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Legende der acht Hundekrieger

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Am Abend dieses Tages schmiedete das Ehepaar Ôtsuka einen teuflischen Plan.
"Dem Herrn Nurude haben wir unsere Zusage gegeben. Jetzt müssen wir dafür sorgen, dass Shino uns nicht in die Quere kommt", sagte Hikiroku.
In jungen Jahren war er ein Taugenichts gewesen, aber jetzt war es schon vierzig Jahre her, seit er sich im Hause Ôtsuka eingenistet hatte, als Dorfvorsteher im Amt war und auch entsprechende Einkünfte hatte. Sein Gesicht trug deutlich die Züge seiner skrupellosen Hinterhältigkeit.
"Wenn Shino nämlich erführe, dass wir Hamaji dem Kommandanten zur Frau geben, weiß ich schon, dass er dann hartnäckig nicht von der Stelle wiche", fuhr Hikiroku fort. "Also werde ich mit einer List dafür sorgen, dass er genau an dem Tag nicht da ist."
"Wie wollt Ihr das hinkriegen?"
"Ich werde ihn zum Shogunatsfürsten nach Koga senden, damit er ihm das Schwert Murasame überreicht."
"Was, Murasame? Aber das Schwert....."
"Klar, das wollen wir haben. Wenn er Murasame tatsächlich dem Fürsten verehren würde, wäre es für uns unerreichbar, und Shino käme groß raus. Das darf nicht geschehen."
"Also was habt Ihr vor?"
"Mir ist eine Idee gekommen, wie wir bei dieser Gelegenheit auf einen Schlag sowohl Shino loswerden als auch das Schwert kriegen."
"Und zwar?"
"Shino muss umkommen."
"Was?"
Da machte sogar seine Frau Kamezasa große Augen. Aber sie fasste sich gleich wieder und meinte:
"Das ist zwar gut, aber es muss erstens sichergestellt sein, dass Shino wirklich ums Leben kommt, und zweitens, dass die Dorfleute nicht merken, dass wir für seinen Tod gesorgt haben. Habt Ihr das bedacht?"
"Klar, auch daran habe ich gedacht. 'Die grobe Arbeit soll man mit Kraft, den letzten Schliff mit Feingefühl vollenden', heißt es doch", nickte Hikiroku. "Für die 'grobe Arbeit' habe ich drei Maßnahmen, deren jede ihn treffen sollte. Kurz zusammengefasst: Als erstes sorge ich dafür, dass er im Fluss Kaniwagawa ertrinkt. Falls das nicht klappen sollte, sorge ich als zweites dafür, dass ein geeigneter Mann Shino auf dem Weg von hier nach Koga erschlägt. Und für den Fall, dass auch das nicht hinhauen sollte, werde ich als drittes vorher das Schwert Murasame heimlich austauschen und ihn dem Fürsten ein falsches Schwert überreichen lassen, und damit treibe ich ihn in eine aussichtslose Lage."
"Wie? Das Schwert Murasame austauschen?"
"Ich muss die Niete lösen lassen. Griff und Stichblatt sollen bleiben, wie sie sind, aber die Klinge muss vertauscht werden. Dazu brauche ich die Hilfe eines Samurai. Der einzige, der das für uns tun könnte, dürfte Aboshi Samojirô sein."
Hikiroku sah Kamezasa mit boshaftem Grinsen an. "Mit dem Samojirô turtelst du ja ganz ordentlich. Deshalb solltest du ihn beauftragen. Genaueres sage ich dir später. Aber auch der kleine Hikiroku versteht sich auf die Kriegstaktiken des Sunzi, pass mal auf!"

Sunzi war ein chinesischer Gelehrter des Altertums, er lebte um 500 vC. Er befasste sich mit dem Thema Kriegsführung und sammelte Beispiele für geschickte Strategien, die er in seinem Werk "Bingfa" (Methoden der Kriegsführung) zusammenfasste. Es gilt als das älteste und bis heute als eines der bedeutendsten Werke zum Thema Kriegsführung.
Es gibt eine deutsche Übersetzung (Sun Tsu: "Die Kunst des Krieges - wahrhaft siegt, wer nicht kämpft", Verlag eClassica 2011).


Am folgenden Tag wurde Shino zum Ehepaar Ôtsuka gerufen. Er war gerade von der Bestattung des armen Nukasuke zurückgekommen.
Hikiroku setzte ein besorgtes Gesicht auf und sagte:
"Shino, etwas Unangenehmes ist geschehen. Du hast sicher gehört, dass gestern ein Herr mit Namen Nurude als Bote des Herrn Kommandanten gekommen ist. Beim Gespräch zum Sake nach dem Essen hat der Kerl so dick mit seinem Schwert geprahlt, dass deiner Tante Kamezasa in ihrem Leichtsinn versehentlich ein Wörtchen zu jenem Schwert des Hauses Ôtsuka über die Lippen gerutscht ist."
Shino fuhr zusammen. Er hatte fest geglaubt, es ginge um die Verheiratung von Hamaji.
Hikiroku ließ sich nichts anmerken und fuhr fort:
"Darauf sagte der Sendbote, er wolle das Schwert unbedingt in Augenschein nehmen. Nein, nein, wehrte ich eilig ab, das verwahrt mein Neffe als größten Schatz seines Hauses, aber es war schon zu spät. Er beharrte darauf, es sehen zu wollen, worauf ich sagte, du seiest nicht zuhause. Er werde in drei Tagen wiederkommen und es sich dann auf jeden Fall zeigen lassen, antwortete er und ging dann."
"......"  
"Der neue Herr Kommandant sah mir wie ein Dickkopf aus, der seinen Willen durchsetzt, und sein Offizier Nurude tut es ihm gleich und verlangt vollkommen Unmögliches. Jetzt fürchte ich, dass es, wenn er das Schwert sieht, womöglich nicht beim bloßen Anschauen bleiben könnte."
Mit ängstlicher Miene mischte sich Kamezasa ein.
"Ursprünglich war es ein leichtsinniges Wort von mir, das ich, so sehr ich es auch bereue, nicht ungeschehen machen kann. Jetzt fürchte ich, dass
uns dieses Wunderschwert des Hauses Ôtsuka unter irgendeinem Vorwand von jenem Herrn abgenommen werden könnte."
Beide Eheleute sprachen von Murasame als dem 'Schwert des Hauses Ôtsuka'. Dagegen ist zwar nichts einzuwenden, denn das Wunderschwert war schon im Besitz von Shinos Vater Inuzuka Bansaku, als der sich noch Ôtsuka nannte, aber die üble Absicht der beiden war nicht zu überhören.
"Da habe ich mich an den Wunsch meines Bruders Bansaku erinnert, als er noch am Leben war", sagte Kamezasa und rückte auf den Knien näher heran. "Bansaku hatte doch gewünscht, dass du, wenn die Zeit dafür gelegen sei, dich zu dem Herrn Shogunatsfürsten Shigeuji begeben und ihm Murasame übergeben mögest, um eine wichtige Stellung im Reich zu erhalten. Ja, jetzt ist die Zeit dafür reif, fiel mir ein, und ich klatschte mir auf die Knie. Wenn du jetzt, bei dieser Gelegenheit, nach Koga aufbrächest, dann könnte selbst der sture Herr Nurude nichts ausrichten."

kamezasa

Kamezasa


"Zum Glück kenne ich Herrn Yokobori Arimura, den bevollmächtigten Vogt des Herrn Shogunatsfürsten", sagte wiederum Hikiroku. "Wenn du gewillt bist, abzureisen, werde ich gleich eine Nachricht an den Herrn verfassen und ihm die Angelegenheit erläutern. Wie steht's damit?"
Über Hamaji hatte er keinen Ton gesagt. Shino hatte die ganze Zeit die Mienen der beiden angeschaut. Schließlich sagte er ruhig:
"Ich werde nach Koga reisen."
In drei Tagen werde der Bote wiederkommen, weshalb Shino seinen Aufbruch auf übermorgen festlegte.
Kamezasa sorgte wie eine liebevolle Tante eifrigst für die Vorbereitung von Gewandung, Schirm, Sandalen und dergleichen.

Aber am nächsten Tag, dem 18.Tag des 6.Monats, erschien auf einmal Hamaji. Sie hatte ein wachsbleiches Gesicht und warf Shino Blicke zu, die mit Worten unmöglich zu beschreiben sind. Shino tat, als bemerke er sie nicht, woraufhin sie wie ein Schatten verschwand.
Auch Sôsuke zeigte sich kurz. Er sah Shino ebenfalls zweifelnd, fast zornig an, und dieser tat wiederum, als sähe er es nicht. In der Tat hatte Shino keine Ahnung, dass übermorgen der Kommandant Higami Kyûroku als
wirklicher Bräutigam erscheinen würde, aber es war beschlossene Sache, dass Hamaji ihm als menschliches Opfer dargebracht werden sollte.
Shino wusste um Hamajis Not. Er hatte keineswegs seine Gefühle für sie verloren. Aber Gefühle kommen und gehen wie die Wogen im Meer; er löste sich davon und wahrte sein labiles
inneres Gleichgewicht.
"Shino", sprach ihn Kamezasa am Abend mit kätzchengleich schnurrender Stimme an. "Es ist dein glorreicher Aufbruch in die weite Welt. Du solltest die Gräber deines Herrn Vaters und deiner Frau Mutter aufsuchen und es ihren Seelen kund tun."
Das ist richtig, nickte Shino, aber mehr noch war ihm daran gelegen, eine Zeitlang aus dem Hause Ôtsuka fortzukommen. Shino ging zu den Gräbern am Dorfrand, das Schwert Murasame wie stets in seiner Hülle mit sich tragend.
Als er sich kurz darauf auf dem Heimweg befand, begegnete ihm auf dem kurzen Weg im Abendrot unerwartet Hikiroku, der zusammen mit Aboshi Samojirô des Weges kam. Samojirô trug ein Netz.
"Hallo, Shino", grinste Hikiroku. "Wir wollen heute Abend eine Abschiedsfeier mit Sake für dich ausrichten. Wir sind auf dem Weg zum Fluss Kaniwagawa, und den Fisch will ich selbst für dich zubereiten. Du kommst aber gerade recht. Du kannst uns behilflich sein."
Es gab keinen Grund, es abzulehnen, und Shino schloss sich den beiden auf dem Weg zum Fluss an.
"Herr Shino, nun steht Euer Aufbruch in die Welt bevor. Man könnte richtig neidisch werden."
Als wäre nie etwas gewesen, gab sich Samojirô liebenswürdig. Seine wahren Gefühle blieben undurchschaubar.


aboshi

Aboshi Samojirô

Am Flussufer rief Hikiroku dem Fährmann Yasuhei, der herbeigerudert kam, zu:
"Nein, heute wollen wir nicht auf die andere Seite übersetzen, sondern Fische fangen. Überlasst das Ruder bitte Herrn Aboshi!"
Sie borgten sich das Boot und ruderten auf den Fluss. Mitten auf dem Fluss tat Hikiroku so, als wolle er das Netz auswerfen, verlor absichtlich das Gleichgewicht und fiel ins Wasser.
"O weh!", schrie Samojirô übertrieben laut. "Rudern kann ich zwar, aber nicht schwimmen!"
Hikiroku strampelte im Wasser.
Shino legte sofort die Gewänder ab und sprang ins Wasser.

Auf der Stelle begann Samojirô im Boot, etwas Seltsames zu tun. Er legte das Schwert, das er an der Hüfte trug, samt der Scheide ab. Außerdem lagen da noch Hikirokus Schwert, das er abgelegt hatte, weil es beim Netzauswerfen störte, und Shinos Schwert Murasame in seiner Brokathülle. Diese Hülle band Samojirô auf und nahm das Schwert heraus. Danach löste er die Niete aller drei Schwerter und entnahm ihnen die Klingen. Diejenige seines eigenen Schwertes steckte er in Hikirokus Griff, Hikirokus Klinge in Shinos Griff, und Shinos Klinge in seinen eigenen Griff. Als er damit zu Ende war, schwang er zur Probe kurz Shinos Klinge durch die Luft. Von deren Spitze her spritzte ein Wasserstrahl über dem Fluss hernieder.
"Aha, das ist tatsächlich Murasame," grinste Samojirô hämisch. Dann träufelte er ein bisschen Wasser in Hikirokus Scheide.
Mit diesem Tun war er gestern von Kamezasa beauftragt worden. Nein, nicht genau mit diesem. Kamezasa hatte ihn nur gebeten, Shinos Klinge mit der des Hikiroku zu vertauschen. Die Länge der Klinge von Hikiroku war auf die Maße von Murasame angepasst worden. Samojirô hatte sich dazu bereit erklärt, aber anschließend einen eigenen Plan gefasst.


Samuraischwerter waren deutlich länger als normale Schwerter, die alle Männer zu tragen pflegten. Aboshi Samojirô gehörte dem Samuraistand an, weshalb seine Schwertklinge zu Griff und Scheide von Murasame passten, aber Hikiroku zählte trotz seiner Position als Dorfschulze zum Bauernstand und durfte nur ein kürzeres Schwert führen. 


Der gut aussehende Samojirô hatte Kamezasa schon lange gut gefallen. Und zwar so sehr, dass Kamezasa sich eines Tages zu der Aussage hatte verleiten lassen, wenn er eines Tages in seine Heimat zurückkehren werde, wolle sie ihm Hamaji überlassen. Samojirô, der früher ein Knappe des Shogunatsfürsten Ôgiyatsu Sadamasa gewesen war, hatte einem Kammerfräulein ungebührlich nachgestellt und war entlassen worden. Er hatte zwar behauptet, er würde wohl in absehbarer Zukunft zurückkehren, weil die Dinge, wegen der er in Ungnade gefallen war, nicht schwerwiegend seien, aber danach sah es keineswegs aus. So war ihm die Idee gekommen, sich des Schwertes Murasame zu bemächtigen, um als Dank für dieses Präsent von seinem Herrn wieder aufgenommen zu werden.
'Kamezasa, du Alte hast mich gewaltig unterschätzt. Ein Mann wie ich ist doch kein gefügiges Werkzeug für eure Ränke, ihr Dummköpfe!', lachte Samojirô in sich hinein, während er den Austausch der Klingen flink wie ein Jongleur bewerkstelligte.
Nachdem er damit fertig war, trieb das Boot ziemlich weit flussabwärts, und weiter oben schäumte noch immer das Wasser der Flussoberfläche hoch auf. Shino versuchte, den versinkenden Hikiroku zu fassen und hochzuziehen. Hikiroku klammerte sich an Shinos Arme und Beine; mit Absicht ließ er Shino sich in dem auf dem Wasser treibenden Netz verheddern.  
In jüngster Zeit hatte Hikiroku zwar kaum noch Gelegenheit zum Üben gehabt, aber als junger Mann war er ein sehr guter Schwimmer gewesen, und dieses Können wollte er anwenden, um Shino ertrinken zu lassen. Auf diese Weise würde er nämlich dem Verdacht entgehen, an Shinos Tod schuldig zu sein. Aus seiner Sicht war es ein Wasserkampf auf Leben und Tod.
Shino war zwar fassungslos, aber schließlich klemmte er den widerstrebenden Hikiroku einfach unter seinen Arm, und zwar mit solcher Kraft, dass Hikiroku sich nicht mehr rühren konnte. Mit der anderen Hand befreite er sich von dem Netz und schwamm mit Hikiroku unter dem Arm auf das abgetriebene Boot zu. Als er es erreichte, warf er Hikiroku hinein und schwang sich dann selbst an Bord. Er war zwar vollkommen außer Atem, aber diese unerwartete Kraft dieses jungen Mannes verblüffte nicht allein den Samojirô, sondern erst recht Hikiroku, der so tat, als sei er einer Ohnmacht nahe.
"Herr Onkel, das war gefährlich. Seid Ihr unversehrt?"
Schnaufend streckte Shino die Hand zu Hikiroku aus. Er hatte keinerlei Verdacht geschöpft, dass Hikiroku es auf sein Leben abgesehen haben könnte.
"Ah, vielen Dank! Welch ein Glück, dass du mitgekommen bist! Du hast mir das Leben gerettet", sagte Hikiroku, ebenfalls nach Luft schnappend, mit ausdruckslosem Gesicht.
Sein erster Plan war gescheitert, aber die Vorbereitung für Plan drei schien geklappt zu haben. Außerdem gab es dazwischen noch den Plan Nummer zwei.


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Am Abend holte Hikiroku das Schwert hervor, das er vom Fluss her mitgebracht hatte, und zeigte es Kamezasa. Die Scheide war zwar seine eigene, aber die Klinge....
Kamezasa rückte näher.
"Das soll Murasame sein?"
Hikiroku schwang es durch die Luft. Das Auftreffen von Tropfen war zu hören, und auf der Papierbespannung der Tür gegenüber zeichnete sich eine Kette von Wassertropfen ab. Niemand kam auf den Gedanken, dass dies ein Trick von Samojirô war, der Wasser in die Scheide geträufelt hatte.

Zur gleichen Zeit entnahm
im Anbau Shino, der vor seiner Abreise am folgenden Tag sicherheitshalber Murasame noch einmal prüfen wollte, das Schwert seiner Hülle und wollte es im Lampenschein gerade herausziehen, als er Hamaji leise in seinen Raum hereintreten sah.
"Herr Shino....., wollt Ihr morgen......wirklich nach Koga abreisen?", fragte Hamaji mit stockender Stimme und setzte sich nieder.
"Ich muss", erwiderte Shino.
"Obwohl Ihr wisst, dass der Herr Kommandant mir mit solchen Absichten nachstellt?"
Shino schwieg.
Sie wohnten zwar beide in demselben Anwesen, konnten aber nur selten miteinander reden, weil Hikiroku und Kamezasa gut aufpassten. Das einzige Mal, dass sie länger miteinander gesprochen hatten, war im letzten Frühling gewesen, als Hamaji ihn angefleht hatte, mit ihr zusammen fortzulaufen.
"Dass Vater und Mutter Euch so eilig nach Koga entsenden, geschieht nur, um uns voneinander zu trennen. Sie haben bemerkt, dass wir ..... gegenseitige Zuneigung empfinden." 
Hamajis Wangen erröteten, und Shino wurde ebenfalls rot.


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Hamaji


"Dafür, dass die Stiefeltern gütigst für mich gesorgt haben, muss ich ihnen dankbar sein, aber lieben kann ich sie nicht. Vor Mächtigen kuschen sie, und mit Schwachen haben sie kein Fünkchen Mitleid. Sie sind gierig, und wenn sie etwas haben wollen, ist ihnen jedes Mittel recht, es zu bekommen. Wenn Ihr, Herr Shino, nicht hier lebtet, wäre ich schon längst fortgelaufen."
Hamaji begann zu schluchzen.
"Aber wohin ich auch gehen würde.... Mein Vater ist erschlagen, und mein Bruder wird derzeit als flüchtiger Aufrührer gesucht... Ich glaube, ich bin unter einem Unglücksstern geboren."
Shino war dicht daran, die Hände nach diesem unglücklichen, liebreizenden Mädchen
auszustrecken, dessen Gestalt im Schein der Öllampe weinend bebte, und es in seine Arme zu schließen, aber als Hamaji ihr Gesicht entschlossen zu ihm aufhob und sagte:
"Herr Shino, nehmt mich bitte mit nach Koga!", antwortete er stöhnend:
"Nein, das darf nicht sein."
"Warum?" Hamaji hätte sich am liebsten an ihn geschmiegt. "Warum denn nicht? Ihr hattet gesagt, es schade Eurer Ehre, wenn Ihr von Euch aus dieses Haus verließet. Aber jetzt habt Ihr doch einen ehrenhaften Grund."  
"Ich habe einen Grund, aber du nicht. Wenn ich mit dir davonginge, wäre es eine pflichtwidrige Flucht."
"Es ist viel pflichtwidriger, dass meine Stiefeltern mich diesem Kommandanten zur Frau geben wollen! Was ist denn daran pflichtwidrig, mich diesem Schicksal zu entziehen, indem ich mit Euch gehe?"
"Vorher hatte ich doch auch gesagt, dass ich mir nicht denselben Ruf einhandeln möchte wie dieser Aboshi Samojirô. Das hat Aboshi gehört und gesagt, ich solle meine Worte gut im Gedächtnis behalten, er werde sie sich auch merken. Wenn ich zusammen mit dir fortginge, würde ich sicher von Aboshi verspottet. Dann kann ich mein Ansehen als Samurai vergessen....", erwiderte Shino gequält. "Dass ich jetzt nach Koga reise, ist nicht nur der Wunsch meines Herrn Onkels. Es ist vielmehr der Auftrag meines verstorbenen Herrn Vaters. Im Übrigen sind es von hier bis nach Koga nur 16 Meilen. Selbst wenn es lang dauern sollte, bin ich in vier oder fünf Tagen wieder zurück. Bitte warte so lange auf mich."
"Nein." Hamaji wand sich vor Herzeleid. "Mein Gefühl sagt mir, dass Ihr nie wieder hierher zurückkehren werdet."   
Aus der Ferne hörte man Rufe.
"Hamaji! Hamaji, wo steckst du? Hamaji!"
Es war Kamezasa. Shino gab sich einen Ruck.
"Hamaji, geh hin. Du darfst nicht bei mir erwischt werden."
Hamaji hielt sich schluchzend beide Hände vors Gesicht und stand auf.

Bei alledem ahnten weder Hamaji noch Shino, dass schon am übernächsten Tag Kommandant Higami Kyûroku persönlich hier als Bräutigam erscheinen würde. 
Nachdem Hamaji bekümmert von ihm gegangen war, ließ die Aufwallung in Shinos Brust ihm lange keine Ruhe. So vergaß er, noch einmal das Schwert Murasame zu prüfen. Er legte sich nieder, aber obwohl er von dem Vorfall im Wasser des Flusses körperlich erschöpft war, fand er lange keinen Schlaf.

Früh am nächsten Morgen brach Shino auf. Auf Geheiß des Ehepaars Ôtsuka gab ihm Sôsuke als Gepäckträger das Geleit. Als sie am Fluss Kaniwagawa die Fähre des Yasuhei bestiegen, fing Sôsuke mit gedämpfter Stimme an zu reden, als habe er lang darauf gewartet.
"Shino, was hast du vor?"
Gewöhnlich verhielt sich Sôsuke Shino gegenüber respektvoll, gehörte Shino doch zur Herrschaft und er, Sôsuke, zu den Bediensteten, aber wenn beide allein zusammen waren, bedienten sie sich selbstredend brüderlicher Ausdrucksweise. Das war Shinos Wunsch, aber Sôsukes jahrelange Verstellungskunst
war so meisterhaft, dass niemandem in den Sinn kam, die beiden könnten sich gut verstehen. Im Vergleich zu dem groß gewachsenen Shino war Sôsuke zu einem etwas gedrungeneren, aber absolut furchtlosen, zu einem stillen, aber bärenstarken jungen Mann herangewachsen.
"Du hast Hamaji einfach sitzen lassen, also was hast du vor? Wenn du sie allein lässt, fällt sie
diesem Kommandanten zum Opfer. Sie ist in einer bedauernswerten Lage und tut mir so leid...!"
"Ganz richtig. Mir ist der Abschied auch schwer gefallen. Ich habe Hamaji lieb und bin ihr dankbar, dass sie sich nach mir sehnt. Aber wenn ich sie zur Braut nehmen wollte, was Onkel und Tante nicht zulassen würden, dann wäre ich, gesetzt den Fall, sie erlaubten es doch, fürs ganze Leben an das Dorf Ôtsuka gefesselt."
"Dann hättest du sie doch mitnehmen können!"
Shino schüttelte den Kopf.
"Das käme einer Flucht gleich. Außerdem habe ich etwas Wichtigeres zu tun. Nein, ich meine keinen Aufstieg. Mir ist, als hätte der Himmel mich zu einer besonderen Bestimmung erwählt. Dasselbe gilt doch auch für dich."
Aber diese Bestimmung war jetzt noch wolkig unklar. Konkret gesagt, hatte Shino vor, falls er in Koga in eine Laufbahn in Diensten des Shogunats aufgenommen würde, Sôsuke auch kommen zu lassen. Aber das sagte er nicht laut.
"Hm", nickte Sôsuke. "Ganz richtig. Ehrlich gesagt, weiß ich auch nicht, was ich dazu sagen soll."
"Jedenfalls werde ich nach drei oder vier Tagen erstmal wiederkommen. Wenn Hamaji bis dahin etwas zustoßen sollte, sei bitte so gut und steh ihr bei!"
"Nach drei oder vier Tagen willst du wiederkommen..."
Sôsuke sah Shino mit einem seltsamen Blick an.
"Um mit der Wahrheit herauszurücken, Shino... Mein Dienstherr
Hikiroku hat mir den Auftrag gegeben, dich unterwegs zu ermorden."
"Wie bitte?"
"Ich soll dir das Schwert Murasame abnehmen. Wenn ich wie befohlen Shino umbrächte und mit seinem Schwert zurückkäme, versprach er mir, mich mit viel Geld zu entlohnen und mich aus dem Dienerstand zu entlassen."  
Shino war sprachlos. Zugleich durchzuckte
ein Gedanke sein Hirn wie ein Blitzstrahl.
"Ach so! Dann war das gestern Abend, als mein Onkel ins Wasser fiel, also..."
"Was meinst du?"
Shino berichtete, dass sein Onkel Hikiroku gestern Abend, als sie zum Fischen zum Fluss gegangen waren, ins Wasser gefallen war, ihn aber, als er ihn retten wollte, so fest umklammert habe, dass er beinahe ertrunken wäre.
"Das war zweifellos auch schon ein Versuch, mich elegant loszuwerden. Dass er mich so sehr hasst!"
Anfangs hatten sie noch leise miteinander gesprochen, aber allmählich war ihr Gespräch so laut geworden, dass der Fährmann Yasuhei beinahe vergaß, sein Boot zu rudern.
"Bei solchen Unmenschen wie meinem Onkel und meiner Tante darf ich Hamaji nicht länger lassen", ereiferte sich Shino. "Ich habe jetzt einen Entschluss gefasst. Sôsuke, wenn du zurückkommst, führ Hamaji sofort irgendwo hin und versteck sie. Wenn ich Murasame dem Fürsten in Koga übergeben habe, kehre ich sofort zurück und gehe mit Hamaji fort oder sonstwas."
Dann fragte Shino:
"Und du, Sôsuke, was willst du machen? Du hast doch den Auftrag, mich zu ermorden."
"Ausgerechnet mir, deinem besten Freund, so einen Auftrag zu geben", lachte Sôsuke bitter. "Es zum Lachen, wenn Menschen so unwissend sind!" Dann fuhr er fort: "Ich werde am besten berichten, ich hätte dich erschlagen wollen, sei aber von dir überwältigt und übel verdroschen worden. Ich kann mir auch ein paar Beulen zufügen. Ich möchte so schnell wie möglich sehen, wie es um Fräulein Hamaji steht, aber allzu eilig zurückkehren geht auch wieder nicht. Ich begleite dich noch bis Kurihashi und kehre dann um."
Sie stiegen am anderen Ufer aus, und als sie unterhalb des Hügels Maruzukayama bei Hongô entlang kamen, sahen sie mehrere hundert Arbeiter, die in Tragekörben Erde beförderten. Auf ihre Frage hin erfuhren die beiden Freunde, dass morgen hier ein Eremit Selbstmord durch den Flammentod begehen wolle, und die Männer höben die Grube für den Scheiterhaufen aus.
Weiter gelangten sie nach Sugamo und Minowa und überquerten endlich den Fluss Sumidagawa. Unter einem flammendroten Abendhimmel ging es weiter nach Shimôsa, und noch an diesem Tag erreichten die zwei jungen Burschen mit ihren erstaunlich flinken Beinen die Herbergen des von
Ôtsuka aus 13 Meilen entfernten Kurihashi.


inuzuka shino

Inuzuka Shino

"Es zum Lachen, wenn Menschen so unwissend sind!", hatte Sôsuke das Ehepaar Ôtsuka verspottet, das nichts von der Freundschaft zwischen den beiden wusste. Aber weder Shino noch Sôsuke ahnten, dass die Klinge des Schwertes Murasame vertauscht worden war. Und zwar vor allem deshalb, weil Sôsuke den Auftrag erhalten hatte, Shino zu töten und dessen Schwert mitzubringen; da kommt doch kein Mensch auf den Gedanken, dass das Schwert nicht das echte sein könnte.
In der Herberge in Kurihashi sprachen die beiden sich nach Herzenslust miteinander aus, und nachdem sie über den Fürsten in Koga und dessen bevollmächtigten Vogt Yokobori Arimura geredet hatten, den Shino als ersten aufsuchen sollte, fiel Shino so plötzlich, dass er die Hände auf die Schenkel klatschte, der merkwürdige Auftrag des vor wenigen Tagen verstorbenen Nukasuke ein, und er berichtete Sôsuke davon. Es sei möglich, dass Nukasukes Sohn herangewachsen sei und im Dienst des Shogunatsfürsten von Koga stehe.
"Und der Junge soll eine Kristallkugel mit dem Schriftzeichen SHIN besitzen und auf der Wange das Päonienmal tragen!", rief Shino.
"Wirklich?" Sôsukes Augen glänzten. "Dann ist er ja unser Bruder aus einer früheren Existenz!"
"Einer der Gründe, weshalb ich unbedingt nach Koga reisen wollte, war, dass ich diesen jungen Mann ausfindig machen will."

Am nächsten Morgen, dem 20.Tag des 6.Monats, trennten sich die beiden Gefährten. Shino nahm anschließend die restlichen drei Meilen bis Koga in Angriff, und Sôsuke lenkte seine Schritte zurück zum Land Musashi, nach Ôtsuka.

 
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Am späten Nachmittag desselben Tages traf die Sänfte mit dem Kommandanten Higami Kyûroku im Hause Ôtsuka ein. Nicht nur der Offizier Nurude Gobaiji, der schon mehrfach als Bote hergekommen war, sondern der Herr Kommandant höchstselbst. Als Hamaji erfuhr, dass noch am selben Abend die Hochzeit gefeiert werden sollte, fiel sie vor Schrecken fast in Ohnmacht. Ihre Stiefeltern redeten mit Nachdruck auf sie ein. Ob es denn kein unerhört glanzvoller Aufstieg sei, wenn die Tochter eines Dorfvorstehers die Braut eines Herrn Kommandanten werde, und dass es den Leuten und Häusern in Ôtsuka womöglich schlecht ergehe, wenn sie sich verweigere, und ob sie gar zulassen wolle, dass ihren Stiefeltern, sie sie von Kindesbeinen an aufgezogen hatten, die Köpfe abgeschlagen werden.... Den Bitten, Drohungen und am Ende gar Krokodilstränen des Dorfvorsteher-Ehepaars gab Hamaji, die all ihre Widerstandskraft verloren hatte, schließlich nach.
"Danke dir, dass du endlich einwilligst!"
"Du bist also doch eine gehorsame Tochter."
Beide lächelten froh.
"Also, dann gebe ich den Befehl zur Vorbereitung der Feier."
"Deine Hochzeitsgewandung liegt schon bereit. Warte hier, ich bringe sie dir gleich."
Ihre Stiefeltern eilten davon. Allerdings nicht ohne im Fortgehen einer Magd zu befehlen, gut auf Hamaji aufzupassen. Mit der Seite des Kommandanten war zwar für heute Abend alles abgesprochen, aber weil es zu Schwierigkeiten geführt hätte, wenn Shino oder Hamaji vorher Wind von der Sache bekommen hätten, waren keine auffälligen Vorbereitungen möglich gewesen. So entstand jetzt, als es so weit war, im ganzen Haus ein geschäftiger Wirbel, der um die Stunde, als die Lampen entzündet wurden, schließlich seinen Höhepunkt fand.  
Die Magd, die auf Hamaji aufpassen sollte, war vielleicht von der Aufregung angesteckt worden, oder vielleicht war sie auch durch die Haltung Hamajis, die wie erstarrt reglos dasaß, beruhigt. Jedenfalls verließ sie kurz den Raum. Hamaji erhob sich sofort und verließ das Haus durch die Hintertür. Sie wollte nicht fortlaufen. Sie wusste, dass ihr sofort Häscher nachgesandt würden. Auf der Rückseite, im Garten, dort, wo der künstlich angelegte, aber zusammengestürzte Gartenhügel lag, gab es eine Stelle unter den Bäumen mit Sommerlaub, die selbst tagsüber dämmrig war. Wie eine Schlafwandlerin schritt Hamaji auf die jetzt in der Abenddämmerung dunkel rauschenden Bäume zu.
Von ihren Eltern verstoßen, von ihren Stiefeltern verschachert, von dem Mann, den sie liebte, abgewiesen - Hamaji wusste sich keinen anderen Ausweg mehr als den Tod. In ihrem Herzen aber schrie es:
"Herr Shino, wenn Ihr zurückkehren solltet, seht Euch gut das Gesicht der Hamaji an, die nicht zur Braut des Kommandanten wurde, sondern ihre Reinheit
für Euch bewahrend den Tod gewählt hat!"
Sie warf das Gürtelband ihres Gewandes um einen Ast über ihr und machte sich lang, um ihren Hals durch die Schlinge zu stecken - da umfasste sie jemand von hinten.
"Huch!"
"Nicht so laut, Fräulein Hamaji!"
Der Atem, der ihren Nacken streifte, kam aus dem Mund des Aboshi Samojirô.
"Ich weiß, wie dir zumute ist. Nicht nur eine Frau wie du, sondern auch jede andere Frau würde es schaudern, diesem Kommandanten mit seiner Teufelsziegel-Fratze als menschliches Opfer vorgeworfen zu werden. Ist es denn nicht besser, mit mir fortzulaufen, als zu sterben?"


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Zur Abwehr böser Geister werden an Sakralbauten oder Häusern vermögender Herrschaften
oft die Abschlussziegel des Daches als Zierziegel mit Teufelsgesichtern gestaltet



Samojirô hatte in der Tat vorgehabt, sich in dieser Nacht mit dem Schwert Murasame aus dem Staub zu machen und, wie es 
in dem Sprichwort 'wenn man schon Gift frisst, kann man auch gleich den Teller mitfressen' heißt, bei der Gelegenheit der erzwungenen Hochzeitsfeier, wenn möglich, auch noch Hamaji zu entführen. Durch eine Lücke in der Lehmmauer, die vor Kurzem herausgebrochen war, war er hereingelangt und hatte von dem zusammengestürzten Gartenhügel aus gespäht, was im Hause Ôtsuka ablief. Dass eben da Hamaji herausgeschlüpft kam und sich hier aufhängen wollte, war für ihn ein in den Schoß gefallenes Geschenk.
"
Besser, mit mir wegzulaufen, als zu sterben... na ja, das trifft es nicht so ganz, denn vorher hast du es ja abgelehnt, mit mir fortzulaufen. Warum du es abgelehnt hast, ist mir unbegreiflich, denn niemand versteht sich so gut wie ich darauf, Frauen glücklich zu machen."
"Ich hasse dich, verschwinde!"
"Und außerdem habe ich ein Werkzeug in die Hand bekommen, das mir den Wiedereintritt in die Dienste des Herrn Shogunatsfürsten Ôgiyatsu ermöglicht. Ehre und Ansehen nach Herzenslust!"
"Lass mich, lass mich los!"
Hamaji versuchte, sich loszuzerren und laut um Hilfe zu schreien, aber sie bekam einen Knebel in den Mund gesteckt. Es war das Tuch, mit dem Samojirô bisher sein Gesicht verborgen hatte. Er klemmte sich Hamaji, die nicht einmal schreien konnte, unter den Arm und lief los. Er erkannte, dass er so nicht durch die schmale Lücke in der Mauer käme, und schnürte sich deshalb Hamaji mit ihrem Gürtelband auf den Rücken und gelangte im Schatten der Kiefern auf die Außenseite der Mauer. In diesem Augenblick erhob sich im Innern des Anwesens ein Geschrei.
Während Samojirô mit der auf den Rücken gebundenen Hamaji durch die dunklen Gassen des Dorfs eilte, erblickte er drüben zwei schwankende Handlaternen. Er erfasste gleich, dass sie zu einer Sänfte gehörten. Der Gast war schon ausgestiegen. Eine Sänfte, die jetzt ins Dorf gelangt war, musste aus Edo kommen.

kago

Bis zur Erfindung der Rikscha war die Sänfte das Taxi des Altertums
(Sänfte vor Herberge von Kumagaya, aus "69 Ansichten der Landstraße von Kiso", Holzschnittserie von Keisai Eisen)


"Heda, ihr kriegt ein gutes Trinkgeld. Schafft die Frau hier nach Edo!"
Die Sänftenträger, die ihren Gast abgesetzt hatten und sich nun den Schweiß abwischten, sahen mit argwöhnischen Blicken zu, wie Samojirô eine Frau ablud, die auf seinen Rücken gebunden war.
"Es ist eine Irre, die ich mit Mühe eingefangen habe. Sie muss schnell nach Edo zurückgebracht werden. Los, auf geht's!"
Die Sänfte, in die man die halb bewusstlose Hamaji geladen hatte, setzte sich gleich in Bewegung. Samojirô schritt zu Fuß nebenher.

Die mit Hamajis Aufsicht betraute Magd war zurückgekommen, bemerkte, dass Hamaji nicht mehr da war und stieß einen Schrei aus. Hikiroku und Kamezasa waren entsetzt. Wie von Sinnen durchsuchten die Bediensteten alle Winkel bis hin zu Abstellkammer, Abort und Garten. Da streckte der
franselhaarige Dorfspitzbube namens Totarô seinen Kopf herein und erkundigte sich nach dem Grund der Aufregung. Auf die Auskunft hin rief er:
"Oh, das muss die Sänfte sein, die mir gerade auf dem Weg hierher entgegenkam. Die nahm die Landstraße in Richtung Hongô, und neben ihr lief offenbar der Dorflehrer Aboshi Samojirô."
"Dieser Halunke!", brüllte Hikiroku. "Totarô, renn ihnen nach und halt sie fest! Wenn du meine Tochter wiederbringst, will ich dich reich belohnen!"
Er nahm sein Schwert samt Scheide ab und rief:
"Aber nimm dir erst mal dieses Schwert mit. Der Kerl wird dir Hamaji nicht widerstandslos übergeben. Ich werde dafür sorgen, dass der Kommandant dir Pardon gewährt, falls du den Aboshi totschlägst. Hauptsache, du
holst mir Hamaji schnell zurück, selbst wenn du diesen Schuft und Menschenräuber dabei umbringst!"


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In der Dunkelheit jener Sommernacht tat sich in der Ferne eine rote Welt auf. Sie erschien am
Hügel Maruzukayama bei Hongô. Dort leuchtete der Widerschein eines Scheiterhaufens in einer tiefen Grube. Darüber wussten die beiden Sänftenträger Bescheid. Vorhin, auf dem Weg nach Ôtsuka, war der Gast ihrer Sänfte angesichts des zu dieser Zeit noch stärker lodernden Feuers eigens ausgestiegen, hatte das am Wegrand aufgestellte Schild gelesen und den Grund des Feuers von den Leuten erfahren, die als Zuschauer dort standen. Er hatte es dann den beiden Sänftenträgern weitererzählt. Auf dem Schild war zu lesen:
"Hier gibt sich der Anhänger der Shugen-Sekte mit Namen Kenryû, Mönchsname Jakumaku, von eigener Hand den Feuertod, um Buddhaschaft zu erlangen. Jeder, der buddhistischen Glaubens ist, spende ein Almosen für sein Heil im jenseitigen Dasein".
Tatsächlich hatte dieser Wanderheilige unter den Augen von etlichen hundert gutgläubigen Männern und Frauen das in eine Grube von beträchtlichen Ausmaßen
geworfene Brennholz entzündet und war dann, mit lauter Stimme ein Sûtra rezitierend, in das lodernde Feuer gesprungen, und die Leute hatten ihm wie um die Wette eine Menge Münzgeld hinterhergeworfen.
Der wundersame rote Schein jenseits des Brachfelds entstammte jenem Scheiterhaufen, es war die restliche Glut. Kein Mensch war mehr zu sehen.
Die bis hierher gelangte Sänfte machte Halt.
"Was ist los, warum haltet ihr an?", fragte Samojirô.
"Herr Samurai", sagte der hintere Träger. "Ihr hattet gesagt, wir kriegen ein gutes Trinkgeld. Wie viel bekommen wir?"
"Nun gut,.... 300 Mon."
Der vordere Sänftenträger lachte höhnisch auf.
"Da ist was faul an der Sache. Ihr habt von einer Irren geredet. Hier ist ein wenig Licht, ich möchte mal sehen, ob das wahr ist. Holt die Frau aus der Sänfte und zeigt sie uns her!"
"Ihr Kerle, ihr wollt mich wohl erpressen?"
Samojirô bekam Lust, sie totzuschlagen.
"Wenn wir eine Entführte tragen sollen, wird ein ganz anderer Preis fällig." - "Wir wollen das erstmal überprüfen."
Der Träger beugte sich nieder und wollte den Bambusvorhang der Sänfte öffnen. In demselben Augenblick zog Samojirô blank und hieb das Schwert nacheinander in den Rücken beider von ihm abgewandten Sänftenknechte. Nur Samojirô gewahrte, dass dabei ein Wasserstrahl aus der Spitze der Klinge sprühte.
Der Schönling Samojirô war alles andere als ein großartiger Schwertkämpfer; dass die beiden Träger auf der Stelle tot waren, zeigt vielmehr die unheimliche Schärfe des Schwertes Murasame.

"Aaah!", rief es von dem Weg her, auf dem Aboshi eben gekommen war. "Du hast zwei Leute totgeschlagen!"
Es war der franselhaarige Dorfspitzbube Totarô aus Ôtsuka, der da gerufen hatte.
Samojirô hatte schon gesehen, dass dieser Kerl ihnen hinterherlief, und die beiden Sänftenträger, die ihm im Weg waren, deshalb vorbeugend erschlagen. Jetzt rollte er die aus ihrer halben Ohnmacht erwachte, vom Blut ihrer Sänftenträger besudelte Hamaji aus der Sänfte heraus.
Totarô heulte auf. "Du bist also tatsächlich der Schurke, der das Fräulein geraubt hat! Du heißt für mich nicht mehr Herr Aboshi, du bist ein Lump von elendem Straßengaukler, du Miststück! Ich bin gekommen, jetzt gib's auf und reg dich nicht!"
"Wer wider mich das Schwert erhebt, dem ergeht es ebenso wie diesen beiden!", gab Samojirô kühl zurück. "Du Taugenichts, du willst wohl auch meine Klinge kosten?"
"Was denn, du Schürzenjäger!"
Totarô zog das Schwert, das er von Hikiroku erhalten hatte, und stürmte so wild auf Samojirô los, dass der Boden knirschte. Als er auf fünf Armlängen herangekommen war, schwang Samojirô sein Schwert. Sogleich entfloss ihm ein Wasserstrahl, und Totarô stieß einen Schrei aus. Er hatte Wasser in die Augen bekommen und blieb stehen. Es folgte Samojirôs zweiter Hieb. Das war wieder ein fürchterlicher Treffer, und Totarô, der mit wildem Ingrimm losgestürmt war, stürzte in einer Lache von Blut zu Boden. Noch strampelte er und versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, aber Samojirô stellte sich mit gespreizten Beinen über ihn und nagelte ihn mit einem weiteren Schwertstich am Boden fest. So stehend, sah er an sich herab. Er rückte seinen verrutschten Haarknoten zurecht und zog sein schwarzes Gewand mit dem Wappen gerade. Er, dieser so schöne Mann, glich einer in erschreckende Höhe gewachsenen Blüte des Bösen.
"Drei Leute habe ich erledigt", griente Samojirô.


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Aboshi Samojirô

"Hamaji, auch das habe ich alles dir zuliebe getan."
Hamaji, die aus der Sänfte herausgerollt war, hatte zwar ihren Knebel verloren, brachte aber keinen Laut heraus. Sie versuchte auch nicht zu fliehen. Ihre Kehle und ihr ganzer Leib waren wohl vor Schreck wie gelähmt, das mag durchaus sein. Aber ihre Augen waren weit aufgerissen und starrten auf Samojirôs Schwert.
"Dieses Schwert....", stieß sie hervor. Sie hatte eben gesehen, wie aus dem Schwert, als Samojirô den Totarô erschlug, ein Wasserstrahl gesprüht kam.
"Murasame", sagte Samojirô und stieß ein lautes Gelächter aus. "Im Auftrag von Hikiroku in Ôtsuka habe ich mein Schwert mit dem von Shino vertauscht. Natürlich wollte Hikiroku, dass ich sein Schwert gegen Shinos austausche, aber ich habe eigene Wünsche und es mit meinem vertauscht. Mein eigener Wunsch ist, mit diesem Wunderschwert als Präsent wieder in den Dienst des Fürsten aufgenommen zu werden."
"Und Herr Shino?"
"Ach, der Dummkopf... Der hält sein falsches Schwert für Murasame und ist damit nach Koga unterwegs. Wenn er es dem Fürsten überreicht, wird es sich sofort als falsch herausstellen. Es kommt ja kein Wasser raus. Und was sie dann mit Shino machen..., hahahahaaa!"
Hamaji, die Samojirô fest angeblickt hatte, sagte leise:
"Zeigt es mir, zeigt mir das Schwert. Zeigt mir, ob es wirklich Murasame ist."
Samojirô schritt auf sie zu. Er wusste um die gegenseitige Zuneigung zwischen Hamaji und Shino und glaubte, dass Hamaji das echte Schwert Murasame schon einmal gesehen haben könnte.
"Griff und Stichblatt sind anders; ich habe die Niete gelöst und nur die Klinge vertauscht. Hier, schau sie dir an."
Hochnäsig hielt er die Klinge schräg vor Hamajis Gesicht. Hamaji schlug unvermittelt auf seine rechte Hand, die den Schwertgriff hielt. In der Hand hielt sie einen Stein, den sie irgendwie aufgehoben hatte, und versuchte, ihm das Schwert zu entreißen.
"Au!", rief Samojirô. Es gelang ihm gerade eben, das Schwert festzuhalten. Mit einem Fußtritt schleuderte er Hamaji weg und versetzte der Niederstürzenden einen Schwerthieb.
Ach, wie mitleidlos, auch diesmal entsprühte der Mordwaffe ein wunderschöner Wasserstrahl!
Es war wohl nur eine reflexartige Handlung gewesen, aber Samojirôs kaltblütige Grausamkeit wurde dadurch stimuliert. Er stieß das Schwert in die Erde, setzte sich nieder und zog die sich nach dem Schwertstreich am Boden windende Hamaji an ihren Haaren auf seinen Schoß.
"Schau mal, Hamaji, warum hörst du nicht auf das, was ich sage? Du bist so hübsch, aber hundertmal widerspenstiger. Wenn du mir so kommst - ich habe schon seit langem einen weiteren Wunsch. Ich möchte einmal ein schönes Mädchen zu Tode quälen. Diesen Wunsch wirst du mir jetzt nach Herzenslust erfüllen. Bis zum Morgen will ich bei dir mein Glück versuchen, dir erst die Zunge herausreißen, dann die Brüste abschneiden, den Bauch aufschlitzen.... Schrei nur, heul nur, das wird mir die ganze Nacht hindurch Vergnügen bereiten."
Samojirô richtete sich auf und griff nach dem Schwert, das im Boden steckte.
In demselben Augenblick erstarrte sein ganzer Körper wie ein Stock. Ein schmales Messer durchbohrte seinen Hals von der einen bis zur anderen Seite. Die wenigen Sekunden, die er noch lebte, müssen für ihn die reinste Hölle gewesen sein. Einen Augenblick später kippte Samojirô auf den Rücken, verkrampfte Arme und Beine und starb.
 
Derjenige, der das Wurfmesser geschleudert hatte, stand vor dem roten Hintergrund des Feuerscheins, der ihn aus der Flammengrube vom Rücken her beleuchtete. Er trug ein an der Brust mit Ketten verstärktes Gewand und darüber ein weitärmeliges Übergewand mit Zickzackmuster am Handende, an seinem Gürtelband ein Langschwert in einer zinnoberrroten Scheide, und über seinen Strohsandalen lederne Gamaschen. Unter seinem langen Haarknoten schaute das kühne, aber anmutige Gesicht eines gut Zwanzigjährigen hervor. Es war das Gesicht des Mannes, der am Abend als 'Anhänger der Shugen-Sekte mit Namen Kenryû den Flammentod erlitten' hatte. Vorhin hatte er sich allerdings ein weißes Tuch um dem Kopf gebunden und über weißer Gewandung eine Mönchsschärpe getragen.
Er schritt herbei. Er war ein schöner Mann, hatte aber auf seiner linken Schulter eine kugelförmige Verdickung wie ein Geschwulst. Zuerst nahm er sich das Schwert, das der tote Samojirô noch festhielt, prüfte es, ohne mit der Wimper zu zucken, vom Griff bis zur Klingenspitze, und schwang es einmal kräftig durch die Luft. Ein Wasserstrahl sprühte heraus.
"Vorhin sah es aus, als entsprühte dem Schwert ein Wasserstrahl... Jetzt bin ich sicher, dass es sich um das alte Wunderschwert handelt", murmelte er. Dies bedeutete, dass er ab irgendeinem Zeitpunkt die Tragödie mit angesehen hatte, die sich hier abgespielt hatte.
Dann beugte er sich zu Hamaji nieder.
"Bist du noch am Leben? Wenn noch ein Atemhauch in dir ist, will ich dich etwas fragen. Ich habe soeben die Namen Hamaji, Hikiroku und Ôtsuka gehört. Womöglich bist du Hamaji, die Stieftochter des Dorfvorstehers von Ôtsuka?", fragte er.
Hamaji öffnete die Augen einen kleinen Spalt.
"Falls du es bist, dann bist du meine Schwester. Mein Name ist Inuyama Dôsetsu vom Hause Nerima."
"Haaa....!" Hamaji stieß einen kleinen Schrei aus. "Herr Bruder!"
Sie reckte einen Arm nach ihm aus und umklammerte seine Hand.
"Nur Euren Namen kannte ich bisher. Ich bin Hamaji...."
"Also stimmt es."

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Inuyama Dôsetsu vor der Feuergrube



"Ach, Herr Bruder, dass ich Euch in einer solchen Lage begegnen muss... Mir bleibt keine Zeit mehr, die lange Trennung zu beklagen. Aber ich habe eine Bitte. Das Schwert, das Ihr in der Hand haltet, heißt Murasame und gehört meinem Bräutigam Inuzuka Shino. G
estern ist Shino nach Koga aufgebrochen, um dem Shogunatsfürsten dieses Schwert zu überreichen. Aber Murasame ist hier.... Der Bösewicht Aboshi Samojirô, der dort am Boden liegt, hat die Schwerter vertauscht..... Herr Shino ahnt nichts davon. Wenn er mit dem falschen Schwert die Burg von Koga aufsucht, wird es ihm übel ergehen. Ich bitte Euch..... Eilt nach Koga und gebt Inuzuka Shino dieses Schwert!...."
Unter Aufbietung ihrer letzten Kräfte presste Hamaji die Hand ihres Bruders, dem sie erst kurz vor dem Erlöschen ihres Lebens begegnet war.
"Bitte, Herr Bruder!"
"Das geht nicht."
"Was? Warum?"
"Ich bin hinter Ôgiyatsu Sadamasa her, der meinen Herrn und meinen Vater getötet hat. Ich lebe einzig, um mich an diesem Feind zu rächen. Der heutige 'Flammentod' war ein Schaustellertrick, mit dem ich Geld für mein Ziel sammle, den Sadamasa zu erschlagen. Dass mir jetzt dieses Zauberschwert in die Hand fiel, ist ein glücklicher Zufall. Ich werde es für meine Rache verwenden", sagte Dôsetsu mit kühler Bestimmtheit.
"Ach", ächzte Hamaji, "wie grausam, wie grausam, Herr Bruder!"
"Ich weiß sehr wohl, dass es unbarmherzig ist, Hamaji, aber ich habe noch einen triftigen Grund, deiner Bitte nicht zu willfahren. Du bist zwar die Tochter meines Vaters Inuyama Dôsaku, aber wir haben verschiedene Mütter. Du bist das Kind einer Mätresse. Darüberhinaus hat deine Mutter aus Neid meine Mutter, Vaters rechtmäßige Gemahlin, vergiftet und ist dafür vom Vater getötet worden. Das ist der Grund dafür, dass du im Alter von zwei Jahren dem Dorfvorsteher von Ôtsuka
als Stiefkind übergeben worden bist."
"......"
"Wir sind zwar Geschwister, das ist richtig, aber von einer Verwandtschaft, die von Unheil geprägt ist. Ich habe vorhin, aus der Feuergrube heraus, euren Wortwechsel mit angehört und war darüber empört, aber meine Beine
haben gezögert, dir zu Hilfe zu eilen. Das ist der Grund, Hamaji." 
Zum ersten Mal nahm Dôsetsu seine Schwester Hamaji in die Arme, als er sie vom Boden aufhob. Ihre kristallenen Augen weit geöffnet, hauchte sie ihr Leben aus.
Wie weit hatte sie die Worte ihres Bruders noch gehört? Falls sie die Rede von "...hat deine Mutter aus Neid...." nicht mehr mitbekommen haben sollte, dann dürfte dieses unter einem Unglücksstern geborene Mädchen zumindest ein klein wenig glücklich in den Armen ihres Bruders gestorben sein.
Gleichwohl zeigte Inuyama Dôsetsu, allem Anschein nach ein Mann von ungestümem Wesen,
Mitgefühl, das ihm als Tränen übers Gesicht rann, als er auf den leblosen Leib seiner Schwester niederblickte.
"Es war dein Unglück, dass du Dôsetsu, der in der Welt der Racheteufel heimisch zu werden sucht, zum Bruder hattest", murmelte Dôsetsu, klemmte sich das Schwert Murasame zwischen die Zähne, lud sich
die tote Hamaji auf beide Arme und schritt davon.


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  Dôsetsu hält seine tote Schwester Hamaji in den Armen  (Scherenschnitt von Miyata Masayuki)

An der Feuergrube blieb er stehen, stieß das Schwert in den Boden und rief:
"Erbarme dich ihrer, Amida Buddha!"


Die japanische Formel 'Namu Amida Butsu' bedeutet eigentlich "Ich suche Zuflucht bei Buddha Amitâbha". Amida, auf Sanskrit Amitâbha, ist eine Emanation des Buddhas ("der Erwachte, der Erleuchtete"), wie man den historischen Prinzen Gautama Siddhârtha nach seiner durch Meditation erlangten Erleuchtung nannte. Im buddhistischen Glauben besitzt der Buddha die Fähigkeit, unterschiedliche Facetten ("Emanationen") seines Wesens zu zeigen, um die Menschen zur Erkenntnis anzuleiten. Die Emanation "Amida" ist der Buddha des unermesslichen Lichtglanzes und des Reinen Landes, der für die Errettung der Menschheit zuständig ist. Bei Todesfällen spricht man diese Formel aus, die im Deutschen meist verkürzt mit "erbarme dich, Amida Buddha" wiedergegeben wird. Durch diese Anrufung, so glaubt man, erreichen auch die Verstorbenen Buddhaschaft und gehen ins Reine Land ein. 



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Dôsetsu wollte den Leichnam seiner Schwester gerade in die Feuerglut hinabwerfen, als jemand von der Straße her rief:
"Halt, warte!"
Ein Mann kam herbeigelaufen. Zehn Schritte vor Dôsetsu blieb er stehen.
"Das kommt mir verdächtig vor. Was machst du da?"
Während er herblickte, loderte vom Grund der Grube, vielleicht durch einen Windstoß, das schon niedergebrannte Feuer wieder kurz auf.
"Wie? Ist das nicht Fräulein Hamaji?"
Er hatte das Gesicht der leblos in Dôsetsus Armen liegenden Frau gesehen und diesen entsetzten Ausruf getan.
"Wer bist du denn?", fragte Dôsetsu.
"Ich bin ein niederer Bediensteter im Hause dieses Fräuleins Hamaji und werde dort Gakuzô genannt."
Der Mann war Inukawa Sôsuke, der am Morgen von Kurihashi, kurz vor Koga, aufgebrochen und auf dem Rückweg hier entlang gekommen war. Und nun erblickte er vor sich einen Mann in ungewöhnlicher Gewandung, und was jener auf den Armen trug, sah ihm ganz nach dem Leichnam von Hamaji aus. Konnte das Wirklichkeit sein? Er mochte seinen Augen kaum trauen. 

"Langsam, warte einen Augenblick", sagte Dôsetsu. "Weißt du als Bediensteter des Dorfvorstehers nicht, was sich in Ôtsuka zugetragen hat?"
"Was in Ôtsuka passiert ist? Ich war heute in Kurihashi und bin auf dem Heimweg. Was ist denn geschehen?"
"Ich weiß es auch nicht genau. Nur, dass ein Kerl mit Namen Aboshi Samojirô Hamaji entführt, und sie, weil sie ihm nicht gefügig war, ermordet hat. Das habe ich mitbekommen und den Kerl totgeschlagen. Seine Leiche liegt da hinten."
Nach diesen Worten warf Dôsetsu den Leichnam Hamajis in die Feuergrube.
"Hamaji, erlange wenigstens dadurch Buddhaschaft, dass deine Feuerbestattung durch die Hand deines Bruders erfolgt!"
"He, was tust du?"
Sôsuke sprang auf, zog sein Schwert und stürzte herbei.
"Kapierst du nicht, dass nicht ich es war, der sie umgebracht hat?"
Dôsetsu ergriff das Schwert, das neben ihm im Boden steckte, und parierte Sôsukes Angriff. Drei, vier Schlagwechsel, und weitere sieben..... Vor dem Hintergrund der aufflammenden Feuerglut fochten die beiden miteinander. Der eine mit dem Wunderschwert aus der Zauberwelt, der andere mit dem wilden Kampfesmut, den er sich im Wald antrainiert hatte.


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Dôsetsu und Sôsuke beim Schwertkampf



Dabei entsprühte Dôsetsus Klingenspitze ein kräftiger Wasserstrahl.
"Oh, dieses Schwert....?", schrie Sôsuke zurückspringend.
Dôsetsu bleckte die Zähne.
"Murasame heißt es. Der Kerl, der Aboshi Sowieso hieß, soll, wie ich hörte, sein Schwert mit demjenigen des Inuzuka Shino vertauscht haben. Hamaji wollte es für Shino dem Aboshi entreißen und ist deshalb getötet worden."
Sôsuke war, als ob ihm alle Haare zu Berge ständen. Und was wird nun aus Shino...?
"Gib mir das Schwert zurück!"
"Du bist wohl wahnsinnig?"
Beide hieben wieder wild aufeinander ein, als ein Wasserstrahl Sôsukes Auge traf.
"Aaah!"
Auf den Kopf des zurücktaumelnden Sôsuke krachte Dôsetsus Schlag. Dabei hatte sich aber eine Schnur aus Sôsukes Gewand an der Schwertklinge verfangen und sie umwickelt. Die Klinge war dadurch stumpf geworden, und nun war es Dôsetsu, der verblüfft zurücksprang. Sôsuke schlug zu, damit ihm der Gegner nicht entkäme, und seine Klinge schnitt genau in Dôsetsus linke Schulter. Sie traf auf etwas Hartes, eine Blutfontäne schoss aus der Wunde, und aus dem Blut heraus kam etwas auf Sôsuke zugeflogen und prallte genau auf seine Stirn.
Einen Augenblick stand Sôsuke da wie gelähmt, aber dann fiel ihm die Gestalt seines Gegners ins Auge, der wie erstarrt am Rand der Grube stand und auf sein Schwert blickte. Um dessen Klinge hatte sich die Schnur eines Beutels geschlungen. Es war der Amulettbeutel, den Sôsuke stets um seinen Hals trug. Er war in der Hitze des Gefechts von selbst herausgerutscht, und die Schnur hatte sich um das Schwert gewickelt. 
Ehe 
Sôsuke es sich versah, drehte sich Dôsetsu um und sprang wie ein schillernder Wundervogel hinunter in die Grube.
"Halt!", schrie Sôsuke und lief an den Rand der Grube, aber mochte das Feuer auch heruntergebrannt sein, der Grund
glich noch immer einem See aus Glut. Als er dies sah, stampfte er zornig mit dem Fuß auf und blieb stehen. Hamaji war ohnehin darin verschwunden, und jetzt war auch der fremde Mann hineingesprungen und nicht mehr zu sehen. Dass er dieses Glut-Inferno überlebt haben könnte, stand nicht zu erwarten.
Sôsuke hielt inne und suchte dann nach dem Ding, das ihn zuvor getroffen hatte. Am Boden erblickte er eine im Feuerschein rot leuchtende Kristallkugel. Er hob sie hoch und stöhnte auf:
"CHÛ!"

kk chu

Dôsetsus Tugend ist CHU - er bleibt seinem Herrn auch nach dessen Niederlage treu und lebt nur dafür, dessen Tod zu rächen



Es war zwar ein anderes Schriftzeichen, aber ansonsten glich die Kristallkugel vollkommen seiner eigenen. Er hatte seine Kugel mit dem Zeichen GI in seinem Amulettbeutel verwahrt, aber der hatte sich samt der Schnur um die Schwertklinge des Gegners gewickelt und war jetzt fort.
'Womöglich....?', dachte Sôsuke und lief erneut zum Rand der Grube, '...war dieser Mann von eben nicht auch einer unserer Brüder aus einer früheren Existenz?'
In seinem Kopf drehte sich alles.  


inuyama dousetsu

Hamajis Bruder Inuyama Dôsetsu im Manga


Jedenfalls stand fest, dass dieser Mensch das Schwert Murasame hatte. Das bedeutete folgerichtig, dass sein 'Bruder' Inuzuka Shino ein falsches Schwert nach Koga brachte. Von Hikiroku war ihm, Sôsuke, jedoch aufgetragen worden, Shino das Schwert abzunehmen. Also konnte Hikiroku keinerlei Zweifel gehegt haben, dass Shino das richtige Schwert besaß. Das war es, was Sôsuke verwirrte.
Abgesehen davon, wie würde es Shino ergehen? Sôsuke rannte in Richtung des Wegs los, den er gekommen war, blieb aber nach zehn Schritten stehen. Ihm ging auf, dass er zu spät kommen würde. Shino musste Koga längst erreicht haben. Selbst wenn 
Sôsuke von hier aus die ganze Nacht hindurch zurückrannte, um Shino zu warnen, träfe er auf gar keinen Fall rechtzeitig ein. Sôsuke war zwar einerseits ein furchtloser, andererseits aber auch ein besonnener junger Mann. Ihm blieb nur, darum zu beten, dass Shino es von selbst rechtzeitig bemerken und die Übergabe unterlassen würde.

Aber was war eigentlich in Ôtsuka geschehen? Sôsuke rief sich die Worte des Mannes von vorhin ins Gedächtnis zurück.
'
Ein Kerl mit Namen Aboshi Samojirô hat Hamaji entführt und sie ermordet, weil sie ihm nicht gefügig war. Das habe ich mitbekommen und den Kerl totgeschlagen. Seine Leiche liegt da hinten.'
'
Der Kerl, der Aboshi Sowieso hieß, soll, wie ich hörte, sein Schwert mit demjenigen des Inuzuka Shino vertauscht haben. Hamaji wollte es für Shino dem Aboshi entreißen und ist deshalb getötet worden.'
Sôsuke ging hinüber, um zu sehen, ob das stimmte, und fand in der Tat die Leichen des
Aboshi Samojirô, des Dorfspitzbuben Totarô und der beiden Sänftenträger.
Hieraus und aus den Worten des fremden Mannes fügten sich die Fakten
zu einem vagen Bild dieser Tragödie zusammen, aber natürlich blieben noch einige Fragen offen. Sôsuke trat den Weg zurück nach Ôtsuka an. Die Grube, in der zuvor noch die letzte Flammenglut aufgeflackert war, war nunmehr dunkel.



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Dass es im Hause Ôtsuka nach Hamajis Verschwinden eine heillose Panik gab, kann man sich vorstellen. Hikiroku und Kamezasa liefen abwechselnd zum Tor des Anwesens und befragten ungeduldig die Bediensteten:

"Was ist mit Totarô?"  -  "Ist Totarô noch nicht zurück?"
Es verging jedoch eine Stunde und noch eine weitere, aber Totarô, der hinter Aboshi Samojirô und Hamaji her war, kam noch immer nicht zurück. Als es unumgänglich wurde, ihm noch weitere Verfolger hinterherzujagen, eilte Kamezasa zu Hikiroku, der vor dem Tor stand.
"Der Herr Kommandant ruft nach Euch!" Kamazasa senkte die Stimme. "Er scheint mitgekriegt zu haben, dass Hamaji nicht da ist."
Sie hatten den Kommandanten und sein Gefolge die ganze Zeit über höchst beflissen mit einem Sake-Bankett bei Laune gehalten, damit niemand etwas bemerke, aber jetzt konnte man ihn nicht länger hinters Licht führen. Tatsächlich hatte er schon gemahnt, wo denn die Braut bleibe, wie lange es noch dauere, und Kamezasa war vor ihn getreten und hatte ihm bittersüßlich geschmeichelt:
"Leider klagt die Braut gerade eben über Kopfschmerzen und ersucht Euch um einen Augenblick der Geduld."
Jetzt aber war ihm wohl die Ursache der Aufregung zu Ohren gebracht worden. Beide Eheleute begaben sich aschfahl zum Gästesaal, aber als sie die Gesichter des an der Stirnseite sitzenden Kommandanten Higami Kyûroku und seines Offiziers Nurude Gobaiji erblickten, zu deren beider Seiten ein halbes Dutzend Amtsleute Platz genommen hatten, überkam sie das große Zittern - das war eine unangenehme Situation! 
Die Kehrseite der eifrigen Bewirtung zeigte sich jetzt: Beide Offiziere waren sturzbetrunken. Aber trotz ihrer Trunkenheit hatten sie selbstverständlich nicht vergessen, zu welchem Zweck sie heute Abend hier hergekommen waren. Nun, da sie vor Ungeduld geradezu kochten, war ihnen die Wahrheit hinterbracht worden, dass die Braut die Flucht ergriffen habe.
"Hör mal, Hikiroku, die Braut soll weggelaufen sein", sprach Gobaiji.
"Oh, es ist ein wahrhaft peinlicher Sachverhalt, der meine Ehre beschmutzt....", stammelte Hikiroku in seinem aus Hanf gewirkten Festgewand, sich wie eine Kröte vor dem Herrn zu Boden beugend. "Es verhält sich leider so, dass ein Schaustellerkünstler mit Namen Aboshi Samojirô, der im ganzen Dorf als Schürzenjäger verrufen ist, gerade eben vor der Feier Hamaji entführt hat und mit ihr durchgebrannt ist..."


  seiza   kroete

Der Vergleich zwischen der korrekten unterwürfigen Haltung eines Samurai und einer Kröte ist nicht abwegig



"Du lügst!"
"Das ist keineswegs der Fall. Ich hatte vorhin sogleich Häscher entsandt, die uns die beiden Flüchtigen einfangen und zurückbringen sollen, und erwarte
mit Ungeduld jeden Augenblick ihre Rückkehr."
"Hieß es nicht gerade eben, die Braut habe Kopfschmerzen?"
"Ja...., nein...., also, das ist...."
"Ihr beide wollt wohl den Herrn Higami zum Narren halten?", sprach Gobaiji. Seine Alkoholfahne streifte das Ehepaar. Er war dafür bekannt, im Rausch gewalttätig zu werden.
"Zum Narren...? Das würde ich mir niemals gestatten.... Zum Beweis...."
Hikiroku rief nach der obersten Dienstmagd und befahl ihr, das Schwert, das an einer bestimmten Stelle im Vorratsspeicher liege, herbeizuholen.
"Im Hause Ôtsuka wird als geheimer Schatz das berühmte Schwert Murasame verwahrt. Es verfügt über den Zauber, dass aus seiner Klinge, wenn man es zieht und schwingt, ein Wasserstrahl wie Dorfregen hervorsprüht. Ich hatte vor, es eines Tages dem Herrn Shogunatsfürsten zu verehren, aber gestatte mir nunmehr, es dem Herrn Kommandanten als Entschädigung für das Missgeschick dieses heutigen Abends untertänigst zu offerieren. Wie wäre es möglich, dass ich, der dem Herrn Kommandanten mit aufrichtigem Sinn solch einen Schatz überreicht, den hohen Herrn zum Narren halten könnte....!"
Er wiegelte mit der Hand
beschwichtigend ab.
Nun brachte die oberste Magd das befohlene Schwert.
"Das..., das ist es!"
Kyûroku ergriff es, entnahm es der Scheide, hielt es an den Lampenständer und besah sich die Klinge.
"Da soll Wasser herausspritzen?"
Er schwang es durch die Luft. Wasser kam nicht heraus.
Er versuchte es ein weiteres und ein drittes Mal, aber nichts Ungewöhnliches geschah.
Hikiroku und Kamezasa waren bestürzt. Gestern Abend hatten sie doch mit eigenen Augen gesehen, wie das Wasser sprühte!
"Das kann nicht sein. Schwingt es stärker!"
Kyûroku wirbelte es noch einmal kräftig, so kräftig, dass die Klinge den Pfeiler hinter ihm traf, sich aber nur verbog, anstatt ins Holz einzuschneiden.
"Das soll ein berühmtes Schwert sein?", brüllte Kyûroku zornentbrannt. "Da fällt mir gerade ein, dass ihr mir schon von Anfang an mit lauter Ausreden wie 'die hat schon einen Verlobten' gekommen seid. Wie man's auch dreht, die Verbindung mit mir hat euch wohl nicht gepasst. Hättet ihr nur einfach abgelehnt, na gut. Aber dass ihr euch einen Spaß mit dem neuen Truppenkommandeur machen wollt...!"
"Ga...ga...gar nicht! Es muss irgendein Missgeschick geschehen sein!"
"Meint ihr vielleicht, dass der so veralberte Kommandant Higami von den Bauern dieses Distrikts noch respektiert wird?"
Hikiroku sah, wie die Hand des Kommandanten nach seinem neben ihm liegenden Schwert griff, schrie laut um Hilfe und drehte sich um.
"Du Strolch!", rief Kyûroku und erschlug ihn über den Tisch hinweg. 


nurude gobaiji

Betrunken neigte Nurude Gobaiji zu Gewalttätigkeit



Kamezasa, durch diese hemmungslose Mordtat vom Blut ihres Gatten besudelt, stieß einen Laut wie eine Geisterkatze aus und versuchte, auf allen Vieren davonzukriechen. Gobaiji, der das sah, bekam einen ebensolchen Wutanfall wie sein Herr und rief:
"Du niederträchtige Alte, du hast mich gehörig blamiert!"
Er stieß mit dem Fuß den Tisch um und schlug Kamezasa tot.
Da lagen sie nun, Hikiroku und Kamezasa, verkrümmt zwischen Sake und Blut, über den Boden verstreuten Essschalen und Speiseresten. Sämtliche Knechte und Mägde des Hauses Ôtsuka nahmen die Beine in die Hand und rannten davon.
Jetzt erst kamen Kyûroku und Gobaiji ein wenig zur Besinnung. Auf das reglos darniederliegende Ehepaar Ôtsuka blickten sie wie verwundert nieder. Schließlich sagte Kyûroku:
"Gehen wir!"
Gobaiji brummte drohend, als wollte er sich vor jemandem rechtfertigen: "Totschlag wegen Unbotmäßigkeit wider die Armeeführung."
Den hinwegschreitenden Offizieren folgten die Amtsleute nach, die dieser Tragödie mit ausdruckslosen Gesichtern zugeschaut hatten. Aus dem Anwesen, das nun eigentlich menschenleer sein sollte, hörte man aber jemanden rufen.
"Wartet noch!"
Es war Sôsuke, der von dem
Hügel Maruzukayama bei Hongô zurückgeeilt war. Schon als er zum Tor hereinkam, erkannte er sofort, dass etwas Ungewöhnliches im Gange war. Von den anderen Bediensteten erfuhr er, dass am späten Nachmittag der Herr Kommandant mit einer Sänfte als Bräutigam hergekommen und nach Einbruch der Dunkelheit Hamaji verschwunden sei; offenbar sei sie von Aboshi Samojirô entführt worden. Wegen des Verschwindens seiner Braut sei der Herr Kommandant in Wut geraten, habe den Hausherrn und die Gnädige gerade zu sich zitiert und ausgescholten.
Zu diesem Zeitpunkt war aus dem Gästesaal ein lauter Schrei und anschließend der Lärm eines wilden Durcheinanders zu hören. Sôsuke rannte quer durch den Garten, sprang, ohne die Strohsandalen abzulegen, in den Saal und erblickte dort die übel zugerichteten Leichen seines Herrn und dessen Gattin. 
Sôsuke wusste nun alles. Nun ja, nicht alle Einzelheiten, aber die Zusammenhänge der Geschehnisse fügten sich in seinem Kopf zu einem stimmigen Bild zusammen.
Seine Herrschaften waren gewiss keine unschuldigen Opfer. Hamajis grausamer Tod war ihre Schuld. Und nicht nur das; er kannte ihre Bosheit und Gier schon seit langer Zeit sehr gut. Ihr Ende war der Lohn für ihre Untaten. Auch ihm gegenüber waren sie unmenschliche Dienstherren gewesen. Aber ganz gleich wie unmenschlich, der Herr ist der Herr, und hatte er Sôsuke auch wie einen Fronknecht behandelt, schuldete dieser seinem Herrn dennoch Dank dafür, dass er ihn jahrelang großgezogen hatte. Stillschweigend mitanzusehen, wie er umgebracht wurde, verstieße gegen
sein Pflichtbewusstsein. Und obendrein war der direkte Anlass für Hamajis Tod die Wolllust dieses ruchlosen Kommandanten gewesen. Selbst wenn es sich um einen Kommandanten handelte, die Strafe für seine Missetat musste er bekommen. Wenn Sôsuke dem Fürsten, Herrn Ôishi, hinterher diese Schandtaten berichtete, würde er sicher Verständnis aufbringen.
Dies ging Sôsuke alles blitzschnell durch den Sinn. Obwohl er wie ein furchtloser Schlagetot aussah, war er doch ein junger Mann mit ungemein starkem Pflichtbewusstsein und geradezu rationalem Denken. Deshalb hatte er dem davonschreitenden Kommandanten und seinen Leuten soeben zugerufen, sie sollten warten.
"Ich bin ein niedriger Bediensteter dieses Hauses mit Rufnamen Gakuzô. Soll ich etwa den Kommandanten, der meinen Herrn erschlagen hat, einfach laufen lassen? Wartet, ich will den Mörder meines Herrn zur Rechenschaft ziehen!"
Er zog das Kurzschwert, das er an der Seite trug, und trat frech auf den Bohlengang zum Innenhof. Außer sich vor Zorn kamen Kyûroku und Gobaiji mit blank gezogenen Waffen auf ihn zugestürmt. Nach einem heftigen Kampf schlug Sôsuke den Kyûroku über die Balustrade in den Hof hinunter. Die Amtsleute in seinem Gefolge schulterten Gobaiji, der verletzt worden war, und rannten davon, als ginge es um ihr Leben.


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Inukawa Sôsuke und die Kristallkugel mit dem Schriftzeichen GI


Angesichts der dramatischen Geschehnisse waren alle Bediensteten des Hauses ängstlich fortgelaufen. Nur ein alter Mann heftete sich an Sôsukes Fersen und sagte mit gepresster Stimme:
"Wie willst du eigentlich mit den Folgen fertig werden, Gakuzô? Wir Leute aus diesem Anwesen sowieso, aber auch alle im Dorf werden für diese Vorfälle verantwortlich gemacht und zur Hinrichtung verurteilt werden."
Mit ruhiger Miene erwiderte Sôsuke:
"Nein, euch im Dorf wird kein Haar gekrümmt werden. Ich nehme alle Schuld auf mich."
Selbst wenn jemand ein Kommandant ist, kann es nicht angehen, dass er sich wider alle Vernunft einfach zum Bräutigam erklärt, und mag ihm auch die Braut fortgelaufen sein, darf es nicht geschehen, dass er deshalb seine Schwiegereltern ungestraft umbringt. Um sich selbst machte Sôsuke sich keine Sorgen.

Am folgenden Tag kam kurz vor Mittag ein Offizier mit Namen Isagawa Anpachi aus dem Armeehauptquartier mit einer Hundertschaft Leichtbewaffneter. Ohne Furcht erläuterte Sôsuke alle Geschehnisse, die zu dem Vorfall des Vorabends geführt hatten. Da schnitt ihm ein Mann, der bei Isagawa Anpachi stand, offenbar ein Kollege war und Sôsuke mit boshaftem Grinsen angestarrt hatte, das Wort ab:
"Still, halt den Mund, was faselst du da? Meinst du, wir wüssten nicht Bescheid? Du glaubst doch wohl selber nicht, dass ein Herr vom Stand eines Truppenkommandanten die 
Tochter eines Dorfschulzen zur Frau nehmen würde. Mir hat Herr Nurude Gobaiji, der gestern Abend mit knapper Not deinem Mordanschlag entgangen ist, berichtet, dass mein Bruder auf Dienstreise in das Anwesen getreten sei, um sich ein warmes Bad zu erbitten."
Dieser Mann war also Shahei, der Bruder des Higami Kyûroku.
"Ich gehe davon aus, die Sache mit der verschwundenen Tochter des Hauses bedeutet, dass deren Verlobter oder Geliebter mit Namen Inuzuka Shino schon
vorher mit ihr ausgerissen ist. Er wird sich mit ihr abgesprochen und sie herausgelockt haben. Und du hast ihm dabei mitgeholfen!", brüllte Higami Shahei. "Der Beweis dafür ist, dass Aboshi Samojirô, dem du die Schuld zur Entführung in die Schuhe schiebst, zusammen mit drei weiteren Männern heute früh an den Hügeln bei Hongô tot aufgefunden worden ist. Und wo ist der Mörder? Das bringt kein Einzelner zustande. Es ist so gut wie sicher, dass Inuzuka Shino und du diese Morde gemeinsam begangen habt!"
Isagawa Anpachi schob sein Kinn vor.
"Festnehmen, den Kerl!"
Der verdattert dastehende Sôsuke wurde gefesselt und abgeführt.


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An demselben Tag, nämlich dem 21.Tag des 6.Monats, hatte der bedauernswerte Inuzuka Shino noch immer nicht bemerkt, das sein Schwert vertauscht worden war.
Nein, das stimmt nicht. Shino wusste es inzwischen. Aber als er es erfuhr, war es schon zu spät.
Am Vortag hatte er die drei Meilen von Kurihashi bis zum Ziel Koga zurückgelegt und noch am selben Tag bei dem Anwesen von
Yokobori Arimura, dem Vogt des Shogunatsfürsten der Burg Koga, vorgesprochen.
"Ich bin
Inuzuka Shino, ansässig im Lehen Ôtsuka im Lande Musashi, und Sohn eines getreuen und Euch wohl längst bekannten Vasallen des verstorbenen Fürsten Ashikaga Mochiuji. Ich bin gekommen, um das wertvolle Schatzschwert Murasame seinem Besitzer zurückzuerstatten, das der einstige Fürst meinem verstorbenen Vater zur Verwahrung anvertraut hatte. Ich ersuche daher untertänigst, mir eine Audienz bei Eurem Herrn, dem Fürsten, zu ermöglichen."
Es dauerte eine Weile, dann kam der Adjutant wieder heraus und richtete aus:
"Man wird morgen früh einen Boten zu Eurer Herberge schicken, der Euch abholen wird. Begebt Euch unter dessen Führung zur Audienz bei dem Fürsten."
Shino kehrte in seine Unterkunft zurück. Und jetzt fiel ihm endlich ein, vor der Übergabe das Schwert doch noch einmal zu überprüfen. Tief in der Nacht entnahm er Murasame der Hülle und zog es aus der Scheide. Die Klinge, die er vor die Lampe hielt.... Er brauchte nur einen Blick darauf zu werfen, um zu erkennen, wie miserabel sie geschmiedet, gekörnt und geschliffen war. Schlagartig entwich ihm das Blut aus dem Gesicht. Er brauchte gar nicht erst zu versuchen, das Schwert zu schwingen; das war nicht Murasame. Es war ein stumpfes Ding, das dem echten Schwert nur ein wenig ähnlich sah.
Ähnlich sah? Shino war verwirrt und besah sich Griff, Stichblatt und Scheide - das alles sah aus wie bei Murasame. Nein, es waren tatsächlich die Originale von Murasame. Es konnte nicht anders sein, als dass jemand die Niete gelöst und die Klinge vertauscht hatte.
Shino riss die Augen auf.
Jetzt fiel es ihm ein.
"Da muss das passiert sein!"
Das einzige Mal, dass ihm Murasame, das er immer mit sich trug, kurz aus den Augen kam, war auf dem Fluss Kaniwagawa gewesen, als er in den Fluss gesprungen war, um seinen ertrinkenden Onkel zu retten. Dabei war Aboshi Samojirô allein im Boot geblieben. Sein Onkel Hikiroku hätte ihn dort beinahe ertränkt, und als das schief gegangen war, musste er versucht haben, ihn durch die Übergabe eines gefälschten Schwertes an
den Fürsten in eine Lage zu bringen, die für ihn tödlich enden würde. Das war eine Arglist von solcher Gehässigkeit, dass Shino das Blut in den Adern gerinnen wollte. Aber jetzt war nicht der rechte Zeitpunkt, sich zu ereifern. Gut, dass er es im allerletzten Augenblick, gerade noch vor der Überreichung, entdeckt hatte! Shino erschauderte.
Was er jetzt zu tun hatte, war klar. Auf der Stelle zurück nach Ôtsuka und das echte Schwert holen.
Aber das tat Shino nicht. Es wäre eine eigenmächtige Flucht gewesen. Wenn er jetzt, nachdem er nun einmal seinen Namen und sein Anliegen dem Burgvogt Yokobori Arimura von Koga kundgetan hatte, bei Nacht und Nebel davonliefe, würde man ihn, falls er erneut um eine Audienz zur Schwertübergabe ersuchte, kein zweites Mal vorlassen. Und außerdem gestattete seine Ehre ihm ein derartiges Verhalten nicht. Morgen würde er erst einmal bei Herrn Yokobori, dem Vogt, um Entschuldigung bitten und anschließend nach Ôtsuka zurückkehren. So beschloss es Shino, der nicht nur aufrichtig, sondern mehr noch von jugendlich arglosem Wesen war.  
 

Nach einer Nacht, in der Shino kaum ein Auge zutat, kam der Morgen. Von Seiten des Burgvogts Yokobori erschienen zwei Samurai, um Shino abzuholen. Er äußerte seine Bitte um ein Gespräch mit Herrn Yokobori, bevor er die Burg aufsuchen würde. Die Samurai erwiderten, der Herr Burgvogt habe sich bereits zur Burg begeben, dort würde er ihn antreffen. Shino blieb nichts übrig, als mit zur Burg zu gehen.
Die Burgen waren
zu jener Zeit nicht allzu riesig und prachtvoll, aber immerhin war dies die Burg, in der der Shogunatsfürst der Kantô-Region residierte. Das Hauptgebäude war dreistöckig, und sein Anblick, hoch zu den Wolken am Sommerhimmel aufragend, wirkte auf Shino, der bis dahin kaum jemals über Ôtsuka hinausgelangt war, erdrückend imposant. Er wusste zwar, dass das Hauptgebäude der Burg den Namen Hôryûkaku trug, aber solche riesigen Ausmaße, die sein Herz klopfen ließen, und diese trutzige Gestalt machten Shino jetzt doch etwas beklommen. 


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Japanische Burg (in Nagoya, fünfstöckig - die von Koga steht nicht mehr)



Nach dem Eintrtt in die Burg bat Shino erneut um ein Gespräch mit dem Vogt Yokobori, aber seine Begleiter ließen sich nicht darauf ein, sondern erwiderten ein ums andere Mal:
"Der Herr Burgvogt weilt an der Seite des Fürsten; falls Ihr ein Gesuch an ihn richten wollt, steht es Euch frei, dies beim offiziellen Empfang zu tun."
Wie er reagieren müsste, falls es zum Äußersten käme, darauf war Shino schon gefasst. Man hatte ihm auf dem Weg sein eigenes Schwert vom Gürtel abgenommen, und auch das Schwert Murasame müsse bis zum Zeitpunkt der Überreichung verwahrt werden, hatte der eine der beiden Samurai gesagt, die ihn rechts und links flankierten, kräftig gebaut wie Sumô-Ringer, und es sich samt Beutel aushändigen lassen. So wurde Shino in den Empfangssaal geführt.
Zu beiden Seiten des Saales saß eine gewaltige Anzahl von Gefolgsleuten des Fürsten aufgereiht; am Kopfende gab es ein Podest, vor dem sich ein Ständer mit einem Vorhang befand, und davor hatte Burgvogt Yokobori Arimura Platz genommen. Er stellte die hochmütige, ausdruckslose Miene eines Machtmenschen
zur Schau, der hier offenbar viel zu sagen hatte.
"Du bist das also", sprach Arimura.
Shino neigte sein Haupt formell zum Boden. Der Vorhang ging hoch, und das junge, ungeduldig wirkende Gesicht des Fürsten Shigeuji wurde sichtbar. Arimura stellte Shino mit Namen und Herkunft vor und erläuterte, was es mit dem berühmten Schwert Murasame auf sich habe, das von dem alten Adelsgeschlecht der Genji her bis zum Haus Ashikaga überliefert worden war.
"Deine Absicht ist wahrhaft edel. Auf, zeig es her!"
Auf diesen Befehl hin rutschte der Samurai, der das Schwert hielt, auf den Knien hervor.


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Samurai in korrekter Haltung vor ihrem Herrn


"Wartet einen Augenblick!", presste Shino mit einer Stimme hervor, als müsste er Blut spucken. "Es tut mir wahrhaft unendlich leid, aber dieses Schwert ist nicht Murasame."
"Was soll das heißen?"
"Mir fehlen die Worte, mich für das Missgeschick zu rechtfertigen, aber gestern Abend bemerkte ich, dass die Klinge des Schwertes, das ich mitzubringen beabsichtigte, vorher durch irgendjemanden vertauscht worden ist," sprach Shino ächzend. "Seit dem Morgen versuchte ich fieberhaft, diesen beklagenswerten Sachverhalt kundzutun, aber mir wurde keine Gelegenheit dazu geboten. Ich ersuche untertänigst, mir einige Tage zu gestatten, um das echte Murasame zu holen und Euch erneut darzureichen. Gewährt mir bitte einen kleinen Aufschub."
Yokobori Arimura, der die ganze Zeit über Shinos Gesicht angestarrt hatte, brüllte:
"Du bist ein Spion! Dass du ausgerechnet jetzt
erst bemerkt haben willst, dass das Schwert, das du seiner Hoheit, dem Fürsten, überrechen willst, vertauscht wurde, ist ein falsches Spiel, eine Kinder-Ausrede! Mit dieser Finte bist du gekommen, um die Anlage dieser Burg auszukundschaften. Für wen spionierst du?"
"Ganz und gar nicht! Ich schwöre bei allen Gottheiten des Himmels und der Erde....", wand sich Shino.
"Packt ihn und holt aus ihm die Wahrheit heraus!"
Auf diesen Wutausbruch Arimuras hin stürzten sich die zwei Samurai, die ihn rechts und links flankierten, auf Shino. Erst ging er
einmal zu Boden, im nächsten Augenblick war er aber wieder auf den Beinen und warf die beiden Samurai so hart nieder, dass der Boden bebte. Der groß gewachsene, aber blütenzart anmutende Shino besaß Bärenkräfte, die ihm niemand ansah.
"Ha, der Kerl ist tatsächlich ein Eindringling!", brüllte Arimura. "Auf ihn, der muss bestraft werden!"
Die Schiebetüren hinter den aufgereihten Vasallen wurden mit einem Ruck aufgerissen, und die dort bereit stehenden Gardisten stürmten, die einen mit gezogenen Schwertern, andere mit Spießen, wie eine Lawine in den Saal herein.
Dass Gardisten vorsichtshalber zum Kampf bereit standen, war in jenen Kriegszeiten auf den Burgen üblich.
Shino wich ihnen aus,
flink wie ein fliegender Vogel, packte den Arm des ersten, der ihn mit geschwungenem Schwert totschlagen wollte, und während er ihn zu Boden trat, entwand er ihm zugleich das Schwert. Wegen eines solchen dämlichen Verdachts lasse ich mich doch nicht gleich umbringen, mochte sich Shino gedacht haben, aber mehr noch war es eine Reflexhandlung seines jugendlichen Temperaments.
Wohin sein Schwert reichte, spritzte das Blut; er selbst wurde auch an etlichen Stellen verwundet, aber das war unvermeidlich, weil er so aufgeregt war. In jungen Jahren war er zwar in der dörflichen Schwertkampfschule durch Akaiwa Ikkaku ausgebildet worden, und dann hatte er mit seinem Partner Sôsuke heimlich im Wald von Musashino weitergeübt; aber das alleine war es nicht, sondern es kamen noch Shinos Kraft und vielleicht eine Naturbegabung hinzu - nach wenigen Minuten des Kampfes lagen sieben oder acht tote Gardisten am Boden, und die Samurai von Koga gaben ihm unwillkürlich den Weg frei. Shino entkam in den Burggarten. Dieser war auf drei Seiten von einer Lehmmauer umgeben. Shino nahm das Schwert zwischen die Zähne, kletterte den Stamm einer Kiefer hinauf und schwang sich von da aus auf das erste Dach des Gebäudes, und von diesem auf das nächste Dach. Dort tauchte über ihm das oberste Stockwerk des Hôryûkaku auf. Wenn er da hinaufkäme, könnte er von oben einen Fluchtweg sehen, dachte Shino, und schickte sich an, auf das dritte der übereinander gebauten Dächer zu steigen. Es war vielleicht eine Art von Aufbäumen eines 
Menschen, der in einer ausweglosen Notlage nicht mehr weiter weiß.
Von hier aus, vom Dach des Hauptgebäudes Hôryûkaku aus, war die gesamte Anlage unter Shino mit einem Blick zu erfassen, aber unten am Boden, der zwischen den Dachziegeln von Burg, Vorratshäusern und Mauern sichtbar war, liefen überall Leute umher. Vor allem unter dem Hôryûkaku wimmelte es dermaßen von schwertschwingenden Kämpfern, dass der Erdboden kaum zu sehen war. Nur auf einer Seite war eine weite, freie Fäche; das war der große Fluss Tonegawa, der dort breit an der Burg Koga entlangströmte.


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Burg Koga (durch AI erstellte Szene im Film, Shino rechts oben auf dem Dach)



Shino verzog sein Gesicht zu einem verzweifeltem Lächeln. Hier gab es keinen Fluchtweg mehr. In diesem Bewusstsein strich sich Shino sein wirres Haar zurecht, riss sich seinen zerfetzten linken Ärmel an der Schulter ab und wischte das Blut von seinem Schwert und aus seinen Wunden überall am Leib ab.
Von unten her sah Shino bei dieser Tätigkeit aus wie eine Krähe, die vor dem Hintergrund des blauen Himmels in aller Ruhe ihr Gefieder putzt. 
"Holt den runter!", schrie Shigeuji, der in den Burggarten getreten war und nach oben hinaufblickte. "Der ist auch von außerhalb der Burg zu sehen. Wenn dem niemand Einhalt gebietet, ist das Ansehen der Burg dahin!"
Keiner der Samurai trat freiwillig vor. Bis der Eindringling dorthin gelangt war, hatten ihn schon etliche Kämpfer verfolgt, waren aber alle von ihm vom Dach hinuntergetreten oder -gehauen worden, und aller Augen hatten den entsetzlichen Tod der aus solcher Höhe Abstürzenden miterlebt. So traute sich erst recht niemand auf das schräg geschwungene dritte Ziegeldach, wo die Füße kaum Halt finden. "Traut sich denn keiner? Ist kein Mann mit Mumm unter den Vasallen des Shigeuji?", brüllte Shigeuji mehrmals.
Da schlug sich Yokobori Arimura, der mit gedankenschwer gesenktem Kopf an seiner Seite kniete, auf die Schenkel.
"Mein Herr, ich weiß jemanden, der dazu taugt. Ja, nur der kann das schaffen!"
"Wen meinst du?"
"Den Inukai Genpachi."
"Inukai Genpachi?"
"Ja, der Mann, den man den besten Schüler des vor drei Jahren verstorbenen großen Schwertkampfmeisters Nikaimatsu Yamashironosuke nennt. Er ist ein Sohn unseres früheren Kommandeurs der Fußtruppen, Inukai Genbei, aber nicht sein leiblicher, sondern ein Adoptivsohn unbekannter Abstammung. Im Frühling wurde er zum Dienst als Kerkermeister befohlen, aber er war so unverschämt, um seinen Abschied aus Eurem Dienst zu ersuchen, weil ihm diese Aufgabe nicht gut genug war, und wurde daraufhin auf der Stelle wegen anmaßenden Betragens eingekerkert."
"Aha."
"Er ist zwar ein junger Querkopf, taugt
aber wie kein anderer dazu, diesen Eindringling zu erledigen. Und selbst wenn auch er heruntergehauen werden sollte, kann uns das im Grunde egal sein."
"Gut, ruft ihn her!"
Der Mann wurde umgehend aus dem Kerker herbeigeholt. Inukai Genpachi war etwas über zwanzig; seinem Gesicht und Auftreten nach war er ein bespiellos furchtloser, gewaltiger Kämpfer und besaß einen Körper, der aus Eisen geschmiedet zu sein schien. Auf seiner rechten Wange trug er ein schwarzes Muttermal. Dieser Mann, der es abgelehnt hatte, sich als Kerkermeister herzugeben, nahm nun den Befehl, jenen Spion von irgendwoher, der die Burg ausgekundschaftet, eine große Zahl von Burgrittern totgeschlagen und auf dem Dach des Hôryûkaku Zuflucht gesucht hatte, schnellstmöglich abzustechen, freudig an.
"Es ist mir eine Ehre!"
Er verlangte nur nach einem Kurzschwert.
"Einen solchen Eindringling will ich dazu bringen, dass er zugibt, wer er ist und wo er herkommt. Ich bringe ihn nicht um, sondern fange ihn ein und nehme ihn ins Verhör."
Genpachi bekam nicht nur ein Kurzschwert, sondern auch Kettenhemd, Kürass, Fechthandschuhe, Beinschützer und, für alle Fälle, ein Langschwert ausgehändigt. So ausstaffiert lief er sofort in das Hauptgebäude Hôryûkaku hinein und erschien an einem Fenster im dritten Stockwerk mit einer langen Leiter, über die er schnell wie der Wind auf das Dach geklettert kam, auf dem sich Shino befand. Er rief:
"Ich bin Inukai Genpachi im Dienste des Hauses Ashikaga. Du Narr, der als Spion in die Burg eindrang, sich wie ein Wilder aufführte und, obwohl entlarvt, nach Herzenslust unsere Leute tötete und verwundete, du steckst in einer ausweglosen Falle. Ergib dich folgsam der Gefangenschaft!"
Shino, der auf dem Dachfirst stand, lachte auf, dass seine starken weißen Zähne sichtbar wurden.
"Mach dich auf Übles gefasst, wenn du mir nahekommst. Ich werde dich als guten Kameraden mit in den Tod nehmen. Komm nur her!"
Genpachi stürmte los. Auf dem Dach
des Hôryûkaku begann der unvergleichlich heftige Kampf der beiden jungen Männer, die weder die glühend heißen Ziegel noch die gefährliche Schräge des geschwungenen Dachs fürchteten. Die Klingen blitzten, die Schwerter wirbelten.


dachkampf 


Unter den blendendweißen Kumuluswolken hatte es den Anschein, als kämpften dort oben zwei wilde Vögel; dem von unten am Boden heraufblickenden Shigeuji und seinen Leuten liefen Schauder über den Rücken; atemlos verfolgten sie den Kampf. Wenn der eine sah, wie der andere auf den Ziegeln den Halt verlor, stürmte er auf den anderen los, ha, jetzt hab ich dich, verlor aber selbst den Halt - so wogte der Kampf etliche Minuten hin und her, und am Ende balancierten sie, die Klingen von Schwert und Kurzschwert fest gegeneinander gepresst, auf dem Dachfirst wie zwei Puppen, die jemand dort tanzen ließ. Nun waren sie einander so nahe, dass sie ihre Gesichter und Oberkörper genau sehen konnten, da....
"Ha....!?"  ---  "Ho....?!", riefen sie beide. Das war kein Kampfgebrüll, sondern ein Schrei der Überraschung.
Inuzuka Shino hatte das Muttermal auf Genpachis rechter Wange erblickt. Er sah es genau und erkannte es sofort. Es hatte unverkennbar deutlich die Form einer Päonienblüte. Und gleichzeitig erblickte Genpachi auf Shinos rechtem Oberarm, von dem dieser sich zuvor den Ärmel abgerissen hatte, dessen Mal, das ebenso klar die Form einer Päonienblüte aufwies.
"Ihr seid....!", riefen beide aus und ließen die Arme sinken. Das hatte zur Folge, dass sie die Balance verloren. Sie taumelten und rutschten, sich aneinander festhaltend, die Dachziegel hinab und stürzten dann im freien Fall durch die Luft....
....in die Welt des Bandô Tarô, weit unter sich. Dort war ein kleiner Kahn festgebunden. Die beiden krachten wie Kanonenkugeln auf das Schifflein, dass das Wasser hoch aufspritzte, und das Seil, mit dem der Kahn angebunden war, riss. Mit den beiden jungen Kampfgegnern, die sich nicht mehr rührten, trieb das Schiff auf die Wellen des breiten Flusses Tonegawa hinaus und glitt im Nu flussabwärts davon.   


Bandô Tarô --- Bandô ist eine Bezeichnung für Ostjapan, und Tarô bezeichnet den erstgeborenen, "großen" Sohn einer Familie. Bandô Tarô, "Der Große von Bandô", ist der zur Edo-Zeit gebräuchliche Volksmund-Name des längsten Stroms in Ostjapan, des Tonegawa.
Kanonenkugeln existierten in Japan zwar schon zur Zeit des Autors, aber nicht zu der Zeit, in der die Geschichte spielt.


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