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Legende der acht Hundekrieger


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Wir befinden uns im 2.Jahr Bunmei (1470), das sind elf Jahre nach dem Ende des vorigen Kapitels. Im Frühling dieses Jahres ereignete sich im Haus des Fürsten Satomi Yoshizane von Awa ein neuerlicher Vorfall.
Elf Jahre zuvor, um die Zeit von Fusehimes Tod, war auch ihre Mutter Isarago ihrer Krankheit erlegen, und ein Jahr später zog sich Fusehimes Vater Yoshizane aus der aktiven Politik zurück. Sein Nachfolger als Burgherr und Landesfürst wurde sein Sohn Yoshinari, der ein weiteres Jahr später heiratete. Danach kamen Jahr für Jahr Kinder zur Welt, aber seltsamerweise ausschließlich Mädchen.
Während dieser Zeit begannen in der Hauptstadt Kyôto die Auseinandersetzungen, die man heute die "Ônin-Kriege" nennt und die auch in der Kantô-Region zu bewaffneten Konflikten führten;
allein das Land Awa blieb davon verschont.


Mit dem Rücktritt des Shôguns Ashikaga Yoshimasa 1464 begann ein Streit um seine Nachfolge. Er selbst und einige der Landesfürsten bevorzugten Yoshimasas Bruder, der allerdings zuvor buddhistischer Mönch geworden war. Eine andere Fraktion setzte sich für seinen unmündigen, 1465 geborenen Sohn Yoshihisa ein in der Hoffnung, unter einem Kleinkind ihre eigene Machtposition ausbauen zu können. Beide Seiten sammelten Verbündete, und 1467 eskalierte der Konflikt zu einem offenen Krieg, in dessen Verlauf Kyôto vollkommen verheert wurde und der auch auf die Länder Westjapans übergriff. Mit dem Sieg des Fürstenhauses Hosokawa, das für Yoshihisa gefochten hatte und nun die Kontrolle über das Shogunat erlangte, endeten 1477 zwar die Ônin-Kriege in der Hauptstadt, aber in allen Teilen des Reichs setzten sich die Machtkämpfe der Landesfürsten untereinander, mit großer Grausamkeit ausgetragen, noch jahrzehntelang fort.


Kanamari Daisuke hatte sich damals, vor elf Jahren, in Mönchstracht auf Reisen begeben und war seitdem nicht mehr zurückgekehrt. Friede ist zwar sehr erfreulich, aber durch die Burg Takita in Awa tobten nur kleine Mädchen.

Eines Tages im Frühling des genannten 2.Jahres Bunmei erlaubte Satomi Yoshizane sich angesichts seiner dreijährigen Enkelin Gonokimi, die ihrer Tante Fusehime am ähnlichsten sah, zu scherzen:
"Anfangs habe ich mich über die Schar meiner Enkelinnen gefreut, aber es sind alles lauter Fusehimes....!" 
Gleich danach aber wurde Gonokimi, die sich mit Dienstmägden unter den Bäumen im Burggarten erging, von
den scharfen Klauen eines riesigen Adlers, der mit flatternden Schwingen vom Himmel herniederstieß, blitzschnell erfasst und über die Wolken hinaus in die Weiten des Himmels entführt. Yoshizane, der halb von Sinnen bei den entsetzten, irre aufschreienden Mägden stand, stöhnte wie im Selbstgespräch:
"Weh mir, ich habe wieder etwas Schlimmes gesagt!"

 
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An einem Abend im Frühling desselben 2.Jahres Bunmei fochten zwei Männer in einer Kampfschule des Dorfs Ôtsuka im Distrikt Toshima des Landes Musashi mit Holzschwertern. Nun ja, Kampfschule - es war einfach ein großes Bauernhaus, das innen ganz mit Holzlatten verkleidet war. Der eine Kontrahent mochte Mitte dreißig sein und sah kräftig gebaut aus; er war der Leiter der Kampfschule und hieß Akaiwa Ikkaku. Sein Widerpart war um die Mitte vierzig und wirkte etwas kränklich; es war der Dorfschullehrer namens Inuzuka Bansaku. In einer Ecke der Kampfschule hockten vier oder fünf Jungen beieinander, es mochten Schüler aus dem Dorf sein, die mit erschrockenen Blicken dem Kampf zusahen, und außerdem noch ein Junge und ein Mädchen, die um die elf oder zwölf Jahre alt waren und alle beide Gesichter machten, als müssten sie gleich weinen.


Im Land Musashi, von Awa aus knapp 100 km in nordwestlicher Richtung, lag seinerzeit die Domäne von Edo, die aus verstreut liegenden Festungen und darum herum gebauten Dörfern bestand. Es handelt sich um das heutige Tôkyô. Toshima ist heutzutage eines seiner Arrondissements, Ôtsuka ein Stadtviertel in dessen Zentrum.
Eine Kampfschule, auf Japanisch Dôjô, bildet junge Männer (heute auch Frauen) in Kampfsportarten aus. Auch Jûdô, Aikidô, Karate und andere bei uns populäre japanische Sportarten werden in einem Dôjô trainiert. Der noch heute praktizierte Kampfsport mit Holzschwertern heißt Kendô.


Beim üblichen Training mit Holzschwertern geht es nur darum, blitzschnell einen formellen Angriff zu parieren, aber dieser Zweikampf sah nicht so aus. Man konnte meinen, es ginge um Leben und Tod. Nein, das nicht, aber vor dem Kampf hatte Inuzuka Bansaku seinem Gegner zugerufen und ihn gewarnt:
"Herr Akaiwa, wenn es ans Fechten geht, kann es sein, dass mich ein echter Kampfgeist übermannt...!"
Dem Augenschein nach sollte man meinen, der kränkliche Bansaku sei hoffnungslos unterlegen, aber nach den ersten Hieben sah man, dass er den Ikkaku in die Defensive zwang.
"Hep!"
Bansaku tänzelte zum Angriffshieb vor. Ikkaku parierte mit Mühe. Bansaku schien auf dem linken Bein zu hinken. Der zunächst ins Hintertreffen geratene Ikkaku ging aber nach sieben oder acht heftigen Schlagwechseln zu einem wilden Gegenangriff über.
"Herr Vater!", schrie das Mädchen.
Inuzuka Bansaku flog durch dem gewaltigen Hieb nach hinten, und weil eines seiner Beine lahmte, verlor er das Gleichgewicht und knallte mit dem Rücken gegen die Lattenwand. Akaiwa Ikkaku, der im Begriff stand, ihm nachzusetzen und weiter anzugreifen, stand jedoch auf einmal starr wie ein Stock, die Augen vor Angst weit aufgerissen.
"Herr Vater!", rief diesmal der Junge.
Bansaku, der mit dem Rücken an die Wand gekracht war, federte zurück und setzte zu einem wahnwitzigen Gegenhieb an, und Ikkaku bekam das Holzschwert voll auf die Schulter, als ob er völlig vergessen hätte, sich zu wehren.
"Vorbei!", rief er. Inuzuka Bansaku warf sofort das Holzschwert fort und sank wie gefällt im Schneidersitz auf den Boden. Sich mit beiden Händen abstützend, schnappte er nach Luft. Akaiwa Ikkaku starrte zur Eingangstür und rief wütend:
"Gakuzô, wieso hast du eine Katze mit in die Kampfschule gebracht?"
Einige Jungen waren offenbar der Katze, die durch den Eingang geschlüpft war, nachgelaufen. Jetzt endlich konnte der etwa Zehnjährige das Tier eilig einfangen und auf den Arm nehmen.
"Äh, ja, ....", antwortete der Junge mit stockender Stimme. "Der Yoshirô von Herrn Inuzuka hat den Kater gejagt!"
"Das ist mir schnurz, bring das Biest bloß schnell fort!"
"Jawohl!"
Der Junge mit seinem Seil als Gürtel um die Latzhose machte sich mit der Katze auf dem Arm schleunigst davon.
"Herr Vater!"  Das Mädchen kam gelaufen und schmiegte sich an Bansaku.


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Kabuki-Schauspieler Morita Kanya XI in der Rolle des Inuzuka Bansaku (Holzschnitt des Ukiyoe-Meisters Utagawa Kunisada II)


"Herr Inuzuka, seid Ihr unversehrt?", fragte auch Ikkaku, der sich nun zurückwandte und besorgt auf Bansaku niedersah.
"Ja, ich bin heil."  Bansaku hob endlich den Kopf. "Es ist lange her, dass ich einen derartigen Zweikampf ausfocht. Ich schäme mich, dass ich eine Schwäche gezeigt habe. An Euch, Herr Akaiwa, reicht so jemand wie ich nicht heran!"
"Nein, verloren habe ich. Trotz Eurer Behinderung. Mein Respekt!"
"Was denn, Ihr habt doch soeben plötzlich die Gegenwehr eingestellt!"
"Nein, nein. Wenn wir mit scharfen Klingen wie auf dem Schlachtfeld gekämpft hätten, wäre ich vorher zweifellos schon erschlagen worden."
Ikkaku ergriff Bansakus Hand und zog ihn hoch. Die Schüler, die zuvor in dieser Kampfschule miteinander geübt hatten, waren erschrocken, als ihr Lehrmeister Akaiwa und der mit ihm eng befreundete Dorflehrer Inuzuka, die bis dahin in einer Ecke miteinander Sake getrunken hatten, auf einmal hervorkamen und verkündeten, sie wollten einen Kampf austragen. Sie waren wirklich erleichtert, dass es jetzt so glimpflich ausgegangen war.

Hierzu gibt es zu berichten, dass Akaiwa Ikkaku vor drei Jahren in dieses Dorf gekommen war. Er war ein Schwertkämpfer aus Shimotsuke, bewunderte aber den berühmten Schwertkampfmeister Nikaimatsu Yamashironosuke aus Koga im Land Shimôsa und hatte samt Weib und Tochter seine Heimat verlassen, um dessen Schüler zu werden. Unglücklicherweise traf er erst, kurz nachdem Yamashironosuke zu einer Tour durch die Provinzen abgereist war, dort ein. So ging sein Wunsch nicht in Erfüllung; er beschloss, sich vorerst hier in Ôtsuka niederzulassen und auf die Rückkehr des Meisters zu warten. Um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, eröffnete er die Schwertkampfschule, und in diesen kriegerischen Zeiten, in denen es im Reich drunter und drüber ging, waren auch viele einfache Leute in den Dörfern erpicht, sich in der Kampfkunst ausbilden zu lassen oder doch wenigstens den Umgang mit dem Schwert zu lernen, um sich im Notfall wehren zu können, weshalb die Schule durchaus florierte.
Mit dem Dorflehrer Inuzuka Bansaku, der hier in Ôtsuka lebte und ebenso wie Akaiwa Ikkaku dem Samuraistand angehörte, verstand er sich prächtig. Bansaku ließ sein einziges Kind in die Kampfschule eintreten, und Ikkaku schickte seinen einzigen Sohn in die Privatschule, in der Bansaku Lesen und Schreiben lehrte. So eng waren sie miteinander befreundet.
Im vergangenen Winter aber war 
Ikkakus Gattin an einer Krankheit gestorben und Yamashironosuke noch immer nicht zurückgekommen. Infolgedessen gab Ikkaku schließlich auf und beschloss, in seine Heimat Shimotsuke zurückzukehren. Die Abreise war für den morgigen Tag geplant. Deswegen war vorhin Bansaku gekommen, um mit seinem Freund zum Abschied einen Schluck Sake zu trinken. Dabei war das Gespräch auf die Unterschiede zwischen Schwertübungen und richtigem Schwertkampf im Gefecht gekommen, und Ikkaku, der noch niemals tatsächlich einen Menschen mit dem Schwert getötet hatte, hatte Bansaku, der schon an wirklichen Gefechten teilgenommen hatte, zu dem geschilderten Zweikampf herausgefordert.
"Morgen komme ich noch einmal und verabschiede Euch", sagte 
Bansaku mit herzlichem Lächeln und verließ mit seinem Kind, das noch in der Kampfschule geblieben war, das Haus.
Draußen äußerte er:
"Herr Akaiwa scheint sich vor Katzen zu fürchten, Shino."
Shino blickte den Vater verwundert an.
"Er hat verloren, weil die Katze hereinkam. So etwas kommt zwar schon mal vor, aber so ein starker Mann, der vor Katzen Angst hat! Finde ich ulkig, hahahahaa!"
Das Kind, das wie ein Mädchen ausgesehen hatte, war in Wirklichkeit ein Knabe mit Namen Shino, in diesem Jahr elf Jahre alt.
Kaum jemand betrachtete allerdings Shino tatsächlich als Mädchen. Er band sich zwar die Haare wie ein Mädchen hoch, trug darin Steckkämme und kleidete sich in Mädchengewänder, war aber so hoch aufgeschossen, dass er zwei bis drei Jahre älter wirkte als gleichaltrige Kinder. Gewiss besaß er ein hübsches Gesicht, aber seine muntere Jugendfrische war unstreitig die eines Jungen. Er war das einzige Kind, das Bansakus Frau ihm geboren hatte, als er Mitte dreißig war, und deshalb überschüttete er den Knaben mit großer Liebe. Er befolgte den Spruch aus dem Volksmund, dass Knaben, die als Mädchen heranwachsen, gesünder groß werden, gab ihm den Namen Shino und kleidete ihn wie ein Mädchen.


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Wohlan, am nächsten Morgen reisten Akaiwa Ikkaku und sein Sohn ab. Weil Ikkaku sich für alle Fälle noch einmal in Koga nach Yamashironosuke erkundigen wollte, begleiteten Inuzuka Bansaku und sein Sohn die beiden bis zum Fluss Kaniwagawa, der im Osten an Ôtsuka vorbeifließt. Das Gepäck trug Nukasuke, ein Knecht mittleren Alters, der in beiden Häusern zur Hand zu gehen pflegte.
Beim Gehen unterhielt sich Shino mit Ikkakus Sohn Kakutarô. Der Weg war besprenkelt mit verwehten Pfirsichblüten.
Kakutarô war ein gut aussehender Knabe und sah viel natürlicher aus als Shino in seinen Mädchenkleidern. Auch er war ein recht netter Junge, weshalb er sich nicht weniger gut mit Shino verstand als ihre Väter. In der Kampfsportschule hatten sie oft gemeinsam geübt und waren ausgezeichnete Zweikampfpartner.
"Ach, mit wem soll ich künftig den Schwertkampf trainieren?", klagte Shino.
Das
hörte Akaiwa Ikkaku und wandte sich lachend um:
"Üb es mit deinem Vater!"
Shino blickte Bansaku kurz an. Kurz bevor die Familie Akaiwa nach Ôtsuka kam, war Shinos Mutter gestorben. Bis gestern hatte er seither niemals seinen kränkelnden Vater bei einem Schwertkampf gesehen. Aber der war ihm anscheinend nicht gut bekommen. Er begleitete Ikkaku zwar zum Abschied, sah aber aus, als ginge es ihm nicht sonderlich gut.
Ikkaku fügte hinzu:
"Die grundlegenden Schwertgriffe habe ich dir alle beigebracht. Jetzt musst du sie nur noch einüben. Das kannst du auch allein machen, mit einem Baumstamm als Partner."
"Ganz richtig, Shino", nickte auch sein Vater Bansaku.
Bald erreichten sie den Fluss Kaniwagawa.
"Ob wir uns irgendwann einmal wiedersehen, Kakutarô?" - "Ganz bestimmt, Shino."
Unter Tränen umarmten sich die Jungen, den Abschied bedauernd.
Akaiwa Ikkaku und sein Sohn bestiegen das Boot des Fährmanns Yasuhei und fuhren in Richtung Osten davon.
 

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Als Inuzuka Bansaku und sein Sohn bald darauf mit Nukasuke zum Dorf Ôtsuka zurückkamen, erwartete sie am Dorfeingang schon der Knabe Gakuzô mit schreckensbleichem Gesicht.
"Herr Shino, etwas Schlimmes ist passiert. Yoshirô hat Kijirô totgebissen!"
Yoshirô war der Name von Shinos Hund, und Kijirô war der Name des Katers, der dem Dorfvorsteher von Ôtsuka gehörte. Es war der Kater, der gestern Akaiwa Ikkaku vor Schrecken erstarren ließ. Und Gakuzô war ein Junge, der zwar ebenso alt war wie Shino, aber im Haushalt des Dorfvorstehers angestellt war.
"Wie denn, ich hatte Yoshirô doch fest an die Leine gelegt!"
"Ja, und deshalb ist Kijirô auch sorglos an dem Hund vorbeigegangen, aber Yoshirô hat das Seil zerrissen und den Kater totgebissen. Jetzt suchen die Leute meines Herrn mit großem Gezeter im ganzen Dorf nach dem Hund."
Shino wollte gleich losrennen, aber sein Vater ermahnte ihn streng:
"Bleib hier, lass dich mit den Leuten
nicht ein."
Sie traten ins Dorf. In der Tat schwärmten vom Dorfvorsteher beauftragte Burschen mit Knüppeln in den Händen durch den Ort. Offensichtlich hatten sie Yoshirô noch nicht erwischt.
Shino warf einen Seitenblick auf die Miene seines Vaters. Er durfte ihn nicht verärgern. Schließlich konnte er sich nicht länger beherrschen und stieß einen scharfen Pfiff aus. Daraufhin erschien von irgendwoher ein großer Hund, dessen Fell am Rücken schwarz, am Bauch weiß war, und kam blitzschnell herbeigelaufen. Er scharwenzelte um Shino und wedelte heftig mit dem Schwanz. Bansaku sah es wohl, sagte aber nichts. 
"Ha, da ist er!" - "Da ist Yoshirô!"
Die Männer mit den Knüppeln kamen alle zusammengelaufen. Inuzuka Bansaku schritt unbeirrt weiter. Shino und sein Hund gingen ihm mit ebenso gleichmütiger Miene nach. Nur der Knecht Nukasuke und Gakuzô, der Junge, waren konsterniert.


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Keiner der Burschen tat ihnen etwas an. Bansaku mit seinem hinkenden Bein und Gewandung in ausgebleichter Farbe, ganz die Gestalt eines herrenlosen Samurai, strahlte eine Art von unantastbarer Würde aus, und außerdem wussten alle, wer er war. Seine Schwester Kamezasa war nämlich die Ehegattin des derzeitigen Dorfvorstehers. Und nicht allein das Anwesen dieses Vorstehers Ôtsuka Hikiroku, sondern auch etliche Hektar urbaren Lands in Ôtsuka standen eigentlich Inuzuka Bansaku als Erbschaft zu.

Bansakus Vater Ôtsuka Shôsaku war ein Gefolgsmann in Diensten des Shogunatsfürsten Ashikaga Mochiuji gewesen und hatte sich nach seiner Entlassung
hier als herrenloser Samurai niedergelassen. Vor nunmehr über dreißig Jahren hatte er sich aus Dankbarkeit gegenüber dem Fürstenhaus seines einstigen Herrn bei der Schlacht um die Burg Yûki mitsamt seinem damals 16jährigen Sohn Bansaku der Streitmacht angeschlossen, die Mochiujis unmündigen Sohn unterstützte. Vergessen wir nicht, dass auch Satomi Yoshizane in derselben Schlacht mitgekämpft hatte.
Nach dreijähriger Belagerung war, wie zuvor
schon geschildert, die Burg Yûki gefallen. Dabei wurden Haruô und Yasuô, zwei der drei Söhne des Mochiuji, gefangen genommen. Auf dem Weg zur Überstellung nach Kyôto wurden sie jedoch auf Befehl des Shôguns in dem Herbergsort Tarui im Lande Mino hingerichtet. Dort versuchte eine Schar von Schwertkämpfern, den Richtplatz zu erstürmen; das waren Vater Ôtsuka und sein Sohn Bansaku samt einigen Mitstreitern. Der Versuch scheiterte, sie konnten die beiden Söhne ihres Herrn nicht befreien. Bansaku rettete zwar seinen schwer verwundeten Vater und entkam mit knapper Not, aber der Vater erlag bald darauf seinen Verletzungen. Und nicht nur das, sondern Bansaku selbst wurde bei diesem Überfall verwundet und hinkte seitdem; reichsweit wurde nach ihm gefahndet.
Bansaku konnte daher nicht gleich in seine Heimat Ôtsuka im Land Musashi zurückkehren und verbarg sich im Land Shinano. Dort traf er seine spätere Gattin Tazuka. Erst drei Jahre später kehrte Bansaku mit seiner Ehefrau Tazuka nach Ôtsuka zurück. Dort hatten sich inzwischen seine Schwester und ihr Gatte des väterlichen Anwesens bemächtigt. Diese Schwester Kamezasa war die Tochter einer vorigen Gattin von Bansakus Vater, also nur seine Halbschwester, und hatte sich mit einem umherstreunenden Mann unbekannter Herkunft namens Hikiroku zusammengetan. Dieser Hikiroku war ein gerissener Mensch, der sofort den Familiennamen Ôtsuka annahm, und Kamezasa stand ihm an Verschlagenheit kaum nach. Sie stellten sich stur und drohten:
"Jemandem, nach dem reichsweit gefahndet wird, können wir doch das Anwesen des Hauses Ôtsuka nicht überlassen!"
Der Aufruhr um die Schlacht bei Burg Yûki hatte sich längst gelegt, und nach Bansaku fahndete niemand mehr, aber mit seinem genügsamen Sinn überließ er ihnen mit bitterem Lächeln sein Elternhaus, errichtete sich ein kleines Holzhaus in einer Ecke des Dorfes und hielt darin seinen Unterricht. Nur dass seine Schwester und dieser Hikiroku den Namen Ôtsuka führten, wurmte ihn dermaßen, dass er sich nun Inuzuka nannte.
Längst stand das Ehepaar Ôtsuka, das seine Bediensteten anschrie und seine Knechte schikanierte, in einem sehr schlechten Ruf, und auch Bansaku war mit der Zeit etwas launisch geworden. Die Leute im Dorf fürchteten die Macht des Dorfvorstehers und bemitleideten Bansaku. Sie schickten ihre Kinder in seine Schule und schenkten ihm gelegentlich Lebensmittel. Das wiederum ärgerte das Ehepaar des Vorstehers Hikiroku. Sie verhielten sich in jeder Hinsicht gehässig zu ihm, aber das ließ Bansaku vollkommen kalt. Bansaku lebte mit seiner Gattin in Armut, aber in Frieden zusammen, und beider Freude war offenkundig nur das Heranwachsen ihres Sohnes Shino, der kurz nach der
Rückkehr des Bansaku nach Ôtsuka zur Welt kam.

Am Nachmittag kamen zwei vom Dorfvorsteher gesandte Bauern und richteten von ihm aus:
"Weshalb haltet Ihr einen mordlustigen Hund, der anderer Leute Katzen totbeißt? Meine Gattin, die ihren Kater so innig liebte wie ein eigenes Kind, musste sich angesichts des Kadavers ihres Kijirô mit hohem Fieber niederlegen! Wir können uns nicht zufrieden geben, bis der Köter zur Strafe umgebracht wird. Entweder schlagt Ihr ihn selber tot oder Ihr liefert ihn uns aus!"
Bansaku lachte laut auf.
"Die Todesstrafe als Sühne gilt nur für Menschen. Solche Gesetze auch auf Hunde und Katzen anzuwenden ist Unsinn. Wer so etwas verlangt, sollte besser seine Katze nicht außer Haus frei herumrennen lassen. Richtet das dem Dorfschulzen aus. Ich danke euch für den Botendienst."
In dieser Nacht aber erkrankte Bansaku. Natürlich nicht wegen der Aufregung um Hund und Kater, sondern ihm hatte wohl eher der Schwertkampf mit Akaiwa Ikkaku arg zugesetzt. Das glaubte zunächst auch der elfjährige Shino, aber einige Tage später bekam er von der Tochter seines Onkels Hikiroku, die heimlich in die Nähe von Bansakus Haus gekommen war, das Folgende gesagt:
"Bruder Shino, trennt Euch von Yoshirô!"

Was hier als Tochter des Hikiroku bezeichnet wird, war genauer gesagt ein Waisenkind, das der Dorfvorsteher von irgendwoher an Kindes statt aufgenommen hatte. Sie war drei Jahre jünger als Shino, also acht Jahre alt, und hieß Hamaji.
Shino hielt sich angesichts des Zerwürfnisses zwischen seinem Vater und der Familie Ôtsuka von dort meist fern, aber das drei Jahre jüngere Mädchen Hamaji kam in seiner kindlichen Unschuld öfter beim Ballspiel her, obwohl das in ihrem Haus sehr ungern gesehen wurde. Sie nannte Shino ihren "Bruder".
"Zuhause haben sie einen Bergmönch kommen und Gebete sprechen lassen. Ich habe die Mutter gefragt, warum, und sie hat gesagt, sie ließe ihn darum beten, dass der verhasste Bansaku und Yoshirô ums Leben kommen. Ich habe solche Angst!"
Shino blieb die Luft weg.
"Yoshirô ist an allem schuld. Er tut mir zwar leid, aber trennt Euch bitte von dem Hund!"


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Shino und Hamaji im Manga


Shino entschloss sich, den Hund fortzuschaffen. Yoshirô war schon immer bei ihm gewesen, seit Shino zur Welt gekommen war. Genauer gesagt, schon vor Shinos Geburt. Von seiner inzwischen verstorbenen Mutter hatte er erfahren, dass sie Tag für Tag im Morgengrauen zur Gottheit Benzaiten in Takinogawa gelaufen sei, damit ihr bislang unerfüllter Kinderwunsch erhört werde.  Eines Tages im Herbst sei ein kleiner Hund aufgetaucht und ihr anschließend nicht mehr von der Seite gewichen. Im Glauben, er sei gewiss ein Bote der Gottheit, nahm sie ihn zu sich. Kurz darauf ging sie mit Shino schwanger. Und der Hund, das war ebendieser Yoshirô.
Am Abend des Tages, an dem Hamaji ihn darum gebeten hatte, nahm Shino Yoshirô mit in den Wald von Sugamo, band ihn an einem Baum fest und kehrte unter Tränen nach Hause zurück. Aber am andern Tag saß der Hund wie immer unter dem Vordach des Hauses.
Also nahm er ihn am folgenden Tag wieder mit und ließ ihn diesmal jenseits des Flusses Kaniwagawa laufen. Und wieder hockte der Hund am andern Morgen unter dem Vordach und wedelte mit dem Schwanz.


Benzaiten ist die einzige der Sieben Glücksgottheiten, die in weiblicher Gestalt dargestellt wird. Sie gilt als Beschützerin der musischen Künste, vor allem als Schirmgottheit der Musik, aber auch als Gottheit der Liebe. Sie wird auch bei Kinderlosigkeit und Partnersuche um Hilfe ersucht.
Die Ortsnamen Takinogawa und Sugamo sind auch im heutigen Tokyo als Namen von Stadtteilen erhalten. Sie liegen nicht
weit von Ôtsuka entfernt. Dass Bansaku denselben Namen wie seine Heimat Ôtsuka führte, zeigt, dass seine Vorfahren die Gründer des Dorfes waren. Auch die Heimat des Schwertkampfmeisters Akaiwa Ikkaku war das Dorf Akaiwa; dass sich jemand nach seinem Heimatdorf nennt oder dass das Dorf den Namen seines Gründers trägt, war seinerzeit häufiger Brauch.


Shino staunte nicht schlecht. Nach zehn Tagen der Ratlosigkeit beriet er sich endlich mit dem Knecht Nukasuke.
"..... So ist das nämlich. Yoshirô kommt jedesmal einfach zurück. Aber wenn ich ihn hier lasse, wird mein Vater durch die Gebete umgebracht."

Nukasuke stand zwar beim Dorfvorsteher in Diensten, war aber ein wirklich gutmütiger Mann und kümmerte sich auch oft um das Haus Inuzuka, so, dass es seinem Herrn nicht auffiel. Als Shinos Mutter im Winter vor drei Jahren im Sterben lag, war der siebenjährige Knabe zu dem Fudô Bodhisattva am Wasserfall in Takinogawa gelaufen und hatte darin rituelle Gebete vollzogen, um seiner Mutter das Leben zu retten. Wegen der starken Kälte verlor er dabei das Bewusstsein, und es war Nukasuke gewesen, der ihn im letzten Augenblick dort entdeckt und vor dem Tod bewahrt hatte.
"Also habe ich mir etwas ausgedacht. Wir könnten doch Yoshirô vor dem Haus meines Onkels schlagen und verprügeln. Ich glaube, dann hören die da auch auf mit diesen Fluchgebeten. Was meinst du dazu?"
Das war der Plan, den der Elfjährige in seiner Verzweiflung geschmiedet hatte.
Nukasuke nickte. Er wusste auch von den Todesgebeten im Hause Ôtsuka und verabscheute so etwas. Und
obendrein schmerzte es ihn, dass er nichts dagegen tun konnte.
"Ja, das könnte angehen. Wenn wir das machen, werden die Leute da drüben vielleicht ihren Hass
ein bisschen abmildern."
Am Nachmittag desselben Tages zerrten Shino und Nukasuke Yoshirô vor den Hintereingang des Hauses des Dorfvorstehers. Shino stimmte ein lautes Geschrei an:
"Du Yoshirô, weil du Kijirô totgebissen hast, ist das geschwisterliche Verhältnis zwischen uns Menschen in die Brüche gegangen! Du bist dran schuld! Zur Strafe wirst du verprügelt!"
Dabei schlug er mit einem Stock auf den Hund ein, den Nukasuke mit einem Netz festhielt. Darüber erschrak Yoshirô offenbar. Mit gewaltiger Kraft riss er Nukasuke das Netz aus den Händen, warf es ab und flüchtete wie der Blitz geradewegs in das Haus des Vorstehers.
"Oh, das ist Yoshirô!" - "Yoshirô ist bei uns eingedrungen!"  
Mit solchen Rufen eilten einige der Bediensteten herbei und verriegelten eilig das Tor. Hier und dort in Haus und Garten erschollen schrille Schreie, als wäre ein Feuer ausgebrochen.
"Lasst ihn nicht entkommen!" - "Schlagt ihn tot!" - "Hat denn niemand ein Schwert oder einen Spieß?"
Von außen waren Yoshirôs wildes Gebell und Schmerzensschreie zu hören.
Von dieser unerwarteten Entwicklung überrascht, stand Shino da wie erstarrt. Dann sprang er los.
"Nukasuke! Die schlagen Yoshirô tot! Hilf ihm, beschwichtige die Leute!"
Fassungslos und zögernd stemmte sich Nukasuke gegen das Tor und lief dann an der Außenmauer entlang, um einen anderen Eingang zu finden. Von Yoshirô war noch ein Aufjaulen zu hören, danach kam nichts mehr.


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Außenmauer und Tor eines traditionellen Anwesens


Shino hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu und lief wie benommen zurück nach Hause.
"Was ist los mit dir, Shino?", fragte Bansaku auf seinem Krankenlager, das Gesicht zu Shino aufhebend.
Schreckensbleich berichtete Shino, was geschehen war.
"Da hast du eine Dummheit begangen", murmelte sein Vater. Aber über sein abgezehrtes Gesicht huschte ein bitteres Lächeln. Sein Blick wandte sich nach hinten, und er sagte:
"Siehst du, Yoshirô ist wieder da."
Shino sauste hinter das Haus. Da kauerte tatsächlich Yoshirô. Aber er war nur noch ein Klumpen aus Fleisch und geronnenem Blut und sah nicht mehr aus wie ein Hund. Und trotzdem war Yoshirô nach Hause zurückgekommen!
"Yoshirô, Yoshirô! Es ist alles meine Schuld!"
Shino warf sich über das Tier und schloss es in die Arme. Dabei hörte er, wie im Brustkorb des jappenden Hundes weitere Knochen brachen.


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Nur wenig später kam der Knecht Nukasuke, der vorhin in das Haus des Dorfvorstehers gegangen sein musste, um Yoshirô zu helfen, mit niedergeschlagener Miene herbei.
"Herr Inuzuka, etwas Schlimmes ist passiert."
"Was denn nun?"
"Ihr habt von Eurem jungen Herrn Sohn sicher gehört, dass Yoshirô in das Anwesen des 
Dorfvorstehers eingedrungen ist."
"Ja, das habe ich gehört."
"Yoshirô ist von allen Bediensteten verfolgt durch das gesamte Anwesen gerannt, durch den Garten wie durch die Wohnräume; gerade zu diesem Zeitpunkt war der Herr Vorsteher, wie er sagte, in die
Lektüre der schriftlichen Anweisungen des Herrn Statthalters des Shogunats an unser Dorf zur Bereitstellung von Proviant für die Streitkräfte und eines an ihn gerichteten Amtsschreibens von dem für diesen Landstrich zuständigen Militärkommandanten vertieft. Da sei plötzlich Yoshirô hereingerannt gekommen, und der Herr Vorsteher habe sich eilig in Sicherheit gebracht. Als er zurückkam, mussten die Dokumente der Anweisungen und das Amtsschreiben unter die Pfoten des Hundes geraten sein - sie waren zerknittert und zerfetzt. Auf diese Schriftstücke müsse er sein Siegel setzen und sie an die Obrigkeit zurücksenden. Das sei eine Katastophe, jammerten der schreckensbleiche Herr Dorfvorsteher und seine Frau Gemahlin."
Nukasuke war ebenfalls schreckensbleich.
"'Dafür bekommen Herr Shino, der den Hund züchtigen wollte, ihn aber nicht festhielt, sondern in das Anwesen hineinrennen ließ, und ich, Nukasuke, sicherlich den Kopf abgeschlagen!', sagte ich mit zitternden Lippen. 'Nein, wir sind es, die in Gefahr schweben', antwortete der Vorsteher bebend, 'aber bis eben habe ich mir die Sache reiflich durch den Kopf gehen lassen. Was ich sagen möchte, ist, dass im Haus des Bansaku das hochberühmte Schwert Murasame, das schon immer im Hause Ôtsuka verwahrt wird, liegen müsste. Wenn man dies dem Herrn Statthalter in Kamakura untertänigst verehren würde, könnte er uns vielleicht die Strafe erlassen. Unterbreite dem Bansaku diesen Vorschlag!', sprach er, und deswegen bin ich jetzt hergekommen."
"Hahahahahaaaa...", lachte Inuzuka Bansaku, der mit wirrem Bart auf seinem Lager ruhte. "Nukasuke, hast du die zerrissenen Dokumente mit eigenen Augen gesehen?"
"Nein, das nicht."
"Wenn es auf die eine Art nicht klappt, versucht man es auf die andere Weise, das Sprichwort trifft es genau. Die haben den Zwischenfall zum Vorwand genommen, um bei dieser Gelegenheit das Schwert an sich zu bringen, diese Schlitzohren!"
"Was? Das kann doch nicht..."
"Du trägst keine Schuld. Du bist einfach zu gutgläubig. Meine Wenigkeit Inuzuka Bansaku, ein Samurai, der schon in richtigen Schlachten gefochten hat, lässt sich mit solchen Finten, die
vielleicht bei Kindern wirken, nicht für dumm verkaufen. Sag das dem Hikiroku!"
Nachdem Nukasuke Hals über Kopf davongelaufen war, legte sich Bansuke aber ermattet auf sein Lager nieder und starrte zur Decke. Seine Blicke machten Shino Angst.
Gegen Abend rief Bansaku:
"Shino, komm mal her!"
Shino, der noch mit der Betreuung seines sterbenden Hundes beschäftigt war, kam und ließ sich ehrerbietig vor seinem Vater nieder. Sein Vater hockte im Schneidersitz auf seinem zerschlissenen Bettzeug.
"Du hast sicher gehört, was Nukasuke vorhin gesagt hat."
"Ja."
"Von dem Schwert Murasame habe ich dir noch nichts erzählt?"
"Ich weiß
nichts davon."
"Da oben hängt es."
Mit dem Gesicht wies er auf einen großen Bambusbehälter, der am Deckenbalken aufgehängt war. Bansaku nahm aus dem Kasten für den Tuschereibstein, der auf dem niedrigen Tisch neben seinem Lager stand, ein Messer heraus und schleuderte es nach oben. Eine der beiden Halteschnüre wurde glatt durchschnitten, der Behälter hing nun schief herab, und ein länglicher Gegenstand, der in einer Brokathülle steckte, fiel herab.


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Deckengebälk diente früher oft als Speicher


"Bring's her."
Shino brachte es her, und Bansaku löste das Band der Hülle. Sie enthielt ein Schwert, dessen Griff, Stichblatt und Scheide altehrwürdig aussahen. Den alten, verstaubten Bambuskasten hatte Shino schon seit früher gesehen, aber nicht die geringste Ahnung gehabt, dass er so etwas enthielt. Er machte große Augen.
"Es ist ein wertvolles Schwert, das in dem alten Adelsgeschlecht der Genji überliefert wurde und das
Ashikaga Mochiuji, der Shogunatsfürst der Kantô-Region, besaß. Sein Name ist Murasame. Als Mochiuji mit dem Haus des Shôguns in Konflikt geriet, ahnte er, dass ihm ein schlimmes Schicksal beschieden sei. Er übergab es heimlich seinem treuen Gefolgsmann Shôsaku, meinem Vater, und bat ihn, falls einer seiner Söhne am Leben bliebe, es diesem zurückzugeben. Dass mein Vater den Dienst im Hause Ashikaga quittierte und sich herrenlos in dieses Dorf Ôtsuka zurückzog, geschah in Wirklichkeit aus diesem Grund. Du weißt ja, dass mein Vater und ich an den Kämpfen um die Burg Yûki teilnahmen, aber das Glück war uns nicht hold, die Burg fiel, und zwei der Söhne des Mochiuji wurden getötet. Auch mein Vater kam ums Leben. Bevor er starb, vertraute er mir dieses Schwert Murasame an und bat mich, falls der letzte Sohn Shigeuji einmal wieder auftauchen sollte, es ihm zu überreichen. Und ich übergebe es dir jetzt mit derselben Bitte. Ich werde hier und heute sterben, ohne die glückliche Gelegenheit der Pflichterfüllung erlebt zu haben..."
Shino schaute erschreckt seinen Vater an.
"Herr Vater! Heute sterben? Das kann doch nicht...."
Er hatte mit angesehen, wie sein Vater Tag für Tag schwächer wurde und darunter gelitten, aber... heute... sterben...! 
"Wenn ich einfach so liegen bliebe, wäre mir vielleicht noch eine Lebensfrist von fünf oder sieben Tagen vergönnt, aber ich habe an die Zeit danach gedacht. Was danach aus dir wird. Obwohl du ein gescheiter Junge bist, bist du erst elf. Wenn ich dich verlasse, bleibt dir nur der Hungertod...."
"Nein, ich komme sicher klar. Nukasuke hilft mir, und die Leute im Dorf helfen mir auch."
"Klar, es kann schon sein, dass dich die Leute durchfüttern. Aber dann bist du nichts weiter als ein Bettelkind."
Shinos Mundwinkel zuckten.
"Niemand anders als das Ehepaar Ôtsuka kann dich großziehen. Dein Onkel ist, auch wenn seine Frau nur meine Halbschwester ist, doch immerhin dein Onkel. Überdies ist deren Anwesen eigentlich mein Erbe; folglich wirst du es später einmal übernehmen. Dich dort versorgen zu lassen ist keine Schande."
"Bei denen? Mich versorgen lassen?"
Shino riss erstaunt die Augen auf. Er wusste nur zu gut, dass jenes Ehepaar und sein Vater einander verabscheuten. Und obendrein hatte es gestern und heute solche heftigen Auseinandersetzungen gegeben!   
"Du wirst sagen, dass dir das nicht gefällt. Aber auch daran habe ich gedacht", fuhr Bansaku fort. "Als ich vorhin die List erfuhr, mit der sie mich für dumm verkaufen wollten, waren sie für mich endgültig erledigt. Dieses Ehepaar zittert doch die ganze Zeit vor Angst, dass ich mir meinen Besitz wieder holen komme; deshalb trachten sie schon lange danach, egal auf welche Weise, dieses Schwert Murasame in ihren Besitz zu bringen und es persönlich dem Shogunatsfürsten auszuhändigen, um sich bei ihm lieb Kind zu machen und ihre Stellung als Dorfvorsteher gegen mich abzusichern. Deswegen wollten sie vorhin die Gelegenheit nutzen, um an das Schwert zu kommen."
"........"
"Ihren Boten habe ich zwar zurückgeschickt, aber wenn ich gründlich darüber nachdenke, werde ich bald tot sein. Und weil es Leute sind, die sogar solch üble Ränke schmieden, werden sie nicht wählerisch sein hinsichtlich der Art und Weise, wie sie dir Elfjährigem
nach meinem Tod das Schwert abnehmen."
"........" 
"Deshalb werde ich jetzt sterben. Wenn ich tot bin, werden sie da drüben behaupten, seht her, der Bansaku hat sich das Leben genommen, weil er es letztlich bereut hat, seiner Schwester zu trotzen. Aber die Leute im Dorf wissen alle Bescheid. Wer sich im Dorf unbeliebt macht, kann nicht auf Dauer Dorfschulze bleiben. Dieses katzenvernarrte Ehepaar wird sich deshalb deiner annehmen und vor allen Leuten im Dorf deutlich zeigen wollen, wie es sich des armen Kindes erbarmt."   
"........"
"Wenn das Schwert Murasame hier ist, wollen sie es auf jede erdenkliche Weise unbedingt an sich bringen, aber wenn es zusammen mit dir in ihrem eigenen Haus liegt, werden sie vielmehr beruhigt sein und es dir nicht gleich heute oder morgen fortnehmen.
Selbst ein Jäger tötet das verletzte Vöglein in seiner Tasche nicht, sagt das Sprichwort. Das Ehepaar Ôtsuka ist zwar nicht sonderlich mitfühlend, aber um sie in eine Lage zu drängen, in der sie sich umso barmherziger zeigen müssen, je unbarmherziger sie in Wirklichkeit sind, werde ich jetzt Seppuku begehen."
Shino begriff nicht so recht, was sein Vater gesagt hatte, aber in dem Augenblick, als er das Wort Seppuku hörte, erstarrte er am ganzen Leib.
Bansaku zog das Schwert heraus.
"Schau her, Shino!", rief Bansaku, und das Schwert Murasame blitzte auf. Dabei spritzte aus der Schwertspitze wundersamerweise ein Wasserstrahl heraus und hinterließ auf der gegenüberliegenden Papierwand eine Punktlinie von Tropfen.
"Wegen dieser Wunderwirkung hat das Schwert den Namen Murasame (Dorfregen) erhalten!"


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Das wassersprühende Wunderschwert Murasame



Shino gewahrte, wie Bansaku, wiewohl sein Vater, ein unheimliches Lächeln aufsetzte, den Gürtel seines Beinkleids löste, seinen Bauch freimachte und die Schwertklinge mit dem Ärmel umwickelt fasste.
"Hör zu, Shino. Wenn ich tot bin, kleide dich als Mann. Und wenn du ein rechter Samurai geworden bist, dann melde dich mit dem Schwert bei Fürst Shigeuji. Und bis zu jenem Tag hüte es mit all deinen Kräften!"
Als er sah, wie sein Vater das Schwert hob, warf sich Shino, der bis dahin wie gebannt dagesessen hatte, wie von Sinnen an seinen Vater und umklammerte dessen Arm.
"Herr Vater, Ihr dürft nicht sterben, Ihr dürft nicht sterben!"
Shinos schmächtigen Körper fasste Bansaku mit der Linken mit solcher Kraft, dass man kaum glauben mochte, dass er krank war, und drückte ihn zu seinen Knien nieder.
"An einer Krankheit sterben ist nichts weiter als ein Verrecken. Durch meinen Tod jetzt schenke ich dir ein richtiges Leben. Im eigenen Tod anderes Leben zu fördern, das ist die letzte Kriegslist des Samurai Inuzuka Bansaku!"
Über den ganzen Leib des schluchzenden Shino, dem Bansaku das Mädchenhaar abgeschnitten hatte, ergoss sich ein Schwall von heißem Blut. Eine Weile später sank das Schwert langsam herab, während Shino wie ein Schwächling auf den am Boden liegenden reglosen Leichnam seines Vaters starrte.


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"Ich will auch sterben....", murmelte er. Nicht einmal Tränen kamen ihm.
In diesem Augenblick hörte er die tiefe Stimme seines jaulenden Hundes. Mit zitternden Beinen lief Shino hinter das Haus. Der einem blutigen Lumpen gleichende Hund lag im Abendrot auf dem Erdboden, seine traurigen Augen geöffnet, und winselte vor Schmerzen.
"Yoshirô, tut es dir weh?", fragte Shino mit belegter Stimme. Dann aber fasste er sich.
"Aber wegen dir musste mein Vater sterben. Ja, und jetzt sterbe ich auch. Und du stirbst sowieso. Ich helfe dir besser, indem ich dir gleich den Kopf abschlage, anstatt dich länger leiden zu lassen."
Er fasste nach dem Schwert. Da stemmte sich Yoshirô zum ersten Mal auf seine Vorderpfoten und reckte seinen Hals vor, als bäte er darum, den Hieb zu empfangen. Shino schlug ihm den Kopf ab.
Der Wasserstrahl des Schwertes sprühte zu Boden, das Hundeblut spritzte empor. In diesem Augenblick kam aus dem Blutstrahl etwas geflogen und schlug hart auf Shinos linken Oberarm.
"Au!", schrie Shino auf, schaute hinab und erblickte eine helle Kugel, die über den Boden kullerte. Er hob sie auf und traute seinen Augen kaum. Es war eine etwa walnussgroße Kristallkugel mit einem Loch, um eine Schnur hindurchzufädeln, aber im Innern schwebte ein Schriftzeichen. Er hielt die Kugel gegen das Licht der Abendsonne. In der Kugel erblickte er das Schriftzeichen KÔ!


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Shinos Tugend ist KÔ, gehorsam die Bitte der Vorfahren um Rückgabe des Schwertes zu erfüllen



Der erste Hundekrieger, hier war er: Inuzuka Shino.
Der elfjährige Shino ahnte jedoch noch nichts von seinem künftigen Geschick.


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Inuzuka Shino im Manga



"Was ist das?"
Es war nicht anders möglich, als dass diese Kristallkugel aus der Wunde des abgeschlagenen Kopfs von Yoshirô geflogen kam, aber ist so eine wunderliche Sache denn möglich?
Die Stelle an seinem linken Arm schmerzte wieder. Shino krempelte seinen Ärmel hoch und fand auf seinem linken Oberarm einen Flecken in der Form einer Päonienblüte. Er musste durch den Aufschlag der Kristallkugel entstanden sein.
Shino hatte nicht lange Zeit, sich über diese Wunderzeichen den Kopf zu zerbrechen. Er steckte sich die Kugel in die Tasche und ging ins Haus zurück. Dort setzte er sich neben den Leichnam seines Vaters, entblößte den Bauch, wie es sein Vater getan hatte, und wollte sich gerade das Schwert in den Leib stoßen, als zwei Männer so eilig hereingestürmt kamen, als wollten sie die Haustür eintreten.
"Halt, halt, Herr Shino, bitte nichts übereilen!"
Es waren Nukasuke und der junge Laufbursche Gakuzô aus dem Haus des Dorfvorstehers. Von Nukasuke, der von dem Ehepaar Ôtsuka gewaltig ausgescholten worden war, hatte Gakuzô gehört, was im Haus des Bansaku vorgefallen war. Ihm schwane Schlimmes, hatte Gakuzô ausgerufen, und beide waren herbeigeeilt. Durch die offene Tür hatten sie nur Bansaku tot liegen gesehen und waren deshalb erschrocken hereingestürmt.


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Als sie die Nachricht von Bansakus Tod erhielten, erschraken
natürlich selbst der machtgierige Dorfvorsteher Hikiroku und seine Frau Kamezasa. Aber danach lief es genau so ab, wie "die letzte Kriegslist" des Bansaku es vorgesehen hatte. Nicht allein der Selbstmord des Bansaku kam ihnen ungelegen, sondern sie sorgten sich auch um ihren Ruf, nachdem sie sich Anwesen und Ländereien des Hauses Ôtsuka vor aller Augen unter den Nagel gerissen hatten, weshalb sie sich freiwillig bereit erklärten, Shino bei sich aufzunehmen.
Shino hatte es sich überlegt und beschlossen, am Leben zu bleiben. Er musste ja des Vaters letzten Willen erfüllen und das Schwert Murasame seinem Besitzer zurückbringen. So akzeptierte er das Anerbieten von Onkel und Tante und zog in deren Anwesen um. Am meisten freute sich darüber wohl das Adoptivkind Hamaji in seiner kindlichen Unschuld. Sie lief freudig durchs Haus und verkündete allen lauthals: "Mein Bruder ist gekommen, mein Bruder ist da! Ich will später die Braut meines Bruders werden!"   
Shino trat inzwischen in Männerkleidung auf.
Als
Hikiroku hörte, was Hamaji rief, meinte er zu Shino:
"Na, vielleicht ist es ja ganz gut, wenn es in einigen Jahren so kommt, wie Hamaji es sich wünscht...."
Er lachte und säuselte katzengleich schnurrend: "Dann gehört alles hier im Haus auch dir, Shino. Alles hier gehört dir."
Und leiser fügte seine Frau Kamezasa hinzu: "Und wir dürfen auch alles, was du hast, Shino, als unser Eigentum betrachten."
Shino, der sich bis dahin alle Schmeicheleien errötend angehört hatte, sagte nun klipp und klar:
"Schön. Nur das Schwert Murasame, das mein Vater mir als Vermächtnis anvertraut hat, kann ich nicht fortgeben."
Nicht nur das Ehepaar, sondern auch die in ihrem Dienst stehenden Knechte schauten einander betreten an.
Shino erhielt einen Anbau des Ôtsuka-Anwesens zur Wohnung, aber den Elfjährigen konnte man da nicht allein wohnen lassen. Jetzt im Frühjahr gab es bei der Feldarbeit viel zu tun, weshalb es die Arbeitskraft minderte, würde man einen Erwachsenen damit betrauen, sich um ihn zu kümmern. Das Ehepaar beriet und einigte sich darauf, dem ebenfalls in ihren Diensten stehenden gleichaltrigen Jungen Gakuzô diese Aufgabe zu übertragen.
Anfangs gingen die beiden Jungen unerwartet distanziert miteinander um. Früher war Shino mit Gakuzô wesentlich vertrauter gewesen. Sein Vater Bansaku hatte Mitleid gehabt mit dem Jungen, der trotz seines jungen Alters im Haushalt der missliebigen Ôtsukas schikaniert wurde, und ihn
in seiner Schule unentgeltlich unterrichtet.
"Der Junge ist ziemlich gescheit", hatte Shino ihn bewundernd sagen hören, und in der Schwertkampfschule des Akaiwa Ikkaku hatte Gakuzô auch immer mal zur Eingangstür hereingeblickt und sich das Training angeschaut.
"Komm, mach doch mit!", hatte Shino ihn seinerzeit aufgefordert.
Aber seit er in dieses Anwesen gekommen war, verschloss sich Shino
auch vor Gakuzô in dem Bewusstsein, dass ihm hier alle feindlich gesonnen seien. Demgegenüber war sich Gakuzô, der ohnedies eher wortkarg veranlagt war, darüber im Klaren, dass Shino zur Herrschaft, er selbst aber zu den Bediensteten zählte, weshalb er ihm mit größerer Distanz gegenübertrat als früher.

An einem Sommertag rief Gakuzô aus dem Garten: "Herr Shino, das Badewasser ist bereit!"
"Danke!"
Shino kam samt dem Brokatbeutel heraus, in dem das Wunderschwert steckte. Das ließ er weder beim Schlafen noch tagsüber jemals von sich fort. Unter einem Dach aus Kürbisblättern dampfte es aus einem großen Bottich, und daneben standen zwei Eimer mit kaltem und warmem Wasser. Gakuzô wusste, dass Jungen in ihrem Alter von anderen Leuten
 nicht nackt gesehen werden wollen, und wollte sich zurückziehen, als Shino begann, sich zu entkleiden, aber da erblickte er etwas, das zu seinen Füßen gerollt kam. Er blieb stehen, hob es auf und rief dann mit erstauntem Gesicht:
"Herr Shino, was ist das denn?"
Shino, der sich bis auf die Leibwäsche ausgezogen hatte, schaute verlegen drein. Seine Kristallkugel, die er immer bei sich trug, war ihm beim Entkleiden aus der Tasche gefallen. Gakuzô hielt die Kugel gegen das Licht, kam daraufhin zu Shino zurück und starrte auf dessen Päonienmal auf dem Oberarm.
"Herr Shino, Ihr habt genau dasselbe Mal wie ich!", rief er so laut, wie man es von einem so stillen Elfjährigen niemals erwartet hätte.
Diese Reaktion von Gakuzô verblüffte nunmehr Shino.
"Was meinst du damit?"
"Ich trage auch genau dasselbe Päonienmal. Bei mir ist es auf dem Rücken."
"Waaas?"
Gakuzô machte seinen Oberkörper frei und drehte seinen Rücken Shino zu. Etwas unterhalb der rechten Schulter war, ein wenig größer als bei Shino, genau dasselbe Mal in Form einer Päonienblüte deutlich sichtbar.


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Shino und Gakuzô zeigen einander ihre Päonienmale



"Und ich habe auch eine ebensolche Kristallkugel. Hier!"
Aus dem Amulettbeutel, den Gakuzô um den Hals trug, holte er die Kugel hervor. Shino nahm sie in die Hand, schaute sie an und schrie:
"GI!"

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Gakuzôs Tugend ist GI, er wird selbst gegenüber seinen unmenschlichen Schwiegereltern seine Pflicht erfüllen



Er blickte den Jungen fest an und fragte.
"Wer seid Ihr eigentlich?"
Bisher hatte er Gakuzô immer mit "du" angeredet;
die veränderte Anredeform bemerkte er selber nicht.
"Herr Shino, steigt ins Bad. Ich will es Euch berichten, während ich Euch den Rücken abreibe."


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Dies tat er und erzählte dabei das Folgende:
"Das Päonienmal habe ich schon seit meiner Geburt. Die Kugel hat ein Knecht meines Hauses, als er ein Loch im Boden schaufelte, um den Mutterkuchen zu vergraben, in der Erde gefunden. Was 'Mutterkuchen' ist, habe ich später von meiner Mutter erfahren. Es ist das, was
bei einer Geburt zusammen mit dem Säugling zum Vorschein kommt."
Gakuzôs Familienname lautete Inukawa; er war der Sohn eines Landvogts im Lande Izu. Vor vier Jahren, als Gakuzô sieben war, hatte sich sein Vater zugunsten der Bauern in seinem Ort dem Fürsten widersetzt und war in Ungnade gefallen. Ihm wurde der Seppuku befohlen, und seine Familie wurde aus Izu verbannt.
Ein Vetter seiner Mutter namens Amasaki stand in Diensten des Fürsten Satomi in Awa, weshalb die Mutter Gakuzô an der Hand nahm und dorthin reisen wollte, aber wegen der Kriegsunruhen fanden sie kein geeignetes Schiff. Sie erfuhren, dass man vom Hafen von Gyôtoku in Shimôsa aus Schiffe nach Awa nehmen könne, aber auf dem Weg dorthin wurden sie hier in Ôtsuka von starken Schneefällen überrascht. Seine Mutter, die ohnehin kränklich war, stürzte nieder und tat ihren letzten Atemzug. Als er im dichten Schneetreiben an den Leichnam seiner Mutter geklammert weinte, habe ihn der alte Nukasuke zufällig gefunden und zum Dorfvorsteher gebracht. Eigentlich heiße er Sôsuke, aber hier wurde er Gakuzô gerufen und seither gezwungen, für den Vorsteher hart zu arbeiten.
"Haaaaa....", seufzte Shino, der sich zu Sôsuke, dem früheren Gakuzô, umgewandt hatte. Er hatte, wie er sich nun entsann, tatsächlich einmal davon reden gehört, dass jener halb von Schnee verschüttet gefunden worden sei. Zwar hatte er Mitleid mit diesem gleichaltrigen Jungen empfunden, der in Diensten dieses raffgierigen Ehepaars wie ein Haustier gehalten und zu harter Arbeit gezwungen wurde, aber dass er aus dem Schnee ausgegraben worden war, das geschah, als auch Shino erst sieben Jahre alt war, weshalb er nie besonders auf den Jungen geachtet hatte.
"Dann seid Ihr also der Spross eines aufrechten, wackeren Samurai, nicht wahr?"
Jetzt fiel ihm auch ein, wie
emsig Sôsuke Lesen und Schreiben gelernt und bei der Schwertkampfschule durch die Tür geschaut hatte. Auch hatte er fein geschnittene Gesichtszüge, wie man sie bei einem gewöhnlichen Knecht eines Dorfschulzen nicht findet.
Nun erzählte Shino, wie er zu seinem Päonienmal und zu der Kristallkugel gekommen war. 
Sôsuke konnte mit seiner Begeisterung kaum an sich halten.
"Und was hat das alles zu bedeuten?"
"Das weiß ich auch nicht."
Sie schauten einander aufs Neue an.
"Auf jeden Fall verbindet uns ein besonderes Schicksal."
"Wir haben auch beide keinen Vater und keine Mutter mehr."
"Dann müssen wir zwei künftig fest zusammenhalten."
"Ja, und uns als Brüder betrachten."
Die beiden Elfjährigen drückten einander fest die Hand.


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Inukawa Sôsuke im Manga


"Jetzt lebt Ihr zwar in diesem Hause, Herr Shino, aber ich weiß gut Bescheid über das Verhältnis zwischen Euch und dem Ehepaar, dem ich diene. Ich fürchte, es ist ungünstig, wenn sie bemerken, dass wir zusammenhalten. Bis sich eine andere Situation ergibt, sollten wir auch weiterhin wie bisher möglichst distanziert miteinander umgehen. Und für die Zunkunft möchte ich mich im Schwertkampf üben, aber Lehrmeister Akaiwa ist nicht mehr da. Aber Ihr habt ja die Grundlagen erlernt, Herr Shino, und ich habe mir beim Zuschauen manches gut gemerkt. Ich brauche nur noch viel Übung. Nukasuke hat mir berichtet, dass
Herr Akaiwa neulich beim Abschied am Fluss Kaniwagawa gesagt habe, üben könne man auch allein, mit einem Baumstamm als Partner. Lasst uns von jetzt an heimlich nachts in den nahen Wald gehen und den Schwertkampf üben", sagte Sôsuke.
Mit bewunderndem Blick sah Shino auf den Jungen.
"Einverstanden. Ihr seid viel willensstärker als ich. Ihr seid mein älterer Bruder!", rief er.
So war nun unverhoffterweise auch der zweite Hundekrieger, der Inukawa Sôsuke heißt, aufgetaucht, ohne Lehrmeister und ohne Eltern.


Inuzuka Shino, Inukawa Sôsuke....  
Inuzuka und Inukawa sind in Japan zwar keine häufigen, aber auch keine ungewöhnlichen Familiennamen. Das Wort "inu" bedeutet "Hund",
Inuzuka bedeutet "Hundehügel", Inukawa bedeutet "Hundefluss". Alle Hundekrieger gehören per Herkunft dem Samuraistand an und haben früher oder später keine Eltern mehr, da ihre eigentlichen Eltern laut Legende die verstorbene Fusehime und ihr Hund Yatsufusa waren.  
Bei Brüdern ist in Japan der ältere Bruder für die jüngeren eine Respektsperson.


Die beiden Jungen bildeten sich, wenn niemand es gewahrte, durch die Lektüre von Büchern fort, und übten tief im Wald, wo kein Zeuge es sehen konnte, wie zwei junge Panther den Schwertkampf. Das war schon kein Verhalten gewöhnlicher Jungen mehr. Sie kannten noch nicht ihr Ziel, aber irgendwelche Geister hatten womöglich von den beiden Besitz ergriffen und peitschten sie voran.


 

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Im Dorf Ôtsuka wechselten mehrmals Frühling und Herbst. Man schrieb nun das 9.Jahr Bunmei (1477). Auch in der Kantô-Region hatte sich das Kriegsgeschehen wie ein Flächenbrand hierhin und dorthin ausgebreitet, aber wundersamerweise zogen die Kriege das Dorf Ôtsuka nicht in Mitleidenschaft. Im 4.Monat dieses Jahres aber erhob sich ganz in der Nähe ein Schlachtgetöse, das die Bewohner des Dorfes in Schrecken versetzte. Der Adelsherr Nerima Heizaemon, der sein Feldlager im Nachbarort Ikebukuro aufgeschlagen hatte, wurde durch die Streitmacht des Shogunatsfürsten Ôgiyatsu Sadamasa angegriffen und vernichtend geschlagen. Am Ende entging Ôtsuka zwar dem Krieg, aber bis in den folgenden Sommer hinein wurde das Dorf von Kriegsleuten heimgesucht, die nach entkommenen Angehörigen des Hauses Nerima suchten.

Eines Abends gegen Ende des 4.Monats
, als Shino mit dem Schwert im Brokatbeutel an der Seite durch den Garten des Anwesens ging, rief jemand von hinten: "Herr Shino!"
Zwischen den Bäumen erschien das Mädchen Hamaji, das im Hause Ôtsuka lebte. Shino war inzwischen achtzehn, Hamaji fünfzehn Jahre alt. Shino war zu einem kräftigen und stattlichen jungen Mann herangewachsen, aber Hamaji hatte sich noch weit mehr verändert. Vor sieben Jahren, als Shino im Hause Ôtsuka einzog, war sie
ein kleines, argloses Mädchen gewesen, das freudig durchs Haus gerannt war und allen lauthals verkündet hatte: "Mein Bruder ist gekommen, mein Bruder ist da! Ich will später die Braut meines Bruders werden!"
Jetzt war sie zu einer so wunderschönen jungen Dame geworden, dass jeder, der sie erblickte, entzückt von ihr war.
Hamaji sprach nicht oft mit Shino. Es war, als trennte sie ein unsichtbarer Vorhang. Shino war davon überzeugt, dass sein Onkel und dessen Frau
absichtlich Hamaji von ihm fernhielten. Er wusste, dass das Ehepaar zu ihm nicht aufrichtig war, und Shino zeigte dem Ehepaar Ôtsuka auch seinerseits nicht seine wahren Gefühle.
Es kam also nur selten vor, dass Hamaji ihn ansprach.
"Herr Shino, helft mir bitte!", rief sie mit weit aufgerissenen Augen.
"Worum geht's denn?"
"Lehrmeister Aboshi sagte, er wolle mit mir zusammen fortlaufen."
"Der Lehrer Aboshi? Warum das denn?", fragte Shino mit verwundertem Gesicht.
Der Schullehrer Aboshi Samojirô war vor etwa zwei Jahren ins Dorf gekommen und hatte eine Privatschule eröffnet. Er war vermutlich ein herrenloser Samurai des Hauses Ôgiyatsu. Seit Inuzuka Bansakus Tod war niemand mehr da, der den Kindern Lesen und Schreiben beibrachte, weshalb die neue Schule recht erfolgreich war, aber schon bald jagte Samojirô die Kinder davon und scharte Frauen und Mädchen aus dem Dorf um sich, denen er Flötenspiel, Handtrommel und modische Lieder beibrachte. Er war etwa 25 Jahre alt und ein geschniegelter Stutzer. Und ein arger Schürzenjäger, so munkelte man im Dorf über Aboshi Samojirô.
"Wohin will er denn fortlaufen?"
"Das weiß ich auch nicht. Er sagt nur, wenn wir nicht schnell zusammen fliehen, würde etwas Schlimmes geschehen." 
"Etwas Schlimmes?"
"Ich könnte bei der Suche nach Angehörigen des Hauses Nerima gefasst werden."
"Was? Du, Hamaji? Als Angehörige des Hauses Nerima?"
Shino starrte Hamaji an, aber dann fiel ihm gleich ein, dass er irgendwann einmal hatte sagen hören, die hier adoptierte Hamaji sei die Tochter eines engen Gefolgsmannes des Hauses Nerima. Deshalb hatte Hamaji auch nicht die geringste Ähnlichkeit mit ihren Stiefeltern, dem Ehepaar Ôtsuka. Das war bei einem Adoptivkind zwar nur folgerichtig, aber Shino konnte nicht begreifen, woher ihre noblen Gesichtszüge kamen, und noch weniger, warum ein so hochstehender Samurai sein Kind ausgerechnet Leuten wie diesem Ehepaar zur Adoption anvertraut haben sollte.
"Du bist doch schon im Alter von zwei Jahren hier hergekommen. Ganz gleich, von wo du abstammst, niemand wird sein Augenmerk auf dich als 'entkommene Angehörige' richten."
"Ja, aber als Herr Nerima besiegt wurde, sollen mein Herr Vater als Feldherr und mein älterer Bruder mit den Kriegsleuten des Shogunatsfürsten gekämpft und viele getötet haben. Mein Vater soll erschlagen, aber mein Bruder entkommen
sein, und ihn suchen sie jetzt mit größtem Aufwand."
"Waaas?" Shino machte große Augen. "Wie heißen dein Herr Vater und dein Herr Bruder?"
"So viel ich weiß, heißt mein Vater Inuyama Dôsaku, und mein Bruder Inuyama Dôsetsu."
"Hast du sie jemals kennen gelernt?"
"Nein, kein einziges Mal."
Während Hamaji antwortete, füllten sich ihre Augen mit Tränen.


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 Hamaji mit Shino im Manga


Wenn ein Kind zur Adoption fortgegeben wurde, war es üblich, dass die Familien der Eltern und der Adoptiveltern, um späteres Leid und Reue zu verhindern, fortan auf Lebenszeit den Kontakt zueinander abbrachen. Shino kannte diesen Brauch. Nun fiel ihm auf, dass ihm Hamaji, wenngleich nur aus der Ferne, in letzter Zeit niedergeschlagen erschienen war. Voller Mitleid meinte er, dass sie wohl wegen der Aufregung um die Vernichtung des Hauses Nerima in ihrem jungen Herzen Kummer leiden musste.
"Nun ja, jedenfalls droht dir sicherlich kein Unheil, du brauchst keine Angst zu haben."
"Aber meine Stiefeltern..."  - sie sprach von Hikiroku und Kamezasa -  "....fürchten sich davor, was ihnen der Shogunatsfürst antun könnte, weil sie die Schwester eines Samurai, nach dem gefahndet wird, hier großziehen...."
"Hat dir das der Lehrer Aboshi gesagt?"
"Ja, und deswegen sei es besser, rechtzeitig dieses Haus zu verlassen. Er wolle mich auf der Flucht begleiten...."
"Befürchten Onkel und Tante so etwas tatsächlich?"
"Ja, es sieht so aus", nickte Hamaji. "Unter diesen Umständen, will mir scheinen, kann ich nicht länger hier bleiben. Aber mit dem Herrn Aboshi fortlaufen - davor würde mir grauen."  

Sie blickte Shino fest an.

"Herr Shino, bitte nehmt mich mit, mit Euch würde ich gehen!"
Shino fühlte, wie ihm die Röte ins Gesicht schoss. Der Abendwind hatte sich gelegt. Zwischen ihnen beiden wehte jedoch ein anderer, ein süß duftender Windhauch. In diesem kurzen Augenblick erkannte Shino, dass Hamaji ihn, und dass er Hamaji liebte. Aber schließlich schüttelte er den Kopf.
"Das geht nicht."
"........"
"Jetzt fortzulaufen wäre ein Makel meiner Ehre. Ich schulde Onkel und Tante dafür Dank, mich sieben oder acht Jahre lang betreut zu haben. Jetzt mit dir wegzulaufen wäre eine pflichtwidrige, undankbare Flucht."
"........"
"Ich würde es hassen, mir denselben Ruf einzuhandeln wie dieser Weiberheld Aboshi Samojirô."
Hamaji ließ enttäuscht den Kopf sinken.


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Hamaji


In diesem Augenblick sah Shino einen Mann, der aus der entgegengesetzten Richtung zwischen den Bäumen auftauchte. Ihn durchfuhr ein leichter Schrecken.  
"Junger Mann, Ihr redet altkluge Worte!"
Es war Aboshi Samojirô, in einen zweilagigen Morgenmantel mit schwarzem Federmuster gekleidet. Er hatte sich mit Shinos Tante Kamezasa angefreundet und ging in diesem Haus häufig ein und aus.
"Behaltet das, was Ihr soeben gesagt habt, gut im Gedächtnis. Ich werde es mir auch merken."
Mit einem kalten Grinsen im Gesicht schritt er im Abendrot davon.
Shino war weder zornig noch fürchtete er sich;
er war vielmehr verblüfft. Er hatte Aboshi Samojirô als einen Kerl betrachtet, der zwar in allerlei musischen Künsten bewandert, ansonsten aber bloß ein liederlicher Herzensbrecher war. Nun hatte er erstmals dessen andere, unheimlichere Seite kennen gelernt. Es war das erste Anzeichen für das Verhängnis, das diese beiden jungen Leute bedrohte, die bisher in unbeschwertem Frieden gelebt hatten.
Tatsächlich ließen die Häscher des Shogunatsfürsten Ôgiyatsu Hamaji unbehelligt, und Aboshi Samojirô setzte, aus welchem Grund auch immer, eine unbeteiligte Miene auf, als hätte er glatt sein Gedächtnis verloren. Nach dem Jahreswechsel begann jedoch der Sturm aufzuziehen, durch den die sechzehnjährige Hamaji dem unbarmherzigen Todesgott zum Opfer
fallen und der neunzehnjährige Inuzuka Shino in eine Welt tragischer Kämpfe auf Leben und Tod geworfen werden sollte.



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Es war das 10.Jahr Bunmei (1478).
Dieses Gebiet lag unter der Herrschaft des militärischen Oberbefehlshabers, des Fürsten Ôishi Norikata, einem engen Vertrauten des Shogunatsfürsten Ôgiyatsu, aber im 5.Monat unternahm sein neuer Truppenkommandant Higami Kyûroku in Begleitung seines Offiziers Nurude Gobaiji und anderer eine Inspektionsreise. Als er nach Ôtsuka kam, beherbergte ihn das Anwesen des Dorfvorstehers für eine Nacht. Zu seiner Unterhaltung während des Banketts am Abend wurde Hamaji zum Musizieren auf der Koto herbeigerufen, und als Higami dieses bildschöne Mädchen erblickte, lief ihm augenblicklich das Wasser im Mund zusammen.
Einige Tage später erschien Nurude Gobaiji als Bote seines Herrn. Er verkündete, dass er Fräulein Hamaji als Gemahlin für Herrn
Kommandanten Higami Kyûroku mitnehmen wolle. Der war in diesem Frühjahr nämlich gerade Witwer geworden.
Selbst das abgebrühte Ehepaar Ôtsuka lehnte in Erinnerung an
jenen einem brünstigen Affen gleichenden 40jährigen Higami das Ansinnen ab; Hamaji sei leider bereits mit einem anderen Mann verlobt. Gobaiji setzte ein etwas hämisches Gesicht auf und sagte, er wolle den Herrn Dorfvorsteher nur diskret darauf hinweisen, dass in diesen unruhigen Zeiten, in denen man nicht vorhersehen könne, wohin sich das Kriegsgeschehen wenden würde, ohne die schützende Hand des Herrn Truppenkommandanten, wie er sicher wisse, die Zukunft des Dorfes schwer abzuschätzen sei.


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Wie ein brünstiger Affe: Kommandant Higami 



Dieses Ansinnen wurde hernach noch mehrmals insgeheim wiederholt, und als der 6.Monat kam, erschien Gobaiji aufs Neue und sagte, dass er die Angelegenheit schnell zu Ende bringen wolle, denn in Kürze solle Kommandant Higami zum Herrn Oberbefehlshaber Ôishi nach Kamakura reisen und sich voraussichtlich eine längere Zeit dort aufhalten. Wenn möglich, solle in den nächsten Tagen die Ehe geschlossen werden. Herr Higami lasse mitteilen, er könne, falls erforderlich, auch persönlich erscheinen und im Hause Ôtsuka die Hochzeit feiern.
In großer Panik bat das Ehepaar Herrn Gobaiji, sich einen Augenblick zu gedulden, zog sich zurück und steckte in einem anderen Raum die Köpfe zur Beratung zusammen.
"Da es schon so weit gediehen ist, können wir ihn nicht länger zurückweisen."
"Bedenke ich, wie die Leute im Dorf hinter unserem Rücken noch immer darüber tratschen, dass wir uns dieses Anwesen angeeignet haben, meine ich, das Gerede wird schnell ein Ende nehmen, wenn wir den Herrn Kommandanten zum Schwiegersohn bekommen."
Das war das Ergebnis der Beratung der Eheleute. Hikiroku war ohnehin ein machtgieriger Mensch, und Kamezasa eine Frau, die sich ohne Bedenken mit einem solchen Mann zusammengetan hatte. 
Sie riefen Hamaji herbei und eröffneten ihr die Sache.
"Nie im Leben!", schrie Hamaji, ohne bis zum Ende zuzuhören, sprang auf und wollte hinauslaufen. Hikiroku hielt sie schnell von hinten fest.
"Wo willst du denn hinrennen?"
"Zu Herrn Shino."
"Was, zu Shino?"
Hamaji wand sich heftig und schrie:
"Ich habe schon vor langer Zeit beschlossen, dass ich die Braut des Herrn Shino werde!"
Mit einer Kraft, die man einer Sechzehnjährigen kaum zutrauen würde, stand Hamaji im Begriff, sich von Hikiroku loszureißen, weshalb er laut nach seinen Bediensteten rief.
"Hamaji, was redest du da für einen Unsinn, 'Braut von diesem Shino'? Wer hat dir das denn erlaubt?"
"Als Herr Shino hier herkam, habt Ihr, Herr Vater, es mir etwa nicht bestätigt?"
"Als Shino hier herkam?"
Hikiroku staunte. Er hatte vollkommen vergessen, dass er jemals
so etwas gesagt hatte, aber selbst wenn es stimmte, war Hamaji damals erst acht Jahre alt.
Auf den Ruf von Hikiroku erschienen jetzt ein halbes Dutzend Bedienstete.
"Haltet mir das Mädchen eine Zeit lang irgendwo fest. Und achtet darauf, dass keine Nachricht von ihr zu dem Anbau gelangt."
"Herr Shino ist heute Abend ohnehin nicht zuhause", antwortete einer der Knechte.
"Ja, wo ist er denn?"
"Nukasuke ist schwer erkrankt,
und am Abend stand es so schlimm um ihn, dass Herr Shino an sein Krankenlager geeilt ist."
"Ach so."
Nachdem sie Hamaji fortgeführt hatten, nickte Hikiroku zufrieden.
"Umso besser, damit ist die Sache bestens gelaufen. Hamaji kann sich doch nicht schon mit acht Jahren in solche Gedanken verbohrt haben. Die beiden werden sich aber in letzter Zeit in einander verknall
t und sich heimlich, damit wir es nicht merken, abgesprochen haben. Das ist, als würde man von dem Hund, den man ernährt, in die Hand gebissen!"
"Ja, ich habe wirklich einen Schrecken bekommen", antwortete Kamezasa erleichtert. 
"Das kommt davon, dass du Shino so süß fandest. Na ja, mit dem bist du ja auch blutsverwandt."
"Das schon, aber obwohl wir ihn bisher großgezogen haben, neigte er kein einziges Mal dankbar seinen Kopf vor uns. Vielmehr trägt er allezeit das Schwert Murasame bei sich, ohne es je wegzugeben. Das finde ich nicht gerade süß."
"Genau, Murasame. Wenn wir Shino fortließen, wäre auch das Schwert weg. Das darf nicht passieren. Ich habe mir schon lange immer wieder überlegt, wie wir da herankämen, aber es bot sich bis zum heutigen Tag einfach keine Gelegenheit. Wenn wir Hamaji den Kerl heiraten ließen, hätten wir im Alter keinerlei Sicherheit."
"Bevor du dir darum Sorgen machst, überleg dir lieber, was du dem Boten des Herrn Kommandanten mitteilen willst."
"Ach, das... Dem kann ich keine Absage erteilen. Die Sache kommt vielmehr auch uns zugute. Wir sollten dankend einwilligen", sagte Hikiroku. "Ich habe gerade eine Idee, wie wir alle lästigen Dinge auf einmal erledigen könnten. Ich werde mir später anhören, was du dazu sagst. Jetzt geben wir aber erst dem Gesandten die Antwort, dass wir den Wunsch nach der Hochzeit annehmen. Alles weitere überlass mir mal."


hikiroku

Hikiroku und Kamezasa schmieden Ränke



Die beiden kehrten zu Nurude Gobaiji zurück und gaben ihm den gewünschten Bescheid. Der hatte in der Zwischenzeit Sake trinkend gewartet und sagte:
"Ich habe gerade eine weibliche Stimme 'ich gehe zu Herrn Shino, ich werde Herrn Shinos Braut' rufen hören. War das Hamaji? Und wer ist Shino?"
Hikiroku wurde verlegen.
"Ach ja, das ist der Verlobte von Hamaji, den ich neulich erwähnte."
"Hm. Das wird am Ende Ärger geben, wenn man sie als Braut hergibt, obwohl sie einen Verlobten hat."
Gobaiji wiegte sein Haupt, dachte
eine Weile nach und meinte dann:
"Dann machen wir es so. Wie ich vorhin gesagt habe, lassen wir in vier Tagen den Herrn Kommandanten persönlich herkommen...."
"Wie? Den Herrn Kommandanten?"
".....und feiern hier die Hochzeit. Dann sorgen wir schon dafür, dass sich auch das Fräulein trotz allem damit abfinden wird. Ich bitte nur darum, es bis dahin vor ihr geheim zu halten."


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Zu derselben Zeit war Shino auf Krankenbesuch bei dem im Sterben liegenden Knecht Nukasuke. Obwohl er wusste, dass die Beziehung zwischen Bansaku und dem Dorfvorsteher-Ehepaar unerquicklich war, hatte Nukasuke, ein herzensguter alter Mann, sich zu Lebzeiten Bansakus immer auch um diesen und den Sohn gekümmert. Am heutigen Tag, an dem er wegen der schweren Krankheit sein Ende nahen fühlte, eröffnete er dem herbeigeeilten Shino einen ungewöhnlichen Wunsch.
"Herr Shino, werdet Ihr nicht einmal nach Koga reisen?", begann Nukasuke.
"Nach Koga? Weshalb?"
"Ich habe gehört, dass 
sich Ashikaga Shigeuji als Shogunatsfürst der Kantô-Region dort niedergelassen habe. Von Herrn Bansaku erfuhr ich, dass das Haus Inuzuka ursprünglich zu den Vasallen des Shogunatsfürsten der Kantô-Region zählte und dass er Euch, Herrn Shino, wieder in dessen Dienste geben möchte, falls Shigeuji eine bedeutende Stellung im Reich innehaben sollte."
"Ja, dieser Wunsch meines Herrn Vaters ist mir bekannt." Shino wandte seinen Blick auf das Schwert Murasame, das er wie immer mit sich führte. "Aber es bot sich noch keine Gelegenheit dazu, und ich habe nicht vor, heute oder morgen dorthin abzureisen. Aber es ist gut möglich, dass ich bald nach Koga gehen werde. Weshalb fragst du?"
"Es kann sein, dass mein Sohn sich dort befindet."
"Was, du hast einen Sohn?"
Nukasuke war ein allein lebender Knecht gewesen.
"Falls er am Leben sein sollte, dürfte er etwa ein Jahr älter sein als Ihr."
Dann fing Nukasuke an zu erzählen.
Bis vor etwa zwanzig Jahren war Nukasuke ein Fischer in Sunosaki im Lande Awa gewesen. Er hatte eine Ehefrau und auch einen Sohn. Nachdem sie das Kind geboren hatte, genas d
ie Gattin aber nicht recht und lag lange kränklich darnieder. Deshalb konnte Nukasuke kaum noch zum Fischen hinausfahren und musste sich Geld borgen. Um für seine Frau Arznei kaufen zu können, fuhr er in einer Sommernacht zum Fischen in ein Gebiet, in dem das Fischen strengstens verboten war, und wurde erwischt. Zu seinem Glück erließ der Landesfürst, Herr Satomi, im Herbst anlässlich des 3.Todestags seiner Tochter, Fräulein Fusehime, eine Amnestie, und Nukasuke kam aus dem Kerker frei, aber in der Zwischenzeit war seine Frau gestorben.
Sein zweijähriger Sohn befand sich in der Obut des Dorfvorstehers, aber Nukasuke konnte nicht länger in Sunosaki leben und lief ohne Ziel mit dem Kleinkind auf dem Arm in Richtung Shimôsa. Als er das Städtchen Gyôtoku erreichte, war er kurz vorm Verhungern und wollte sich samt seinem Sohn in den Fluss stürzen. Davon hielt ihn ein stattlicher Samurai ab, der
just samt Gefolge des Weges geritten kam. Nach einem Augenblick des Überlegens sprach der Samurai zu ihm:
"Dein Kind ist ohne jede Schuld. Es wäre allzu grausam, wenn ein Vater sein Kind mit in den Tod nähme. Ich selbst bin kinderlos; ich werde es an mich nehmen. Ich bin jedoch gerade als Bote auf dem Weg zum Fürstenhaus Satomi in Awa und werde es daher einem Bekannten hier in Gyôtoku übergeben und auf dem Rückweg wieder abholen. Wie dünkt dich das?"
Ohne zu zögern willigte Nukasuke ein. Der Samurai gab ihm etwas Geld und sagte:
"Es ist bei einer Adoption üblich, dass sich Eltern und Adoptiveltern ihr ganzes Leben lang von einander fernhalten. Ich frage nicht nach deinem Namen und nenne auch meinen nicht. Aber mach dir keine Sorgen um dein Kind, ich stehe in Diensten eines Herrn, der mit dem Shogunatsfürsten der Kantô-Region verwandt ist. Mehr brauchst du nicht zu wissen."
Der Samurai reichte das Kind einem Gefolgsmann und ritt davon. Das war alles.
Nukasuke verschlug es zufällig in das Dorf Ôtsuka, wo er als Knecht bei einem Bauern arbeitete.
"Aber ich habe keinen Tag lang meinen Sohn vergessen. Ich hatte jedoch einst versucht, ihn umzubringen und ihn danach einem Fremden gegeben; ich brachte daher nicht den Mut auf, nach ihm zu suchen. Jener Samurai hatte gesagt, er
stehe in Diensten eines Herrn, der mit dem Shogunatsfürsten der Kantô-Region verwandt ist; ich hörte mich um und fand heraus, dass es sich um niemand anderen als den Herrn Ashikaga Shigeuji handeln kann, der jetzt in Koga residiert. Jetzt liege ich hier im Sterben. Falls Ihr also nach Koga reisen und zufällig meinem Sohn begegnen solltet, möchte ich Euch darum bitten, ihm zu berichten, dass sein Taugenichts von Vater, sich immerfort in Sehnsucht nach seinem Sohn verzehrend, hier verstorben sei."
"Und wie heißt dein Sohn?"
"Ich habe ihm den Namen Genkichi gegeben, aber er wird den Familiennamen des Samuraihauses seines Adoptivvaters angenommen haben. Seinen jetzigen Rufnamen kenne ich nicht."
Bei diesen Reden war Nukasukes Atem ins Röcheln übergegangen, und sein Gesicht hatte sich grau verfärbt.


nukasuke

Der alte Nukasuke



"Nur ein Erkennungszeichen gibt es; der Junge hat auf seiner rechten Wange ein Muttermal, dessen Form einer Päonienblüte ähnelt, und sieben Tage nach seiner Geburt wollte ich eine Brasse, die ich gefischt hatte, als Mahlzeit zubereiten; da kam aus dem Bauch des Fischs eine wunderliche Kristallkugel zum Vorschein, in der ein Schriftzeichen zu erkennen war. Die habe ich dem Samurai zusammen mit dem Kind überlassen."
"Waaaas? Ein päonienförmiges Mal und eine Kristallkugel mit einem Schriftzeichen darin?", rief Shino aus. Er hatte mit niemandem außer Sôsuke je über sein eigenes Päonienmal und seine Kristallkugel gesprochen, weil solche Wunderzeichen doch allzu seltsam waren.
"Welches Schriftzeichen war in der Kugel sichtbar?"
"Das Zeichen SHIN."
Das waren Nukasukes letzte Worte, bevor er entschlief.



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