So, jetzt bestand meine
grenzenlose Freiheit eigentlich nur noch aus der Wahl, ob ich über
Tàttari (Sassari) oder über Nùgoro (Nuoro) nach Olbia zurückfahren sollte. Die
Zwänge rückten nämlich näher. So ein hartgesottener
Landstreicher, dass ich noch im fortgeschrittenen Oktober auf der Heimfahrt nach Germania
in meinem Schlafsack im Freien pennen wollte, bin ich nämlich
nicht. Damals war von globaler Erwärmung noch keine Rede, und das
Oktoberwetter im Sauerland, das kennst du sicher auch. Überdies
war ich ein regulär eingeschriebener Student der Romanistik, und dass
die erste Woche des Wintersemesters bereits begonnen hatte,
während ich auf den Spuren einer verschollenen Krankenschwester
durch die sardische Wildnis trampte, ließ sich im Prinzip nicht
leugnen.
Was du aus deinem Sinn verbannst, das existiert auch nicht, sagte ich mir in meiner Einfalt. Genau wie die Trollos, die der Ansicht sind, wenn sie die Grünen abwählen, gäbe es auch keinen Klimawandel mehr. Aber zwischen mir, deutschem Herbstregen und den fälligen Klausuren lagen mehr als tausend Kilometer und ein kleines Meer, und von wegen Auswahl zwischen Tàttari und Nùgoro, das wäre doch gelacht! Trotzig stellte ich mich am 30.September an die breiteste und wichtigste Chaussee von ganz Sardegna, nämlich die Landstraße nach Càlares (Cagliari), und entfernte mich entsprechend rasant von Maristanis (Oristano), Prammas (Palmas Arborea) und dem Schauplatz meiner missglückten Brautschau. |
...die breiteste und wichtigste Chaussee von ganz Sardegna... |
Und
um ehrlich zu sein,
war ich froh darüber. Es ist ein verdammt gutes Gefühl,
ungebunden und ohne großes Geld unterm blauen Himmel zu lungern
und nach Lust und Laune entweder im Gras zu liegen oder mich mal
schnell nach Càlares spedieren zu lassen. Das war die Freiheit,
die
ich mir erträumte. Da stand ich also mutterseelenallein und
mandelkauend in
der sardischen Landschaft und stellte mir vor, dass doch
allenfalls ein paar Tage intensives Autostoppen vonnöten
wären, und schon stände ich wieder daheim vor der Tür
des
Hotels Mama und würde mein Abendbrot mit Leberwurst mampfen, ohne
einen Pfennig Fahrtkosten. Und auch die Autofahrer haben keine
zusätzlichen Unkosten, sie fahren dieselbe Strecke ohnehin, ob
mit oder ohne Hitchhiker, und freuen sich oft noch, einen
Begleiter zum Bafeln
zu haben. Eine echte win-win-Situation.
Auch ohne Grissenda machte mir Sardegna einen gewaltigen Spaß. Der nächste Knüller wartete nämlich schon auf mich. Nein, keine weiteren Zimmermädchen oder Krankenschwestern. Aber in der weisen Voraussicht, dass hinter Càlares bald wieder die Weinberge voller reifer Trauben beginnen würden, übte ich in dieser Stadt beim Einkauf von Futtermitteln für die weitere Fahrt größte Zurückhaltung, und just zur Mittagsstunde hielt wieder mal einer an, um mich, wie auf dem Lande üblich, die vier Kilometer ins nächste Dorf Santu 'Idu (San Vito) mitzunehmen. Die wenigen Minuten reichen meist, um den fremden Fahrgast auszufragen, und ich hatte auch längst meine Sprüchlein samt Gags zum Aufsagen parat, damit es unterhaltsam wird. Und auf die Frage, ob ich schon zu Mittag gegessen habe, antwortete ich wie stets mit "sì", um den guten Mitmenschen nicht in Verlegenheit zu bringen, aber diesmal kam ich damit nicht durch. Signor Cambosu interpretierte mein "sì" richtig als ein verkapptes "no", hielt vor seinem Haus, eröffnete seinem verdutzten Mitfahrer aus Germania, dass sein eigener Sohn ebenfalls Student sei, in Càlares, und ein Cousin als Gastarbeiter bei VW in Wolfsburg arbeite. Das genügte offensichtlich, um mich anstelle von figlio und cugino zu bewirten. |
...das genügte, um mich zu bewirten... |
Allerdings hatte er nichts
im Haus; er ließ mich vertrauensvoll in seiner Wohnung
zurück, stürmte davon und kam ein Viertelstündchen
später, beladen mit Brot, Wein, Prosciutto, Formaggio und Obst,
zurück. Und dann tafelten wir gemeinsam, sogar Butter zauberte
Herr Cambosu aus seinem Kühlschrank, was, seinem Stolz nach zu
urteilen, hier ein Zeichen von Wohlstand sein musste. Er sei Beamter in
der Gemeindeverwaltung von Santu 'Idu, berichtete er, und dass es sich in
der Obhut von Vater Staat besonders angenehm lebt, das wissen auch die
Bürger anderer Länder weltweit zu schätzen.
|
Nach dem Essen wollte der Gastgeber alles, aber auch alles über
Germania wissen, und ich tat mein Bestes, diese regenreiche, kalte
und ausländerfeindliche Gegend wider besseres Wissen nicht allzu übel aussehen zu lassen, und weil es auch danach
unhöflich gewesen wäre, zum Aufbruch zu drängen,
ließ ich mir auch noch Santu 'Idu zeigen. Ecco la scuola, ecco il
bar, e quì il municipio, die Stadtverwaltung, in der Signor
Cambosu an anderen Tagen zu arbeiten pflegte. Weshalb er am heutigen
Dienstag nicht an seinem Schreibtisch saß, erfuhr ich nicht, wollte es aber auch nicht so genau wissen. Warum war bloß die liebreiche Grissenda nicht nach Santu 'Idu gezogen? Da wäre die Inselhauptstadt Càlares näher gewesen und mein freundlicher Fremdenführer hätte mich kraft Amtes sicherlich auch noch in ihr Haus geliefert. Stattdessen malträtierte er jetzt, nach einem abschließenden caffè, sein Telefon, um herauszufinden, ob aus dem großen Verwandten- und Bekanntenkreis nicht irgendjemand sein Vehikel in meine Richtung zu bewegen gedenke, und siehe da, kurze Zeit später befand ich mich im Fond eines dunkelblauen Fiat, um als siebter Insasse und Ehrenfamilienmitglied ins benachbarte Bidda de Putzu (Villaputzu) mitfahren zu dürfen. |
...die Stadtverwaltung von Santu 'Idu... |
Danach begann eine Art Rallye durch die wildeste Region von Sardegna. Die Straßen wurden schmaler, einsamer, und ab und an lauerte hinter
einer scharfen Biegung eine Straßensperre, errichtet von bis an die
Zähne bewaffneten Carabinieri, die aber nicht bissig waren,
sondern die Insassen der wenigen Fahrzeuge nur streng musterten. Ob in
den Sagas von sardischen Räubern und Banditen in den Bergen doch
ein wahrer Kern stecken sollte? Mit etlichen Haarnadelkurven
schraubte die Piste sich immer weiter in das schroffe Bergland des Supramonte hinauf,
durch tiefe Schluchten, an steilen Felswänden entlang und
gähnenden Schlünden, von denen aus es mehrere hundert Meter
lotrecht abwärts geht. Auch das Wetter wurde immer unwirtlicher,
denn es begann zu nieseln. Neblige Fetzen, weißliche Schwaden
zogen über die Chaussee, schwer zu sagen, ob es Nebeltücher
oder Wolken waren. Gut, dass ich gerade einen freundlichen Chauffeur
gefunden hatte, denn hier begegnet man nicht nur stundenlang keinem
Auto, sondern erblickt nicht mal ein Haus.
|
...neblige Fetzen zogen über das Bergland... |
In Baunèi angelangt, erhaschte ich
durch einen Spalt in den feuchten Grauschleiern einen
Blick ins sonnige Tal, das zu meiner Verblüffung klein wie Spielzeug unter mir lag; funkelnde
Autos blinkten dort im Sonnenlicht. Wie ein Blick aus dem
Flugzeugfenster. Wie steil und wie tief geht es wohl da hinunter,
gleich neben der Leitplanke? Hier oben in Baunèi war es feucht und
kühl und wurde auch langsam dämmrig, denn es war schon nach
17 Uhr. Ein Stück wurde ich
noch mitgenommen, aber an einer Abzweigung mitten in der Wildnis verließ der
freundliche Automobilist die Straße und
töffelte ins bergige Inland davon.
|
...Blick von Baunèi ins sonnige Tal... |
Nun stand ich samt meiner
grenzenlosen Freiheit an einem einsamen Straßenrand und machte
ein langes Gesicht. Der Wegweiser besagte, dass der nächste Weiler
Orthullè (Urzulèi) 8 km entfernt lag. Und hier nichts als der immer dichter und dunkler
werdende Wolkennebel, kein Haus, keine Menschenseele, nur Steine und
knorrige Macchia ringsumher, und durch die Abenddämmerung tönte das Gebimmel weit entfernter
Schafherden. Dankbar gedachte ich des Stadtrats von Santu 'Idu und seines
reichlichen Mittagessens, das eine beruhigende Grundlage für die
anstehenden Abenteuer sein dürfte, denn nach Abendessen sah es hier ganz und gar nicht aus.
Ich stand noch immer mit meinem Bündel im sardischen Nieselregen und kaltem Bergwind, sah mich um und gewahrte als einziges Zeugnis menschlicher Tätigkeit etwas oberhalb der Straße am Hang eine steinerne Hütte ohne Fensterglas und Tür. |
...eine steinerne Hütte ohne Fensterglas und Tür... |
Das Dach scheint dicht zu sein, konstatierte ich, als ich mich im Innern umsah. Etwas Stroh und eine kalte
Feuerstelle waren im letzten Dämmerlicht zu erkennen, sonst war
das Häusel leer. Wie geschaffen für mich, denn bei diesem
Wetter war es draußen zu kalt und zu nass zum Pennen. Erleichtert
kroch ich in meinen Schlafsack, den sich meldenden Hunger ignorierend,
und war schon halb eingeschlafen, da wurde ich wieder geweckt. Ich
bekam nämlich Gesellschaft und Aufklärung, wozu diese sinnige
Hütte diente. Ein sardischer Schäfer wollte hier die Nacht
verbringen und erläuterte, dass dies ein Hirten-Obdach sei.
Selbstverständlich reichte der Platz für zweie, auch für
fünfe, und dass der pastore nun an der Feuerstelle ein kräftiges
Flackerchen entfachte, war mir durchaus nicht unwillkommen. Noch
willkommener war mir, dass der Sarde mich aufforderte, mit
zuzulangen. Rotwein, Schafskäse und pane carasau
(ewig haltbares, sardisches Trockenbrot) hatte er in seinem
Ränzel, und ich pries dankbar den Wohltäter und sein
sardisches Hirtenmahl.
Später erfuhr ich, dass heutzutage in noblen sardischen Hotels den Touristen teure "Schäfermahlzeit Dîners" offeriert werden, hahaha. |
...sardisches Hirtenmahl mit pane carasau... |
Als ich zum zweiten Mal erwachte, war mein Schlafgenosse längst
seiner Wege gezogen. Es nieselte nicht mehr, sondern goss aus allen
Knopflöchern. Ich beschloss, auf ein Nachlassen des starken
Regens zu warten, aber ich wartete zwei Stunden, und es schüttete
noch immer und nichts deutete auf ein baldiges Ende der himmlischen
Dusche hin. Dafür meldete sich mein Bauch: "Fratello, wo bleibt
das Frühstück?"
Meine grenzenlose Freiheit beschränkte sich somit auf zwei Alternativen: Im Trockenen verhungern oder am Straßenrand absaufen. Nichts davon war sonderlich verlockend. Die Hütte stand leider mehr als 50 m vom Straßenrand enternt, und wegen des Regens hörte man heranbollernde Autos nicht früh genug, um einen Sprint hinzulegen. Was tun? Also, Regen mochte ich mit meinen Leinen-Turnschuhen gar nicht. Regen war für Südeuropa überhaupt nicht vorgesehen. Verhungern war auch keine ernsthafte Wahl, weshalb ich ein hellgraues, einst weißes Taschentuch hervorzog, als sich ein Kleinwagen durch die Wassermassen herankämpfte, und SOS winkte. Ja, und das Wunder geschah tatsächlich, der Automobilist hielt an. Viva Italia, viva la Sardegna! Ich hampelte wie gedopt mit meinem Bündel den Hang hinunter, rannte den kleinen Fiat dabei beinahe über den Haufen, in dem mich ein freundlich dreinblickender, älterer und erstaunlich dicker Herr in Empfang nahm. Fast hätte ich einen Freudensprung getan, als mir mein Retter kundtat, dass er bis Thiniscòle (Siniscola) zu töffeln gedenke, aber angesichts des Alters des engen Autos und der Leibesfülle des Fahrers wäre es das sichere Ende des Cinquecento gewesen, wenn ich darin auch noch Turnübungen absolviert hätte. |
...es goss aus allen Kopflöchern... |
Aber bei einem solchen Wetter ist man über
einen 80 km-Lift natürlich doppelt froh, zumal der gute Mensch von
Thiniscòle (Siniscola) unterwegs in einem Dorf anhielt und eine gigantische
Tüte noch warmer, belegter Brötchen zulud. Wie ein
Halbverhungerter machte ich mich auf seine Aufforderung darüber
her, aber auch der Signore hielt wacker mit, als sei es zwingend
notwendig, die Tüte bis Thiniscòle zu leeren. Durch das Mampfen und
Schlemmen war die Konversation auf rudimentäre Dialoge
beschränkt, aber da der Fahrer das Notwendigste treffend erkannt
hatte, bedurfte es keiner zusätzlichen Erläuterungen mehr. Am Ziel
angelangt, war es zwar noch bewölkt, regnete aber nicht mehr, und
die Weinberge am Ortsrand offerierten mir einen vitaminreichen
Nachtisch.
|
Nur
eines weiteren, flotten Lifts bedurfte es, um wieder in
Olbia einzutrudeln, wo bis zum Ablegen der Fähre am Abend noch
sehr viel Zeit blieb. Der Fahrer des chiquen Alfa Romeo, ein etwa
40jähriger Geschäftsmann, wollte zwar nicht aufs Festland,
hatte aber auch keine Lust, allzu bald seine Firma aufzusuchen.
Vielleicht standen ihm ja auch Firmenspesen zur Verfügung;
jedenfalls lud er mich in das nobelste Restaurant des Städtchens
zu einem vorzüglichen Festmahl ein. Vom Apéritif vorweg bis
zum Caffè nach dem Cognac am Ende, kein Gang wurde ausgelassen,
wir völlerten ganze zwei Stunden auf seine Kosten, und bei
munterer
Konversation flog die Zeit nur so dahin.
|
...wir völlerten ganze zwei Stunden... |
Seit Càlares (Cagliari) hatte ich keine Lira mehr ausgegeben und dennoch
so gut und reichlich gegessen wie seit Langem nicht mehr. Immer wenn
der Hunger sich meldete, beeilte sich ein spendabler Mensch, Abhilfe zu
schaffen und mich zu verwöhnen. Ich kann nicht anders, ich muss die
Italiener im Allgemeinen und die Sarden im Besonderen als ein ganz
prachtvolles Volk lobpreisen. Natürlich hatte ich auch in
Frankreich, in Brécey, und in Spanien, dank Juan Alfonso,
unglaubliche Wohltaten genossen, aber in den fünfeinhalb Tagen,
die ich in Sardegna verbracht hatte, war meine Barschaft nur um etwas mehr
als 500 Lire geschrumpft, das waren seinerzeit nach Kaufkraft weniger als 10
heutige Euro.
Am Abend, als die Fähre die Anker lichtete, waren nicht so viele Soldaten an Bord wie auf der Hinreise, und deren Stimmung war, nach beendetem Heimaturlaub, verständlicherweise auch deutlich gedämpfter, weshalb ich mich auf mehreren Sitzen breit machen und eine ruhige Nacht verbringen konnte. |
Beendeter
Urlaub, das galt auch für mich. Nicht dass ich das
Wintersemester nicht mal zwei Wochen verspätet in Angriff nehmen
könnte, prahlte ich vor mir selbst, der Juan Alfonso lebt
ja auch recht angenehm am Studium vorbei. Aber mit meinem
mitteldünnen Schlafsack dürfte es nördlich der
Alpen in mancher Oktobernacht schon recht ungemütlich werden, das
war mir durchaus bewusst. In Roma wollte ich sicherheitshalber
noch einmal nach postlagernden Liebesbriefen aus Prammas (Palmas)
Arborea schauen, rechnete aber nicht mehr ernstlich damit. So
hielt mein Bündel in Civitavecchia im
Schließfach Siesta, und ich rauschte nach Roma; um 15 Uhr
war ich ohne Nachricht von Grissenda wieder zurück, ja, das Trampen geht in Italia flotter als
die Fahrt mit der Eisenbahn, und aus Civitavecchia fuhr mich jemand in
einem Rutsch bis nach Siena. Da wollte ich eigentlich nicht unbedingt
hin, aber auf anderen Wegen in Richtung Germania zu reisen ist umso
interessanter.
|
...ich konnte mich von diesem reizenden Städtchen kaum trennen... |
Bereits in Sardegna war ich nichtsahnend an tausend
Attraktionen wie Nùgoro, Arbatax oder Durgali (Dorgali) ohne einen Seitenblick
vorbeigebrummt,
und hatte auch von der Toscana nicht viel Ahnung, das
muss ja mal gesagt sein. Umso größer war mein Erstaunen
über Siena, dieses Juwel von mittelalterlichem Stadtbild. Ich
konnte mich von diesem reizenden Städtchen kaum trennen, so gut
gefiel es mir im Abendschein. Auf hundert Hügelchen steht der Ort,
immerzu geht es rauf und runter. Enge Gässchen mit riesigen
Pflastersteinen, gehweglose, krumme Straßen und mittelalterliche
Laternen, die aussehen, als seien die Kerzen erst kürzlich gegen
Glühbirnen ausgewechselt worden. Auch die Häuser muten an,
als sei die Zeit vor 500 Jahren stehen geblieben. Wenn sich bloß
nicht Italiens Automobilverkehr durch dieses lebende Museum
zwängen und alles versmogdieseln würde! Und schließlich
gelangte ich auf die Piazza del Campo mit dem Dom im
tellerförmigen
Zentrum der Stadt und sah mich satt an diesem
bildschönen Stadtzentrum. Als hätte man Venezia in die Berge verfrachtet! Zum Glück wird im Tal, am
modernen Stadtrand, emsig gebaut, weshalb ich dort ein trockenes,
nicht übermäßig zugiges Obdach fand.
|
Das
Meer ist fern, der Herbst ist nah; ich legte einen Zahn zu.
Eine junge Lehrerin brachte mich nach Firenze, dessen
Besichtigung ich mir der Eile halber für später aufhob,
und ein britischer
Blumenhändler fuhr mich in seinem rechtsgesteuerten
Vehikel bis
nach Pistoia und schenkte mir auch noch eine Tafel Cadbury Vollmilch.
Kaum war der Brite außer Sicht, hielt schon mein nächster
Chauffeur bis nach Montecatini, wo die Leute das "ca" wie ein "ha" oder ein
"hha" hauchen. Montehhatini sozusagen.
|
...bis nach Montecatini, wo die Leute das ca wie ein ha hauchen... |
Auch
da stand ich nicht lange am
Straßenrand, da kam, nein, kein flotter Schlitten, sondern eine
flotte junge Dame mit Jeans und Rucksack auf mich zu und fragte, ob sie
mich ein Stück begleiten dürfe. Gegen Mädels habe
ich wenig einzuwenden. Außerdem entsann ich mich der beiden
aufgekratzten Girlies in der Bretagne, mit denen das Trampen wie
geschmiert lief. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass sie
mich
nicht mit einem Porschebesitzer verwechselt hatte, nahm ich sie
mit. Sie erzählte, dass sie nach Ponte Buggianese wolle, sich aber
nicht traue, allein zu trampen. Dort wohnte jedenfalls eine Freundin,
die sie besuchen wollte. Mit so einem weiblichen Wesen an meiner
Seite ging es
zügig voran, die italienischen Männer treten reflexartig auf
die Bremse und bitten die Signorina charmant auf den Beifahrersitz, und
ich war mit meiner Rolle als Anstandswauwau im Fond vollauf
zufrieden.
|
...die junge Frau umgab sich mit einer Aura vornehmer Distanz... |
Im Handumdrehn erreichten wir das nahe, aber etwas abseits meines Reisewegs gelegene Ziel, ohne dass ich einem Macker mit
vorwitzigen Fummelhänden auf die Glatze tockeln musste. Auch die
Aura vornehmer Distanz, mit der sich die junge Frau, bei all
ihrer Leutseligkeit, zu umgeben verstand, war dabei hilfreich;
offensichtlich war sie aus gutem Hause. Ihre Freundin, die das
ungleiche Paar in Ponte Buggianese im Empfang nahm, war Jugoslawin und
Tochter eines Restaurantbesitzers. Ich wollte mich verabschieden,
aber das ließen die beiden Freundinnen nicht zu. Ich solle doch mit
hereinkommen; ein Mittagessen gebe es da gratis als Lohn für die
Tramperhilfe. Das ließ ich mir nicht zweimal sagen, und die
Mädels, die sich ebenfalls bewirten ließen, sorgten
dafür, dass es mir an nichts fehlte. Nicht lange, da hielt ein
roter Alfa Romeo vor der Tür, und der Freund der hübschen
Jugoslawin setzte sich noch dazu.
|
...ihre Freundin, die hübsche Jugoslawin... |
Nach
dem Essen und etwas netter
Konversation warf der Jüngling seinen Alfa an, packte alle drei
mit ein und fuhr mich, weil ich wegen Ponte Buggianese von meiner
Hauptstraße abgekommen war, bis zur nächsten
Autobahnauffahrt. Du kennst ja die italienische Abschiedszeremonie mit
Küsschen rechts und Küsschen links, und dann, ehe ich es mir
versah, stopfte mir das jugoslawische Mädchen eine Handvoll
Geldscheine in die Tasche, sprang in den roten Flitzer, und als ich
mich von meiner Verblüffung erholt hatte, war von dem Alfa
Romeo nur noch eine Wolke Auspuffdunst zu erahnen.
|
...nach dem Essen warf der Jüngling seinen Alfa an... |
Da
stand ich nun, nicht nur verköstigt, sondern noch um 3000 Lire
reicher. Also, noch einen Monat weiter durch Italia trampen, und ich
bin Millionär, wenn das so weitergeht. So viel Geld konnte ich in
der
verbleibenden Zeit in Italia gar nicht mehr ausgeben. Ich war zwar
ein armer Student, hatte aber doch genug Devisen im Brustbeutel, um von
Almosen wirklich unabhängig zu sein und notfalls auch ein
Bahnticket Roma-Germania lösen zu können. Dass ich per
Anhalter fuhr, auf öffentliche Verkehrsmittel verzichtete und im
Schlafsack auf Friedhöfen, in der Macchia oder in Rohbauten
pennte, war mehr sportlicher Ehrgeiz als wirkliche Bedürftigkeit,
aber vielleicht sah man mir ja auch die Übernachtungen ohne
Federbett allmählich an? Ich kam zu dem Schluss, dass das Geld
eine Gabe der Dankbarkeit war, dass ich die Signorina sicher in jenen entlegenen Ort eskortiert hatte, aber als
Entgelt dafür wäre mir das reichliche Mittagessen wahrhaftig
ausreichend gewesen.
|
Weil es mittlerweile schon der 3.Oktober war, wählte ich als
Route wieder die Reise durch Frankreich, um nicht an einem Alpenpass
womöglich einzuschneien. Bis zum Abend gelangte ich noch nach La
Spezia, wo ich trotz meines jüngst erworbenen Reichtums nicht im
Hotel übernachtete.
Vielleicht wäre es sinnvoller gewesen, doch die Alpen anzusteuern, denn von La Spezia gelangt man direkten Wegs nach Genova. Und wieder brachte mich ein Chauffeur bis kurz vors Ortsschild GENOVA, nur diesmal am entgegengesetzten Ende der "ewigen" Stadt, zumindest aus Sicht von Leuten, die zu Fuß ans andere Ende gelangen wollen. Von "wollen" konnte natürlich keine Rede sein. Ich versuchte, mich vor dem langen Marsch zu drücken und noch ein Stück in die Stadt reinzuhitchen, aber im Vorstadtbrei hielten auf mein Winken hin nur Taxis. Normale Autofahrer reagierten mit allerlei Handzeichen, die "ich biege an der nächsten Kreuzung ab" oder "habe ganz in der Nähe zu tun" besagen. Offenbar spielt sich das gesamte pulsierende Stadtleben von Genova ausschließlich am Stadtrand und in den Vororten ab. |
...bis kurz vors Ortsschild GENOVA... |
Nach
zwei vergeblichen Stunden war ich mürbe, schulterte mein
Bündel und taperte nach Nervi rein, voller Wut und
größter Lust, meine Tasche einfach gegen die Wand zu
knallen, denn jetzt kannte ich diese Stadt und wusste schon, wie viele
staubige Asphaltkilometer noch vor mir lagen. Alle halbe Stunde
versuchte ich mein Glück und hob den Arm dem Verkehr entgegen, aber
nicht nur die Stadt ist ein unsympathisches Gebilde, sondern auch ihre
Einwohner sind knickerige Stoffel. Ich musste alle 19 km bis zur
Autobahnauffahrt am anderen Ende der Stadt ablatschen und konnte noch
froh sein, dass die Autobahnbrücke 1969 noch halbwegs stabil und
nicht am Einstürzen war. Mit Ingrimm konstatierte ich, dass dies
nun schon der zweite Tag meiner Ferien war, den ich diesem Moloch von
Stadtgetüm opferte, und diesmal wurde ich für meinen
körperlichen Einsatz nicht mit einem 200 km-Lift belohnt, sondern
gelangte im spätnachmittaglichen Berufsverkehr gerade noch bis
Savona.
|
Dort
zwang mich die einbrechende Dunkelheit zur
Übernachtung, aber da mich mein Fahrer erfreulicherweise bis zum
Ortsausgang gebracht hatte, fand sich hier nichts, was als Obdach
geeignet erschien. Linkerhand das Meer, und rechterhand eine steile
Felswand, dazwischen die Chaussee und ein bisschen Gebüsch. Mit
knackenden Waden zurück und in die Stadt reinlatschen, um eine
Baustelle zu finden, das wollte ich um keinen Preis. Im
Dämmerlicht war mir aber, als sei in der Felswand in erreichbarer
Höhe eine Nische zu sehen; ich kraxelte probehalber mal hoch und
sah, dass die Nische in ein regelrechtes Loch mündete, das in den
Berg hineinführte. Es war allerdings schon so finster, dass
ich nichts weiter erkennen konnte. Bei der Gelegenheit fiel mir auf,
dass meine cerini
(italienische Wachsstreichhölzer) noch unter dem Olivenbaum bei Maristanis liegen mussten, wo ich mir ein Feuerchen gemacht hatte. So ließ ich meinen Rödel in dem Höhleneingang, trabte
zum nächsten Tabacchi-Laden und stieg dann mit Beleuchtung in den
Berg ein. Ich fand einen künstlichen Gang mit mehreren
Abzweigungen, ein ganzes Labyrinth von Gängen, aber alle waren
nach ca. 50 m durch Sprengungen verschlossen worden. Es gab jedoch zwei
regelrechte Aufenthaltsräume, mit in den Fels gemeißelten
Tischen und Bänken, es war warm, trocken und sauber, ruhig und
dunkel, wie geschaffen eigens für den Tramperfrank. Ich schlief
dort wie in Abrahams Schoß und fürchtete nur, zu
verschlafen, wenn ich nicht vom Morgenlicht und Brausen des
Berufsverkehrs geweckt würde.
|
...ich fand einen künstlichen Gang in den Berg... |
In der Tat wurde es sieben Uhr, als ich mich aus meinem Palast ins Freie bequemte, das ist für einen
notorischen Frühaufsteher schon recht spät. Trotz starken
Sturmwinds vom Meer her und meiner Windfrisur begann ein regelrechtes
Kilometerfressen: Pietra Ligure, Alassio und Imperia flogen
vorüber, dann San Remo und Ventimiglia; an der Grenze stand ich um 14:45 Uhr.
|
Auch
in Frankreich waren mir die Italiani gewogen; es war sogar,
genauer gesagt, ein Sarde, der in Torino arbeitete und mich
nach Monte Carlo
spedierte, wo er im Casino sein sauer verdientes Geld der antiken
Gottheit Fortuna opfern wollte. Wie fast alle Sarden war auch Herr
Ugheddu ein reizender Knabe und taute vollends richtig auf, als ich
ihm meine sardischen Erfahrungen und Abenteuer (unter Auslassung der
Grissenda-Episode) nacherzählte und dabei nicht mit hochverdientem
Lobpreis für das sardische Volk geizte. Dafür ließ mich
der
Signore nicht mehr los. Sightseeing in Monaco und Monte
Carlo, das Schloss des Fürsten und das Ozeanographische Institut,
mit dessen Verwandtschaft ich schon in Biarritz eine Begegnung gehabt
hatte. Alle
frankophonen Mittelmeerküsten sind anscheinend mit
ozeanografischen Instituten vollgebaut.
|
Das als Mülleimer für
seine Barschaft ausersehene Casino von Monte Carlo ließ der alte
Sarde mir zuliebe sausen und fuhr noch weiter bis Nice, wo es
auch eine Geldvernichtungsanlage für Neureiche gibt. Nicht einmal hier
mochte sich Herr Ugheddu von mir trennen. Wir stopften uns auf die
Schnelle einen Casse-croûte rein, und dann steuerte er das
Spielcasino an. Nun fügte es sich, dass die Torhüter des
dortigen Geldschluckers keine Sarden waren, die ihre
Mitmenschen nach deren inneren Werten taxieren, sondern schnöde
Tartüffs, die Landstreichern wie mir rigoros den Zutritt
verwehren, denn nichts verstört Reiche stärker als der
Anblick von Armut und Schäbigkeit. Ins fürstliche Schloss
durfte ich mit meinen schmuddeligen Tretern und beuligen Jeans
hinein, aber nicht in den Tempel von Mammon&Fortuna. Wer sich dort
hochverschuldet und in den Ruin getrieben die Kugel ins Gehirn jagen
möchte, der möge es bittesehr stilvoll tun, mit Schlips und Anzug
und Bügelfalte.
|
...die noble Geldvernichtungsanlage von Nice... |
Gegen 21 Uhr trennten sich daher die Wege des
freundlichen Herrn Ugheddu und des aufgelesenen Trampers, denn das
Vergnügen, seine Barschaft in nobler Atmosphäre zum Fenster
rauszuwerfen, wollte sich der sardische Werktätige um keinen Preis
entgegen lassen. Ich hätte mich ohnedies nicht dazu verleiten
lassen, meine 3000 pontebuggianesischen Lire der Casino-Mafia in den
gierigen Schlund zu werfen, sondern mir allenfalls die Typen ansehen
wollen, die an solchen Örtlichkeiten herumprotzen. So fiel es mir
nicht schwer, mir in einer dunklen Seitengasse ein meinem Status gemäßes, einladendes
Autowrack als gepolstertes Hotel auszusuchen.
|
Anderntags wollte ich flott vorankommen und nicht die Côte
d'Azur von Dorf zu Dorf abklappern. An der Autobahnauffahrt brachte mich
schon der erste Lift bis nach Aix-en-Provence, eine Strecke, für
die ich auf der Hinreise zweieinhalb Tage benötigt hatte. Von da fuhr ich
runter nach Marseille, wo ich wegen vereinbarter poste restante aus der
Heimat die Hauptpost aufsuchte, und wurde in der Stadt von zwei Flics
einer Ausweiskontrolle unterzogen. Das lange Umherstreunen hatte
anscheinend an meinem Äußeren deutliche Spuren hinterlassen.
Kein Wunder, dass sie mich nicht ins Casino reingelassen hatten. Nach
Geld sah ich jedenfalls garantiert nicht aus. Trotzdem hielten immer
wieder Autofahrer an, um mich weiterzubefördern, sogar offene
Sportwagen.
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...die Flics schienen es geradezu auf mich abgesehen zu haben... |
In
Marignane wurde ich allerdings von der Autobahn
vertrieben, die Flics schienen es geradezu auf teutonische Tramper
abgesehen zu
haben. Auf ein Bußgeld für unerlaubtes Trampen auf der
Autobahnauffahrt verzichteten die Uniformierten wohl vor allem deshalb,
weil ich nicht so aussah, als
könnte ich ein Knöllchen bezahlen. Unter Polizeiaufsicht
verließ ich also das eingezäunte Autoroute-Gelände
und wanderte zur nächsten Landstraße, auf der ich vor
Einbruch der Dunkelheit noch Avignon erreichte. Dort gönnte ich
mir für die vielen in Francs umgetauschten Lire zur Abwechslung
mal was Süßes, Rosinenbrötchen und Honigkuchen, und
legte mich dann in einer Furche des nahen Weinbergs nieder, denn zum
Glück waren die Temperaturen hier noch recht sommerlich.
|
Wenn der pensionierte General der französischen Armee, der mich am
andern Morgen auflas, geahnt hätte, wo ich die Nacht verbracht
hatte, wäre er vermutlich weitergefahren. Es war ohnehin ein
schwer verdaulicher Schlag für ihn, dass der zugeladene Anhalter ausgerechnet Deutscher war. Vom Lenkrad aus sieht man Hitchhiker am Straßenrand nur
flüchtig vorüberhuschen und muss blitzschnell entscheiden, ob
man anhält oder nicht. Da kann es nicht ausbleiben, dass manch
einer sich wundert oder darüber ärgert, wen er sich da
eingebrockt hat. Der alte Herr fasste sich aber schnell, zeigte
offiziersmäßige Haltung und gab Kunde von historischen
Ereignissen aus dem 1.Weltkrieg; offenkundig bedauerte er sehr, dass
das für mich nur verstaubte Geschichte war. Einen rechten boche seines Alters hätte er sich gewünscht, der auf der
Gegenseite in Verdun im Artilleriefeuer gelegen hatte und mit dem er
hätte fachsimpeln und ein Glas Rotwein trinken können.
|
...in Besançon Besichtigung alter militärischer Festungen... |
Sein
Hobby war die Besichtigung alter militärischer Festungen,
Schlachtfelder und Soldatengräber, und ich trabte immer brav mit
und gab freundliche Bemerkungen zu den Vorlesungen in
französischer Gloire ab, denn dafür wurde ich sogar zum
Mittagessen eingeladen und bis nach Besançon gebracht, eine
beträchtliche Strecke. Ein Peugeot-Werker fuhr mich weiter bis
Montbéliard, und von da aus gelangte ich schließlich noch bis
Belfort. Die Tage wurden jetzt mit jedem Kilometer in nördliche
Richtung deutlich kürzer und die Nächte erheblich
kühler. In Belfort lag schon nasses Laub auf den Wegen, es
nieselte sehr herbstlich vor sich hin. Mit anderen Worten, Deutschland
war bereits ziemlich nahe. Aber glaub bloß nicht, dass damit die
Abenteuer schon zu Ende gewesen wären.
|
Nach
einem als trockenes
und nicht zu kaltes Nachtquartier geeigneten Objekt Ausschau haltend,
tippelte ich in Richtung Ortsausgang. Offenbar hatten mich die am Tage
besichtigten Forts und Festungen inspiriert; als die
Straße von einem bunkerähnlichen Gebilde
überbrückt wurde und sich ein Zugang in dessen Inneres
ohne Gewaltanwendung öffnen ließ, verschwand ich im Bauch dieser
militärischen Antiquität und erkundete die Räumlichkeit
mit Hilfe der Streichhölzer aus Savona. Dass mich kein
militärhistorisches Interesse leitete, will ich nicht
verheimlichen; einen der ineinander
übergehenden, stockfinsteren, fensterlosen, aber trockenen und
sauberen Säle ernannte ich zum Dormitory und machte es mir da
gemütlich. Erst sehr viel später fand ich heraus, dass die
Befestigung ein Teil der berühmten Maginot-Linie zur Abwehr
aggressiver Germanen war...
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...ich machte es mir in der Festung von Belfort gemütlich... |
Hier hätte ich ohne weiteres 24 Stunden an einem Stück
durchpennen können, denn es war totenstill, warm und vor allem
stockfinster. Nur bei sehr konzentriertem Lauschen war von fern wie
eine Meersbrandung das leise Rauschen des einsetzenden Berufsverkehrs
zu vernehmen, was mich zum Aufstehen bewegte, denn ich hoffte, es
möge mein letzter Reisetag werden. Nicht dass ich es vor Heimweh
nach dem begonnenen Semester nicht mehr aushalten konnte oder vom
Reisen die Nase voll hatte, aber als ich blinzelnd ins Freie trat,
empfingen mich dichter Nebel und ein fröstelkühler
Herbstmorgen, was meinem Freiheitsdrang einen starken Dämpfer
aufsetzte. Hier war nicht gut unter Feigenbäumen liegen und Löcher
in
azurblaue Himmelsgefilde gucken, sondern es hieß ranklotzen,
volle Fahrt voraus. Die Nacht zuvor hatte ich noch im Freien geschlafen
und bis zum Morgen nicht gefroren, aber heute schien der Winteranfang
unmittelbar bevorzustehen.
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In
dieser milchigen Nebelsuppe wird nur jemand anhalten, der sich gut
auskennt und weiß, wo er mal schnell rechts ranfahren kann. Auch
meine Schönheit wird für heranbrausende Fahrzeuge erst im
letzten Augeblick
sichtbar, was die Reaktionsphase für die Entscheidung zum Anhalten
noch weiter verkürzte. Andrerseits schlichen hier alle Autos doch
so vorsichtig einher, dass eigentlich nicht zu übersehen war,
was für ein charmanter junger Mann da um eine Mitfahrgelegenheit
ersuchte. Ein Kerl mit Milchbart, der sich an der Uni in
Straßburg
einschreiben wollte, kam, sah und stoppte. Von Straßburg aus ging
es durch das Rheintal, aus dem all der Nebel zu quellen schien,
rüber nach Kehl, wo die restlichen Lire aus der Toscana in DM
verwandelt wurden und ich mir auf das Wohl der langbeinigen
Italienerin, ihrer pontebuggianesischen Jugoslawin und deren
Alfa-Romeo-Freundes einen
Morgenkaffee gönnte.
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...in der milchigen Nebelsuppe des Rheintals... |
Trotz geballter Hitchhiker-Konkurrenz, alle
auf Heimfahrt, erwischte ich einen Franzosen, der mich bis nach
Bühl brachte, wo ich, wie ganz zu Anfang meiner Reise, nur durch
einen mutigen Hechtsprung in die nasskalten Brennnesseln einer
Polizeistreife entging, die es offenbar weniger frustrierend findet,
Anhalter von Autobahnraststätten zu vertreiben, als richtige
Gangster zu fangen. Als die Luft wieder rein war, lief das
Geschäft. Rastatt, Ettlingen, und dann, so freute ich mich, mit
etwas Glück vielleicht noch heute bis Mannheim oder sogar
Frankfurt, wenn das so weiter geht. Es ging aber nicht so
weiter. Nix Mannheim, dachte ich nach einer Stunde vergeblicher
Wartezeit, aber wie so oft kündigte sich auch das letzte Abenteuer
durch einen vorangehenden Frust an.
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Es
hielt nämlich ein
Geschäftsmann aus Moers an, mit dickem Mercedes, der bis ins
Ruhrgebiet fahren wollte. Das war meine Rettung; im behaglich
warmen, weichen Daimler glitt ich zufrieden in den diesigen
herbstlichen Nachmittag hinein, bis auf einmal Unerwartetes geschah:
Der
Fahrer tat kund, der Wagen ziehe nicht mehr so recht, kurz darauf
fing der Motor an zu stottern, und die flotte Fahrte endete etwas
unrühmlich: Der stolze Benz stand auf dem Seitenstreifen und sein
Fahrer auf dem Schlauch. Mit Bilanzen kannte der Businessman sich
zweifellos besser aus als mit Automotoren, und dass alle Versuche, den
Anlasser totzuleiern, dem Auto seine einstige Munterkeit nicht
zurückbringen würden, wusste ich besser als er. Drei Monate
lang hatte ich in der Fahrschule beim Bund an Jeepmotoren
herumgeschraubt und wusste, dass bei Maschinen gutes Zureden wenig
hilfreich ist. Kaputt ist kaputt. Ich musste dem guten Onkel aus der
Patsche helfen, das war mir klar, aber ein Mercedes ist kein Jeep, und
wenn da kein loses Kabel unter der Motorhaube deutlich sichtbar
heraushängt oder irgendwo Rauchwölkchen aufsteigen,
weiß ich auch nicht weiter.
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Um
nicht tatenlos zu bleiben,
untersuchte ich "fachmännisch" Kühlwasser und Ölstand,
schraubte sogar die Zündkerzen heraus und rubbelte sie blank, nahm
den Verteilerdeckel ab und wischte ihn trocken, vertrieb sogar mit
meinen italienischen Streichhölzern daraus die letzte verbliebene
Feuchtigkeit und überprüfte alle Zündkabel - allein, die
Mühe war vergeblich, so ein Mist. Da hatte ich einen Lift, der
mich
glatt bis ans Ziel befördert hätte, und nun stand ich an
der Autobahn und schraubte an fremden Autos herum. Wie staunte der
Autofahrer, als ich ihn schließlich darüber aufklärte, dass es auch
kostenlose Pannentelefone gibt und dass an den Plastikpfosten der
Leitplanken kleine Markierungen angebracht sind, die in die Richtung
des nächsten Telefons weisen. Das war dem Herrn, der
jährlich tausende Kilometer die Autobahn rauf- und runterdonnert,
vollkommen unbekannt. Ich sprintete zum Notruf, ließ die Helfer
vom ADAC kommen, die erneut ein bisschen in den Eingeweiden des
Daimlers herumfummelten und ihn dann, samt Insassen, an den Haken
nahmen und bei Pfungstadt in eine geöffnete Autoklinik
einlieferten, wo ein paar ölverschmierte Jungs die Kalesche in
einer halben Stunde wieder fit machten, obwohl die Uhr schon zwei
Minuten nach 17 Uhr zeigte.
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...ich sprintete zum Notruf und ließ die Helfer vom ADAC kommen... |
Wie
strahlte der Businessman, als sein Mercedes wieder gehorsam zu
tuckern begann, als wäre nichts gewesen, und konnte es kaum
fassen, dass die
Abschlepperei durch den ADAC kostenlos war, weil ich dusseligerweise
zufällig in meinen Papieren meinen Mitgliedsausweis
mitgenommen hatte.
"Ich hätte den ADAC-Leuten nicht mal sagen können, wo mein Auto stehen geblieben ist", gestand er freimütig. "Och, das steht an dem Telefon dran, man braucht es nur abzulesen", meinte ich lässig, als hätte ich damit jahrelange Erfahrung. Aber als Anhalter weiß man auch quasi instinktiv, wo man sich gerade befindet und wie viele km es bis zum nächsten Ziel sind. Jedenfalls war der Herr so dankbar, dass er mir ein dickes Trinkgeld aufdrängte und sich erbot, mich bis vor meine Haustüre zu chauffieren, aber weil er ohnehin schon viel Zeit verloren und noch einen weiten Weg vor sich hatte, ließ ich mich nur ein Stück in meine Heimatstadt hineinfahren und nahm den Bus bis nach Hause, wo ich um 19:41 Uhr der grenzenlosen Freiheit ade sagte, mir den Reisestaub aus den Jeans klopfte und mein Reisebündel auseinandernahm. Dabei geriet mir ein beinahe schon vergessener Brocken Amethyst in die Finger... |
Dieser längst verschollen geglaubte Reisebericht tauchte im Jahre
2024 aus einem Stapel von alten Papieren wieder auf, handgetippt auf einer antiken
Schreibmaschine. Beim Digitalisieren zur
Veröffentlichtung auf dieser Reiseseite konnte Old Schnorrerfrank
der Versuchung, einige zeitgemäße Ausdrücke und
Kommentare einzufügen, nicht widerstehen, aber davon abgesehen sind
alle Flops und Highlights in alter Originalfrische erhalten geblieben.
Die Apothekerfamilie in Brécey lud Frank im nächsten Sommer erneut ein und feierte mit ihm ein herzliches Wiedersehen auf seinem Weg zu einer Trampfahrt auf die britischen Inseln (nachvollziehbar unter dem Titel "Take it easy"). Zwei Jahre später, nachdem er an der Uni erfolgreich Spanischkurse absolviert hatte, unternahm Frank mit Juan Alfonso in dessen 2CV eine große und sehr abenteuerliche Europareise, die bedauerlicherweise nicht schriftlich dokumentiert ist. Die Ente rollte von Spanien aus via Deutschland über die Alpen und Bulgarien bis in die Türkei und gelangte via Hellas und Jugoslawien auch wieder heil nach Spanien zurück. Die Freundschaft hielt noch lange an, aber nach einigen weiteren gegenseitigen Besuchen verlor man sich aus den Augen, weil ein jeder vom eigenen Leben hierhin und dorthin geworfen wurde, es ist nicht anders als mit dem Hitchhiken, das auch nur selten ohne Umwege direkt zum Ziel führt. Grissenda ist Krankenschwester und rundlich geworden und schickte Frank ein Foto mit Häubchen und weißem Kittel. Auf seine Sardegna-Fahrt ging sie mit keinem Wort ein. Heute besteht kein Kontakt mehr; sicher ist sie glücklich verheiratet und hat elf bambini und nipoti. Aber mit Sardegna hat Frank noch viele Kontakte gehabt, er fand neue, unglaublich nette Freunde und lernte die Insel und ihre Bewohner bei mehreren Besuchen recht gut kennen und noch viel mehr schätzen. |
...Grissenda mit Schwesternhäubchen... |
In den Folgejahren trampte Frank durch ganz Europa, vom skandinavischen
Polarkreis bis nach Portugal, von Irland bis Sizilien, von Scotland bis
ins tiefe Anatolien. Er lernte dabei nicht nur Europas Landkarte
kennen, sondern auch dessen Bewohner samt regionalen Eigenheiten und
Vorurteilen. Den Schweden, der ihm allen Ernstes erklärte, die
Dänen seien "die Araber Skandinaviens: sie lügen und
betrügen", oder den Flamen, der ihn als "Rassist" schmähte,
weil Frank ihn, in Wallonien, auf Französisch angesprochen hatte.
Dabei sind dem Frank die Flamen nicht weniger lieb als die Wallonen,
die Dänen ebenso sympathisch wie die Schweden, Piemonteser nicht
angenehmer als Calabresen, die von Norditalienern als "terroni"
(Erdlochbewohner) geschmäht werden. Ob Iren oder Polen, ob Korsen
oder Lappen, alle sind sie Europäer wie Frank, und er kann aus
guter eigener Erfahrung allen Zweiflern versichern, dass Fieslinge und
nette Kerle, dumme Zicken und charmante Damen in allen Regionen genau gleichmäßig verteilt sind.
Leider hat Frank über seine anderen Trampreisen keine Aufzeichnungen hinterlassen, aber die Abenteuer dieser Fahrt waren keine Ausnahme, sondern es trugen sich auch auf anderen Reisen unglaubliche Dinge zu. Die geschiedene Dänin, die Frank zu gemeinsamer Übernachtung in ihrer Wohnung aufforderte, der homosexuelle französische Opernsänger, der Frank als Entgelt für homosexuelle Handlungen eine Nacht mit seiner Ehefrau offerierte, die Griechin, die den Frank unbedingt heiraten wollte und ihm bis nach Deutschland hinterherreiste.... Keines dieser Anerbieten hat Frank angenommen, er wollte nur Land und Leute und die jeweilige regionale Küche kennen lernen. Insgesamt ist es ihm wohl bekommen. Unfallfrei und gesund erreichte Frank das Erwachsenenalter und heiratete, weil ihm Europa zu eng geworden war, schließlich seine Freundin Ka aus Tokyo, wo er den perfekten Job fand und bis heute ansässig ist. |