TIBET 1
LHASA
Tibet ist das Land innerhalb des chinesischen Imperiums, welches ausländischen Einzelreisenden am längsten und beharrlichsten verschlossen blieb. Selbst in jüngster Zeit publizierte Reiseführer für Individualreisende machen den Lesern keine Illusionen; seit der Annektion Tibets durch die Volksrepublik ist nur wenigen fremdländischen Individuen, entweder mit einer ausnahmsweisen Sondergenehmigung oder auf heimlichen, illegalen Wegen, der Versuch geglückt, bis nach Lhasa vorzudringen, während es für Pauschalurlauber erstaunlicherweise ohne weiteres möglich war, auch Lhasa auf die Reiseroute zu setzen. Für diese widersinnig anmutende Situation gibt es zwei einleuchtende Begründungen. Erstens ist Tibet seit der Annexion und der misslungenen Revolte von 1959 ein Unruheherd ersten Ranges, denn keine Bevölkerungsgruppe begegnet den chinesischen "Befreiern" mit so viel Abweisung und Feindseligkeit wie die Tibeter. Und seit die Roten Garden während der Kulturrevolution auch in Tibet kräftig zuschlugen und dem Volk, dem die Religion wichtiger ist als alles andere, 90% seiner Tempel und Heiligtümer zu Kleinholz machten, sind die Chinesen in Tibet so beliebt wie die Russen in Afghanistan und die Amerikaner im Irak, mit dem Unterschied, dass das zahlenmäßig kleine, traditionell friedfertige tibetische Volk nicht an bewaffneten Widerstand denken kann. Wo immer man jedoch Tibetern begegnet, die Englisch oder Chinesisch sprechen, machen sie keinerlei Hehl daraus, dass sie sich im Zustand der Besatzung durch eine feindliche, imperialistische Großmacht fühlen.
So ist der Hauptgrund dafür, dass Lhasa für Einzelreisende bisher off limits war, darin zu suchen, dass die Chinesen Verbrüderungsszenen zwischen tibetischen Mönchen und westlichen Bhagwan-Jüngern tunlichst vermeiden wollten. Der zweite Grund ist wohl die Lage der Hotellerie, so weit sie überhaupt existent ist. Das einzige Hotel, das diesen Namen verdient, liegt etwa fünf Kilometer außerhalb der Stadt Lhasa und ist nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar. Eine Übernachtung kostet dort 150 Yuan in FECs, etwa gleich viel wie in der Münchner Innenstadt. Mit anderen Worten: Als Dollarspender sind die Touristen willkommen, und hier hat man sie perfekt unter Kontrolle, denn da sie nur mit dem hoteleigenen Bus zu den Sehenswürdigkeiten gelangen, besteht wenig Gefahr, dass sie auf dumme Gedanken kommen und womöglich auf eigene Faust durch Lhasa stromern.
Tür in der Altstadt von Lhasa |
Was die Obrigkeit dazu veranlasst haben mochte, ab September 1984 Lhasa versuchsweise bedingt (nur mit Travel Permit) zu öffnen, darüber kann man nur spekulieren. Am wahrscheinlichsten klingt die Version, dass die neue chinesische Politik zur schleunigen Entwicklung Tibets den Tourismus als wichtigen Faktor in ihre Planungen einbezieht und das eine Jahr der probeweisen Öffnung als Testlauf betrachtet. Seit September 1985 ist Tibet jedenfalls wieder unzugänglich, denn danach steht die Feier zum "20.Jahrestag der Errichtung der Autonomen Region Xizang (Tibet)", und im folgenden Frühjahr der 30.Jahrestag der "Befreiung" Tibets (von der Unabhängigkeit?) an, und Realisten in der chinesischen Führung befürchten wohl, dass bei den heftigen Freudenausbrüchen der Tibeter anlässlich dieser Feiern die Armee zum Einsatz kommen werde. Vorsichtshalber errichtet eine chinesische Brigade am Ortseingang von Lhasa schon einmal ein Marmordenkmal mit der Inschrift (auf Chinesisch und Tibetisch): "Dank den heroischen Kämpfern der Volksbefreiungsarmee...." und ähnlichem Schmonzes. Der Dalai Lama bekäme einen Schluckauf, wenn er das sähe, aber keine Bange, so einen Revolutionskitsch muss sich die Volksbefreiungsarmee schon selber errichten, die Tibeter denken nicht daran. Immerhin dürfen neuerdings in der Verwaltung ihrer "autonomen Region" vereinzelt auch Tibeter mitwirken, und ganz Lhasa ist derzeit eine einzige Baustelle mit Schwerpunkt Anlegen von Parks und Restauration von Tempeln und Klöstern, so dass in nicht allzu ferner Zukunft Tibet tatsächlich ein touristisches Zentrum ersten Ranges werden könnte und man kaum am Ernst der Kampagne zur Entwicklung Tibets zweifeln kann.
Wir jedenfalls zählten dank glücklichen Timings zu den Erlesenen, die just in der kurzen Periode, da Tibet die Türe einen Spalt weit öffnete, hineinschlupfen konnten. In Beijing setzte man uns das beantragte Lhasa ohne Murren in das Travel Permit, in Chengdu stellte man uns gegen Vorlage der Reiseerlaubnis anstandslos das Flugticket aus, und so düsten wir auf den Flügeln der CAAC (China Airways Always Cancels) aus den smogtrüben Tiefen von Sichuan über die Zinnen des Himalaya aufs Dach der Welt hinauf --- der momentan einzig zugelassene Weg nach Tibet. Aber nur offiziell; es muss sich in Windeseile herumgesprochen haben, dass Tibet für Globetrotter geöfffnet sei, und all die Burschen, die sonst in den Pripjet-Sümpfen und Atacama-Wüsten, bei den Hottentotten und Kopfjägern, in Kaschmir und Grønland gezeltet haben, fluteten nach Tibet, eine Woge von Nirwana-Süchtigen und Marihuana-Jüngern, von Yogi-Adepten und Himalaya-Freaks überflutete die Grenzen, und die armen Grenzwächter, die bislang "China" nur vor indischen oder nepalesischen Hirten zu hüten hatten und allenfalls verirrte Jeeps oder Yaks zu Gesicht bekommen hatten, ließen sich von den bärtigen Rucksack-Tramps belabern, die ihnen Zeitungsberichte von "Tibet is opened" unter die Nase hielten, und Lhasa scheint beinahe im Begriff zu stehen, ein zweites Poona oder Kathmandu zu werden. All das genannte Pack trifft sich in Lhasa zuverlässig im "Snowland Hotel", wobei das Wort "Hotel" eine maßlose Protzerei ist. Aber davon noch mehr an anderer Stelle.
Lhasa-Architektur: Das Snowland Hotel |
Zuerst raubt Tibet dem Ankömmling, der da aus der Turbopropmaschine klettert, fast alle Sinne: Der strahlend helle Himmel mit seiner glasklaren Luft blendet jeden, der gerade aus Sichuans Dünsten aufgetaucht ist, und wer allzu forsch die Gangway herunterhaspelt und über das einsame, von Weiden und Wiesen gesäumte Flugfeld zu der Empfangshütte eilt, der kann schon am Vormittag himmlische Visionen flimmernder Sterne erleben, denn die dünne Luft bringt sich in dreieinhalbtausend Metern Höhe schnell in Erinnerung.
Nicht einmal vom Flugzeug aus ist Lhasa zu sehen gewesen, geschweige denn nach dem Aussteigen. So majestätisch sich die Himalaya-Spitzen von oben betrachtet unter uns dahinfalteten, so wenig ist nun davon sichtbar: Die Schneegipfel sind fern, hier erhebt sich ringsum nur braunkahles Gebirge, während im kargen Tal ein fast klares Flüsschen vor sich hinrinnt. Zweieinhalb Stunden rumpelt der CAAC-Bus mit allen Passagieren des Flugzeugs auf Lhasa zu, und die junge Tibeterin, die mit ihrem Gatten ganz in der Nähe sitzt, scheint vor Freude darüber, dass die Heimat so nahe ist, völlig aus dem Häuschen zu sein. Mit strahlendem Gesicht und nimmer versiegenden Lachgrübchen zupft sie mich und andere in Reichweite sitzende Ausländer immer wieder am Ärmel, zeigt nach links, wo ein Buddha-Relief in den Felsen gehauen ist, zeigt nach rechts, wo sich ein fernes Bergdorf an den Hang eines weiten Bergrückens schmiegt, zeigt nach hinten, wo eine imponierende Klosteranlage hinter einer Felsnase kurz auftaucht --- eine perfekte, wenngleich stumme Reiseführerin. Als sie nach vorne zeigt, machen alle Ausländer verwunderte Gesichter, denn nichts Außergewöhnliches ist zu sehen. Aber sie starrt wie gebannt nach vorne und haucht dann, nach einer sanften Rechtskurve, wie verzückt "Potala !"
In diesem Augenblick erscheint tatsächlich, in weiter Ferne, zwischen den Bäumen am Straßenrand jener mächtige Felsberg im Herzen von Lhasa, auf dem wie eine Krone eines der Sieben Weltwunder thront, der Potala-Palast, das Zentrum von Tibet und dem lamaistischen Buddhismus, eines meiner langjährigen Traum-Reiseziele.
Reiseziel meiner Träume: Der Potala-Palast |
Von den Städten Chinas unterscheidet sich Lhasa nicht alleine dadurch, dass es über allen anderen liegt. Es ist eine Doppelstadt, in deren einem Teil die Chinesen leben und deren anderen Teil die Tibeter bewohnen. Und das macht den Unterschied aus: Nichts gegen die Chinesen, aber ihre Wohnviertel im weiten Umkreis um den Potala-Berg sind völlig gesichtslos, graue, braune, unscheinbare Schuhkartons ohne Historie, Geschmack und Tradition. Im Osten der Stadt aber, vom Ostende des Renmin-Boulevards aus, gelangt man in den tibetischen Teil der Stadt. Schmucke, steingemauerte Wohnhäuser, weiß getüncht, die Fensterrahmen aus dicken Holzbalken farbig verziert, über den Fenstern bunte Markisen, Blumen auf den Fensterbänken und reich ornamentierte Türen. Es ist, als wollten die Tibeter den Chinesen zeigen, dass hier ihre Welt, ihre Kultur, ihre Tradition ist, die mit China nichts gemein hat.
Auch das "SNOWLAND-Hotel", eine der beiden gleichartigen Absteigen für Freaks und Tramps, ist ein solcher, hübsch anzusehender Bau, etwa drei Stockwerke hoch wie alle Wohnhäuser in der Straße. Durch ein breites Portal gelangt man in einen weiten Innenhof, dessen unübersehbarer Mittelpunkt der Pumpbrunnen ist. Auch auf der Hofseite ist das Gebäude frisch geweißt, auf jedem Stockwerk laufen Balustraden und Arkaden um, gestützt von Holzsäulen und -streben, die wunderschön mit farbiger Ornamentik auf rotem Grund bemalt sind. Selbst in den einzelnen Zimmern setzt sich die geschmackvolle Wand- und Deckenbemalung fort --- wer hätte gedacht, in einem solchen traditionellen tibetischen Haus wohnen zu dürfen ?
Blumen und Balkone, Innenhof des Snowland Hotels |
Aber lass dich bloß nicht von der weißen Tünche blenden ! Das Haus ist nämlich ohne fließendes Wasser, und wer sich die Pfoten oder die Haare, einen Teller oder seine Jeans waschen will, der muss in den Hof zum Brünnlein pilgern und sich dort eine Wanne voll aus dem Untergrund von Lhasa heraufpumpen. Alternativreisende wissen eventuell auch das ökologische Klo zu schätzen: Hinter einer traditionell bemalten Tür, die nicht verschließbar ist, befindet sich eine enge, quadratische Zelle mit einem runden Loch in der Mitte des Bodens, aus dem infernalische Rüchlein quellen. Wohin dieses Loch führt und was sich darin befindet, das sollte man in höchster Eile erkunden, bevor man in Ohnmacht fällt --- nichts wie raus hier ! Und nun klemmt diese verfluchte Tür, die nur außen einen Griff hat !!! Ein der Örtlichkeit ideal angemessener Kraftausdruck entfährt dem gefangenen Fremdling, der mit aller Kraft an der knarrenden Lattentür zerrt, halb von Sinnen von den Düften des Orkus und halb benommen von der himalayischen Höhenluft, selbst auf die Gefahr hin, dieses Kleinod tibetischer Handwerkskunst in Stücke zu reißen, bis das tückische Ding mit einem Mal so urplötzlich nachgibt, dass man beinahe in das teuflische Loch geschleudert wird. Man sieht, dass die tibetische Tradition nicht allein aus Arkaden und Markisen besteht.
Sechs Pritschen stehen in den Zimmern, eine Kolter drübergezogen, ein Strohsack als Kissen, eine wattierte Decke, und sechs Typen, jeder aus einem anderen Land, du kennst das ja, wenn du je in einer Jugendherberge genächtigt hast. Ich erfahre, dass es an der Renmin-Avenue ein öffentliches Bad gibt. Aber wer dreist genug ist, zu überhören, was die Tante am Empfangstresen ihm hinterherruft, der kann auch in das Hotel, das für Auslandschinesen und Hongkonger vorbehalten ist, reinschneien und dessen sanitäre Einrichtungen benutzen. Am dritten oder vierten Tag gewöhnt sich die Tante an dich und ruft dir nichts mehr nach.
Nein, Tibet hat mit China wahrhaftig nichts gemeinsam. Die Tibeter in ihrer sanften, freundlichen Religiosität gleichen eher Burmesen, und geographisch liegt von Lhasa aus Kolkata (Calcutta) näher als Chengdu. 200 km südlich von Lhasa ist die Grenze zu dem kleinen Himalaya-Reich Bhutan, weitere 200 km südlich trifft man auf die indische Ostprovinz Assam, und wiederum 200 km weiter südlich erreicht man Bangla Desh. Das Wasser, das wir im Hof des "Snowland" pumpen, um uns die Zähne zu putzen, fließt durch eine schlichte Kanalisation direkt in den Lhasa-Fluss, der ein paar Kilometer weiter in den Himalaya-Fluss Yaltzanbo mündet, und der wendet sich in seinem Lauf plötzlich nach Süden, quert die Grenze zu Indien und nennt sich fortan Brahmaputra, bis er nahe bei Dhaka dann in Bangla Desh mit dem Ganges zusammenfließt und sich zuletzt mitsamt unseren Zahnpasta-Resten in den bengalischen Golf ergießt. Bis Kathmandu sind es von hier aus im Jeep fünf bis sechs Tage, bis Chengdu bräuchte der gleiche Jeep rund drei Wochen. Bis Beijing sind es 2500 km Luftlinie, New Delhi, Karachi und sogar Kabul, aber auch Bangkok, Yangon, Pnom Penh oder Saigon sind näher, ja selbst bis nach Sri Lanka ist es ebenso weit wie bis nach Beijing.
Tibeter und Chinesen (im Hintergrund rechts) in Lhasa |
Geht man durch Lhasa, erkennt man die Tibeter sofort aus der Menschenmenge heraus. Immer tragen sie selbstbewusst ihre Tracht, die Männer mit ihren ledrigen, weiten Schärpen und dem zierlichen Dolch an der Hüfte, die ungeschnittenen, langen Haare zu einem Schopf aufgebunden, der mit roten Fransen durchflochten ist; die Frauen mit ihren meist bunt bestickten Stiefelmokassins, den langen, dunklen Kleidern, vor die eine Zierschürze in farbenprächtigem, tibetischem Linienmuster gebunden ist, und junge Mädchen mit langärmeligen, bonbonrosa Blusen, das jugendlich schwarze Haar zu lang herabhängenden, mit Bändern oder Fransen durchwirkten Zöpfen geflochten, an Armen und Händen zahlreiche Ringe und Reife, und die Alten mit ihren zerfurchten Himalaya-Gesichtern, in der rechten Hand die unvermeidliche Gebetsmühle, in der Linken die Gebetskette - alles gleicht weit mehr den andinischen Indios als irgendeinem Chinesen.
Nun möchte der Reisende die wenigen Tage nützen, die ihm in Lhasa vergönnt sind, um möglichst viel von Tibet zu sehen, doch da spielen die Umstände nicht mit. Schon nach einem kurzen ersten Gang durch die Straßen gerät man schnell arg flapp in Atemnot und steuert froh den menschenleeren Wenhua Gongyuan (Kulturpark) an, muss aber konstatieren, dass die Kultur hier noch im Entstehen begriffen ist und soeben frisch betoniert wird. Auf einer künstlichen Insel im Teich ruht ein rundes Tempelchen mit goldenem Dachl, und in dem klaren Gewässer spiegeln sich blauer Himmel, die nahen weißen Wolken und der mächtige Potala-Palast, der just gegenüber hoch aufragt. Die Angaben über dessen Öffnungszeiten sind widersprüchlich, nur auf den Mittwochvormittag scheint Verlass zu sein. Andere Besucher sind angeblich auch schon an Samstagen hineingelangt, und wieder andere berichten, dass die Potala-Bonzen, wenn sie von einer Laune oder Eingebung gepiekst werden, sporadisch auch mal an anderen Tagen öffnen. Gemeinsam ist allen Berichten nur, dass der Kasten die meiste Zeit verschlossen ist.
Potala, vom "Kulturpark" aus gesehen |
Direkt zu Füßen des Potala liegt ein kleines tibetisches Wohnviertel mit den typischen, festungsartigen mehrstöckigen Wohnhäusern, weiß getüncht und farbig verziert, und in den engen, aber sonnendurchfluteten Gassen dazwischen lassen Kinder selbstgefertigte Papierdrachen steigen. Vom Potala gehen lange Seile aus, die den ganzen Berg herunterhängen, sich über die Hauptstraße von Lhasa, die Straße der Glückseligkeit (Xingfulu), spannen bis hin zu einem kleineren, gegenüberliegenden Felsen. Auf ihrer gesamten Länge sind sämtliche Seile mit bunten Tüchern behängt, aber da trocknet nicht etwa der Dalai Lama seine Unterwäsche, sondern das sind alles sogenannte Gebetsfahnen: Mit heiligen Texten in tibetischer Schrift bedruckt, flattern die Tücher im Winde und lassen die Gebete gen Himmel wehen. Ganz Tibet ist voll mit solchen Gebetsfahnen, sie flattern an allen Häusern in allen Provinzen, sie flattern von Gipfeln und Brücken, und die dicht mit diesen Lappen behängten Seile sind sozusagen spirituelle Stromleitungen, welche die Wohnhäuser direkt mit den hoch verehrten Tempeln und Heiligtümern verbinden.
Tibetische spirituelle Stromleitungen, vom Tempel direkt ins Haus |
Wer weiß, wie heilig auch der diesseitige kleine Felsberg an der Xingfu-Straße ist ! Zu seinen Füßen sind Schiefertafeln mit eingravierten, bunt gefärbten tibetischen Schriftzeichen zu meterhohen Häufchen getürmt, auf denen Yakgehörn und Schafsschädel liegen, und so weit das Auge reicht, ist der Fels mit Reliefs bedeckt, die Buddhas und Bodhisattvas darstellen, große und kleine, farbige und roh gravierte, kunstvolle und amateurhafte --- hier war der Glaube Ausschlag gebend. Folgt man den Omas, die Gebete murmelnd und Gebetsmühlen schwingend in einem schmalen Seitenpfad verschwinden, steht man kurz darauf vor einem ornamental verzierten, breiten Tor, das den Eingang zu einem kleinen Heiligtum bildet, das an und in den Felsen gebaut ist.
Schiefertafeln und heiliges (?) Yakgehörn |
Etwas unsicher treten wir durch das Tor, denn wir sind nicht mit den religiösen Bräuchen des Landes vertraut und in Tunesien als Ungläubige schon einmal beinahe aus dem Vorhof einer Moschee herausgeprügelt worden, aber die beiden faul im Schatten liegenden großen Hunde reagieren kaum; der eine kneift ein Auge auf, der andere wedelt andeutungsweise mit dem Schwanz, was nichts anderes bedeuten kann, als dass der Zutritt auch für Heiden gestattet ist. Auch im Innenhof wehen überall Gebetsfahnen; eine offene Tür führt in das Innere des Felsens. Ein seltsamer Geruch beißt dem Besucher in die Nase, sobald er den dämmrigen, von Kerzen nur spärlich beleuchteten Raum betritt. Es riecht nach ranzigem Fett, und die Ursache dafür wird sichtbar, wenn sich das vom strahlenden Tageslicht geblendete Auge an das feuchtkühle Dunkel gewöhnt hat. Es sind keine Kerzen, sondern Lichter aus Schalen voller Rindertalg, in denen Dochte stecken. Sie funzeln talgig flackernd vor sich hin, während sich eine Schicht fettigen Rußes rings auf Decke und Wände legt. Diese werden von dem nackten Felsen gebildet, in den diese Tempelhöhle gepolkt ist, und furchterregende Dämonen blecken aus dem Dämmerdunkel ihre Fangzähne, rollen glutrote Augen und drohen, uns böse Geister zu verschlingen, aber die Furcht wird sogleich von dem gütig lächelnden Gesicht des jungen Mönchs gebannt, der aus dem finsteren Innern auftaucht und uns in gebrochenem Englisch um ein Foto bittet.
Ist als Türsteher jeder Disco qualifiziert |
Klar doch, soll er
kriegen. Ich bin schon dabei, die Kamera in Schussposition zu
bringen, da lacht er:
"Nein nein, kein Foto von mir, ich möchte von euch eins
bekommen, ein Foto des Dalai Lama !"
Freilich wissen auch wir, dass die Tibeter ihren Dalai Lama als Inkarnation des Buddha begreifen und verehren. Auf diesem Weg möchte Buddha den Gläubigen den Weg aus dem Zyklus der Wiedergeburten ins Nirwana ebnen, denn allein die höchste Stufe, die Wiedergeburt als Mensch, enthält die Chance, dem Karma zu entrinnen und die ewige Glückseligkeit zu erreichen, weshalb es alle Tibeter als das Natürlichste ansehen, das gesamte menschliche Leben als Vorbereitung auf das Nirwana zu betrachten und so mönchisch-religiös zu leben, dass die einmalige Chance nicht vergeudet wird. Dafür nehmen Tibeter unglaubliche Opfer auf sich; aus allen Teilen Tibets pilgern Gläubige nach Lhasa, um den Potala-Palast oder den berühmten Jokhang-Tempel aufzusuchen, und alle fünf Schritte auf dem viele Hunderte Kilometer weiten Weg werfen sie sich nieder in den Staub. Ernährt werden sie von den Dörflern und Hirten entlang des Wegs, die sich damit Verdienste für ihre karmatische Bilanz erwerben. Andere legen ihre Ersparnisse zusammen, um dem Tempel vergoldete Leuchter oder andere Kostbarkeiten zu spenden, die so teuer sind, dass sich diese in Armut lebenden Menschen wohl bis ans Lebensende dafür verschulden. Es ist nicht ungewöhnlich, so viele Stunden des Tages dem Gebet zu widmen wie Paris Hilton den Party-Besuchen, und wenn man durch den profanen Alltag am Beten gehindert ist, dreht man die Gebetsmühle, ein rotierendes Metallgehäuse, mit Sûtratexten verziert, in dessen Inneren heilige Schriften enthalten sind. Wie die Gebetsfahnen, die allerorts gen Himmel flattern, sorgen auch die Gebetsmühlen dafür, dass die Sehnsucht der Tibeter nach Eingang ins Nirwana unablässig an Buddhas Ohr dringt.
Talglicht und Dalai-Lama-Fotos |
"Bitte ein Foto des Dalai Lama - please give me a photo of Dalai Lama - une photo du Dalaï Lama s.v.p." steht auf dem schmuddeligen, lapprigen Zettel, den uns der alte Bonze im Obergeschoss des gleichen Tempels wortlos entgegenhält, vermutlich, weil er kein Englisch kann, ohne seinen Sûtra-Singsang auch nur einen Augenblick zu unterbrechen. Was nützt uns unser Geld, was nützen die elektronischen Taschenrechner und die Tütchen voll Briefmarken, die wir als Gaben für freundliche und hilfreiche Chinesen mitgenommen haben ? An solchem weltlichen Tand ist hier offenbar niemand interessiert.
Tibetericks Kommentar: Ein Floh, in Lhasa
totgedrückt, |
Bisweilen scheint tatsächlich jemand Fotos des Dalai Lama nach Tibet zu bringen. Solche Konterfeis stecken jedenfalls in großer Zahl an und in dem Glasrahmen, der den tausendarmigen Bodhisattva aus vergoldeter Bronze schützt, behängt mit Juwelen, von goldbronzenen Talgschalen und deren Kerzenschimmer beleuchtet. Alleine die tausend unermüdlich helfenden Arme des barmherzigen Bodhisattva stützen die Hoffnungen Tibets auf Erlösung in naher Zukunft, weshalb kein Schmuck, keine Kostbarkeit, keine Gabe zu teuer sein kann, um die Statue zu verzieren.
Keine Gabe ist zu teuer, den Buddha zu zieren |
Nicht dass ich Buddhist wäre oder an die Zauberkraft von Amuletten glaube - aber als Geschenk eines tibetischen Kindes habe ich mir mein Lehm-Amulett gut aufgehoben und besitze es noch heute.
Knapp 5 cm hoch, das tibetische Ton-Amulett |
Lhasa ist, obwohl Hauptstadt des weiten Tibet, nicht sonderlich bevölkert und auch nicht allzu groß. Hartnäckig halten sich Gerüchte, dass es hier öffentliche Nahverkehrsmittel geben soll; in der Tat fielen mir hier und da als Haltestellen markierte Stellen auf, aber falls es denn wirklich Busse geben sollte, dann fahren sie allenfalls zwei oder dreimal täglich, so dass man am besten auf Schusters Rappen reitet oder sich eines der Fahrräder des "Snowland" ausleiht. Aber da sind uns die Langzeit-Residenten zuvorgekommen, die Yogayogiyoghurt-Typen mit ihren Latzhosen und Bakunin-Locken, die irgendwo in die Wüste radeln, sich auf einem einsamen Felsen auf den Kopf stellen und mit verschränkten Beinen zu meditieren versuchen, bis der Magen knurrt.
So watscheln wir die drei Kilometer bis zum Volkspark Renmin Gongyuan, den Schatten der Alleebäume suchend, um der auch in Tibet heißen Morgensonne zu entgehen; dank der Höhenlage ist es im Schatten gleich angenehm kühl. An die dünne Luft haben wir uns gewöhnt, fort sind das latente Kopfweh und die erste Atemlosigkeit, nur an Ausdauer mangelt es noch ein wenig: Ständig halten wir Ausschau nach Sitzgelegenheiten und Rastplätzen. Dass sich der Volkspark nicht ebenso als Baustelle präsentiert wie der Kulturpark, haben wir dem abwesenden Dalai Lama zu verdanken. Wie man sich anhand der keineswegs typisch tibetischen Bezeichnung als "Volks"-Park leicht ausdenken kann, hat das Ding früher einmal anders geheißen, und tritt man durch das prachtvolle Tor, so findet man auch keinerlei parkübliche Teiche, Rasenwege und Pavillons, sondern einen Bau, der sich unschwer als tibetischer Tempel identifizieren lässt. Um dessen Mauern pilgern auch unentwegt tibetische Omas, Gebetsketten befummelnd und Gebetsmühlen schwingend, und wenn man neugierig eine offene Seitenpforte durchschreitet, um nachzusehen, welcher Gottheit die gemahlenen Gebete gelten, erreicht man eine Gartenanlage voller großblütiger Blumenbeete, aus denen ein rotbuntgoldiger Märchenpalast der Morgensonne entgegengleißt.
Wem gelten die gemahlenen Gebete ? |
Dieser Xingong (neuer Palast) geheißene Bau kann gegen Entgelt besichtigt werden, falls man willig ist, sich seiner Schuhe zu entledigen, und ein uralter Bonze als Fremdenführer erzählt, dass dies der Norbulinka sei, der 1954 neu errichtete Wohnpalast des Dalai Lama, den dieser jedoch umständehalber nur wenige Jahre genutzt habe. Abgesehen von der wirklich stattlichen Bemalung sämtlicher Wände, auf denen die Historie des Lamaismus, die Erbauung des Potala-Palastes, Buddhas Leben, sämtliche Klöster und Tempel Tibets sowie alle früheren Dalai Lamas samt Müttern und Geschwistern dargestellt sind, ist die Einrichtung recht nüchtern und drollig, denn der Charme der frühen 50er Jahre ist so konserviert, als sei durch einen Zauber die Zeit stehen geblieben. So benutzte der Dalai Lama einen jener heute wirklich antik wirkenden Musikschränke mit Philips-Radio oben drauf, darunter in einer Truhe den eingebauten Zehnplattenspieler, und im untersten Fach die Ständer für die guten alten Schellack-Boogie-Woogie-Hits, die jedoch heute nicht mehr vorhanden sind. Meditiert hat er freilich nicht an einem Nierentisch mit Tütenlampen, sondern auf einem Thron tibetischer Machart, den heute aber nur Staub und chinesische Münzen der Gläubigen bedecken.
Schließlich öffnet der Bonze eine weitere Tür und lässt die atemlosen Besucher einen Blick auf die kostbarste Attraktivität des Palastes werfen: Eine weiß emaillierte Badewanne, und daneben ein Lokus mit Wasserspülung ! Hier war der Dalai Lama seinem Volke schon damals rund 200 Jahre voraus ! Nun wissen wir, warum der Volkspark nicht renoviert werden muss, denn die Tibeter hüten ihn wie einen Augapfel für den Fall, dass der Dalai Lama eines Tages wie erhofft zurückkehren sollte. Kein Wunder auch, dass ohne Unterlass Gläubige durch die dalailamischen Gärten patrouillieren und Gebete mahlen oder Abfälle auflesen.
Außen Tibet, innen der Philips-Charme der 50er Jahre |
Einige weitere größere und kleinere Tempel sind in der weitläufigen, baumreichen Parkanlage verstreut, alle wie frisch errichtet, in Wahrheit jedoch nur liebevoll gepflegt, mit prächtigen Wandmalereien im Innern und herrlicher Ornamentik von außen bemalt, und sogar ein kleiner Zoo ist in das Grün integriert. Wer enttäuscht ist, keinen Dalai Lama angetroffen zu haben, der kann stattdessen mit andinischen Llamas vorlieb nehmen, die sich in der tibetischen Höhenluft gewiss wohl fühlen. In engen Gittergehegen drängeln sich einige eingepferchte Rehe und Bären, und daneben einige Käfige voller Affen, die auch dann noch traurige Augen machen, als ich meine Erdnüsse auspacke. Zweimal, dreimal zieht Genosse Monkey seine faltige, behaarte Hand misstrauisch zurück, bevor er, übervorsichtig und wie der Blitz, sich einige der angebotenen Peanuts grapscht. Mein lieber kleiner Bruder, wie übel haben die Menschen dir mitgespielt, dass du so furchtsam bist ? Geh, wir müssen doch zusammenhalten, Tiere und Heiden haben es beide noch weit bis zum Nirwana !
Hinter dem auch heute verschlossenen Potala-Palast erstreckt sich ein weiterer Park, in dessen Zentrum inmitten eines weiten Teiches ein Inselchen mit dem Fulongsi (Tempel des Ruhenden Drachen) schwimmt. Obgleich ein Steg, dicht behängt mit Gebetsfahnen, zu dem ruhenden Drachen führt, darf man selbigen nicht aus der Ruhe stören, zumal rings in der Weite der Parkanlage rotbefahnte Baubrigaden mit Spaten und Mörtel damit beschäftigt sind, aus dem Longwang-Park (Drachenkönig-Park) einen Jiefang-Park (Park der Befreiung) zu machen, wodurch ab nächstem Jahr wieder ein Stück tibetischer Tradition zu chinesischer Neugloriole umbetoniert sein wird.