur Lebenszeit des Autors
Bakin war für herrenlose Samurai das Tragen bestimmter
Schwerter präzise vorgeschrieben, was zu der Zeit, in der diese
Geschichte spielt (14.Jahrhundert), noch nicht galt. Es handelt sich um
einen Anachronismus.
Die Geschichte der Entmachtung und Ermordung des Jinyo Mitsuhiro wurde in Teil 1 geschildert. |
"Hör mal, erzähl mir lieber, woher du meinen Vater kennst!",
unterbrach Genpachi das Gespäch. Shino meinte, ihm drohe wohl
keine Gefahr mehr, wenn er Genpachi seine Herkunft eröffnete; so
berichtete er:
"Ich bin im Dorf Ôtsuka im Land Musashi geboren, und mein Vater
war ein treuer Gefolgsmann des verstorbenen Ashikaga Mochiuji. Vor
seinem Tod beauftragte er mich als letzten Willen damit, das
berühmte Schwert Murasame dem
Herrn Shigeuji, Sohn des Fürsten
Mochiuji, zurückzugeben und in dessen Dienste zu treten. An
jenem Tag ist aus dem Hals meines geköpften Hundes diese
Kristallkugel auf mich gefallen. Aber durch einen Bösewicht
wurde mir die Klinge des Schwertes vertauscht, und ich geriet deswegen
auf Burg Koga in eine schlimme Lage."
Dann erzählte er von dem herzensguten Knecht Nukasuke, der sich
in Shinos jungen Jahren um seinen Vater und ihn gekümmert habe,
aber kurz vor seiner Abreise nach Koga verstorben sei. Und von dem, was
ihm dieser Nukasuke auf dem Sterbebett anvertraut hatte, nämlich
dass er ein Fischer in Sunosaki in Awa gewesen sei und am siebten Tag
nach der Geburt seines Sohnes eine Brasse gefangen habe, aus der beim
Schlachten die Kristallkugel mit dem Schriftzeichen SHIN zum
Vorschein gekommen war, und dass sein Sohn auf der rechten Wange ein
Mal in der Form einer Päonienblüte trage. Die Genesung seiner
Mutter nach der Entbindung sei schlecht verlaufen, und um für sie
Medizin kaufen zu können, habe er eines Nachts in einer verbotenen
Zone gefischt, sei erwischt und in den Kerker gesteckt worden. Aufgrund
einer Anmestie durch das Fürstenhaus Satomi sei er der Hinrichtung
entgangen und freigekommen. Mit seinem Sohn auf den Armen bis nach
Gyôtoku gelangt, habe er sich in den Fluss stürzen wollen, sei
aber von einem Samurai des Hauses Ashikaga gerettet worden und habe
diesem dafür auf dessen Wunsch seinen Sohn überlassen.
"Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass dieser Nukasuke dein Vater,
und du dessen Sohn bist", sagte Shino. "Der Name seines Kindes sei
Genkichi gewesen, aber weil der Samurai ihm das Versprechen abgenommen
habe, dass Nukasuke sein Lebtag lang nicht nach seinem Sohn forschen werde,
kannte er weder deinen jetzigen Namen noch den jenes Samurais.
'Aber jetzt ist der Sohn jenes Fürsten, dem jener Samurai diente,
der Bergherr von Koga geworden, und wenn du -damit bin ich
gemeint- nach Koga reist und eine Gelegenheit findest, nach einem
jungen Mann mit Päonienmal auf der Wange zu suchen, berichte ihm
bitte, dass sein Vater jetzt gestorben ist.' Das war sein Auftrag."
Genpachi rannen die Tränen übers Gesicht.
"Kannst du dir vorstellen, wie verblüfft ich war, als ich das
Päonienmal auf der Wange des Mannes erblickte, mit dem ich auf dem
Dach des Hôryûkaku focht?"
"Ich geriet ebenso aus der Fassung, als ich auf deinem linken Arm ein ebensolches Mal entdeckte", nickte Genpachi.
Genpachis Päonienmal im Manga
Konaya Bungobei fiel ins Gespräch ein.
"Übrigens trägt auch Kobungo das gleiche Päonienmal auf
seinem Hinterteil und hat auch eine Kristallkugel mit dem
Schriftzeichen TEI. Ich habe mir lange den Kopf darüber zerbrochen, was das bedeuten könnte. - Übrigens, die Geschichte von dem
Kind, das dem Herrn Samurai überlassen wurde, kann auch ich
bestätigen. Vor etwa zwanzig Jahren kam ein Bekannter mit Namen
Inukai Genbei mit einem Säugling auf dem Arm hierher und
übergab mir das Kind mit der Bitte, es eine Weile für ihn in
der Herberge zu pflegen."
Sogleich fiel Shino ein, dass Nukasuke gesagt hatte, dass dieser
Samurai, weil er als Sendbote auf der Reise zum Fürstenhaus Satomi
in Awa sei, das Kind der Herberge eines Bekannten übergeben und
auf der Rückreise abholen wollte.
"Glücklicherweise war unser Kobungo noch ein
Säugling, seine Mutter noch am Leben und gab Milch, mit der
sie auch das
fremde Kind ernährte. Dank dieser Umstände blieb auch
später Herr Inukai Genpachi mit mir in Freundschaft verbunden, aber dass
Herr Genpachi und mein Sohn ganz
das gleiche Päonienmal und eine gleichartige Kristallkugel
besaßen, über diesen wunderlichen Zufall habe ich schon
hunderttausendmal den Kopf geschüttelt...."
"Wie kam denn Kobungo zu seiner Kugel?"
"Zur Feier der ersten Reismahlzeit des Kleinkinds gab es Bohnenreis als
Festspeise. Aus der Reisschale des Kindes kam unversehens die Kristallkugel
zum Vorschein. Und als der Junge acht war, prügelte er
sich mit einem fünfzehnjährigen Burschen, und als er den
Jungen niederwarf, krachte er auch selbst auf sein Hinterteil. Danach
zeigte sich auf seinem Hintern ein Flecken in der Form einer
Päonienblüte und blieb dort bis zum heutigen Tag."
"Haaa...!", rief Shino. "Wir alle drei sind Brüder, die durch ein
Karma aus einer früheren Existenz miteinander verbunden
sind!"
Kobungo, Shino und Genpachi
Vollkommen unerwartet hatte Shino hier die Hundekrieger Nummer vier und
Nummer fünf getroffen. Von der Existenz der Nummer drei ahnte er allerdings noch nichts, aber der dritte Hundekrieger war ja schon am Hügel Maruzukayama bei Hongô aufgetaucht.
Inukai Genpachi sagte:
"Ich wurde nur aus dem Kerker geholt und bin auf das Dach des
Hôryûkaku gestiegen, weil ich den Befehl erhalten
hatte, einen feindlichen Spion zu beseitigen. Es tut mir aufrichtig leid, dass ich unwissentlich gegen einen Bruder
aus früherer Existenz gekämpft habe."
"Nein, nein, mir erging es doch genauso!"
Genpachi wiegte den Kopf.
"Es jetzt zur Sprache zu bringen, ist vielleicht unangebracht, aber es
stimmt mich bedenklich, dass Ihr, Herr Shino, das Schwert Murasame dem Fürsten überreichen wollt."
"Wieso das denn?"
"Es fällt mir sehr schwer, es auszusprechen, aber der Fürst ist
meiner Meinung nach ein eigensüchtiger, äußerst
jähzorniger Mann, der nichts von jener Menschlichkeit besitzt, die
einen Fürsten auszeichnen sollte. Und sein Vogt Yokobori Arimura
ist, um es unverblümt zu sagen, ein arglistiger
Vasall, der seine Macht nach Belieben missbraucht. Deswegen hatte ich,
bevor ich im Kerker landete, um meine Entlassung gebeten, und dass ich
zum Gefecht auf den Hôryûkaku stieg, tat ich
in der Hoffnung, dass ich zum Lohn dafür, dass ich den
Eindringling dingfest mache, als herrenloser Samurai meiner Wege ziehen
könnte. Es mag lachhaft klingen, aber dass dieses Schwert Murasame
gefälscht worden war, war womöglich eine Art Wink des
Himmels", lachte Genpachi. Sein Gesicht, erneut betrachtet, wies die
Züge eines unerschrockenen Recken auf, was vielleicht auch an
dem Päonienmal auf seiner Wange lag.
Shino dachte daran, dass er noch herausfinden müsse, wie es dazu gekommen war, dass ihm die Schwertklinge von Murasame vertauscht worden war, und als er sich der Vorfälle in Ôtsuka entsann, fiel ihm sogleich auch Sôsuke ein.
"Hört mal, es sind nicht nur wir drei, die das Päonienmal und
die Kristallkugeln besitzen. Ich kenne noch einen weiteren!", sagte er
und erzählte von Sôsuke. Mit glänzenden Augen lauschten
Genpachi und Kobungo seinen Worten.
"Wir haben also noch einen Kameraden!" - "Dann brechen wir morgen gleich nach Ôtsuka auf!"
Inukai Genpachi im Manga
Den begeistert aufspringenden jungen Leuten gebot Bungobei Einhalt.
"Halt, halt, Herr Shino ist doch noch voller Wunden. Auch Herr Genpachi
ist keineswegs unverletzt. Und wenn sich auf Burg Koga solche Dinge
zugetragen haben, muss ich mir Sorgen machen um das künftige
Ergehen des Herrn Shino. Glücklicherweise geht der Tag zu Ende.
Bevor Ihr von jemandem gesehen werdet, kommt erst mal zu mir nach Hause!"
Es war schon so dunkel, dass die Oberfläche des Wassers um das
Boot nur schwach schimmerte. Zum ersten Mal wurden Shino und seine
Gefährten gewahr, dass aus der Ferne Flötenspiel und
Trommelschlag zu vernehmen war.
Die vier Männer stiegen aus dem
Boot das schilfbewachsene Ufer hinauf. Beim Gehen wankte
Shino. Als er das sah, nahm Kobungo den groß gewachsenen Shino
mit Leichtigkeit auf den Rücken. Bungobei trug die Angel und den
Fischkorb. Darauf achtend, dass sie nicht gesehen wurden, gelangten sie
zur Herberge Konaya am Fuß der Brücke des Städtchens
Gyôtoku. Am Eingang stand eine junge Frau, die einen etwa
vierjährigen Knaben an der Hand hielt.
"Ich wollte Euch gerade suchen, denn ich hatte Angst, weil auch Ihr, Herr Bruder, nicht zurückkamt. Wie gut...."
Da fiel ihr Blick auf den
geharnischten Genpachi mit seinen Beinschützern und auf Shino, den
Kobungo auf dem Rücken trug, und ein kleiner Schrei entfuhr ihr.
"Meine Tochter Onui, Kobungos Schwester", stellte Bungobei die junge Frau vor.
Sie war eine hübsche Frau, die wie ein jugendliches Mädchen wirkte, nicht wie die Mutter eines kleinen Jungen.
"Das Kind ist mein Enkel Daihachi.
Ich habe meine Tochter als Braut an das Haus des Fischereibetriebs
Inueya in Ichikawa gegeben, das von hier aus ein wenig weiter
flussaufwärts liegt. Bei uns findet gerade ein Fest statt, weshalb
sie gestern zu Besuch gekommen ist. - Die Leute hier sind wichtige
Gäste, die verletzt sind, bereite ihnen schnell das Lager!"
"Jawohl!", antwortete die junge Frau zwar, blickte aber weiter mit weit aufgerissenen Augen Shino an.
"Hahaha, da staunst du, was?
Wie sehr er deinem Ehemann ähnelt! Wir waren vorhin auch
überrascht, aber natürlich ist er jemand anders", lachte
Bungobei und fragte dann:
"Ach so, wo sind eigentlich die beiden Wandermönche?"
"Noch nicht wieder zurück."
"Aha. Ehrlich gesagt ist es besser,
wenn diese Gäste hier von niemandem gesehen werden. Am besten, du
bettest sie in den Raum neben unserem Wohnzimmer."
"Jawohl."
Onui ging mit ihrem Kind zuerst ins Haus hinein. Der hinter ihr gehende Bungobei sagte:
"Herr Shino, Ihr seht meinem
Schwiegersohn, dem Yamabayashi Fusahachi, aus einer gewissen Entfernung
zum Verwechseln ähnlich", und fügte dann hinzu:
"Heute Nacht findet hier in
Gyôtoku bis zum Morgen das Flussfest Gion'e statt. Ab heute
schließen alle Herbergen drei Tage lang, weil es Brauch ist, den
Angestellten für das Fest frei zu geben. Nur zwei
Wandermönche, die aus Kamakura gekommen sind, wohnen derzeit hier,
aber am Nachmittag sind sie ausgegangen, um sich das Fest anzusehen.
Jetzt ist kein Fremder im Haus."
Shino und Genpachi wuschen sich
sauber, ließen sich Salbe auf die Wunden auftragen und
Verbände anlegen. Ihr Lager war zwar vorbereitet, aber Shino war
munter genug, um sich nicht niederlegen zu müssen.
Anschließend brachte Onui, die auf den Besuch des Festes
verzichtet hatte, Serviertabletts mit zwar eilig, aber schmackhaft
zubereiteten Speisen, und die drei Hundekrieger bekräftigten
mit ihren Sakeschälchen erneut ihre Bruderschaft. Ihr
Abendessen wurde von der fernen, allmählich lauter werdenden Musik
von Flöten und Trommeln begleitet. Der kleine Daihachi, der
dauernd darum bettelte, zum Fest mitgenommen zu werden, gab es
schließlich auf und hüpfte zum Rhythmus der fernen
Klänge um die Tafelnden herum.
Vier Jahre sei er alt, hatten sie
erfahren, aber er war so mollig und kräftig, als wäre er
schon sechs. Sein Gesicht und sein Betragen waren freilich noch so
kindlich, dass sie scherzten, er hänge sicherlich noch immer an
der Mutterbrust. Dabei hatte Bungobei allerdings etwas
Merkwürdiges zu berichten:
"Seht Euch den Jungen an. Er hat fortwährend die linke Faust geballt."
Darauf aufmerksam gemacht, bemerkten Shino und Genpachi es zum ersten Mal. Bungobei seufzte gramvoll.
"Schon von Geburt an ist das so. Ich weiß nicht, was das bedeuten soll."
"Waaas?", staunten Shino und Genpachi.
②
In diesem Augenblick ertönten Schläge und Rufe vom Tor des Anwesens her:
"Junger Meister! Meister Inuta!"
Kobungo ging hinaus, wechselte ein
paar Worte mit irgendwem, kam dann gleich zurück, legte sein
Schwert an und wollte aus dem Haus gehen.
"Wer war das, was ist los?", rief Bungobei ihn zurück.
"Ach, der Karashirô von Shiohama. Jetzt, beim Fest, haben die Jungs von meiner Schule Inuta
und von der Schule Inue sich in die Haare gekriegt und einen gewaltigen
Streit vom Zaun gebrochen. Ich gehe, um zu schlichten..."
"Warte, gib dein Schwert her."
Kobungo kniete gehorsam vor seinem Vater nieder und gab ihm das
Schwert. Bungobei holte sein Papiertuch aus der Tasche, drehte es zu
einem langen Strick zusammen und umwickelte damit die Scheide vom Griff
bis zur Spitze.
"Kobungo, du bist jetzt nicht mehr der Konbungo von früher. Du
bist jetzt ein Mann, auf den deine neuen Brüder und Aufgaben auf dich warten, die der Himmel
für dich vorgesehen hat", sagte Bungobei. "Du stehst
im Begriff, deine Bärenkräfte einzusetzen. Du sagst zwar, du
willst Streit schlichten, aber je nach Lage kann man nicht wissen, wie
sich die Dinge entwickeln. Damit du keine leichtsinnigen Sachen machst,
habe ich dein Schwert unbrauchbar gemacht."
Auch seine Schwester Onui sagte ängstlich:
"Herr Bruder, schlagt Euch bitte nicht mit den Jungen von der Inue-Schule!"
Der verwunderte Kobungo musste lachen.
"Alles klar. Ich will ja nur Frieden stiften."
Er verneigte sich vor seinem Vater.
"Herr Vater, macht Euch keine Sorgen. Wie Ihr gesagt habt, bin ich
nicht mehr der Kobungo von früher. Ich werde keinesfalls meine
Arme und Kräfte für sinnlose Dinge verwenden."
Mit diesen Worten erhob er sich und ging mit den Jungen fort, die ihn holen gekommen waren.
Inuta Kobungo
Bungobei blickte ihm nach und erklärte:
"Ich war immer stolz darauf, dass mein Sohn und mein Schwiegersohn
starke Ringkämpfer sind. Aber neuerdings sind widrige Winde
aufgekommen, und es zeigt sich die Kehrseite. Ihr habt ja gehört,
dass die Jungs vorhin nach 'Meister Inuta' gerufen haben. Hier lebte
ein Raufbold, der
sich Mogari Inuta nannte und die Gegend terrorisierte. Am Ende
spannte er gar ein Seil über die Straße und verlangte von
jedem, der des Weges kam, 100 mon Wegzoll. Damals kam Kobungo, gerade
sechzehn, da entlang und schlug den Kerl so wuchtig zu Boden, dass er
tot liegen blieb. Seitdem bekam er den Spitznamen 'Inuta-Bezwinger
Kobungo' oder kürzer einfach Inuta Kobungo.
Überdies schlossen sich ihm Schüler an, die von ihm Ringkampf
lernen wollten, und daraus entstand die Sumô-Schule Inuta.
Auf der anderen Seite ist Yamabayashi Fusahachi der Mann, dem ich Onui
zur Braut gegeben habe, Herr eines Fischereibetriebs in Ichikawa, der
über eine Menge Fischerboote verfügt. Der ist ebenfalls ein
Hüne mit gewaltiger Kraft und liebt den Sumô-Ringkampf. Er
hat ebenfalls Schüler um sich, und weil sein Betrieb Inueya
heißt, nennt er seine Ringkampfschule Inue-Schule. Im Grunde
sind beide eng miteinander befreundet
und haben noch nie gegeneinander gekämpft.
Seit einiger Zeit wohnen hier im Haus aber zwei Wandergeistliche mit den
Mönchsnamen Nengyoku und Kantoku. Sie bewarben sich in Kamakura
beide um eine vererbbare Stelle, und der Fürst sollte einen von
ihnen ernennen. Dieser konnte sich nicht entscheiden, sondern
befahl, die Sache durch einen Ringkampf zu entscheiden. Nun waren die
beiden zwar Männer, aber zugleich auch Geistliche,
weshalb sie nicht gegeneinander antreten, sondern zwei Ringer finden
wollten, die den Kampf an ihrer Stelle ausfechten. Wessen Ringer siegt,
der bekommt die Stelle. Ein eigenartiges Abkommen. Und daher sind sie
ausgezogen, um zwei geeignete Sumô-Ringer zu finden. Vor einigen
Tagen haben sie sich in meiner Herberge eingemietet und müssen
irgendwoher gehört haben, dass unser Kobungo und sein Schwager
Yamabayashi Fusahachi die stärksten Ringer dieser Gegend seien.
'Das passt bestens zu unseren Wünschen, bitte kämpft in
unserem Namen gegeneinander', baten sie abwechselnd Kobungo und
Fusahachi mit Nachdruck, um sie zu überreden.
Ich habe gesagt, sie sollten das besser bleiben lassen, aber die beiden
haben sich einerseits beschwatzen lassen, andrerseits wollten sie aber
tief in ihrem Innern längst einmal erproben, wer von ihnen der
Stärkere ist, und willigten deshalb wohl in den Zweikampf
gegeneinander ein. Am 18.Tag dieses Monats sind sie am Hachiman-Schrein
gegeneinander angetreten."
"Und wie ist es ausgegangen?", fragte Genpachi.
"Es war ein schwerer Kampf, aber am Ende hat Kobungo gewonnen."
"Haaa...."
Inuta Kobungo im Manga)
"Ich hoffe, dass es nicht zu einem Zerwürfnis zwischen den beiden führt,
aber die jungen Schüler der anderen Schule wollen die Niederlage nicht
einfach hinnehmen und suchen seitdem Streit mit unseren Jungen." Bungobei seufzte.
"Und unsere wollen sich das nicht bieten lassen und es den anderen heimzahlen.
Ich hatte schon die ganze Zeit befürchtet, dass es zu einem
offenen Zwist kommen könnte, und jetzt das.... Auch der Streit an
diesem Festtag, von dem ihr gehört habt, ist eine Folge davon.
Solche blödsinnigen Auseinandersetzungen machen mir unnötig
das Herz schwer!"
Bungobei sah Onui an.
"Am meisten sorge ich mich um meine Tochter. Auch wenn die Keilereien
nur die Schüler betreffen, steckt sie zwischen Bruder und
Ehemann in der Klemme."
"Ich... ich will auch hingehen."
Onui, die zum Tor hingeschaut hatte, konnte ihre Angst nicht länger ertragen und wollte aufstehen.
"Bleib hier. Wozu soll es nutzen, wenn du auch hingehst? Ich habe sein
Schwert versiegelt, du brauchst dich nicht zu fürchten."
Aber Kobungo kam und kam nicht zurück. Besorgt um seinen Verbleib legten sich Shino und Genpachi zur Ruhe.
Am
Morgen wurde Genpachi durch Shinos qualvolles Stöhnen wach. In der
Tat hatte Shino viele Wunden davongetragen, aber nachdem er auf dem
Kahn zu sich gekommen war, schien er bis zum Schlafengehen durchaus
munter zu sein. Nun aber knirschte er mit den Zähnen und warf sich
vor Schmerzen herum. Auf Ansprache antwortete er nicht. Wenn ein so
tapferer Mann wie Shino dermaßen litt, konnte es keine
Kleinigkeit sein, was ihm zusetzte.
Von Genpachi gerufen, kamen Bungobei und Onui herbei, wussten sich aber keinen Rat.
"Das ist wohl eine Blutvergiftung", meinte Bungobei nach einer Weile betrübt.
"Eine Blutvergiftung, was ist das denn?"
"Kommt mal kurz mit herüber", flüsterte Bungobei und führte Genpachi und Onui in den Nachbarraum.
"Wenn durch eine Wunde giftige Fremdkörper in den Körper
gelangen, sind auch die Ärzte machtlos. Wenn man ihn unbehandelt
liegen lässt, wird er in wenigen Tagen tot sein."
Genpachi wurde blass und nickte. "Den Namen dieser Krankheit habe ich von dem verstorbenen Arzt Doktor Nikaimatsu gehört."
Bungobei sagte: "Als ich noch in Awa im Fürstenhaus Jinyo diente,
habe ich von meinem Bruder Nago Shichirô erfahren, welche Arznei
im Hause Nago als hochwirksam überliefert wird, aber es ist eine
derart abwegige Behandlungsmethode, dass sie mir ebendeswegen im
Gedächtnis geblieben ist."
"Und zwar....?"
"Wenn man dem Kranken fünf Becher frischen Blutes eines jungen
Mannes und einer jungen Frau über die Wunden gießt, heilt
jede Blutvergiftung auf der Stelle...."
Genpachi lachte bitter auf.
"Das ist weder abwegig noch sonst etwas, eine solche Medizin lässt sich
einfach nicht auf Anhieb finden. Erstens stirbt jeder, dem man fünf
Becher Blut abzapft...."
Dann klatschte Genpachi sich auf die Schenkel. "Aber ich habe ja noch
etwas von Doktor Nikaimatsu gehört! In Shibaura bei Edo gibt es ein
Geschäft, das eine hochgerühmte Arznei gegen Blutvergiftung
verkauft. 'Wenn du bei deinen Schwertkampfübungen eine
Blutvergiftung erleidest, dann geh zu diesem Händler!', empfahl mir der
Arzt. Leider habe ich den Namen des Geschäfts vergessen, aber wenn
ich danach suche, werde ich es schnell finden. Ich mache mich sofort auf
den Weg nach Shibaura!"
Wegen der im Sommer kurzen Nächte war es schon heller Morgen
geworden. Genpachi machte sich eilig reisefertig und brach nach
Shibaura auf. Sein 'Bruder' Kobungo war auch jetzt noch nicht
zurück.
Onui kochte einen Reisbrei und brachte ihn an Shinos Lager, aber er
biss nur die Zähne zusammen und stöhnte. Sein Gesicht war
schon vom Sterben gezeichnet. Obendrein kamen kurz vor
Mittag Beamte vom Amtshaus mit der Nachricht, gegen Bungobei liege
etwas vor, er möge sich sofort melden.
Außer Fassung gab Bungobei mehrmals Widerworte, konnte aber
nichts ausrichten und wurde auf der Stelle abgeführt. Onui stand
verängstigt und erschrocken dabei. Was sie mit ihrem Vater
vorhatten, machte ihr Bange, und was sie für den qualvoll
stöhnenden Kranken tun könnte, wusste sie auch nicht. Ihr
Kind Daihachi fühlte die Furcht seiner Mutter und fing an zu
weinen. Schließlich kam sie auf den Gedanken, das Beste sei
wohl, in ihre Wohnung in Ichikawa zurückzukehren und ihren Ehemann
oder die Schwiegermutter um Hilfe zu bitten. Und mehr noch wollte sie
wissen, wie der Streit ausgegangen war.
"Verzeiht bitte, ich muss ausgehen, werde aber bald wieder zurück
sein....", rief sie, sich vor dem darniederliegenden Shino verneigend.
Dann nahm sie Daihachi auf den Arm und verließ das Haus. Jetzt
war nur noch Shino, mit dem Tod kämpfend, allein in der Herberge.
Kurz darauf betraten zwei Geistliche die Herberge Konaya.
"Bungobei! ....Bungobeeei!"
Keine Antwort. Sie sahen einander an.
"Was ist denn los?"
Sie stießen die nächstbeste Schiebetür auf und standen starr.
"Ha....?"
Da lag Shino und stöhnte noch immer.
Die beiden waren die Wandermönche, die sich die ganze vergangene
Nacht hindurch das Fest angeschaut hatten. Einer der beiden hatte sich
eine große Hornmuschel gekauft und umgehängt. Er warf sie zu
Boden und stürzte in den Raum.
Die Hornmuschel ist das Instrument der Mönche
③
Währenddessen wurde Inuta Kobungo beim
Schlichten der Streitereien durch unerwartete Ereignisse aufgehalten.
Der Anlass für die Auseinandersetzungen war unbedeutend. Drei
Jungen von der Inue-Schule waren von den Schülern der Inuta-Schule
windelweich geprügelt worden und übel zugerichtet umgekippt.
Also musste als erstes Yamabayashi Fusahachi benachrichtigt werden.
Kobungo schickte jemanden nach Ichikawa, aber Fusahachi war nicht
zuhause, und niemand wusste offenbar, wo er steckte. Kobungo wartete
die ganze Nacht hindurch vergeblich und blieb dann noch bis zum Abend,
konnte Fusahachi aber nicht erreichen und musste die Gespräche
über eine gütliche Einigung auf einen späteren Tag
verschieben. Kobungo schickte die Verletzten nach Hause und machte sich
erst spät am Abend auf den Heimweg. Unterwegs begann es zu regnen.
Als er in die Nähe der Herberge Konaya kam, sah es dort irgendwie
befremdlich aus. Hier und da an den Kreuzwegen standen Gruppen von
Leuten im Regen, die aussahen wie Gendarmen. Kobungo war alarmiert. Als
das Haus in Sichtweite kam, blieb er stehen und sah sich um. In einer
Seitenstraße stand eine Gruppe Menschen beisammen. Samurai mit
lackierten und goldverbrämten Militärschirmen,
Amtsbüttel und ein ortsbekannter Gauner. Und von den Gendarmen
verhört wurden Yamabayashi Fusahachi, den Kobungo die ganze Zeit
gesucht hatte, dessen Mutter Myôshin, Onui und der kleine
Daihachi. Was hatte das zu bedeuten?
Nur Fusahachi hielt einen Schirm, alle andern waren vom Regen
durchnässt. Und dieser Fusahachi war aus unerfindlichen
Gründen vom Gesicht bis zu den Schultern mit Lehm
verschmiert, obwohl er den Schirm aufgespannt hatte. Niemand
außer Kobungo hätte erkannt, um wen es sich überhaupt
handelte.
Der Gauner, den Kobungo auch kannte, war ein Mann namens Akashima
Kajikurô und blickte gerade herüber. Ein Samurai, dem dieser
Bandit etwas ins Ohr gesagt hatte, kam sofort auf Kobungo zu, gefolgt
von mehreren Gendarmen.
"Bist du Kobungo, der Sohn des Wirts vom Gasthaus Konaya?"
"Ja."
"Ich bin Niori Hodayû von der Waffengarde der Burg Koga", sprach
der Samurai in arrogantem Ton. "Du weißt sicher von einem
verwundeten Gast, der letzte Nacht im Gasthaus Konaya übernachtet
hat?"
"Nein." Obwohl er merkte, dass er errötete, schüttelte
Kobungo den Kopf. "Ich war gestern nicht da, weil ich zum Schlichten
einer Streiterei beim Fest der vorigen Nacht gegangen bin, und war damit die
ganze Zeit beschäftigt. Ich komme erst eben zurück."
Kobungo wusste nicht, was Onui den Schergen erzählt hatte, war deshalb unsicher und rede sich erst einmal so heraus.
"Aha."
Wider Erwarten hakten die Amtsleute nicht weiter nach, aber der Samurai sagte etwas Bedrohliches.
"Der Aussage des Akashima Kajikurô zufolge weiß er nicht,
was nachts geschehen sein mag, aber seit der vergangenen Nacht habe er
einige Männer, darunter einen Verwundeten, das Haus Konaya
betreten sehen."
Dorfspitzbube Akashima Kajikurô
"Und, was ist damit?"
"Es scheint sich um einen Spion zu handeln, nach dem Burg Koga fahndet.
Er hat es gewagt, die Klinge wider den erlauchten Fürsten zu
erheben, und ist auf einem Kahn geflüchtet. Er heißt Inuzuka
Shino. Wir haben die Verfolgung aufgenommen und flussabwärts
entlang des Flussufers gesucht und sind zu der Ansicht gelangt, dass es sich
bei dem Verwundeten um den Gesuchten handeln müsse."
Niori Hodayû blickte zur Herberge Konaya.
"Heute Mittag haben wir deinen Vater Bungobei ins Amtshaus bestellt und
verhört, aber er sagte, dass solch ein Gast nicht bei ihm wohne."
"Ihr habt meinen Vater....?"
"Aber weil der Verdacht weiterhin besteht, haben wir Bungobei unter
Arrest gestellt und gerade eben das Haus Konaya betreten und
durchsucht."
"Und...?"
"Vor dem Innenraum saßen zwei Wanderpriester, deren einer die Gebetskette rieb, und der andere die Hornmuschel blies."
Genau in diesem Augenblick war von der Herberge her der ungewöhnlich laute Ton der Muschel zu hören.
"Ach, das sind Geistliche aus Kamakura auf Pilgerfahrt, die hier schon seit einigen Tagen wohnen...."
"Als
wir sie nach ihren Personalien fragten, sagten sie, dass sie in
Diensten des Herrn Shogunatsfürsten auf Pilgerreise seien. Man
dürfe sie jetzt nicht im Gebet stören. Falls sie ihr
Gelübde brechen und es ihrem Herrn klagen müssten, sei uns
ein strenger Verweis sicher, behaupteten sie und ließen uns nicht
in den Raum hinein. Im Gegenteil, die unreinen Gendarmen, die das Gebet
stören, möchten umgehend das Haus verlassen, riefen sie."
Kobungo wiegte den Kopf. Im Grunde verstand er gar nichts. Aber sein
Herz, das ihm in der Brust pochte, als wollte es zerspringen, beruhigte
sich nicht.
"Das schreckt uns natürlich nicht ab. Falls der Verdächtige
sich im Haus aufhalten sollte, stehen auch hier nicht wenige Opfer zu
erwarten, denn es handelt sich um einen gefährlichen Verbrecher,
der auf Burg Koga einige Dutzend Samurai erschlagen hat. Dieser Ort
steht unter der Herrschaft des Kaiserlichen Lehnsherrn von Chiba; die
Suche nach dem Verdächtigen ist uns zwar gestattet worden, aber
dieses Gebiet ist nicht unser Land, und deshalb sind wir derzeit am
Überlegen, wie wir die Angelegenheit ohne allzu großen
Aufwand und Blutvergießen lösen können...."
Hodayû hatte gestern die tollkühnen Kämpfe des Inuzuka
Shino auf Burg Koga selbst mit angesehen, und obwohl ihm der Befehl
erteilt worden war, den Täter zu verfolgen und zu verhaften,
fürchtete er sich in Wirklichkeit vor dieser Aufgabe.
"Vorhin ist die Tochter des Wirts vom Konaya mit ihren Verwandten aus
Ichikawa gekommen. Wegen der genannten Umstände habe ich ihnen
verboten, ihr Haus zu betreten."
Onui und ihre Angehörigen standen bleich auf der
Straße. Na ja, die Gesichtsfarbe des lehmverschmierten Fusahachi
war nicht zu erkennen, aber seine Blicke blitzten zu Kobungo
herüber.
"Und jetzt bist du, der Sohn, zurückgekehrt. Das bringt mich auf
einen Gedanken. Wie ich hörte, sollst du ein Ringer und
Schwertkämpfer sein, dem in ganz Gyôtoku niemand gewachsen
ist. Kannst du nicht den Verdächtigen herausholen? Als Sohn des
Herbergswirts wird dir sicherlich etwas einfallen, wie du den Burschen
überrumpelst. Und falls er Schwierigkeiten macht, haben wir nichts
dagegen, wenn du ihn totschlägst."
"......"
"Falls sich wirklich kein Verdächtiger im Haus aufhalten sollte,
komm sofort wieder heraus und melde uns das. Und falls der Kerl drin
ist und sich weiter verborgen hält oder flieht, wirst du ebenso
wie dein Vater dafür zur Rechenschaft gezogen. Bis die Sache
geklärt ist, bleibt dein Vater im Amtshaus unter Arrest. Ist das
klar?"
Kobungos Gesichtsfarbe wurde aschfahl. Er nickte.
"Verstanden. Ich möchte Euren Wünschen so gut wie möglich Folge leisten, aber es kann eine Weile dauern."
Kobungo ging in Richtung Haus los.
"Ich gestatte mir, ebenfalls behilflich zu sein", sagte Yamabayashi
Fusahachi, und mit ihm setzten sich auch Onui mit ihrem Kind und
Fusahachis Mutter Myôshin in Bewegung.
"Oh, halt, die Damen!"
Hodayû hielt sie an, aber Fusahachi sagte:
"Warum denn? Der Verdächtige -falls da einer ist- wird sich viel sicherer fühlen, wenn wir alle da sind."
"Na gut. Aber falls ihr krumme Sachen drehen solltet, ist der Herr des
Hauses Konaya ein toter Mann!", machte Hodayû deutlich.
Aus der Herberge ertönte wieder das Tuten der Hornmuschel, als ob zu einer Schlacht geblasen würde.
Auf dem Weg zum Haus fragte Kobungo gleich Onui. "Wo warst du denn?"
Er
war fest davon überzeugt gewesen, dass Onui die ganze Zeit zuhause
geblieben sei.
"Ich habe mir Sorgen wegen der Auseinandersetzung während des
Festes gemacht und bin deshalb heute früh schnell nach Ichikawa
gelaufen", antwortete Onui, blickte sich kurz um und senkte die Stimme:
"Aber etwas viel Schlimmeres ist geschehen, Herr Bruder. Seit dem
Morgengrauen leidet Herr Shino große Qualen. Herr Vater sagte, es
handle sich um eine Blutvergiftung."
"Was, eine Blutvergiftung? Das ist ja entsetzlich!"
"Ja, und daraufhin ist Herr Genpachi nach Shibaura bei Edo
aufgebrochen, um eine Arznei zu besorgen. Und ich bin nach Ichikawa
gegangen, und gegen Mittag ist mein Mann zurückgekommen und...."
Onuis Gesicht zuckte. "....hat etwas Merkwürdiges gesagt."
"Was denn?"
"Er will sich von mir trennen. Und deshalb ist auch seine Mutter mit ihm gekommen."
"Trennen? Weshalb denn?" Kobungo sah sich nach Fusahachi und Myôshin um.
"Ja wirklich, ich weiß auch nicht, was Fusahachi hat", gab Myôshin verlegen zurück.
Sie war zwar Fusahachis Mutter, aber nur wenig über vierzig. Vor
drei Jahren war ihr Ehegatte Shinbei gestorben, und sie hatte ihr
Haar kurz geschnitten und sich den buddhistischen Nonnennamen
Myôshin zugelegt, sah aber für ihr Alter noch gut aus.
"Er sprach nur von Scheidung und hört nicht auf mich. Ich bin mit
ihm hergekommen, um mit Herrn Bungobei und Euch darüber zu
beraten, aber hier steht es derzeit so schlimm, dass an solche
Gespräche nicht zu denken ist. Herr Kobungo, was sollen wir jetzt
machen?" Sein 'Bruder' Shino todkrank, die Häscher hinter ihm her,
sein Vater im Arrest, seine Schwester vor der Scheidung.... Angesichts
dieser gewaltigen Schicksalsschläge, die wie eine Lawine
über ihn kamen, fühlte sich selbst der
starke, von der Natur körperlich großzügig
ausgestattete Kobungo in einer solchen Bedrängnis, als würde er im Feuer geröstet.
Beim Eintreten ins Haus fragte er aber erst einmal angesichts des lehmverschmierten Gesichts seines Schwagers:
"Fusahachi, was ist mit deinem Gesicht?"
"Ich bin unterwegs hingefallen.... Ich habe in Funabashi bis zum Morgen
Sake getrunken, und der Rausch ist wohl noch nicht ganz weg."
Mit seinem Hanfkimono und einem Seidenmantel, das mit einem Silberring
umwundene Schwert nach Art herrenloser Samurai im Gürtel, seinen
Geta aus Paulowniaholz mit roten Riemen war er ein prachtvoller,
edelmütiger junger Mann; es war wirklich schade, dass ausgerechnet
sein
Gesicht verschmiert war.
Geta sind Holzschuhe mit Stegen und Riemen; hier trägt sie ein Samurai in Ausgehtracht mit Tabi (spezielle Socken)
"Stimmt es, dass du dich von Onui trennen willst?"
"Ja, das ist richtig."
Kobungo blickte ihn fest an.
"Ich weiß nicht, ob du klar im Kopf bist oder nicht, ich kann
dein Gesicht nicht erkennen. Geh erstmal zum Brunnen und wasch dich."
"Mir ist kalt, so kalt!", heulte der kleine, vom Regen durchnässte Daihachi.
"Oh, oh, ich wechsle dir die Kleider", rief Myôshin und zog den Jungen bis auf die Unterwäsche aus.
"Onui, hast du nicht etwas zum Umziehen?" Sie sah sich nach Onui um,
aber dieser war offenbar nicht nach solchen Dingen zumute, sie
reagierte nicht.
Sie betraten den Wohnraum.
"...noomaku, sanmanda botanan, maka, mutariya, biso naki yatei, sowaka...."
Vor der Schiebetür zum Nachbarraum saßen die zwei
Wandermönche und rezitierten wie im Fieber ein Sûtra, einen
Tragekorb mit einer Buddhastatue vor sich. Nun unterbrachen sie ihr
Gebet und drehten sich um. Erleichtert riefen sie:
"Ah, der Herr Sohn des Herbergswirts!" - "Welch ein Glück!"
Es waren natürlich Nengyoku und Kantoku, die beiden
Wandermönche aus Kamakura, die hier logierten. Beide waren
durchaus keine älteren Bonzen, sondern von allenfalls leicht
fortgeschrittenem Alter. Nengyoku sprach:
"Als wir nach dem nächtlichen Festbesuch zurückkamen, waren
weder der Herr Wirt noch Ihr zuhause. Im menschenleeren Gasthaus lag
nur ein unbekannter Herr Samurai qualvoll leidend darnieder. Wenn ich
mich nicht täusche, handelt es sich offenbar um eine
Blutvergiftung. Wir wissen zwar, dass dies eine schwere Krankheit ist,
gegen die man nichts ausrichten kann, ihn aber sich selbst
überlassen konnten wir ihn auch nicht und haben seither
inbrünstig für ihn gebetet. Herr Kobungo, was gedenkt Ihr zu
tun?"
Mönch Nengyoku wacht betend vor der Schiebetür zum Raum des kranken Shino
Kobungo kniete an Shinos Seite nieder.
"Herr Shino, Herr Shino!", rief er mit unterdrückter Stimme und
wollte ihm die Hand drücken, aber Shino antwortete nicht, sondern
erlitt wie ein waidwundes Tier einen Krampf nach dem andern.
"Oh!", stöhnte Kobungo. "Onui, du hast doch gesagt, dass
Genpachi nach Shibaura bei Edo gegangen ist, um Arznei zu besorgen."
"Ja."
"Wir können nichts tun als auf seine Rückkehr warten."
Genpachi war zwar gleich früh am Morgen aufgebrochen, aber von
hier aus sind es bis nach Shibaura und zurück mehr als zehn
Meilen. Selbst wenn er sich nach Kräften beeilte, würde es
Nacht, bis er zurückkäme. Abgesehen davon, ob das rechtzeitig
wäre oder schon zu spät, draußen warteten ja auch noch
die Gendarmen. Und ausgerechnet den Inukai Genpachi
aus Koga würden diese Häscher gewiss nicht unbehelligt
lassen. Und noch etwas gab es zu klären. Kobungo ging in den
Wohnraun zurück.
"Was ist eigentlich los, dass Fusahachi sich von Onui trennen will?", fragte er Myôshin. Fusahachi war nicht da.
"Ja, warum nur? Onui ist eine gute Ehefrau, Daihachi ein
süßes Kind. Und wenn ihn die Leute verlachten 'Seht nur,
Fusahachi von der Inue-Schule, der ansehnlichste Mann von Ichikawa, von
Ehefrau und Kind lässt er sich auf der Nase herumtanzen wie ein
Brummbär', dann machte er sich nie etwas draus, sondern sagte
stets nur 'ja, klar, genau!' Dass ebendieser Fusahachi heute aus
heiterem Himmel von Scheidung spricht, ist auch für mich ein
harter Schlag!"
Ihre Worte zeigten, dass Myôshin für Kobungos Schwester eine gute Schwiegermutter war.
"Seit gestern war Fusahachi nicht zuhause. Er war von jemandem nach
Urayasu eingeladen worden. Am Abend kam ein Bote und berichtete
von der Schlägerei zwischen den Schülern der Inue- und
der Inuta-Ringkampfschule in Gyôtoku. Wir sandten jemanden nach
Urayasu zu Fusahachi aus, aber er war nicht zu finden. Später
erfuhren wir, dass er nach Funabashi gegangen sei und dort Sake
getrunken habe. Heute Vormittag kam Onui und berichtete von den
schlimmen Ereignissen. Ich war ganz außer mir und wusste nicht,
was tun, da kam endlich Fusahachi zurück. Er hörte sich die
Berichte seiner Jungen über die Schlägerei und von Onui
über die hiesigen Geschehnisse an, verschränkte eine Zeitlang
die Arme und überlegte, und dann äußerte er
unvermittelt, er wolle sich von Onui trennen."
Onui legte beide Hände vor ihr Gesicht und begann zu schluchzen.
Der vierjährige Daihachi legte die Händchen auf ihre Knie
und rief ängstlich: "Mama! Mamaaa!"
Neben der Schiebetür saßen die beiden Wandermönche,
aber Myôshin war nicht dazu aufgelegt, auf ihre Anwesenheit
Rücksicht zu nehmen.
"Als ich nach dem Grund fragte, antwortete er: 'Zu dieser Prügelei
bei dem Fest kam es, weil die Jungs von der Inuta-Schule wegen meines
Ringkampfs mit Kobungo über unsere Inue-Schule gelacht haben.
Schon früher hieß es, der Fusahachi ist zu stark verliebt in
seine Frau, und dass er beim Sumô-Kampf verloren hat, liegt
daran, dass er auf den Bruder seiner geliebten Ehefrau zu viel
Rücksicht genommen hat. Schon vorher sahen die Jungen von der
Inuta-Schule auf die Inue-Schule herab, weil sie durchschauten,
wie ich an meiner Familie hing, und ich weiß genau Bescheid
über all das abschätzige Gerede hinter meinem Rücken.
Bei der Prügelei sind jetzt drei Jungs der Inue-Schule verdroschen
worden, und wenn ich dies hinnehme, bin ich, Yamabayashi Fusahachi, als
Mann erledigt und kann womöglich nicht länger
in Ichikawa bleiben. Das ist für mich der Anlass, mich ganz von
Onui zu trennen. Dann kann mich keiner mehr 'Kobungos Schwager'
nennen, und dann werden sich die beiden Ringkampfschulen von Null an
neu miteinander messen.' Das habe er beschlossen, sagte Fusahachi."
"So ein...., so ein Unsinn! Dass er sich einen Ringkampf so sehr zu Herzen nimmt, das passt gar nicht zu Fusahachi!"
"Das habe ich auch ganz entsetzt gesagt und gab mein Bestes, ihn zu
besänftigen, aber wenn er sich einmal etwas in den Kopf
gesetzt hat, ist er nicht mehr leicht davon abzubringen; auch das ist
Fusahachis Charakter. Damit Ihr, Herr Kobungo, mit ihm redet, sind wir
alle nach Gyôtoku gekommen, aber die Notlage, in der sich Herr
Bungobei laut Onuis Bericht befindet, dürft Ihr natürlich
auch nicht außer acht lassen. Wie insgeheim befürchtet
sind Gendarmen aufgetaucht und haben uns dort festgehalten...."
④
"Ganz genau so ist es", sagte eine Stimme.
Da stand Yamabayashi Fusahachi. Man sah, dass er sich am Brunnen das
Gesicht gewaschen hatte. Ohne den Schmutz im Gesicht war er ein
kräftiger, stattlicher Prachtkerl von Mann. Ohne viel
Rücksicht betrat er den Nachbarraum, schaute auf den Kranken und
murmelte: "Aha, das ist also der Gesuchte."
Er kam sofort zurück, setzte ein spöttisches Grinsen auf und
zog, ohne sich zu setzen, aus seiner Brusttasche ein Papier hervor.
"So, ich übergebe dir das Scheidungsschreiben, hier ist es."
Kobungo schüttelte den Kopf.
"Ich nehme es nicht an."
"Warum nicht?"
"Schau doch, Onui weint. Das beweist, dass sie nicht einverstanden ist."
"Es ist Brauch, dass die Meinung der Ehefrau bei einer Scheidung unerheblich ist."
"Ich bin ihr Bruder. Ich bin nicht berechtigt, das Dokument der
Scheidung von meiner Schwester entgegenzunehmen. Sprich wenigstens mit
ihrem Herrn Vater darüber."
"Du meinst wohl, dein Herr Vater kommt heil zurück? Ich habe den
Bericht Onuis gehört. Wenn du jetzt dem Kranken, der nebenan
liegt, nicht den Kopf abschlägst, ist der Kopf deines Herrn Vaters
fällig."
Kobungo wurde blass.
"Oder hast du vor, den Kopf des Inuzuka Shino oder wie der heißt, zu präsentieren?"
"Das kommt nicht in Frage."
"Das hast du doch vorhin dem Beauftragten aus Koga zugesagt."
"Zugesagt habe ich es, aber ich werde es nicht tun."
"Ich habe gehört, dass der Samurai vorhin sagte, falls der
Verdächtige nicht anwesend sein sollte, musst du ihm sofort
Meldung erstatten. Die Gendarmen warten draußen. Was willst du
tun?"
Kobungo mit seinem riesigen Körper wand sich qualvoll.
"Hör zu, was ich hier sehe und höre, bestärkt mich nur
in meinem Entschluss, mich von Onui zu trennen. Wenn ich mich
länger mit dir und deinem Haus abgebe, geht es womöglich auch
mir und meiner Inue-Schule an den Kragen."
Fusahachi zuckte mit den Schultern.
"Du hast mir von Anfang an nicht sonderlich gefallen, aber ich mag deinen Herrn
Vater. Aus der Verpflichtung der bisherigen ehelichen Verbindung heraus
will ich deinen Herrn Vater raushauen. Wenn du es nicht tust, dann
schlage ich halt diesem Gesuchten den Kopf ab und präsentiere ihn den Leuten da."
Kobungo, der sah, wie Fusahachi seine blitzende Schwertklinge blank zog, rutschte zu ihm hin und rief:
"Du Dummkopf, was willst du tun? Bist du etwa nicht in ganz Shimôsa als Ehrenmann bekannt? Du bist wohl von bösen Geistern besessen, dass du so etwas tun willst!"
"Also, was willst du denn tun?"
"Lass mir etwas Zeit. Ich muss überlegen."
"Zeit zum Warten haben wir nicht. Ich habe dem Samurai
versprochen, auch mitzuhelfen, und wenn ich hier tatenlos herumsitze,
bin ich selber mit dran! Mach mir Platz!"
"Nie im Leben!"

Inuta Kobungo und seine Kristallkugel mit dem Schriftzeichen TEI
Kobungos Augen waren blutunterlaufen; er legte ebenfalls die Hand an
die Scheide des Schwertes, das er linkerhand trug. In dem Augenblick,
als er die Scheide berührte, fühlte er etwas mit den Fingern
und blickte kurz auf sein Schwert. Vom Stichblatt bis zur Spitze war
sie mit einem Seil aus verdrehtem Papier umwickelt. Es war das
Siegel, das sein Vater Bungobei angebracht hatte, damit Kobungo
jetzt, da er zwei neue 'Brüder' hatte und der Vorsehung des
Himmels Folge leisten sollte, die Klinge nicht leichtfertig einsetze.
"Wenn du ihn köpfen willst, dann schlag zuerst mir den Kopf ab!",
rief Kobungo mit einer Stimme, als müsste er Blut speien.
"Deinen Kopf will ich nicht, ich brauche nur den anderen", gab
Yamabayashi Fusahachi unbeherrscht zurück. "Ihr Wandermönche,
was hockt ihr da herum? Aus dem Weg!"
Er fuchtelte den beiden Pilgermönchen, die vor der Schiebetür
saßen, mit dem Schwert vor der Nase herum, aber die beiden
blieben seelenruhig sitzen und sahen ihn bloß an.
"Wenn ihr nicht verschwindet, schlag ich euch tot!"
Er gab dem vor ihm sitzenden Kobungo einen Tritt vor die Brust und
senkte drohend sein Schwert auf die Mönche. Im Davonkullern
ergriff Kobungo mit der Linken sein Schwert samt Scheide und hieb
Fusahachi das Schwert aus der Hand. Durch Fusahachis Klinge wurde
Kobungos Papiersiegel durchschnitten und löste sich.
"Bist du denn wahnsinnig, Fusahachi?"
Kobungo sah aus, als hätte
auch er nun den Verstand verloren.
"Mir reicht es jetzt wirklich mit
deinem Gerede ohne menschliche Regung und Scham, das ich mir seit
vorhin anhören muss. Das Papierseil, mit dem mein Vater mein
Schwert versiegelte, damit ich es nicht ziehe, ist zerschnitten, ein
Wink des Himmels. Fusahachi, sieh dich vor!"
Kobungo sprang mit gezogenem Schwert wild entschlossen auf.
"Darauf habe ich gewartet! Los, jetzt beginnt der wahre Kampf!"
Mit gebleckten Zähnen trat Fusahachi ihm entgegen. Die ersten
Schlagwechsel waren so heftig, dass bläuliche Funken
sprühten. Da ließ Onui, die mit ihrem Kind auf dem Arm bibbernd unter den gekreuzten Schwertern gekauert hatte, den kleinen Daihachi los und warf sich zwischen die Kämpfer.
"Hört auf! Was tut ihr denn? Hört auf!"
Fusahachi, der ihr zur Seite hin ausweichen wollte, trat mit dem
Fuß den rücklings auf dem Boden liegenden nackten und
heulenden Daihachi weg. Ein Schrei, und das fortgeschleuderte Kind
hörte auf zu weinen. Es hatte anscheinend seinen letzten
Atemzug getan. Onui war außer sich vor Schmerz. Sie warf
ihren
gelösten Haarschopf in die Luft und schrie:
"Du Unmensch! Und sowas will der Vater eines Kindes sein!"
Fusahachis Schwert schnitt tief in ihre Schulter ein, als sie ihn umklammern wollte.
"Oh...!"
Fusahachi stand starr.
Fusahachi erschlägt seine Gattin Onui im Manga
"Du Unhold!"
Jetzt war es Kobungos Klinge, die sich heftig in dessen Schulter grub.
Einen Schwall Blutes vergießend, sank Fusahachi in den Sitz auf
sein Hinterteil. In äußerster Wut wollte Kobungo ihm darauf
den finalen Streich versetzen, aber Fusahachi hob die linke Hand
und bat:
"Warte! Ich habe dir etwas mitzuteilen."
"Jetzt noch? Was hast du mir denn jetzt noch zu sagen?", sagte Kobungo
zähneknirschend. "Dein Geschwätz will ich nicht hören."
"Na gut... oder vielmehr ebendeswegen. Fang mein Blut und das meiner
Ehefrau auf und gieß es deinem Gast auf die Wunden...."
"Wieso das denn?", fragte Kobungo stockstarr.
"Mach schnell! Um eine Blutvergiftung zu heilen, benötigt man je
fünf Becher Blut eines jungen Mannes und einer jungen Frau, das
habe ich von deinem Herrn Vater gehört. Mach schnell, beeil
dich!", rief Fusahachi stöhnend, mit aufgelöstem Haarknoten.
Verwirrt sah Kobungo sich um und riss dem einen der beiden
gegenüber sitzenden Mönche die Muschel aus der Hand. Diese
Muschel hielt er an die Wunde in der Schulter des rücklings
umgefallenen Fusahachi. Sein Blut strömte hörbar hinein.
Anschließend hielt er sie an die Schulter der Onui, die
bäuchlings niedergestürzt war. Onui war schon leblos, aber
ihr Blut entfloss noch immer der Wunde. Beider Blut zusammen ergab
mindestens zweieinhalb Liter. Mit der Muschel in der Hand
stürzte Kobungo in den Nachbarraum und übergoss den gesamten
Körper Shinos, der sich wand wie ein Wurm, mit diesem Blut. Daraufhin
schüttelte sich Shino zweimal, dreimal, und zusehends kehrten die
Lebensgeister in sein Gesicht zurück. Seine Augen öffneten
sich.
"Was ist mit mir geschehen?"
Kobungo schrie auf. "Du bist wieder lebendig geworden! Shino, bleib so liegen! Alles Nähere später....!"
Er rannte zu dem vorigen Raum zurück und bettete Fusahachi in seine Arme.
"Fusahachi, was hat das alles zu bedeuten?"
"Ich habe es heute von Onui gehört. Dass ihr einen Flüchtigen
mit Namen Inuzuka Shino vom Fluss zu euch aufgenommen habt, dass du mit
ihm brüderlich verbunden bist, dass Herr Shino eine Blutvergiftung
erlitten hat, dass die Häscher aus Koga hinter ihm her sind und
dass dein Herr Vater unter Arrest gestellt wurde. Als ich von eurer
großen Not hörte, war mir klar, dass der Augenblick, meinen
Edelmut und meine Ehre zu erproben, gekommen ist", presste
Fusahachi
hervor. "Zuerst musste Herr Inuzuka gerettet werden. Dafür war es
nötig, dass Onui und ich, wie wir vorher gehört hatten, je
fünf Becher Blut spendeten...."
"Edelmut? Ich weiß zwar, dass man dich als den aufrechtesten Ehrenmann
von ganz Shimôsa rühmt, aber das ist doch ein allzu
furchtbares Opfer...!"
"Nein, das ist ja nicht alles", sprach Fusahachi mit stockendem Atem
weiter. "In den Adern der Angehörigen meines Hauses fließt das verfluchte Blut
von Fürstenmördern. Das musste vergossen werden...."
"Was meinst du damit?"
"Du weißt vielleicht, dass mein Vater Shinbei vor drei Jahren, als
er gerade fünfzig wurde, seine Lebenskraft verlor und starb. Auf
dem Totenbett rief er mich und offenbarte, dass er mit vierzehn oder
fünfzehn von Awa nach Ichikawa gekommen und Fischer geworden
sei. Dort hatte er zwar den angesehenen Fischereibetrieb Inueya auf die
Beine gestellt, aber in Awa war er Spross eines Bauern gewesen. Sein
Vater, also mein Großvater, hieß Somaki Bokuhei..."
Etwas bewegte sich heftig. Es war die Schulter des Wandermönchs Nengyoku.
"...Somaki Bokuhei war zwar ein Bauer, aber er hatte ein Ziel, um
dessentwillen er bei einem Meister die Kampfkunst erlernte. Damals
beherrschte das Haus Jinyo das Land Awa, aber dessen engster Gefolgsmann, Vogt
Yamashita Sadakane, war ein Tyrann, der das Volk drangsalierte. Mein
Großvater wollte den Yamashita mit einem Bogenschuss umbringen,
traf aber versehentlich seinen Herrn Jinyo Mitsuhiro. Aber nicht
alleine das; er brachte auch noch einen treuen Gefolgsmann des Hauses Jinyo
mit Namen Nago Shichirô mit um, der ihn festnehmen wollte."
"Oooh!", rief Kobungo aus.
Die hier zusammengefasste Geschichte um Jinyo Mitsuhiro
und Yamashita Sadakane, die sich vor 17 Jahren zutrug, wurde in
Abschnitt 1 ausführlich geschildert. Das Zusammenzucken des
Mönchs bei der Erwähnung des Namens Somaki Bokuhei wird
dadurch erklärlich, dass Nengyokuund
Kantoku die am Ende von Abschnitt 1 erwähnten Kanamari
Daisuke und Amasaki Jûichirô sind, die sich von Awa aus als
Wandermönche auf die Suche nach den verlorenen Kristallkugeln der
Fusehime begeben hatten und diese Vorgeschichte des Hauses Satomi gut
kennen, denn Kanamari Daisuke ist der Sohn des Kanamari Hachirô,
der die Attentäter ausgebildet und sich später selbst das
Leben genommen hatte.
Nago Shichirô ist der oben erwähnte Bruder des Konaya Bungobei, also der Onkel von Inuta Kobungo. |
"Das
ist eine Überraschung für dich, nicht wahr? Dieser Herr Nago
Shichirô ist nämlich der Bruder deines Herrn Vaters. Diese
Sache hat mein Vater erst erfahren, nachdem Onui meine Frau geworden
und Daihachi schon geboren war. Und du hast ja gesehen, dass Daihachi
seit seiner Geburt noch niemals seine linke Faust geöffnet hat.
Was könnte das anders sein als jener Fluch, der auf der fatalen
Verbindung zwischen unseren Familien lastet? Mein Vater hat
darüber geschwiegen, aber sich deswegen gegrämt und ist
schließlich wirklich erkrankt.
Wenige Tage vor seinem Tod hat er mir eröffnet, dass ihn
die große Schuld seines Vaters Bokuhei bedrücke, der,
wenngleich versehentlich, seinen Herrn ermordet hatte; ferner habe er
gehört, dass der Samurai, der Bokuhei die Waffenkunde gelehrt
hatte, sich wegen seiner Verantwortung selbst entleibt hat. Dass
Bokuhei einst auch den Bruder des Herrn Bungobei getötet hatte,
sei eine Schuld gegenüber dem Haus Konaya, die gesühnt werden
müsse, sonst gehe der Fluch nämlich mit Sicherheit auf den
Enkel Daihachi über. Nein, er ist tatsächlich schon auf ihn
übergegangen. Fusahachi, sagte mein Vater, solange du am Leben
bist, musst du unbedingt die Schuld sühnen, dazu ist dein Leben
bestimmt."
Man hörte, wie seine Mutter Myôshin laut schluchzte.
"Ich habe es mir nicht ausgesucht, aber heute ist die Stunde der
Sühne gekommen. Dass ich durch unseren Tod das Leben deines Herrn
Bruders retten kann, halte ich für die bestmögliche Tilgung
meiner Schuld Euch gegenüber, und zugleich wird es den Fluch von
Daihachi nehmen. Ich sterbe auch um Daihachi zuliebe! Dazu war es
leider unumgänglich, auch das Blut der armen Onui zu bekommen. Es
war ihr Schicksal aufgrund der unheilvollen
ehelichen Verbindung mit mir; um den Fluch von Daihachi zu
nehmen,
musste Onui leider mitsterben.
Hätte ich vorher gesagt, wir sollten unser Blut geben,
hätte wohl Onui schwerlich, und du mit Sicherheit nicht zugestimmt.
Deswegen habe ich jetzt Onui absichtlich erschlagen und mich von dir
absichtlich erschlagen lassen."
Kobungo raufte sich die Haare. "Das war also der Grund..... Jetzt
begreife ich das. Jetzt wird mir dein wahnsinniges Verhalten klar. Es
wird mir zwar klar, aber......"
Er wandte sich zu dem Nachbarraum um
und schwieg. Die Wirkung des frischen Blutes eines jungen Mannes und einer jungen
Frau war wohl sichtbar, Shinos Lebensgeister waren zurückgekehrt,
aber trotzdem....
"...ist sein Haupt in Gefahr, abgeschlagen zu werden", ergänzte
Fusahachi Kobungos Gedanken. "Bring denen meinen Kopf. Ich habe von
Onui gehört, dass mein Gesicht dem des Herrn Shino zum Verwechseln
ähnlich sieht."
"Nein....!", schrie Kobungo auf.
"Deshalb habe ich mir nämlich Schmutz ins Gesicht geschmiert, damit die
Gendarmen es nicht gut erkennen. Um zu sehen, ob das gelingen
könnte, habe mir vorhin kurz das Gesicht des Kranken angesehen und
mich vergewissert, dass Leuten, die uns nicht kennen, der Unterschied
nicht auffallen wird."
Fusahachi setzte ein, man kann es nicht anders nennen, blutiges
Lächeln auf und kroch zu dem reglosen kleinen Daihachi
hinüber.
"Schau mal, Daihachi, dass ich dich fortgetreten habe, war nur eine Kriegslist. Du wirst doch nicht etwa tot sein..."
Er versuchte, sein Kind in die Arme zu nehmen.
"Oh, du hast einen blauen Flecken bekommen!", rief er aus. In diesem
Augenblick kam Daihachi wieder zu sich und fing an zu weinen. An seiner
linken Hüfte war ein großes, schwarzes Mal deutlich sichtbar.
"Dein Vater wird zusammen mit seiner geliebten Ehefrau in eine andere
Welt fortgehen. Es tut mir leid für deine Mutter, die dich noch
immer an die Brust genommen hatte. Leider wirst du ihre Mutterbrust nie mehr spüren. Lab dich noch ein letztes Mal!"
Fusahachi öffnete den Kimono der toten Onui und legte den Mund von
Daihachi, den er mit einem Arm hielt, an ihre schneeweiße linke
Brust. Daihachi war zwar schon vier Jahre alt, pflegte aber noch immer
an der linken Brust seiner Mutter zu saugen, wärend seine zur
Faust geballte linke Hand leicht auf ihre rechte Brust pochte. Das tat
Daihachi auch jetzt; das Kind tatschte auf die rechte Brust seiner
toten Mutter, aber in diesem Augenblick entfaltete sich seine linke
Hand wie ein junges Blatt zum ersten Mal in seinem Leben, und aus der
geöffneten Hand rollte eine Kugel vor Kobungos Füße. Er
hob sie reflexartig auf und stöhnte:
"NIN!"
Daihachis (Inue Shinbei) Tugend ist NIN - seine Humanität bringt später viele Menschen in Gefahr
Er sah auf das Kind hinab. Seine Mutter war bereits tot, der Kopf
seines Vaters Fusahachi lag am Boden und regte sich nicht mehr. Ob
Daihachi wohl begriff, was "Tod" bedeutet? Er fing wieder an, mit
trauriger Stimme zu weinen; das Mal
an seiner gut genährten Hüfte hatte unverkennbar die Form
einer großen, geöffneten Päonienblüte. Wer
hätte das gedacht? Der kleine Daihachi....!
Kobungo schaute starr auf seinen vierjährigen Neffen, er konnte
den Blick nicht von ihm abwenden. Dieses kleine Kind soll ein weiterer
der durch die Kristallkugeln und das Päonienmal miteinander
verbundenen Brüder sein?
Die bisher gefundenen Hundekrieger:
Inuzuka Shino, Schriftzeichen KÔ 孝 : Sohn des Bansaku, Hamajis Freund, in
Ôtsuka bei Onkel und Tante (Hikiroku, Kamezasa) aufgewachsen.
Inukawa Sôsuke, Schriftzeichen GI 義 :
Sohn eines Landvogts aus Izu, als Bediensteter mit Namen Gakuzô
im Hause Ôtsuka aufgewachsen.
Inuyama Dôsetsu, Schriftzeichen CHÛ 忠 : Sohn des Nerima-Gefolgsmannes Dôsaku,
Halbbruder der Hamaji, will seinen erschlagenen Vater rächen.
Inukai Genpachi, Schriftzeichen SHIN 信 :
Sohn des Nukasuke, in Koga aufgewachsen, Shinos Gegner beim Kampf auf dem Dach der Burg.
Inuta Kobungo, Schriftzeichen TEI 悌 : Sohn des Konaya Bungobei aus Gyôtoku, Sumô-Ringer und Bruder der Onui.
Inue Shinbei, Schriftzeichen NIN 仁 : Kindername Daihachi, Sohn des Yamabayashi Fusahachi und seiner Frau Onui, Neffe des Kobungo. |
⑤
"Aaah!"
Ein tiefer Laut der Verwunderung war zu vernehmen. Er kam von den beiden Wandermönchen. Sie sahen einander an und staunten:
"Sollten wir im zwanzigsten Jahr endlich auf die Kristallkugeln von Fräulein Fusehime gestoßen sein?"
Mönch Nengyoku (Chudai) mit Kristallkugel - die buddhistische Mönchs- und Nonnentonsur ist eine Vollglatze
"Damals flogen sie in einem Strom von Blut davon, und jetzt ist hier wieder ein Meer von Blut!"
Nun kam auch Inuzuka Shino
von seinem Krankenlager herbeigekrochen. Sein gesamter Körper war
blutigrot gefärbt, und als er vor sich die Blutlachen der beiden
Toten erblickte, riss er entsetzt die Augen weit auf.
Der Mönch Nengyoku sagte, indem er sich zu Shino umwandte:
"Vorhin,
als wir zurückkamen und diesen Herrn, der unter großen
Qualen
litt, versorgen wollten, kam aus den Tiefen seiner Brusttasche, als er
sich krümmte, eine Kugel herausgerollt, die das Schriftzeichen
KÔ trug. Das war eine Überraschung!"
"Wir
wussten nicht, wie er heißt, wir wussten nicht, wer er ist", ergänzte Kantoku, "aber
wir erkannten, dass er ein Mann sein muss, den wir seit zwanzig Jahren
suchen. Danach bemerkten wir, dass nach ihm gefahndet wurde, aber wir
schützten ihn vor seinen Verfolgern. Damit sie sein Stöhnen
nicht hören, bliesen wir die Hornmuschel und beteten laut
Sûtras."
Nengyoku nahm unvermittelt eine ehrerbietige Haltung an und sprach in feierlichem Ton:
"Mein
Name ist Kanamari Daisuke; ich stehe in Diensten des Fürsten
Satomi von Awa. Vor zwanzig Jahren habe ich die Mönchsgelübde
abgelegt und den Mönchsnamen Chudai angenommen. Mein Begleiter
Kantoku ist ebenfalls ein Vasall des Hauses Satomi mit Namen Amasaki
Jûichirô. Dass nun die Kugel mit dem Schriftzeichen NIN auf
eine solche Weise zum Vorschein kam, hat uns sehr verwundert, aber
bedenkt man es recht, ist darin ein Sinn zu erkennen.
Schließlich sind es keine gewöhnlichen Glasperlen."
Danach berichtete er, woher die Kristallkugeln kamen, angefangen mit
der Herkunft der wundersamen Gebetskette der Fusehime aus dem Hause
Satomi. Der
Geistliche Chudai berichtete alles, was sich seinerzeit zugetragen
hatte, vom Wunderhund Yatsufusa, der Vernichtung des Anzai Kagetsura,
der Flucht von Fusehime und Yatsufusa in den Bergwald von Toyama und von
Fusehimes Selbstentleibung, nach welcher die acht Kristallkugeln zum
Himmel aufgeflogen waren. Und dass sie beide sich daraufhin auf die
Reise zur Suche nach den acht Kristallkugeln gemacht hatten. Zwanzig
Jahre sind seither vergangen.
Mönch Chudai im Manga, wo man ihm volles Haar gönnt
Kobungo hörte gebannt zu, als wäre er in eine mysteriöse Märchenwelt entführt worden.
"Ich besitze ebenfalls eine solche Kristallkugel, und zwar mit dem Schriftzeichen TEI."
"Ja, das wissen wir. Weil wir von den Leuten gehört hatten, dass
der Sohn des Herbergswirts Konaya in Gyôtoku eine wunderliche
Kristallkugel besitze, haben wir uns hier einquartiert", nickte
Mönch Chudai. "Bevor wir Euch direkt dazu befragen wollten, wollten wir
erst einmal sehen, was für ein Mensch derjenige ist, der solch
eine Kugel bei sich hat, und Euch gegen den in dieser Gegend
hochgerühmten Ringmeister Yamabayashi Fusahachi zum Kampf antreten
lassen. Ihr habt nicht nur wie erwartet gewaltige Kräfte, sondern
während des Kampfes sahen wir auch auf Eurem nackten Hinterteil
das Päonienmal. Wir waren verblüfft, denn der eben
erwähnte Wunderhund Yatsufusa hatte auf seinem weißen Fell
acht schwarze Flecken in ebendieser Päonienform."
"Herr Shino, wie kamt Ihr zu Eurer Kugel?"
Von Kantoku alias Amasaki Jûichirô befragt, erzählte
Shino sein bisheriges Schicksal, von seiner Kristallkugel mit dem
Schriftzeichen KÔ und dem Päonienmal auf seinem Arm.
Selbstverständlich erwähnte er auch seinen 'Bruder' Sôsuke, der in Ôtsuka in Musashi lebte.
Auf einmal warf Kobungo seinen riesigen Körper nieder, legte
sein Ohr an den Boden und stieß beinahe gleichzeitig blitzschnell
sein Schwert durch die Bohlen. Er hatte etwas getroffen. Ein
fürchterlicher Schrei ertönte, und das Geräusch
fliehender Menschen. Es war offenbar kein Einzelner gewesen.
Traditionelle japanische Häuser sind bis heute so gebaut, dass sich ihr Fußboden zwischen 30 und 50 cm über dem Erdboden befindet. Dicke Pfeiler stützen
das ganze, aus Holz gezimmerte Haus, das somit vor Feuchtigkeit
und Überflutung leidlich geschützt ist - in einer
Reisbaukultur mit Monsun ist das üblich. Der Zwischenraum zwischen
Erdboden und Fußboden wird als Lager genutzt, ähnlich
unserem Keller, aber Tiere und Spione können sich dort
von außen hineinschieben. Der Boden besteht aus Holzlatten, auf denen Tatami
liegen, das sind mit Binsen bespannte Holzrahmen, die den Raum wohnlich
machen.
Der Mönchsname Nengyoku
bedeutet "der Kristallperlen gedenkend", es ist eine Art Pseudonym. Der
wirkliche Mönchsname des Kanamari Daisuke lautet Chudai. |
Zwischen Fuß- und Erdboden
befindet sich ein Hohlraum
Auf die Latten des Fußbodens werden Tatami in genormter
Größe gelegt
Dem
Geräusch folgend, stürmte Kobungo in Richtung des Gartens
hinter dem Haus. Zwei Schatten, die schon aus dem Hohlraum unter dem
Haus hervorgekrochen waren, rannten durch den nächtlichen Regen
zum hölzernen Gartentor. Verdammt, die durften nicht entkommen!
"Stehen bleiben!"
Kobungo sprang in den Garten hinunter, aber die zwei kletterten schon
über das Gartentor. Aber in diesem Moment packte ein Kriegsmann,
der just von der anderen Seite her zum Gartentor kam, mit jedem
Arm einen der beiden am Kragen und stieß sie in den Garten
zurück, dass sie wie Hunde über den Erdboden kugelten.
Der Kriegsmann öffnete das Tor und sagte: "Herr Kobungo, diese Spitzbuben sollen doch sicher nicht entkommen, oder?"
"Oh, Herr Inukai Genpachi!", rief Kobungo. "Nein, die dürfen nicht entfliehen."
Genpachi setzte den beiden Gaunern, die sich auf der Erde wanden, den
Fuß derart fest auf die Brust, dass man ihre Rippen brechen hörte. Sie
spuckten Blut und hauchten ihr Leben aus.
"Herr Kobungo, Ihr wisst sicher von der Blutvergiftung des Herrn Inuzuka Shino."
"Ja, ich weiß Bescheid."
Genpachi nickte und machte ein bekümmertes Gesicht.
"Der Arzneihändler von Shibaura ist nach Kamakura verzogen, ich
konnte keine Medizin bekommen. Ich dachte daran, auf der Stelle nach
Kamakura zu gehen, aber ich machte mir Sorgen, was hier geschehen
könnte, und bin deshalb mit leeren Händen
zurückgekommen. Wie
steht es um Herrn Inuzuka?"
"Er ist wieder genesen, aber es ist etwas anderes Schlimmes geschehen."
"Ja, als ich eben zurückkam, sah ich hier und da Lagerfeuer rund
um dieses Haus, um die sich eine Menge Amtsleute und Gendarmen scharen.
Ich habe die Straße vermieden und bin zum Hintereingang gekommen.
Was ist denn los?"
Während Kobungo ihm stockend berichtete, was sich zugetragen hatte, führte er Genpachi ins Haus.
"Die Leute, die sich unter den Fußboden geschlichen hatten, waren
Leute aus der Bande des Spitzbuben Akashima Kajikurô", sagte er.
"Jedenfalls warten draußen die Gendarmen. Uns bleibt nichts
übrig, als dem Wunsch des Fusahachi zu folgen und ihnen dessen Haupt
zu überbringen."
Schluchzend schnitt Kobungo seinem toten Freund Fusahachi das Haupt ab, nahm es
in die Arme und begab sich hinaus. Draußen erhob sich ein
Lärm, der danach wie die Flut der See verebbte. Es war das Geräusch der abziehenden Verfolger, die meinten, sie hätten das Haupt des Inuzuka Shino als Trophäe erhalten.
Die
Mönche Chudai und Kantoku erzählten für Genpachi
erneut die vergangenen Geschehnisse, und Genpachi erstattete über sich
Bericht.
"Wie,
dann habt auch Ihr eine Kristallkugel?!" - "Die Kugel mit dem SHIN?",
sprudelte es aus den überraschten Mönchen hervor.
Nun sagte Shino:
"Ich
komme noch einmal auf meinen 'Bruder' Sôsuke zu sprechen, der in
Ôtsuka geblieben ist. Mir fällt nämlich noch etwas ein,
was er gesagt hat. Ich hatte ja schon berichtet, dass er als kleines
Kind mit seiner Mutter nach Ôtsuka gekommen und im Schnee
verschüttet worden ist. Das war, wie er sagte, auf dem Weg zu
einem Vetter im Lande Awa, der Amasaki hieß."
"Was....? Jener Mann.... muss demnach der Sohn des einstigen Landvogts Inukawa
von Izu sein!", schrie Kantoku alias Amasaki Jûichirô. "Die
Gattin dieses Hauses Inukawa sei die Cousine meines Vaters, habe
ich als Kind gehört. Das bedeutet, dass dieser Mensch auch für
mich kein Fremder ist!"
Shino rief: "Nun möchte ich so schnell wie möglich nach Ôtsuka
zurückkehren, um zu erfahren, wie es dazu kam, dass mir die Klinge
des Schwertes Murasame vertauscht worden ist."
Da kam Kobungo zusammen mit seinem freigelassenen Vater Bungobei
zurück. Kobungo sagte, er habe dem Leiter der Verfolgungstruppe,
dem Niori Hodayû, erzählt, er habe zwar erfahren, dass
während seiner Abwesenheit tatsächlich der gesuchte Inuzuka
Shino in der Herberge logiere, aber weil er augenscheinlich ein
äußerst gerissener Bursche war, habe er in Ruhe eine
Unachtsamkeit abgewartet, weshalb es einige Zeit gedauert hatte, ihn zu
erschlagen.
Es war eine Lage, in der man nicht wusste, ob man sich freuen oder
trauern sollte, aber weder zur Freude noch zur Trauer blieb ihnen Zeit.
Alle dachten darüber nach, was jetzt zu tun sei. Das Ergebnis der
Überlegungen war, dass früh am nächsten Morgen Shino,
Genpachi und Kobungo zu dritt nach Ôtsuka aufbrechen wollten. Die
Leichname von Yamabayashi Fusahachi und Onui luden sie in
Tragkörbe und brachten sie noch in der Nacht nach Ichikawa;
besonders der Leichnam des Fusahachi musste mit äußerster
Sorgfalt geheim gehalten werden.
Der Knabe Daihachi, der sich zu aller Verwunderung ebenfalls als einer
ihrer 'Brüder' entpuppt hatte, war trotz allem erst vier Jahre
alt. Er sollte vorerst in der Obhut der Myôshin bleiben, die
Mönche Chudai und Amasaki Jûichirô sollten sie
begleiten und bis zum siebten Tag für das Ehepaar Yamabayashi
Totenriten durchführen, für ihr Seelenheil beten und auf die
Rückkehr Shinos und seiner Gefährten warten.
"Ihr seid allesamt Söhne der Fusehime und könnt Euch als
Hundekrieger bezeichnen. Wenn man jenen Sôsuke und den kleinen
Daihachi hinzuzählt, sind jetzt schon fünf Hundekrieger
aufgetaucht", sagte der Geistliche Chudai. Noch wusste keiner von ihnen
etwas von jenem Hundekrieger, der nahe den Hügeln bei
Hongô aufgetaucht war.
"Aber es sind acht Kristallkugeln fortgeflogen. Demnach müssen
noch drei weitere Hundekrieger irgendwo in dieser Welt leben. Und zwar
Leute, die die Kugeln mit den Schriftzeichen CHÛ, CHI und REI
besitzen. Ich habe dem Fürsten Satomi Yoshizane
gelobt, alle acht Kristallkugeln zu suchen und nach Awa
zurückzubringen. Ich weiß aber jetzt, dass es mit den Kugeln
nicht genügt. Da ich nun weiß, dass sie im Besitz solch
prachtvoller Recken wie Euch sind, möchte ich am Ende alle acht
Hundekrieger nach Awa mitbringen."
Danach
meinte Chudai, Daihachi solle seinen Kindernamen ablegen und sich
künftig nach der Sumô-Schule seines Vaters und nach seinem
Großvater Inue Shinbei nennen,
und Inuta Kobungo solle das Schriftzeichen "ta", das er von dem Namen eines
Taugenichts erhalten hatte, den er erschlagen hatte, durch
ein würdigeres, gleichlautendes Schriftzeichen ersetzen.
⑥
Am
folgenden Morgen brachen die drei Hundekrieger beherzt in Richtung
Ôtsuka auf. Schon in der vorigen Nacht war Myôshin mit dem
kleinen Daihachi auf dem Arm in Begleitung der Mönche Chudai und
Amasaki Jûichirô nach Ichikawa zurückgekehrt, um dort zu warten, bis
Bungobei ihnen die Nachricht von der Rückkehr Kobungos und seiner
Gefährten bringen werde.
Nur um Sôsuke aus Ôtsuka herzubringen, wären
sicherlich drei oder vier Tage für die Hin- und Rückreise
ausreichend gewesen, aber seit ihrem Aufbruch war nichts mehr von ihnen
zu hören.
"Was
mag ihnen zugestoßen sein?", sorgte sich Chudai.
Schließlich konnte er die Ungewissheit nicht länger ertragen
und begab sich nach zehn Tagen auf den Weg in Richtung
Ôtsuka. Dass er Myôshin und den kleinen Daihachi sich
selbst überlassen musste, machte ihm zwar Sorgen, aber eine
Vorahnung sagte ihm, dass es besser sei, Amasaki bei ihnen zu lassen.

Kobungo (links), Shino (Mitte) und Genpachi (rechts) auf dem gemeinsamen Weg nach Ôtsuka
Seine Vorahnung hatte nicht getrogen.
Vier oder fünf Tage später spielte Myôshin abends
gerade mit ihrem Enkel, den sie nunmehr Shinbei nannte, im Wohnraum
des Anwesens Inue, als jemand von hinten, von der Gartenseite her,
heimlich den Kopf zu ihr hereinsteckte. Ein breitschultriger Mann mit
bronzefarbenem Gesicht, grauen Strähnen im Bart, breiter Nase und
wulstigen Lippen. Es war Akashima Kajikurô, der in der Gegend von
Ichikawa und Gyôtoku als oberster Spitzbube bekannt war.
"Ho, Frau Großmama, ich hätte eine kleine Frage", grinste
er. "Wo sind eigentlich der junge Herr des Hauses und seine Frau
Gemahlin abgeblieben?"
Myôshin antwortete fassungslos: "Fusahachi hatte etwas vor und
ist nach Kamakura, und Onui in ihr Elternhaus nach Gyôtoku
gegangen. Aber was geht dich das an?"
"Heheheee, ich habe in Gyôtoku ins Haus Konaya
hineingespäht, aber von der Frau Gemahlin keine Spur gesehen", gab
Kajikurô zurück, "...und hier habe ich neulich ein frisches
Grab entdeckt..."
Myôshin bekam einen Schreck. Dieser Gauner hatte es schon
mehrfach mit dem Haus Inue zu tun bekommen. Vorher war der beste
Halunke aus seiner Bande, Mogari Inuta, von Kobungo aus Gyôtoku
totgeprügelt worden, und weil seine Leute oft Fracht von den
Schiffen stahlen, war Kajikurô schon mehrfach mit Fusahachi
aneinandergeraten. Aber das war nicht alles. Myôshin hatte mit
eigenen Augen gesehen, wie dieser Schurke verraten hatte, dass im
Hause Konaya ein verdächtiger Verwundeter wohne, und die Verfolger
aus Koga dort hingeführt hatte.
"Das weißt du doch selber. Der Verdächtige, der im Hause
Konaya wohnte, ist von Kobungo erschlagen und sein Haupt den Amtsleuten
ausgehändigt worden. Um dessen Fluch auf das Haus Konaya und
dessen Angehörige zu vermeiden, wurden die sterblichen
Überreste hier in Ichikawa begraben."
"Ihr wollt mich wohl veralbern! Gibt es denn jemanden, selbst unter
Verwandten, der die Leiche eines Kerls, der anderswo totgeschlagen
wurde, eigens annehmen und begraben würde? Und war es
überdies nicht zwischen Herrn Kobungo und Herrn
Fusahachi von hier zu einem solchen Zerwürfnis gekommen, dass sich
deren Schüler eine gewaltige Prügelei geliefert haben?",
griente Kajikurô. "Als Herr Kobungo neulich in Gyôtoku den
Kopf des Inuzuka Shino oder wie der hieß den Beamten aus Koga
aushändigte, war ich leider nicht mit anwesend; ich suchte nach
drei Leuten von mir, die ich zum Auskundschaften zum Konaya geschickt
hatte, die aber nicht zurückkamen."
Die Leichen dieser drei Banditen hatten die Mönche, die mit
Myôshin nach Ichikawa zurückkehrten, mit aufs Boot genommen
und unterwegs in den Fluss geworfen.
"Handelte es sich nicht etwa um den Kopf des Fusahachi?"
Myôshin stockte der Atem.
"Allerdings begreife ich nicht den Sinn der Sache. Hehehee, wenn man die Gruft aufgräbt, wird es sicher klar..."
Der war ein Kerl, der nicht einmal davor
zurückscheute, Gräber aufzubrechen. Fusahachis Leichnam
war zwar ohne Kopf, aber sie hatten Onui so mit ihm zusammen begraben,
dass er seine geliebte Gattin umarmte, was nicht leicht zu
erklären wäre, falls der Tote Inuzuka Shino wäre.
"Ihr seid sehr bleich geworden, hehehee, Frau Großmama.
Aber keine Sorge, Kajikurô macht keine solchen Sachen.
Allerdings müsstet Ihr dafür tun, was ich Euch sage...."
Kajikurô stieg vom Garten her ins Innere des Raums. Shinbei fing
an, laut zu weinen. Myôshin wich nach hinten zurück.
"Ich soll tun, was du mir sagst? Was willst du denn von mir?"
"Um die Wahrheit zu sagen, ich bin schon seit Längerem in die gnädige Frau Großmama verliebt...."
Myôshin hatte zwar ihr Haar kurz geschnitten und sich einen
Nonnennamen zugelegt, war aber gut zehn Jahre jünger als
Kajikurô und besaß noch den Reiz einer knapp
Vierzigjährigen.
"Red keinen Blödsinn!"
"Dann soll ich also das Grab öffnen? Falls Euch das nicht gefallen
sollte, müsst Ihr schon ohne Widerworte auf mich hören."
Kajikurô stürzte sich auf sie, Myôshin versuchte, ihm
zu entkommen, aber er fing sie schließlich ein und packte sie -
da wurde er urplötzlich nach hinten gerissen, dass er sich
überkugelte.
"Du Schuft, was machst du da?"
Amasaki Jûichirô war vorübergehend ausgegangen und soeben zurückgekommen.
Amasaki Jûichirô kam rechtzeitig zurück
"Du dämlicher Wanderpfaffe, was störst du mich?"
Kajikurô richtete sich drohend vor dem Geistlichen auf, aber der war
trotz seiner Mönchsgewandung schließlich der Kriegsmann
Amasaki Jûichirô. Er warf den Spitzbuben ruckzuck in den
Garten hinunter. Der rappelte sich mühsam auf und schrie. "Das
werd ich mir merken, du Kerl!"
Hinkend machte er sich aus dem Staub.
Myôshin bejammerte stöhnend, was Kajikurô ihr gedroht
hatte. Amasaki Jûichirô überlegte eine Weile und
sprach dann:
"Aha. Wenn es so steht, dann ist es für Euch gefährlich,
länger hier zu bleiben. Wäre es nicht besser, zusammen mit
Shinbei mit nach Awa zu kommen?"
Schließlich willigte Myôshin ein. In Eile traf
sie ihre Vorbereitungen für die Reise. Sie übergab einem
Boten einen Brief an Konaya Bungobei in Gyôtoku, in dem sie
schrieb, dass sie aufgrund der Umstände nach Awa reise; wenn
Kobungo und seine Gefährten zurückkämen, möge man
ihr diese Nachricht an Herrn Amasaki im Hause Satomi senden.
Als Amasaki Jûichirô mit Myôshin und Shinbei das Haus
Inue verließ, war es schon nachtschwarz geworden. Dies lag nicht
allein daran, dass der Abend anbrach, sondern auch, weil plötzlich
aufziehende Gewitterwolken den Himmel verdunkelten.
Sie nahmen die Straße in Richtung Kazusa, die durch ein
Schilffeld am Rand von Ichikawa führt. Als sie dort entlangzogen,
tauchten auf einmal aus dem Schilf ein Dutzend Schatten auf.
"Wo wollt ihr hin? Euch schnell aus dem Staub machen, das habt ihr euch
so gedacht! Ich habe mit dieser Falle auf euch gewartet!"
Es waren Kajikurô und seine Räuberbande. Sie kamen, rostige
Schwerter und Knüppel schwingend, herangestürmt. In diesem
Augenblick begann der Gewitterregen loszupladdern.
Überfall der Räuberbande unter Gewitterwolken
Amasaki in seinem
Mönchsgewand zog sein Priestermesser und stellte sich den
Angreifern entgegen. Er war der Übermacht nicht gewachsen. Er
schaffte es trotz guten Willens nicht, Myôshin und Shinbei zu
schützen. Er sah, wie Kajikurô sich ihnen näherte.
Myôshin ließ Shinbeis Hand los und lief fort. Es war eine
wilde Flucht und Verfolgungsjagd im heftig strömenden Regen.
Shinbei stolperte. Myôshin zog eine lange Haarnadel aus ihrer
Frisur und wehrte sich damit gegen Kajikurô. Obwohl sich die
lange Haarnadel durch Arm und Schulter gebohrt hatte, schnappte sich
Akashima
Kajikurô den kleinen Shinbei, hob ihn bis über
Augenhöhe empor und lachte spöttisch:
"Mönch, schmeiß dein Messer fort. Wenn du es nicht sofort
wegwirfst, zerschmettere ich den Bengel auf dem Erdboden!"
Das Priestermesser
der Mönche war eine Art langer Dolch oder kurzes Schwert und
diente ihnen vor allem dazu, Leuten, die in den Mönchsstand treten
wollten, die Haare zur Mönchsglatze abzuscheren.
Um die aufwendige Frisur von Frauen in Form zu halten, nutzten Damen Steckkämme und Haarnadeln, wie auf dem obigen Manga-Bild von Onui zu sehen ist. Haarnadeln waren meist aus Schildpatt, mitunter aber auch aus Metall, sehr
lang, fest und spitz. Etwas widersprüchlich mutet an, dass
Myôshin trotz ihrer kurzhaarigen Nonnenfrisur Haarnadeln
verwendete, eine Unachtsamkeit des Autors Bakin. |
Amasaki Jûichirô und Myôshin standen wie erstarrt im
wasserfallartigen Regenguss. Nein, das war kein Regen mehr. Es waren
tatsächlich solche Wassermassen wie ein Wasserfall, der auf den
Boden klatschte. Und aus dem Wasser hörte man das Getrappel
nahender Pferdehufe.
"Ooaah!", schrien die Räuber aus Kajikurôs Bande. Die
weiße Masse aus Gischt und Wasser in der Finsternis hatte die
Form eines Pferdes angenommen. Oder es war ein Ross, das sich mit
diesem Wasser umhüllt hatte. Wo es auch hergekommen sein mag, es
war jedenfalls riesig groß. Weit mehr als doppelt so groß
wie normale Pferde. Es trampelte die Räuber nieder und galoppierte
geradewegs auf Kajikurô zu. Und dann sah Amasaki, wie das Ross
Shinbei mit dem Maul schnappte und mit ihm, einen Schweif von Wasser
hinter sich herziehend, davonlief. Nur der von den Hufen zertretene Leichnam des
Kajikurô, dessen Rippen sämtlich gebrochen waren, blieb am Boden liegen. Der Regen endete plötzlich.
Die Räuber aus Akashimas Bande waren alle davongelaufen, nicht
einer war zu sehen. Trotzdem zitterte Myôshin am ganzen Leib, als
sie fragte:
"Was war denn das für ein Pferd?"
"Das war.....das war.....", murmelte Amasaki wie ein Traumwandler, "das muss das Ross Seigaiha gewesen sein."

Von Fusehimes Seele gesandt? Das Geisterpferd Seigaiha
War das nicht das Ross, das einstmals Fusehime in die Berge von Toyama
getragen hatte? Kein anderes Pferd von solcher Größe
existierte in dieser Welt. Und ja, dieses Ross Seigaiha hatte einst
Jûichirôs Vater Amasaki Jûrô dem
Fürstenhaus Satomi verehrt. Und Jûichirô hatte
seinerzeit mit eigenen Augen gesehen, wie jenes Pferd, das einmal das
andere Ufer des reißenden Flusses erreicht hatte, von Yatsufusa
am Zügel geleitet, kehrt gemacht und seinen Vater hatte aufsitzen
lassen. Im Fluss Tanigawa hatte sich daraufhin plötzlich eine
riesige silberne Woge erhoben, Ross und Reiter niedergeworfen und mit
sich
gerissen....
Und jetzt, einundzwanzig Jahre danach, lebte das Ross Seigaiha noch
immer! Das ist wahrhaftig ein Geisterpferd! Wenn Jûichirô
es recht überlegte, konnte das alles kein Zufall sein, sondern Seigaiha
musste von Fusehimes Seele gesandt worden sein, um ihr Kind vor den
Verfolgern zu schützen.
Myôshin heulte jämmerlich und rang die Hände.
"Ach, wohin ist Shinbei verschwunden...!"
⑦
Sehen wir uns an, wie es den drei Hundekriegern Inuzuka Shino, Inukai
Genpachi und und Inuta Kobungo erging, die nach Ôtsuka in Musashi
unterwegs waren, um Sôsuke zu holen.
Bedenken wir, dass es der 19.Tag des 6.Monats war, als Shino auf dem
Weg nach Koga den Fluss Kaniwagawa überquerte, und am 21.Tag
sein Schwertkampf auf dem Hauptgebäude Hôryûkaku der
Burg stattfand, und jetzt war der 24.Tag. Während dieser Zeit
hatte sich eine Reihe von schrecklichen und traurigen Ereignissen
zugetragen, die ausgereicht hätten, um etliche Jahre
anzufüllen, und dennoch war alles innerhalb von nur wenigen Tagen
geschehen.
Aber dass Shino all die früheren Dinge jetzt, als er sich
anschickte, den Fluss erneut zu überqueren, wie Erinnerungen aus
einer anderen Zeit und Welt vorkamen, lag daran, dass er nicht das
Geringste davon ahnte, was sich während seiner Abwesenheit hier
ereignet hatte.
Es waren auch andere Leute dort, die auf die Fähre warteten, aber
der Fährmann rief die drei Gefährten herbei und lud nur sie
auf sein Boot. Kaum hatte er abgelegt, rief er:
"Herr Shino...!"
Shino wandte sich zu dem Fährmann um. Es war der
etwa 60jährige alte Schiffer Yasuhei, der Shino auch früher
oft über den Fluss gebracht hatte.
Fähre im alten Japan, Fotografie aus dem 19.Jahrhundert
"Ah, Yasuhei, du bist's!"
"Die Herren, die Euch begleiten, sind sicherlich Freunde, die alles mit anhören dürfen?"
Shino nickte zustimmend. "Ja, so ist es."
"Wisst Ihr......, was in Ôtsuka passiert ist, nachem Ihr Euch auf die Reise begeben habt?"
"In Ôtsuka? Was ist denn in Ôtsuka geschehen?"
"Fräulein Hamaji ist ums Leben gekommen."
Shino zuckte zusammen.
Während er das Ruder führte, berichtete Yasuhei mit
gedämpfter Stimme, dass am Nachmittag des Tags nach
Shinos Abreise in den Osten der Truppenkommandant Higami
Kyûroku als Bräutigam nach Ôtsuka gekommen sei. Kurz
vor der Vermählungsfeier sei Hamaji nicht auffindbar gewesen. Als
das Ehepaar Ôtsuka als Entschädigung das Schwert Murasame
hervorholte, habe es sich als Fälschung erwiesen, und Higami habe
beide hingerichtet. Zu diesem Zeitpunkt sei Inukawa Sôsuke, der Shino
begleitet hatte, zurückgekehrt und habe den Kommandanten als
Mörder seines Herrn erschlagen. Laut Sôsukes Aussage war
derjenige, der die Schwertklinge vertauscht, Hamaji entführt und,
weil sie ihm nicht zu Willen war, bei Hongô am
Hügel Maruzukayama erschlagen hatte, Aboshi Samojirô
gewesen. Der zufällig des Weges gekommene Inuyama Dôsetsu
habe Samojirô getötet und Hamaji feuerbestattet.
"Alles bis hier ist nur das, was die Leute im Dorf schwatzen,
aber ich weiß darüberhinaus noch etwas", sagte Yasuhei. "In
der Aussage Sôsukes gebe es Ungereimtheiten, sagten die Offiziere, die von der Burg gekommen waren, um den Mord an dem
Kommandanten aufzuklären. Zum Beispiel wusste Sôsuke keine
Antwort auf die Frage, wo denn das echte Schwert Murasame geblieben
sei. Aber ich weiß Bescheid. Nein, wo das Schwert geblieben ist,
weiß ich natürlich auch nicht, aber an dem Tag vor Eurer
Abreise sind der Herr Dorfvorsteher und Herr Aboshi gemeinsam zum
Fischen hierher gekommen. Ich stand am Ufer, wunderte mich jedoch
über mancherlei. Der Unfall, als Herr Ôtsuka ins Wasser fiel,
kam mir schon seltsam vor, aber dass Herr Aboshi sich an den Schwertern
zu schaffen machte und die Klingen austauschte, sah ich mit
allerhöchstem Erstaunen - ein verrückter Kerl, dachte ich
mir."
Shino machte große Augen.
"Dass es bei Sôsukes Aussage Ungereimtheiten gab, ist noch nicht
alles. Unter den Offizieren, die den Fall untersuchten, war auch der
Bruder des von Sôsuke erschlagenen Kommandanten, Higami
Shahei, und obendrein noch der mit knapper Not entkommene Offizier
Nurude Gobaiji, und es geht das Gerücht, dass sie Sôsuke
derzeit grausam foltern und in Kürze hinrichten sollen. Überdies", fügte Yasuhei noch hinzu, "gehen die Amtsleute
davon aus, dass es auch Sôsuke gewesen sei, der Hamaji und Aboshi
erschlagen habe, und dass Ihr, Herr Shino, mit ihm gemeinsame Sache
gemacht habt. Sie haben Befehl gegeben, Euch, Herrn Shino, abzufangen,
sobald Ihr nach Ôtsuka zurückkehrt.
Ich habe Euch und Gakuzô, wie Sôsuke früher gerufen wurde, seit Eurer Kindheit hier am Fluss
gesehen, und es täte mir sehr leid um Euch. Außerdem halte
ich Euch für aufrechte junge Männer, und habe Euch deswegen
vor dem, was Euch erwartet, gewarnt. Eigentlich wollte ich Euch schon
am andern Flussufer alles erzählen, aber da warten noch mehr
Leute, die womöglich mitgehört hätten. Also habe ich Euch mit
unbeteiligtem Gesicht in mein Boot geholt. Dieser Fluss Kaniwagawa ist
für Euch sozusagen
der Fluss zum Totenreich, und ich meine, es wäre besser
umzukehren. Ob Ihr weiterfahren oder umkehren wollt, ich mache auf
jedem Ufer mein Boot lieber im Schilfdickicht fest."
Mit zusammengebissenen Zähnen starrte Shino in Richtung Ôtsuka.
"Nein, wir fahren hinüber. Wir müssen Sôsuke retten", stieß er hervor.
"Wirklich? Genau das habe ich von von einem Mann wie Euch erwartet. Also...."
Yasuhei ließ das Ruder ruhen.
Auf dem schaukelnden Kahn saß Shino starr wie eine Statue. Hamaji.....!
Gewiss, Sôsukes Schicksal lag ihm natürlich auch am Herzen,
aber die Nachricht, dass Hamaji auf so entsetzliche Weise zu Tode
gekommen war, wollte ihm schier die Brust zerreißen. Als er sich
die Szene ins Gedächtnis zurückrief, wie Hamaji ihn am Abend
vor seiner Abreise unter Tränen
angefleht hatte, sie mitzunehmen, er sie jedoch herzlos abgewiesen
hatte, war ihm zumute, als stürzte er geradewegs in die Hölle
hinab. Hätte er das bloß vorher geahnt.....! Er kam nicht
umhin, all das Unheil, das ihm in diesen Tagen widerfahren war, als
Strafe des Himmels dafür anzusehen, dass er Hamaji
zurückgewiesen hatte.
Genpachi und Kobungo hatten die Erzählung des Fährmanns
Yasuhei zwar mitangehört, aber weil sie sahen, wie tief der Schock
bei Shino saß, schwiegen sie dazu.
Inuzuka Shino und seine Kristallkugel mit dem Schriftzeichen KÔ
Der Kahn landete nicht an der Anlegestelle, sondern im dichten Schilf. Als die Gefährten loszogen, wisperte Genpachi:
"Dieser Fährmann hier, der ist kein gewöhnlicher Schiffer."
Daraufhin bemerkte Shino zum erstenmal, dass dieser Fährmann am
Kaniwagawa, den er seit seiner Kindheit gut kannte, in der Tat etwas
von der Art eines Samurai an sich hatte. Aber jetzt war nicht die
rechte Zeit, sich darüber Gedanken zu machen.
Sie liefen nicht direkt in das Dorf Ôtsuka hinein, sondern gingen
zu dem Tempel Kongôji, der etwa zweieinhalb Kilometer
südwestlich davon in Takinogawa lag. Es war der Tempel bei dem
Wasserfall, in dem der kleine Shino einstmals für seine kranke
Mutter in der Winterkälte rituelle Waschungen vorgenommen hatte
und beinahe umgekommen wäre. Dort verborgen wollten sie
Erkundigungen über ihren 'Bruder' Sôsuke einholen. Dass
Genpachi seinerseits die Gelegenheit dazu nutzte, das schlichte Grab
seines toten Vaters Nukasuke aufzusuchen, und vor dem runden Grabstein
Tränen vergoss, versteht sich von selbst.