OGASAWARA
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Mit rotem Leder
bezogen sind nur die Sessel der First class lounge. Das
gewöhnliche Volk räkelt sich wie in einem Flüchtlingslager auf
dem Boden, der sich mit seinem Filzteppichbelag von dem eines
ganz gewöhnlichen japanischen Wohnzimmers nicht unterscheidet.
Und wenn das Zimmer anfängt zu schaukeln, dann liegt das heute
ausnahmsweise nicht an einem der üblichen Erdbeben, sondern an
der schwachen Dünung der Bucht von Tokyo, in der zwischen
Ölschlieren, alten Autoreifen und toten Fischen die weiße
Fähre "OGASAWARA MARU" am Quai des quallenreichen
Hafens dümpelt. Im trüben Brackwasser des Innenstadt-Hafens von
Tokyo gedeihen Quallen offenbar hervorragend.
Fähre
nach Ogasawara, einem Vorort von Tokyo
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"Aus Tokyo anderthalb bis zwei Stunden Flug", schätzte der geographisch bewanderte Zeitgenosse, als er von unserem Reiseziel hörte. Immerhin wusste er mehr oder weniger, wo diese Inseln liegen, aber dass sie so pieselig klein sind, dass man da nicht einmal eine ordentliche Landepiste draufbetonieren kann, das konnte er wirklich nicht ahnen. Nun ja, welchen Japaner außer einigen Studenten, deren Reisebudget nicht für Honolulu ausreicht, interessieren schon diese Oga... Oga... Ogadingsbums-Inseln, auf denen es weder Golfplätze noch Callgirls, keine Spielhallen und keine Nachtclubs gibt, sondern allenfalls Schnecken, Taifune und Leuchtpilze. Und kleine Meerjungfrauen.
Soldatisch ausgerichtet in Reih und Glied |
Also, der Frank
kriegt auch ohne Anstehen sein Ticket und einen Laufzettel mit
einer Nummer drauf, marschiert geradewegs an Bord und sucht den
Platz, der seiner Laufnummer entspricht. Da findet er aber weder
Kajüte noch Sessel, sondern nur eine Decke und ein Kopfkissen
auf dem Filzboden, inmitten einer langen Reihe gleichartiger
"Plätze", und darauf kann er dann die folgenden 29
Stunden Seereise sitzen, liegen, pennen, lesen oder auch
kopfstehen, wenn er mag, aber er mag nicht, denn just vor seiner
Nase packt gerade eine Bande Jungens Zigaretten und Whiskey aus,
so dass Frank unverzüglich die Flucht aufs Oberdeck ergriffen
hätte, wenn ihn nicht der Anblick seiner beiden jungen
Nachbarinnen, dezent geschminkt, in modisch kurzen Röcken und
Nylonstrümpfen angetan, gefesselt hätte. Die müssen auf dem
Weg ins Büro versehentlich die falsche Richtung eingeschlagen
haben, um auf der Ogasawara-Fähre gelandet zu sein.
Auf dem Weg ins Büro versehentlich verlaufen? |
Das Maximum an Komfort im Bauch einer japanischen Fähre |
Während draußen
noch ein paar Inseln, an denen in Japan wahrhaftig kein Mangel
herrscht, vorüberziehen, leert sich das Deck, denn erstens wird
die Luft allmählich kühl, zweitens gerät das Schiff in die
bewegte Kuroshio-Strömung, und drittens wird im Fernsehen
Baseball übertragen, da hocken alle vor der Glotze und lassen
ferne Inseln ferne Inseln sein, bis der Bildschirm mit
zunehmender Entfernung vom Festland immer flimmeriger wird und
schließlich auch der letzte Pitcher im Schneegestöber der
Mattscheibe untergeht. Obwohl es noch nicht ganz dunkel ist,
kriechen auch die Kartenklopper und die allerletzten Glotzer
still unter ihre Decken und halten die Raffel; sogar das
bordeigene Restaurant ist zur besten Dinnerstunde nahezu leer,
was nicht alleine an der verbesserungsfähigen Qualität des
Angebots liegen dürfte, sondern zu einem guten Teil auch dem
starken Seegang zuzuschreiben ist. Eine Seefahrt, die ist
lustig....
Am nächsten Morgen gleitet die OGASAWARA MARU unter heiterem Himmel durch glatte, seidige Tücher einer ruhigen Morgendünung im endlosen Pazifik, der eine dunkelblaue Farbe angenommen hat. Die Jungs gegenüber sind wieder munter, paffen und lesen in farbigen Reiseführern, während die Girls neben uns sich nunmehr auch ihrer Strümpfe entledigt haben und nun ziemlich ferienhaft aussehen. Ob sie ihre Kleiderordnung miteinander abgesprochen haben? Oder ist der japanische Gruppeninstinkt für diese Parallelität der Ereignisse verantwortlich? Immerhin sehen sie auch ohne Nylons ganz flott aus.
Die Essvorräte der Reisenden neigen sich dem Ende zu, aber das Restaurant verzeichnet auch weiterhin keinen Besucheransturm. Stattdessen werden die Automaten angezapft, Bonbons, Erdnüsse, Schokos und Knusperlis, es ist mir ein Rätsel, wie die unentwegt kauende japanische Jugend dabei dermaßen schlank bleiben kann. Auch die Daddelflipper-Maschinen sind ständig umlagert, vor allen Playstationen drängelt sich ein Pulk von Leuten, die keinen Blick für Wolken, Möven oder kaltes Meerwasser übrig haben. Vielleicht schwant ihnen ja, dass es in Kürze Abschied nehmen heißt von solchen Segnungen der Zivilisation.
"Herr Eschersheimer!", ruft es da, ich traue meinem Ohropax nicht. Das kann doch nicht wahr sein, dass da einer meiner Studenten mit an Bord ist und mich anstarrt, als sei ich ein Gespenst. Nach der schlechten Note, die ich ihm vor den Sommerferien verpasst habe, kann ich ihm das nicht verübeln. Nun stehe ich also ständig unter doppelter Bewachung und muss mich auch in den Ferien noch anständig benehmen, so schwer mir das fällt. Kojima, der angehende Sänger, erzählt, dass ein Bekannter auf Ogasawara eine Stelle als Musiklehrer an der Mittelschule bekommen und ihn eingeladen habe, weil die Sommerferien in Omura =so heißt das eine der beiden Dörfer, in denen die gesamte Bevölkerung der Hauptinsel Chichijima wohnt= todlangweilig seien.
Die Lautsprecherdurchsage, dass linker Hand Wale zu sehen seien, führt zu panikartigem Gerenne, und alle dreihundertfünfzig Passagiere mit Ausnahme einiger Daddler drängen zur Backbord-Reeling, wodurch das Schiff beinahe Schlagseite bekommt, und jede Spritzfontäne eines auftauchenden Tieres wird von einem Chor vom mädchenhaftem Kieksen und Quieken begleitet. Noch fünf Stunden. Ich gewahre, dass unsere Nachbarinnen nunmehr auf das Tragen von BHs unter ihren Sommerblüschen verzichten und bedaure, dass die Fahrt bald zu Ende ist, denn falls die beiden ihren Striptease im gleichen Rhythmus fortzusetzen gedenken, bleibt ihnen noch vor Ablauf weiterer 12 Stunden nichts mehr abzulegen. Während sich an Deck die ersten Bikini-Schönheiten im Morgenlicht aalen, wird am Horizont wieder Land sichtbar: Die nördlichsten Ausläufer des Ogasawara-Archipels, die Muko-Inselgruppe.
Wal bei Tauchübungen |
Nach den felsigen, schroffen Muko-Inseln zeigt sich die Braut-Insel Yomejima ebenfalls von der abweisenden Seite, aber schon taucht Brüderchen Ototojima am Horizont auf, und nach ihm rückt Big Brother Anijima ins Blickfeld, bevor schließlich die Vater-Insel Chichijima ihre ganze 8 Kilometer lange Skyline, teils zerklüftet, teils dschungelbewachsen, präsentiert. Also, wenn ich Robinson Crusoe wäre, hierhin möchte ich nicht verschlagen werden, geht es mir durch den Sinn. Gibt's hier wenigstens Süßwasser? Keine palmgesäumten, endlosen weißen Strände, keine orchideengesäumten Ferienvillen vor lieblich sanft ansteigendem Hinterland, keine Segelyachten, keine Surfer, nur ein Klotz von grün überwuchertem Felsen, dem auch Odysseus nicht entronnen wäre, wenn Polyphem hier hausen sollte, das sieht nicht einladend nach Urlaubsparadies aus. Aber dann ein Schwenk, die Fähre kurvt um eine Felsnase herum in eine weite Bucht ein, in der Hochspannungsmasten und ein paar flache Betonhäuser in der üblichen japanischen Sozialwohnungs-Schuhkarton-Architektur von menschlicher Existenz zeugen, und, da guckste und traust deinen Augen nicht, eine imposante Anlegestelle, an der es von Menschen nur so wimmelt. Sämtliche 1600 Einwohner und eine beträchtliche Anzahl von Urlaubern haben sich zum Empfang der Fähre hier versammelt, denn der Kahn bringt außer neuen Touristen auch allen Nachschub für die vier Kaufläden, sieben Restaurants und 68 Getränke- und Zigaretten-Automaten der Insel.
Aus dem klimatisierten und durch den stetigen Fahrtwind auf erträgliche Temperaturen herabgekühlten Schiff gestiegen, springt die Mittagshitze im Hochsommer der Südsee den Besucher an wie ein hungriger Puma. Also, Tokyos Innenstadt im Hochsommer, das ist auch schon ein Backofen, aber hier unten, 1000 km weiter südlich, kriegst du gleich den Hitzeschlag, denn außer ein paar hibiskusblütigen Büschen gibt es keine schattenspendenden Gewächse in Hafennähe, und vermutlich deshalb haben alle Unterkünfte und Herbergen aus dem nur 100 Meter entfernten Hauptdorf Omura Minibusse geschickt, um die Gepäckberge samt ihren hitzematten Besitzern schnell ins klimatisierte Obdach zu bringen. Nur der Frank, der wie immer nichts vorgebucht hat, latscht mit seinem kleinen Rucksack schlapfig bis ins Dorf, um endlich mal was Gutes zu spachteln, nachdem er der Bordküche nur schnöde Verachtung entgegengebracht hatte. Unter den paar krummen Häusern von Omura fand sich jedoch nicht die kleinste, um diese Zeit offene Fresseria, so dass unter den schattigen Bäumen des sauberen Dorfstrands die letzten Peanuts die Wartezeit bis zum Abend überbrücken müssen. Durch die Bucht kurven tatsächlich ein paar wenige, gelangweilte Segelschipper und Windsurfer, und am Strand verlieren sich schon die ersten, noch wenigen cremeglänzenden Bikini-Mädchen, darunter auch die beiden Striptease-Girls von der Fähre, aber ich rate dir, am Anfang lieber im Schatten zu bleiben, um die smogbleiche Festlandhaut nicht unter der Südseesonne zu versengen.
Jetzt haben sie nur noch den Bikini am Leib.... |
Dichte grüne Vegetation, ein bisschen gezähmter Dschungel, dazwischen große Hibiskusblüten, um die bunte Flatterlinge schmettern und auf dem Weg Eidechsen, die blitzschnell ihre Hautfarbe von lehmigem Braun zu saftigem Grün ändern können, und ansonsten auf dem Boden Unmengen von riesigen Schnecken, wohin man auch blickt. Und man sollte schon hinsehen, sonst macht es bei jedem zweiten Schritt einen matschigen Knacks, und dann gibt es eine Afrika-Maimai weniger. Wir denken schon daran, vor Langeweile die Riesenschnecken zu sammeln, denn pro Kilo werden 10 Yen Vernichtungsprämie für diese Landplage gezahlt, die sämtliches Gemüse anknabbert, Blütenbüsche durchfrisst und tagsüber massenhaft auf dem heißen, sonnenbeglühten Straßenasphalt verwest. Ein ganz schlauer Mensch ist auf die typisch asiatische Idee gekommen, auf alle möglichen Weisen aus diesen Viechern ein genießbares Escargot-Menü à la Ogasawara zu zaubern, aber obwohl Chinesen und Japaner sonst so gut wie alles verspeisen, was nicht gerade hochtoxisch ist, trotzten die mit Handelsschiffen aus Ostafrika via Java eingewanderten Maimais allen kulinarischen Experimenten. Ich überlegte, ob ich vorschlagen sollte, Igel zu importieren, zögerte dann aber doch in dem Bewusstsein, die Verantwortung für derartige Eingriffe in die Ökologie eines Nationalparks übernehmen zu müssen. Am Ende wäre ich noch der Schuldige für eine Frank-Eschersheimer-Igelplage am Rande der Südsee...
Wandlungsfähige Eidechsen |
Ungenießbare Riesenschnecken |
Unsere Unterkunft für die ersten Tage heißt OGASAWARA MARU. Der Dampfer verweilt einige Tage im Hafen und dient während seiner Liegezeit als Hotelschiff, denn das Fassungsvermögen der lokalen Hotellerie ist höchst begrenzt. Wie sich der geschätzte Leser vorstellen kann, verzichten wir allerdings darauf, auch an Bord zu speisen. Dabei ist auch der Ausdruck "Hotelschiff" schon eine Prahlerei: Anders als während der Seefahrt sind nun Männlein und Weiblein in getrennten Dormitories untergebracht, und ich wäre aus verschiedenen Gründen lieber zu den Damen gegangen. Jedenfalls gibt es vor 23 Uhr, wenn die Lichter ausgehen, im Männerhostel keine Ruhe, denn unter dem plärrenden Fernseher werden die Ereignisse des Tages lauthals bequackelt und so hemmungslos süchtig gepafft, dass die Rauchmelder Alarm geben, aber das tut der Laune keinen Abbruch, denn die ohnehin nicht leisen Kehlen werden mit irgendwelchen hochprozentigen Fuseln geschmiert, schließlich sind die Jungs in den Ferien, und Eltern und Lehrer sind weit weg...
Highlife statt Nachtruhe auf der Fähre |
(Falls du in Japanisch eine
schlechte Note gehabt hast:
Das Linke bedeutet WEITER, das Rechte bedeutet HOME.)