zhongguo

CHINA 11

drach19

 

CHONGQING

 

rikscha

 

Nachdem wir der Welt aufs Dach gestiegen sind, blähen sich nun unsere Lungen wieder in der würzigen, anrüchigen Sichuan-Smogluft im trauten Chengdu. Das Wiedersehen wird mit einem währschaften Mahl im berühmtesten Restaurant der Stadt, dem "Chengdu Canting", gefeiert, wo üppige vier Gänge rarer Sichuan-Spezialitäten für 2 Personen nicht mehr als 12 Yuan kosten. Draußen pladdert derweil ein zünftiger Wolkenbruch herunter, der erste Regen seit Lanzhou, und es scheint, als seien wir nach dem Abstieg von besagtem Dach der Welt direkt unter dessen Traufe geraten.

Auch im "Chengdu Canting" lässt der Koch um Punkt 20 Uhr die Kelle sinken, und die Kellnerinnen beginnen, demonstrativ die Stühle an den leeren Tischen hochzustellen. So legt der bedrängte Gast, der dem wohlverdienten Feierabend der Werktätigen nicht im Wege sitzen möchte, einen Schlag zu, sofern er geschickt mit den Stäbchen umzugehen versteht, wendet sich noch kauend und gräten-speuzend dem Ausgang zu, wo glücklicherweise auch die Gewitterhersteller schon Feierabend haben und nur noch der Abendhauch vereinzelte Tröpfchen von nassen Baumwipfeln bläst.

Für die Weiterfahrt nach Chongqing haben wir, wie auch anders kaum erwartet, mal wieder nur harte Sitzplätze bekommen können, und auch die erst für den folgenden Tag; es lässt sich nicht länger verheimlichen, dass auch in China in dieser Jahreszeit Ferien- und Reisezeit ausgebrochen ist. Bis zur Abfahrt des Nachtzuges treiben wir uns vorwiegend im Wangjiang-Park herum, einer weiten Parkanlage voller Wuselvolk mit ausgedehnten Bambuswäldchen, in denen sich Liebespaare so emsig miteinander befassen, dass die hungrigen Schnaken sich lustvoll die Wampe vollschnorcheln können, Dracula würde erblassen vor Neid.

 

chengdupark

Wangjiang-Park vor dem Regen

 

Nichts aber ist vollkommen in dieser schnöden Welt; auch das dichte Bambusgrün nützt wenig, wenn der bleierne Himmel unversehens die Schleusen öffnet, und auch wir flüchten aus müßigem Lustwandeln wie von der Tarantel gestochen unter das nächste Dach, das sich jedoch trotz seiner anmutig geschwungenen Linie als dasjenige einer öffentlichen Bedürfnisanstalt erweist, man kann es nicht überriechen. Wo es stinkt, da lass dich bloß nicht nieder, lautet ein altchinesisches Sprichwort, dem wir Folge leistend das nächste Dach ersprinten, das eine Autoskooter-Bahn überdeckt. Erschrocken über diese geballte kapitalistische Dekadenz versuchten wir es noch ein Dach weiter, wurden jedoch auch dort total enttäuscht: In dieser Billardhalle lungerten am hellichten Werktage Jungs im allerbesten Alter herum und versuchten, mit großen Stäbchen bunte, paozi-artige Plastikkugeln in irgendwelche Abflusslöcher zu bugsieren, anstatt Mao-Schriften zu studieren oder Zuckerrüben zu hacken. Die restlichen Dächer ließen wir unbehelligt, um nicht noch der letzten Illusionen über das Wesen des großartigen Marxismusleninismusmaoismus verlustig zu gehen.

Ein milder Abend, zwei Stunden noch bis zur Abfahrt des Zuges. Im Bahnhof das übliche Tohuwabohu durcheinanderquirlender Leibermassen und Gepäckberge, aber vor dem Bahnhof eine wackelige Holzbank mit riesigem Sonnenschirm. Warum sich außer uns da niemand hinsetzte, merkten wir bald, nachdem wir in aller Ruhe ein wenig die Gegend beäugt hatten. Das ist nämlich der Dienstsitz eines Alten, der den Moped-Parkplatz bewacht; die sieben Mopeds kann er von seiner Bank aus gut im Blick behalten, aber jetzt sitzen wir da. Zwei-, dreimal schielt er verdrossen herüber, aber als ich die Lage erfasst habe und mich erbietig zeige, seinen Thron freizugeben, winkt er großzügig ab. Na gut, aber er ahnt wohl nicht, dass wir noch knapp zwei Stunden da sitzen bleiben werden....

Nach dem Ende unseres Sit-ins kriegt er dafür aber eine Tafel Schokolade vom letzten CAAC-Flug, für die Enkelkinder, und da freut er sich gewaltig drüber.

Auch die Nacht mussten wir auf hartem Gestühl aussitzen. Die Ventilatoren waren außer Betrieb, so dass alle Zugfenster weit offen blieben, und das im dritten Waggon hinter der Dampflok! Also wer mit Dampfloks weniger vertraut ist, der darf mir glauben, dass die Passagiere am andern Morgen nicht nur übernächtigt, sondern auch wie Bergleute nach dem Schichtwechsel aussahen. Hemden und Blusen haben Trauerränder bekommen, und man brauchte nur die Augen rollen, um den Ruß knirschen zu hören.

Der Einzug in Chongqing ist tunnel- und brückenreich, denn diese zweite Metropole Sichuans ist eine der wenigen Städte Chinas, die nicht platt sind wie eine Pingpongplatte (Pingpong heißt auf Chinesisch übrigens Pingpang und ist ein aus dem Englischen entlehntes Fremdwort, für desssen Schreibung eigens Schriftzeichen geschaffen worden sind). Auf einer äußerst hügeligen Landzunge am Zusammenfluss des Flusses Jialingjiang mit dem Strom Yangzijiang zieht sich der Häuserbrei von Chongqing in die Länge. Es wird immer dichter und enger, und wenn der Zug sozusagen stecken bleibt und nicht mehr weiter kann, ist er im Sackbahnhof von Chongqing angelangt, wo schon die Taxi-Häscher und Rikscha-Spezis auf die Rucksäcke warten, die aus dem herausquellenden Fahrgaststrom hervorragen.

 

7huegel

Weltstadt auf mindestens 7 steilen Hügeln

 

Wir haben's bisher fast immer mit öffentlichen Verkehrsmitteln gehalten und bleiben auch in Chongqing dabei. Mit eisig-abweisenden Gesichtern überstehen wir den Spießrutenlauf durch das Spalier der "Taxi to Binguan"-Rufer. Schon haben wir den Bahnhofsvorplatz erreicht und wähnen uns jeglichem Ansinnen entronnen, da saust schon wieder jemand auf uns los, kaum dass wir kurz einmal stehen bleiben und uns nach Bushaltestellen umschauen. Man muss, falls man seinen Stolz hat und auf eigene Faust mit einem stinknormalen Massentransportmittel fahren will, ein so gelangweiltes Gesicht machen, als sei man schon zum achtundzwanzigsten Mal in der Stadt gewesen und kenne sich bestens aus. Schaut man auch nur einen Augenblick ratlos oder suchend umher oder kramt seinen Stadtplan aus der Tasche, kommen gleich die Taxigeier angeflattert.

Die hübsche, junge Dame hatte derlei allerdings nicht im Sinn, sondern wollte nur ihr Englisch polieren, wofür ich ihr artige Komplimente machte, die sie sich redlich verdiente. Fluently erzählte sie, während sie uns durch das Menschenmeer zu einer Zahnradbahnstation lotste, dass sie Abteilungsleiterin in einer Foreign-Trade-and-Import-Company sei, und während uns die Zahnradbahn, brechend voll natürlich, zwischen engen Häuserschluchten hügelan hievte, erfuhren wir auch noch, dass ihr Gatte einer der ihr unterstellten 80 Angestellten sei, aber sie habe ihn dienstlich nach Chengdu reisen lassen. Rumpel, die Zahnradbahn ist oben angekommen, und da, endlich, gibt es auch Bushaltestellen. Wir erfuhren noch, dass sie es ganz praktisch finde, sich ab und zu ihren lieben Husband dienstlich vom Halse schicken zu können, und dass sie die gattenlose Zeit durchaus zu genießen wisse, aber bevor sie uns noch erzählen konnte, mit wem und auf welche Weise sie sich in der Zwischenzeit zu vergnügen pflegte, kam leider unser Bus, und es trennten sich die Wege.

 

zahnradbahn

Zahn um Zahn bewegt sich der Chongqinger in vertikaler Richtung

 

chinerick

Chinericks Kommentar:

'ne Schnake in Chongqing preist laut die Partei:
"Ich stimme der Lib'ralisierung voll bei!
Seit sämtliche Hecken
voll Knutschpärchen stecken,
saug' ich gefahrlos und sorgenfrei!"


Das Binguan, das wir schließlich nach zweimaligem Umsteigen auch ohne Taxi erreichten, ist wieder einer jener Märchenpaläste, vor deren Toren sich das einheimische Volk, das keinen Zutritt hat, die Augen aus dem Kopf guckt und Hochzeitspärchen für Erinnerungsfotos posieren.
Der Tiantan-Tempel in Beijing muss vor Zeiten einmal schwanger geworden sein und in Chongqing ein Ei gelegt haben, aus dem ein Nachkomme ausgebrütet wurde, der seinem Beijinger Elternteil recht ähnlich sieht. Ein weiteres Tiantan-Ei ist nach Taiwan geraten und am Shanhudan (Korallensee) zu einer hässlichen Missgeburt herangewachsen.

Der Rundling von Chongqing ist heute jedenfalls das Fremdenheim, nachdem dank der Kulturrevolution kein Bedarf mehr an Sinfoniehallen mehr bestand, denn die Tiantan-Torte ist ursprünglich als Philharmonie von Chongqing errichtet worden. Nach dem Roll over Beethoven der Roten Garden sind heutzutage Beathöfe und Beethoven wieder "in", aber nun ist's zu spät, denn der Konzertsaal ist bereits in Einzelzellen zerlegt worden, in denen Funktionäre und Touristen verstaut werden. Sogar eine Klimaanlage zeugt mit herzhaftem Getöse als Generalbass in diesen musischen Hallen von ihrem Funktionieren, und das ist auch nötig in Chongqing, unter dessen dunstschwerem Himmel eine mehlige Hitze brütet.

 

beethovenhalle

Tiantan-Enkel, erst Beethoven-Tempel, dann Touristenherberge

 

Einer der 6 Millionen Einwohner der Schwerindustrie-Metropole Chongqing ist der Herr Liu, ein dürres Männlein, das immer gerne lächeln möchte, aber stattdessen nur einen ängstlich-besorgten Ausdruck zuwege bringt, der in einem merkwürdigen Gegensatz zu seinen freundlichen Worten steht. Von Beruf Mathematiklehrer, spricht aber gut verständliches Englisch, wenn auch mit deutlichem Sichuan-Einschlag, und weil er so nett ist, laden wir ihn zum Mittagessen ins Tiantan-Restaurant ein. Angesichts der Preise auf der Speisekarte vertieften sich die Sorgenfalten auf seiner Stirn erheblich, und das teure Menü mundete ihm sichtlich nicht. Nach jedem zweiten Bissen bahnte sich ein erneuter Vorwurf den Weg durch den vollen Mund, dass man in Chongqing für einen Bruchteil dieser Preise wesentlich besser speisen könne, was wir ihm aus eigener Erfahrung in anderen Städten sehr gerne glauben wollen - nur kennen wir uns in Chongqing leider noch recht wenig aus.

Auch in den Binguan-Restaurants kann man bisweilen gut und preisgünstig speisen, und auch hier war das Essen keineswegs übel, aber die Reue über das vergeudete, teure Geld, auch wenn es nicht seines war, verursachte dem Herrn Liu, der 65 Yuan pro Monat verdient, offenkundig Magengrimmen. Am Ende bedankte er sich mit seinem sorgenzerfurchten Gesicht und eröffnete uns, dass er uns am nächsten Tag in ein anderes Restaurant seiner Wahl einladen wolle, in dem man Sichuans köstlichste Delikatessen zuhauf kredenzt bekommt und sich wie im Schlaraffenland durchfressen muss. Na gut, Herr Liu, also bis morgen!

 

yangzihafen

Alle Dampfer warten auf Touristen zu den Yangzi-Schluchten

 

"Nach Chongqing fahrt ihr? Und von da aus dann sicher mit dem Riverboot den Yangzijiang runter?"
In allen Guidebooks ist Chongqing praktisch nur als Startpunkt für die Flussreise durch die berühmten Yangzi-Schluchten aufgeführt, und Ausländer, die diese Stadt auf ihrer Reiseroute haben, treffen sich früher oder später am Hafen oder auf dem Kahn und schunkeln dann auf der industriebraunen Suppe des Yangzi nach Wuhan. Damals ahnten wir nicht, dass diese Schluchten zwei Jahrzehnte später dem zwölften Fünfjahresplan zur Energiegewinnung zum Opfer fallen würden, und sahen uns den Hafen nur von oben an, vom Oling-Park aus, der auf einem der sieben oder mehr Hügel der Innenstadt grünt, denn für lange Flussreisen reicht die Zeit leider nicht mehr. Hier auf dem Hüppel, fast 250 m über den beiden Flüssen, weht ein lindes Höhenlüftchen den Leuten die Hüte vom Kopf und das Laub von den Bäumen, als sei der Herbst schon nahe. Im Zentrum der Stadt, um das monströse Marzipan-Denkmal zur Befreiung, geht kein noch so zaghafter Hauch, und der Smog der Stadt scheint einzig von den schwitzenden, sich träge über die autoverkehrfreien Straßen wälzenden Menschenströmen gespeist zu werden.

Hier schließen die Restaurants wohl noch früher als in Chengdu, im Abenddämmern ist überall schon der Rollo unten, und wo es nach Gebrutzeltem riecht, da werden nur die Pfannen gescheuert. Uns bleibt als Trost nur eine Wassermelone vom letzten noch offenen Marktstand und die Vorfreude auf Herrn Liu und seinen Geheimtipp. Bis dahin testen wir am trüben nächsten Vormittag die nun geöffneten Fresserias rund um das Befreiungsmonument, soweit es uns gelingt, aus dem sonntäglichen Menschenbrei herauszustrampeln, und geraten nach einiger Zeit des Anstehens an einen flotten, privaten Jiaozi-Betrieb, wo uns derart wohlschmeckende Sichuan-Jiaozi (chinesische Ravioli) vorgesetzt werden, dass wir noch eine zweite Portion nachfassen. Das Ideal der Cuisine von Sichuan ist nämlich, dass die scharf gewürzten Speisen indes nicht so scharf sind, dass der Pepp den Geschmack übertönt, sondern so, dass sie erst hinterher brennen.

 
piggy

Schwein gehabt, falls du gerade hungrig bist !

 

In den umliegenden Gassen reiht sich schon wieder ein endloser Altstadt-Markt entlang, von sozialistischer Mangelwirtschaft keine Spur. Das verdanken die Chinesen jenem listigen Männlein mit dem Katzen-Spruch (siehe Home!); auch an Fleisch mangelt es nicht im mindesten, die Sowjetbürger würden gelb vor Neid. Halbe Ochsen und Schweine gefällig? Kein Problem. Lebende Enten und Hinkel? Jede Menge! Knusprig rotbraun gegrilltes Spanferkel zum Mitnehmen? Jederzeit, kostet nur 19 Yuan. Und zwischen all dem leckeren Ziefer ringelnd glitschende Aale, die an Ort und Stelle einem Wasserbottich entnommen, von einem spitzigen Eisen mit dem Kopf auf ein Holzbrett genagelt und mit zwei, drei Handbewegungen der Länge nach aufgeschlitzt, ausgenommen und geköpft werden, das Ganze dauert keine halbe Minute.

 

aal

FressAALien gibt es überAAL

 

Nach einem Besuch im Flusshafen, wo die Yangzi-Dampfer liegen und Flussfähren bunt gemischtes Volk mit Säcken und Päcken ausspucken, und einem Besuch des Pibashan, eines weiteren Aussichtshügels von Chongqing, dampft bald eine ganze Ladung der zuvor verhackstückten Aale gedämpft auf unserem Tisch, und schmunzelnd lädt uns Herr Liu, unser großzügiger Gastgeber, nach chinesischem Brauch diese und viele andere Delikatessen auf die Teller. Selbst sein Schmunzeln kriegt er offenbar nicht ohne Sorgenfalten hin, aber dafür lächelt seine mitgebrachte Gattin umso liebenswürdiger. In ihrem hübschen Feiertagskleid passt sie so gar nicht zu ihrem dürren, unauffälligen Mann, und dass beide so fließend Englisch parlieren, rührt gewiss daher, dass die nette Dame von Beruf Englischlehrerin ist.

 

mr.liu

Sorgenfaltiges Lächeln - Herr Liu und Gemahlin

 

In der Tat war das frugale Mahl das beste seit der Ente in Beijing. Außer Aal und Meergeziefer gab es noch Pfauen, Karnickel, Phönix-Eier, Einhorn-Lende, Drachenschuppen und andere geheimnisvolle Schätze der Cuisine von Sichuan, und wer sich beschwert, dass dieser Reisebericht in eine Art Michelin-Führer abzugleiten droht, weil der Frank nur vom Essen schwadroniert, dann sei er belehrt, dass nur Banausen sich in Sichuan mehr für Riverboats und Museen interessieren, die wichtigste Attraktion der Region hingegen unbeachtet lassen.

Jedenfalls hatte der Herr Liu mit seinem Monatsgehalt von 65 Yuan, auch wenn es hier nicht allzu teuer sein mag, heute weite Spendierhosen an, hoch soll er leben!

 

tanz2

 

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