CHINA 8
LANZHOU und CHENGDU |
Mit surrenden Propellern reitet die Maschine der staatlichen Luftlinie CAAC (China Airways Almost Crashes) durch die Wolken, und die Passagiere in dem urtümlichen Luftvehikel fächeln sich mangels Klimaanlage frische Luft zu mit hübsch bedruckten Fächern, die beim Einsteigen von den Flight attendants verteilt wurden. Die Air-Passagiere unterscheiden sich kaum von den Zugreisenden: Arbeiter und Bauern in der Überzahl, wobei mir ein Rätsel ist, wo die das Geld für das Flugticket her haben bei 75 RMB Monatslohn. Allerdings hat in China auch die Realität stets eine Yin- und eine Yang-Seite, und dies zu durchschauen ist eine der schwereren Aufgaben für ausländische Besucher.
Da auf allen Inlandflügen striktes Rauchverbot herrscht, werden die ohne ihre Qualmgurke nervösen Passagiere mit anderen Gaben abgelenkt. Nach dem obligatorischen Saft kommt eine Wunderkiste, ein Pappkarton voller Süßigkeiten und Knabberzeug, eine Bescherung wie auf dem Weihnachtsteller, und zum Schluss, nach dem Kaffee, bekommt jeder noch eine kleine Tafel Schokolade für die Kinder daheim, sowie ein Geschenk-Set, bestehend aus einem Taschenspiegel und einem Plaste-Kamm --- anscheinend stehen lausige Zeiten bevor....
Lanzhou-Panorama - abziehende Gewitterwolken oder aufziehender Industriesmog? |
So, jetzt kommt wieder eine Hotel-Story, pass auf. Das Ausländer-Hotel Lanzhou Fandian ist nämlich wieder so eine Wuchtbrumme wie in Xian und Urumchi, und beim Betreten sehe ich schon vor meinem geistigen Auge Kakerlaken und Farbtöpfe, .... --- aber nichts dergleichen, im Gegenteil: Ein riesiges rotes Spruchband über dem Eingang lautet verheißungsvoll auf Chinesisch und Englisch
"WARMLY WELCOME OUR
GUESTS FROM EVERY CORNER OF THE WORLD!" |
Jahoo, so geht's also auch in China, frohlocke ich und betrete frohgemut die weite Halle, aber es dauert nicht sehr lange, bis wir merken, dass das warme Willkommen nicht uns gegolten hatte. Schon wieder ist irgendein Kongress im Gange, und die Hotelgäste sind mehrheitlich Parteibonzen, deren Hongqi- und Shanghai-Limousinen den weiten Vorplatz weitgehend zugeparkt haben. Also, so viele PKWs auf einen Haufen, das hab ich in China noch nie gesehen. Keine Frage, dass die Funktionäre die besten Zimmer kriegen, und die Guests von Every Corner of the World können sehen, wo sie bleiben. In unserem Fall war das ein nicht benötigtes Konferenzzimmer, aus dem Sessel und Stühle entfernt und stattdessen so viele Jugendherbergspritschen reingepfercht worden waren wie möglich, um den Tagungsraum in einen Nachtungsraum zu verwandeln. Immerhin war es billig und kakerlakenfrei, und das ist doch schon mal was.
Zu meiner Verblüffung ---schon wieder!--- erhalte ich Tickets zum RMB-Arbeiterbauernsoldatentarif --- die genervte Tante in ihrem stickigen Kabuff, die am laufenden Band dem Volke zu dienen hat, war anscheinend nicht in der Stimmung, wegen mir extra den Ausländerfahrscheinblock hervorzukramen und auf dem Abakus den Tarif mit 1,7 zu multiplizieren... na schön, sie hat's nicht anders gewollt. Ich war jedenfalls willig, mehr zu zahlen, denn ich weiß selber, dass die staatliche Eisenbahn in China hoffnungslos in den sozialistisch-roten Zahlen steckt, weil die Tickets auf das Lohnniveau der einfachen Bevölkerung heruntersubventioniert sind, und außerdem ist für uns, wenn wir aus Europa oder Japan kommen, auch der 1,7-fache Preis noch ein lächerlich geringer Betrag.
Die Armut beginnt gleich hinter den modernen Fassaden von Lanzhou |
Ein Restaurant ausfindig zu machen, ist am Bahnhof von Lanzhou kein Problem, sie reihen sich in allen Seitengassen aneinander. Hier dämmert es eine Stunde früher als in Urumchi, und während wir in einem flotten Gasthaus schmausen und an kühlen Qingdao-Bierchen nuckeln, ohne uns um die anderen Gäste zu scheren, die natürlich so neugierige Stielaugen machen, dass ihnen der Reis aus den gaffend aufgesperrten Mündern zu bröseln droht, bemerken wir ein ständiges Kommen und Gehen von Leuten, die nichts essen, sondern nur hereinkommen, sich umschauen, herumlungern und dann wieder rausgehen. Während sich unser Mahl dem Ende zuneigt, vermehren sich die Lungerer zusehends, einige lassen sich an Nachbartischen nieder und lassen uns keinen Augenblick aus den Augen. Das Personal keift und scheucht sie raus wie lästige Fliegen, aber sobald sich die Schürzen der Kellnerinnen wieder der Küche zudrehen, kommen die Burschen, überwiegend Jünglinge zwischen 15 und 25 Jahren, gleich wieder reingeschlichen. Kaum erheben wir uns von unseren Stühlen, stürzt sich die Meute wie die Geier auf die Essensreste; aus ihren Jackentaschen kommen Löffel, Plastik- und Alukästchen zum Vorschein, und im Nu sind die übrig gelassenen Fettzippel, Gemüste- und Reisreste in Mund oder Esskästchen verschwunden, so schnell können die Kellnerinnen gar nicht herbeiflitzen.
Wenn wir das geahnt hätten, dann hätten wir noch eine Portion mehr bestellt und tüchtig was übrig gelassen, aber wer hätte sich so etwas nach 40 Jahren des großartigen Marxismus-Leninismus und voller origineller Maozedong-Ideen träumen lassen? Ich glaub, ich steh in Pyeongyang! Sicher, ab und zu streckt dir ein einbeiniger Bettler seine Pfote vor die Nase und kassiert eine 2-Fen-Banknote, und wenn er 5 Fen zusammen hat, geht er an die Ecke und kauft sich ein Eis. Aber dass hier junge Burschen im besten arbeitsfähigen Alter in Restaurants die Teller auslecken, das gibt uns doch allerhand zu denken. Eigentlich wollte ich den Parteibonzen in unserem Hotel davon Kunde geben, was es in Lanzhou noch zu tun gibt, aber leider waren die Funktionäre gerade bei Punkt 17 ihrer sozialistischen Tafelordnung angelangt und lagen vollgefressen und teilweise schon Laojiu-blau unterm Tisch, da wollte ich mal den Kongress nicht stören.
Und wer noch Zeit hat, der spaziert über die lange Flussbrücke und spuckt in den Gelben Fluss, der seinem Namen alle Ehre macht und ockergelb dahinströmt. Entlang an Ständen mit bildschönen, verlockend frischen Pfirsichen gelangt man am andern Ufer zum Baidashan, dem "Park der Weißen Pagode", der, das ist unschwer zu erkennen, einst eine große Tempelanlage war. Heute heißen die Tempel "Park" oder "Museum", und die meisten gottlosen Chinesen gucken genauso neugierig wie wir, wenn da ein altes Mütterchen mit Räucherstäbchen in der Hand vor der verschlossenen Buddhahalle Rumpfbeugen vollführt.
Baida, die Weiße Pagode von Lanzhou |
Als in Lanzhou die vom Gewitter vorübergehend gebannten Sandstürme wieder zu wehen beginnen, aalen wir uns nach einer Nacht im Tagungsraum, wo Männlein und Weiblein, Amis, Deutsche, Hongkonger und Dänen kunterbunt zwischen den Rucksackbergen pennten, in dem Gefühl, diesen Funktionärspalazzo für die bezahlten 5 Yuan weidlich ausgenutzt zu haben, als kostenlose Gepäckaufbewahrung, als Badeanstalt und als Wäscherei. Im Zug wird es dann weniger gemütlich, aber ich stürze mich mutig in den Menschenknäuel im Wagen Nr.7, wo man eventuell freie Liegen nachlösen kann, und bin nicht gewillt, mich von einem noch so giftigen Drachen mit einem simplen "mei you" ins Bockshorn jagen zu lassen. Geknufft und gequetscht von der chinesischen Ellbogengesellschaft stehe ich mir zwei Stunden meines Sommerurlaubs die Beine in den Bauch. Die erste Stunde erscheint gar kein Schaffner, und in der zweiten Stunde werden nur normale Fahrkarten nachgelöst oder umgeschrieben. Als dann der Uniformierte mit der Kladde kommt, die mit "Wopu" (Liegen) beschriftet ist, entsteht beinahe eine Panik, aber ich halte mich wacker und hoffe nur, dass der Bahnfritze mich auffälligen Ausländer wahrnimmt und sozialistisch bevorzugt behandelt, um sich keiner Kritik auszusetzen, denn andernfalls ist aller Kampf vergeblich gewesen. Ein schlaksiger Mensch drängt sich da an mich heran und fängt mit seinem üblichen "Where do you come from" an, wo ich doch gerade mit dem Überleben vollauf beschäftigt bin, weshalb ich ihm nur höchst einsilbig zur Rede stehe, das Gesicht ständig dem Kladdenschaffner zugewandt.
"Hat der
Schaffner dich nicht gesehen?", fragt der dürre Mensch
weiter.
"Das ist ausgeschlossen, der guckt ja dauernd hier
her."
"Das kann ich nicht verstehen. Wenn der dich gesehen hat,
musst du doch gleich als erster drankommen!"
Vorstellungen hat der gute Mann! Der scheint sich in China nicht
recht auszukennen.
Aber es ist ihm offenbar ernst. Energisch keilt er sich durch den
protestierenden Pulk und überschüttet den Schaffner mit einem
Hagel von harschen Vorwürfen, redet sich die Seele aus dem Leib,
fuchtelt mit allen Extremitäten durch die Luft und scheint nicht
weit davon entfernt, dem Beamten Kopfnüsse anzudrohen.
Schließlich gehen diesem die Widerworte aus; müde winkt er mich
heran und stellt mir die Tickets für zwei Liegen anstandslos
aus. Während er den Zuschlag kassiert, strahlt mein Anwalt über
den rhetorischen Sieg, und da schießt mir blitzartig eine Idee
durch den Kopf. Ich sage ihm, da seien noch zwei Ausländer bei
uns, aber deren Tickets habe ich nicht bei mir; mein Anwalt solle
mir dafür seine ausleihen. Der hagere Mensch ist offenbar clever
genug, meine Pläne zu durchschauen, und der zahm gewordene
Schaffner rückt widerstandslos noch zwei weitere Liegeplätze
raus. Listig grinsend bezahlt mein neuer Freund seine Liegesitze,
und der einzige Schönheitsfehler bei dem Geschäft auf
Gegenseitigkeit ist, dass er außer seiner Frau auch noch ein
Kind dabei hatte und eigentlich drei Liegen gebraucht hätte.
Immer wieder von schnaufenden Loks durch China gezogen |
Unser guter Mensch
von Sezuan ist Englischlehrer, und ein recht gesprächiger dazu.
Für ihn ist es unvorstellbar, dass man ausländische Gäste im
Zug so schäbig behandelt, aber die Realität und die täglich
steigende Anzahl der ausländischen Gäste sind nun einmal nicht
zu leugnen. Vor zwei, drei Jahren noch, da mag ein vereinzeltes
Bleichgesicht im Zug das Personal wohl in Alarmbereitschaft
versetzt haben, aber heute wimmelt es überall von
China-Travellers, und wenn die immer überall bevorzugt behandelt
würden wie Graf Koks von Steinbrikett, dann müssten die
Chinesen zu Fuß gehen. Unser neuer Freund indes fuhr
allerhöchstens einmal im Jahr von dem Dorf, in dem er den
Grundschülern die Geheimnisse der englischen Grammatik
nahezubringen versucht, in seine Heimat in Sichuan (Szechuan,
Sezuan) und bekommt deshalb die rasanten Entwicklungen der
Neuzeit nicht immer gleich mit. Dafür erzählt er gerne von der
früheren Zeit, als er vor 20 Jahren zum ersten Mal nach Chengdu
gekommen ist. Damals, zu Beginn der "Kulturrevolution",
war er nämlich ein Rotgardist, und da war schwer was los in
China. Immerzu rote Büchlein schwingen und mit Mao-Zitaten um
sich werfen. Damals hat er natürlich kein Englisch gelernt, und
ansonsten auch nichts; für den Schulabschluss reichte es, den
roten Koran auswendig zu lernen, und dann, hussa, alte Leute
ärgern, rote Fahnen schwenken und tüchtig Rambozambo machen.
Damals hat's ja Spaß gemacht, aber als es dann hieß, Rote
Garden ab aufs Land, Rote Rüben hacken, da war die Luft raus.
Drei Jahre lang hat unser Freund Rote Radieschen angepflanzt und
Rote Bohnen gezüchtet, dann hatte er die Schnauze voll. Er ließ
Sichel und Sense fallen, trampte per Lastwagen nach Lanzhou, wo
er bei Verwandten Unterschlupf fand, und gelangte mit Beziehungen
an eine Uni, wo er mit 32 Jahren seinen Abschluss machte.
"So übel war
die Landwirtschaft zwar auch nicht, aber das ganze Leben lang?
Da hab ich mir was Besseres gewusst. Andere einstige Rotgardisten
füttern noch heute die Schweine."
Wann kommt die nächste Kulturrevolution?
"Nie wieder! Fehler machen alle mal, aber wir haben draus
gelernt. Ich kenne keinen, aber auch nicht einen einzigen, der
sich nach sowas zurücksehnt. China muss ja irgendwann mal
erwachsen werden."
Vor zwei Jahren war es Chinesen noch strengstens verboten
gewesen, mit Ausländern zu reden, und jetzt solche aufmüpfigen
Reden, da guckst du mal, wie rasant sich China geändert hat. Seine Frau aber kann ich mir beim besten Willen nicht als Rote
Gardine vorstellen. In China haben zwar etliche Damen Haare,
nein, ganze Bärte auf den Zähnen, aber sie ist von einem derart
bodhisattvahaft mildem, sanften Lächeln umflossen und umturtelt
ihren Bub und meine Ka so mütterlich-lieb, dass sie auch in
Tokyo als Japanerin durchgehen könnte, wenn sie ihre klobige
Hornbrille gegen ein zeitgenössisches Modell umtauschte.
Those were the days, my friend |
Bedenkt man's recht, so besteht unsere Reise zu einem Gutteil aus Schlangestehen und Bahnfahren, aber das ist, zumindest das Letztere, gar nicht übel. Nirgends kommt man so leicht mit den gewöhnlichen Leuten in Kontakt, und diese sind bei weitem nicht so muffelig und stoffelig wie das Dienstpersonal, diese faule Bande. Nein, nein, die normalen Chinesen sind genauso Familien mit Kind, Ausflügler oder Studenten auf Sommertour wie anderswo auch, und wer ein bisschen schulische Bildung genossen hat, der sieht auch in uns Ausländern mehr den Mitmenschen als den Marsmenschen. Vom Zugfenster aus kann man auch die Dörfer und Landschaften beäugen, deren Betreten für unsereins noch ausgeschlossen ist, und feststellen, dass es allmählich aus Lehm, Löß und Wüsteneien in steile Berge und grüne Täler übergeht. An dicht bewaldeten Hängen entlang gelangt man bald durch zahllose Tunnel, enge Täler und hohe Brücken, der Zug ruckelt durch urwüchsiges Geschling und sauber angelegte, terrassenförmige Reisfelder. Die Dörfer sind aus Stein errichtet, die Gehöfte von Bambushainen umgeben, auf den Flüssen dümpeln flache Sampans, und wenn die steilen Berge wieder verflachen, die Felder weiter und die Flüsse breiter werden, hat der Zug das weite Tiefland erreicht, das die fruchtbare Provinz Sichuan ("Vier Ströme") bildet. Am westlichen Rande der Tiefebene liegt die Hauptstadt Chengdu, und gegenüber, am östlichen Rand, 500 km entfernt, die zweite Metropole von Sichuan, Chongqing.
Sichuan ist die Heimat von drei wesentlichen Ingredienzen chinesischer Kultur: Hier sind fast sämtliche Dichter und Denker des alten China zur Welt gekommen, weshalb wohl auch Brecht gleich an Sezuan dachte, als er sich mit China befasste; als zweites ist Sichuan auf der kulinarischen Landkarte Chinas besonders dick eingezeichnet, denn ein stattlicher Teil der Leckereien, die man sich in China-Restaurants gerne einverleibt, sind Sichuan-Küche, zumindest alle diejenigen, die peppig bis scharf gewürzt sind. Und schließlich klettern in den Bambuswäldern der Berge, die Sichuan umgrenzen, alle die Pandas umher, die den Nachwuchs für jene putzigen Kuschelzootiere in aller Welt produzieren.
Unserem Wohltäter wurde übrigens auch ein unerwarteter Lohn für seine guten Taten zuteil. Unter dem Zugpersonal war ein Neffe des Freundes eines Vetters eines Bekannten des Bruders seines Schwiegeronkels, und die Freude über das unverhoffte Treffen war dergestalt, dass der noch bettlose hagere Englischlehrer vom Zugpersonal in eines der offiziell gar nicht vorhandenen, für unerwartet zusteigende Funktionäre reservierten Liegebetten geleitet wurde und dort eine Nacht wie in Yang Guifeis Schoß verbrachte. Gut gelaunt gab er uns am andern Morgen auch den Tipp, es in Chengdu nicht in dem morschen alten Binguan, dem Ausländerhotel, sondern in dem erst kürzlich eröffneten, funkelnagelneuen Chengdu Fandian zu versuchen, was wir nach der Ankunft auch taten und wahrhaftig nicht bereuten. So ein Palazzo, in dem alles funktioniert und in dem sogar das Personal, von der Etagendame bis hin zum Restaurant-Team, zuvorkommend und freundlich ist, wahrscheinlich, weil es dort gerade erst frisch eingestellt worden ist und den Job noch nicht lange verrichtet, hat nur den Nachteil, dass er für einen Reisebericht zu keiner lustigen Story taugt.
Auch für die Anwohner ist der moderne, etwas vom Zentrum entfernte Bau eine Attraktion erster Güte, wenn auch die Lobby nur für Hotelgäste und Personal zugänglich ist. Aber der weite Vorhof ist so eine Art Treffpunkt für Alt und Jung, Mamas schieben ihre Kinderwagen spazieren, Papas hocken am Rande der Blumenbeete und diskutieren die Weltpolitik, Pärchen flanieren an der Eingangstür vorbei und schnuppern am Duft der weiten Welt, der durch die geöffnete Tür kühl klimatisiert herausquillt, und vor dem Portal ist ständig ein großer Pulk von Obsthändlern, Souvenirfritzen und Fahrradrikschas zugange.
Hauptverkehrszeit in Chengdu |
Auf dem Grunde der Tiefebene von Sichuan brodelt eine hochsommerliche Schwüle, und die weitläufige Stadt Chengdu scheint im Sommer keinen blauen Himmel zu kennen: Umhüllt von einem Schleier aus natürlichen Taldünsten und hausgemachten Industriedünsten braten die Unmengen von Einwohnern in ihrem Sud, und es ließe sich hier nur schwer aushalten, wenn Chengdu ähnlich unansehnlich wäre wie Urumtschi. Doch in Sichuan, der Wiege der chinesischen Kultur, enttäuscht die alte Hauptstadt den Besucher nicht. Großzügige Boulevards zerteilen die Innenstadt und bilden die Adern, die Provinz und Hauptstadt miteinander verbinden, während in engen, winkeligen Seitengassen der Innenstadt unter dem grünen Dach alter Platanen der Mikrokosmos sein Leben entfaltet. Die gesamte City ist offensichtlich eine Abfolge von kleinen Märkten, Läden und Restaurants, und wegen der Hitze erstreckt sich fast jeder Laden mit seinen offenen Türen und im Freien ausgebreiteten Waren bis auf den Bürgersteig, und man kommt kaum umhin, den Spaziergang in einen Einkaufsbummel umzuändern.
Chinericks Kommentar: In Chengdu schaut man
vergeblich sich um --- |
Verlässt man das moderne Zentrum mit der letzten großen Gips-Mao-Statue auf dem Platz des Volkes, entlang der vielen kleinen Seitenarme des Yangzi, die Chengdu durchfließen, scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Die alten ziegelgedeckten Wohnhäuser, mit Holzveranden und Balkönchen, mit schiefen Wänden und krummen Stützbalken formen lange malerische, wenn auch leicht heruntergekommene Gassen, die sich seit 100 Jahren wohl kaum verändert haben. Der Teeladen, der Schuster, die Schneiderei, das Häuslein der chinesischen Medizin mit dem bebrillten weißbärtigen Medizinmann darinnen zwischen Ginsengwurzeln und Schlangenhäuten, so mag es hier schon zur Zeit der Boxeraufstände ausgesehen haben. Schade nur, dass dies alleine die Touristen begeistert; die Bewohner würden ihre malerischen, aber toilettenlosen, dunklen, engen Uraltbauten lieber heute als morgen mit einem Plattenbau-Appartement vertauschen, und sobald Chengdu eine "Sanierung" finanzieren kann, wird den hugeligen Hexenhäuschen in der Altstadt wohl der Garaus gemacht werden.
Hier sind Farben und Lacke, Gips und Glas feil |
An einer Kreuzung fiel das Auge auf eine Tafel, auf der mit Kreide Ausflugstouren angeboten wurden, und, warum nicht, wupps, besorgten wir uns Tickets für den folgenden Tag, an dem wir dann einen der urtümlichen Bullerbusse erklommen, um durch den Morgensmog in die Berge zu dieseln. Aus dem Dunst tauchten ebenmäßig angelegte Reisfelder auf, vereinzelte Gehöfte, die sich in Kiefern- und Bambushecken duckten, weiße Reiher flogen auf, wenn wir angeknattert kamen, es wäre eine wunderschöne Fahrt gewesen, wenn es in China nicht die Vorschrift gäbe, dass sich von hinten annähernde Motorfahrzeuge den unmotorisierten Verkehrsteilnehmern akustisch bemerkbar zu machen haben. Und was gab es für Unmengen von Radfahrern und Fußgängern auf der Landstraße! Die Tröte, die alle zwei Sekunden losquäkte, schien ihre akustische Wirkung vorwiegend nach innen auszuüben, es klirrten geradezu die Scheiben.
Nach zwei Stunden flotter Fahrt durch den milchigen Frühnebel tauchten allmählich schroffe Felsen und kantige Bergrücken aus dem Dunst auf, wie man es von chinesischen Tuschegemälden kennt --- manchmal sieht es in China beinahe aus wie in China. Bald rückte auch das Ziel, der heilige Berg Qingchengshan, in Sicht. Über den gesamten Berg verteilt sind buddhistische Heiligtümer, Tore und Pavillons, sowie profanere Bauten, die Souvenirs und Nudelküchen enthalten. Der steile Pfad hinauf zum 6 km fernen Gipfel ist getränkt vom Schweiße zahlloser Pilger, zumal es offensichtlich Brauch ist, dass der wahre Pilger sich während des mühsamen Aufstiegs kasteit, indem er sich eine Kiepe voller Wackersteine auf den Puckel lädt und damit den Aufstieg in Angriff nimmt. Es steht nur zu hoffen, dass sie oben dafür ein währschaftes Mittagsmahl vorgesetzt bekommen.
Wackerer Kiepenstein-Pilger und anmutige Dame |
In China ist der Samstag offiziell ein gewöhnlicher Werktag, weshalb ich in meiner Einfalt hoffte, auf stillen Bergpfaden den Aufstieg aus dem irdischen Jammertal in himmlische Regionen bewerkstelligen zu können, aber ich bin noch immer zu greenhornig, um nicht beim Verlassen des Busses vom blanken Entsetzen gepackt zu werden. Der Tianchi-See am Sonntag fiel mir wieder ein, zumal wir hier nicht im entlegenen Xinjiang, sondern im Herzen des fruchtbaren Sichuan weilen. An die Eintrittskarte zum gebührenpflichtigen Berg kamen wir noch relativ schnell, nach nur ca. 10 Minuten Anstehens. Aber dann der steile Bergpfad! Ein veritabler Stau bildet sich da am Qingchengshan, nicht aus Blech und Kohlenmonoxid, sondern aus schwitzigen Leibern und von unzähligen Füßen aufgescharrtem Staub. Wo der Wald rauschen sollte, schnaufen und schrappeln die Massen der Mitmenschen, statt frischer Waldluft atmeten die Stadtlungen eine Mixtur aus Staub und menschlichen Ausdünstungen ein, und wo die Vögelein tirilieren sollten, trillern und schrillen die Plastiktrompeten, die an etlichen Verkaufsbuden, die den schmalen Weg nahezu lückenlos säumen, feil sind und denen im Verlauf der langen sechs Kilometer kein Papa widerstehen kann, wenn das einzige Kind laut zu quengeln beginnt.
Auf den ersten zwei Kilometern sieht man von Berg und Natur nichts außer dem menschlichen Lindwurm, der sich im Tempo der Wackersteinpilger in Zeitlupe bergan quält. Eine Brücke und drei Pavillons, auf deren Sitzflächen pausiernde Besucher so dicht gedrängt hocken wie die Blattläuse auf dem Rosenstengel, sind passiert, das große Tianran-Tuhua-Tor ist erreicht, doch weniger geworden sind nur die Verkaufsbuden. Ein weiterer Pavillon, zwei weitere Tore, zwei Drittel des Weges sind geschafft, als wir zum Tianshi-Tempel gelangen. Ein Unkundiger mag sich fragen, ob hier der Sommerschlussverkauf von Chengdu stattfindet, aber nein, alles, was sich hier schubbelt und drängelt, knubbelt und gegenseitig auf die Füße trampelt, sind Wochenendausflügler, die ihre Verschnaufpause dazu nutzen, nein, nicht den Tempel, sondern uns Ausländer eingehend zu besichtigen.
Manchmal sieht es ja in China aus wie in China |
Alleine dem Wohlwollen des bronzenen Bodhisattva der Barmherzigkeit, dessen regloses Antlitz über die chinesische Bevölkerungsexplosion zu meditieren scheint, ist es zu verdanken, dass etwa die Hälfte der Besucher sich mit dem bisher Erreichten zufrieden gibt und von hier aus umkehrt. So gestaltet sich wenigstens der Gipfelsturm etwas lockerer, die Landschaft offenbart ein wenig von ihrem Reiz, der Blick fällt in schroffe Schlünde und dunstige Fernen, und das Ziel, die Shangqing-Halle am Gipfel, kündigt sich durch den immer deutlicher vernehmbaren Radau der dort umherquirlenden Besucher an.
An die andächtige Stille gewöhnt, die in Japan auch dann in den Tempeln und Schreinen gewahrt bleibt, wenn sich viele Besucher dort einfinden, ist der allzu weltliche Lärm picknickender Familien zu Füßen des vergoldeten Buddha doch etwas gewöhnungsbedürftig. Aber zur Mittagsstunde verwandelt sich der gesamte Tempelbezirk in eine Art weitläufiges Restaurant, zwischen Bäumen und Säulen sind Klapptische aufgestellt, zwischen Kerzen und Räucherstäbchen fauchen Gasbrenner und fackeln Räuchergrille, und wenn der gute Buddha mit seinem wohlgeründeten Bäuchel nicht so gesättigt dreinschaute, möchte er ob all der Düfte einen recht artigen Kohldampf bekommen.
Chinericks Kommentar: Den Qingchengshan rauf
sieht man Pilger traben |
Um kurz vor zwei sind wir wieder unten, werden in einer der dort ebenso zahlreich konkurrierenden Fresserias mit einem ausgezeichneten Mahl abgespeist, und ich kann ohne Zögern betonen, dass die Qualität der Speisen in den windschiefen Fressbuden am Wegesrand oder am Marktplatz in der sozialistischen Volksrepublik durchweg wesentlich besser ist als in vergleichbaren Lokalen in Taiwan. Dass es hier in Sichuan besonders köstlich mundet, liegt sicherlich auch an der Tradition der berühmten Cuisine dieser Region.
Unser Bus denkt noch nicht ans Heimfahren, es gibt noch mehr zu sehen für die paar bezahlten Yuans. In dem Weiler Guanquan ist der hübsche Lidui-Park zu finden mit dem Palast des Ruhenden Drachen (Fulongguan), ein luftiger Bau, der sich auf hohem Felsen über einen schnell strömenden Fluss erhebt, und dieser Fluss ist bereits vor 2200 Jahren von chinesischen Ingenieuren künstlich gestaut und als Trinkwasser-Reservoir für die Tiefebene von Sichuan genutzt worden. In der Mittagshitze tut man gut daran, am Ufer des kühlen Gewässers die Füße oder auch mehr in das erfrischende Nass baumeln zu lassen, bevor der Bus uns wieder aufliest und mit huptrötendem Karacho bergab nach Chengdu zurückspediert.
Damals waren noch nicht alle Zoos dieser Welt mit chinesischen Pandas bestückt worden, sondern lebende Exemplare waren noch eine Art Rarität, weshalb wir uns noch im Zoo von Chengdu die sieben großen und etliche Nachwuchs-Pandas anschauten, die dort an frischen Bambuszweigen herumknusperten und fotogen dreinschauten.
Wie kann man sich ausgerechnet in Sichuan nur von Bambusblättern ernähren !!! |
Schau, da hinten ist sie wieder, die schöne Yanggui-Fee!