zhongguo

CHINA 7

rittaidrag

 

URUMCHI

 

tianshan

 

Wenn man Lust hat, wieder mit dem Rostibus nach Daheyan zurückzutuckern und dort einen halben Tag am Bahnhof zu verlungern, kann man auch mit der Bahn nach Urumtschi gelangen. Wir wählen für die 100 km den Direktbus, für 4,80 RMB Volkspreis, denn beim Aptovuz gibt es keine Ausländerpreise. Gut drei Stunden Fahrt, dann wird in der Ferne das schneebedeckte Tianshan-Gebirge sichtbar. Auf dem Weg zählten wir einen im Straßengraben verendenden und zwei zusammengekrachte LKWs, obwohl es auf den uigurischen Landstraßen kaum Verkehr gibt. Aber dafür fahren die Leute wie gedopt. Glücklicherweise erreichten wir gegen Mittag unversehrt Urumchi.

 

aptovuz

Aptovuz-Bilet im Rayon Turpan, Strecke Tulufan - Wulumuqi, 4.80 RMB

 

Urumchi ist eine dieser Städte wie Timbuktu oder Cochabamba, jeder kennt den Namen, aber keiner weiß genau, wo das eigentlich liegt. Auf Chinesisch heißt die Stadt WULUMUQI, in Lateinschrift schreiben sie aber Urumqi, sozusagen ein Kompromiss, ein Zugeständnis an die ethnische Minderheit der Uiguren. Selbige sind in Wulumuqi tatsächlich eine Minderheit; wahrscheinlich ist ihnen die Stadt zu hässlich, denn im Wettbewerb um die hässlichste Stadt der Welt steht Urumchi schon fast im Halbfinale. Früher war das vielleicht einmal ein malerischer Uigurenbasar-Flecken, aber heute ist es eine Industriestadt, und das bedeutet in China ein ungehemmtes Verpesten von Luft, Wasser und Boden. Außerdem haben die Chinesen die Stadt zur regionalen Kapitale aufgemotzt, fade Verwaltungsburgen und eintönige Wohnkasernen, Plattenbau, das kennst du ja. In den staubigen Straßen pflügen wieder Trolleybusse durch den Cyclisten-Ozean, und ein Ausländerhotel im sowjetischen Zuckerbäckerstil der 50er Jahre, so ähnlich wie in Xian, das obendrein auch gerade noch von Maurern und Malern auf den neuesten Stand gebracht wird. So balanciert der ausländische Gast samt Päcken und Säcken zwischen Farbtöpfen und frisch gestrichenen Fluren zu seinem Zimmer.

 

urumqi

Auch bei blauem Himmel grau : Urumchi-Panorama

 

Überhaupt, dieses Hotel !!! Jetzt gibt's wieder was zu kichern. Außerdem weist Urumchi nur eine eng begrenzte Anzahl sonstiger Attraktionen auf, also bleiben wir beim großartigen Kunlun Binguan. An der Rezeption wünsche ich mir ein Doppelzimmer mit Bad, fülle den üblichen Schreibkram aus und kriege ein Zimmer in einem fernen Gebäudeflügel zugeteilt, etliche Dutzend Farbtöpfe und Gipseimer auf dem Weg. Angelangt, finden sich drei Betten, aber kein Bad, nicht mal eine Dusche. Zurück zur Rezeption, wo mittlerweile jedoch Schichtwechsel stattgefunden hat und ein neues Gesicht sitzt. Mein Chinesisch reicht gerade aus, um mühsam zu verklaren, was ich ursprünglich wollte und was ich stattdessen bekommen habe. Die Lady sagt, es finde gerade ein Kongress statt, und andere Räumlichkeiten seien nicht frei.

Wieder im Zimmer, steht die Ka etwas ratlos vor dem Wasserhahn am Waschbecken, der nur bedauernd röchelt und heiße Luft von sich gibt, aber keinen Tropfen H2O. Ein erneuter Spießrutenlauf durch die Farbkleckse und Kleistertöpfe, doch an der Rezeption erklärt man mir, dass selbstverständlich Wasser fließen müsste. Das hatte ich mir selbst auch schon gesagt, dieser Rat ist nicht sehr nutzbringend. Bevor ich mich ereifere, meint die mürrische Tante, sie sei alleine an der Rezeption und anderweitig beschäftigt, mit solchen Kleinigkeiten könne sie sich nicht befassen; ich solle mich an den Etagenboy wenden. KLEINIGKEITEN !!! Wem nützt ein badloses Zimmer, wenn man sich nicht mal die Pfoten am Wasserkran waschen kann, und Wasser zählt zu den elementarsten Bedürfnissen des Menschen. Ich beherrsche mich, damit ich nicht wieder so einen Rappel kriege wie neulich im Zug, und begebe mich auf die Suche nach dem Etagenboy. In einer terpentinduftigen Ecke finde ich ihn und wecke ihn mitleidlos aus seiner Arbeit, die er offenbar im Schlaf zu verrichten pflegt. Nachdem er sich persönlich davon überzeugt hatte, dass tatsächlich kein Wasser fließt, kehrt er in sein Kabuff zurück und dreht dort den Hahn auf: Auch kein Wasser. Mit einem strahlenden Gesicht, als habe er soeben das Codewort für den Safe von Fort Knox erfahren, berichtet er, dass auch bei ihm kein Wasser fließe. Das habe ich bereits gesehen, mich interessiert mehr, was dagegen zu tun sei. Er kratzt sich am Kopf und fängt dann an, das Telefon zu bearbeiten. Keine Antwort. Eine andere Nummer. Keiner meldet sich. Erneutes Kopfkratzen. Eine dritte, oder noch einmal die erste Nummer, da spotzt und blubbert es auf einmal hinter ihm, und aus dem noch offenen Wasserkran schießt eine bräunlich flatschernde Brühe. Na, wie ham wir das hingekriegt, sagt sein Gesichtsausdruck; ja, wirklich super, grinse ich zurück.

 

urumqimarkt

Urumchi, Seitenstraße hinter einer Fabrik

 

Die Story ist aber noch nicht zu Ende. Kurz nach Mitternacht, wir liegen schon im ersten Schlummer, öffnet sich sachte die Tür und zwei Chinesen tapsen herein, gucken sich um und tapsen wieder raus. Eine halbe Stunde später kommen sie wieder, machen das Licht an und aus und verschwinden erneut. Und das, obwohl die Türe eigentlich verschlossen war. Wo haben die den Schlüssel her ? Gegen zwei Uhr kommen sie ein drittes Mal, diesmal zusammen mit der Tante von der Rezeption. Die macht ein erstauntes Gesicht und quasselt die schlaftrunkene Ka auf Chinesisch an; Ka antwortet ergrimmt auf Japanisch, dass man ihr den Buckel runterrutschen solle und dass sie ungestört schlafen wolle. Einer der beiden Chinesen kann etwas Englisch und erläutert, ihnen seien zwei Betten in diesem Zimmer zugewiesen worden, aber nur eines sei noch frei. Ich berichte, dass ich um ein Doppelzimmer mit Bad ersucht und an dessen Stelle dieses Dreibettzimmer bekommen habe. Daraufhin verschwindet der Spuk wieder.

Abermals eine Stunde später, die Uhr zeigt 3 Uhr früh, kommen diesmal mindestens 10 Leute in unser Schlafgemach, darunter das halbe Hotelmanagement und ein Vertreter der Volksbefreiungsarmee. Nach Überprüfung der Unterlagen habe man festgestellt, dass die Ka hier illegal ruhe; sie habe nicht eingecheckt, und außerdem herrsche in diesem Dormitory Geschlechtertrennung.
Jetzt bin ich aber baff. Ich hatte beim Ausfüllen der Formulare durchaus meine Ehefrau mit aufgelistet, aber das ist bei der Übertragung des englischen Formulars in ein Chinesisches durch das Personal offenbar verbaselt worden, Schichtwechsel, Farbtöpfe, Kongress, Personalmangel....
Als Ka, dauernd von irgendwem auf Chinesisch angesprochen, wütend ob der verpatzten Nachtruhe anfing, mit Kissen zu werfen, ging sogar die Volksbefreiungsarmee in die Defensive. Nach einer kurzen Beratung bat man sie höflich, in ein vollkommen leeres Damenzimmer umzuziehen; gegen vier Uhr morgens war das Problem gelöst, und ins Kunlun Binguan kehrte Nachtruhe ein.

1985, da gab's in China noch allerhand zu erleben, das sag ich dir !

Auch im CAAC-Büro (China Airlines) von Wulumuqi sind nur lauter tranige, gleichgültige und stinkfaule Burschen tätig, und es dauerte einen halben Tag, bis wir unsere Tickets nach Lanzhou endlich bekamen. Weitere Auskünfte oder Reservierungen scheiterten an der Sabotage durch das lustlose Personal.

 

renminpark

Im Renmin-Park treibt das Volk Gymnastik

 

Was also tun, wenn ein widriges Schicksal und neiderfüllte Götter dich nach Urumchi verschlagen haben ? Eine hübsch bemalte Moschee steht gegenüber dem Busbahnhof und reckt sich schlank und farbig aus dem staubigen Grau der hässlichen Stadt, und wer noch keinen Park gesehen hat, sollte den Volkspark Renmin Gongyuan besichtigen, aber wer nach nahezu durchwachter Nacht der Ruhe bedarf oder schon weiß, wie Parks gemeinhin aussehen, der kann sich den Volkspark auch sparen. Dass wir diesen Park, der das einzige zusammenhängende Grün in Urumchi bildet, dennoch besuchten, hat einen tieferen Grund: Vor seinen Toren werden nämlich Tickets für die Ausflugsbusse in die Umgebung verkauft, denn wir wollen das Wochenende lieber nicht in dieser Stadt und in diesem Hotel verbringen.

"Zum Tianchi-See im Tianshan-Gebirge ? Da haben wir leider nur noch einen Sitz frei. Wollen Sie nicht vielleicht woanders hinfahren ? Nein ? Dann kann ich zu meinem Bedauern nichts machen", sagt die Chinesin im Ticketkabuff, wobei ihr das Bedauern nicht anzumerken war.

Nun ist der Frank zwar kein Nobelpreis-Kandidat, und manchmal baut er durchaus auch dicke Schnitzer, aber ganz blöde ist er nun doch nicht. So ist ihm inzwischen nämlich durchaus klar geworden, dass der Homo postculturrevolutionarius sinensis, dieses in China neu entwickelte Modell der menschlichen Evolution, mit dem alten Adam noch mancherlei gemeinsam hat. Also bittet er die Lady höflich, ihre Unterlagen noch einmal genau zu überprüfen, und deutet beiläufig an, dass er die Bustickets auch in FECs bezahlen könne. Das hättest du erleben sollen, wie beflissen die junge Dame dieser höflichen Bitte nachkam und, welch ein Zufall, doch noch ein zweites Billet für morgen zutage förderte ! Dass sie die FECs dann schleunigst in die eigene Tasche steckte und dafür RMB in die Kasse legte, das liegt in der Natur sozialistischer Gegebenheiten.

Dass wir schon früh um 6 Uhr aufstanden und das unwirtliche Binguan im Morgengrauen wie die Diebe durch den Notausgang verließen, weil die Haustüre noch zu war, das war eigentlich unnötig, denn die ersten Busse fahren erst um Viertel nach sieben. Da jedoch landesweit Beijing-Zeit herrscht, tagt es hier nicht vor halb sieben, und wir können den chinesischen Frühaufstehern bei ihrer Morgengymnastik zusehen und den Straßenfegerbrigaden aus dem Weg gehen, die mit mächtigen Reisigbesen den Staub von den Straßenrändern gleichmäßig auf die Fahrbahn verteilen. Nur kurze Zeit später rollen wir aus der Stadt hinaus, weit nach Nordwesten hin, bis man die schwarzen Schlote und rußigen Raffinerien nicht mehr sehen kann. So öde die Wüste auch ist, wenn man aus einer Stadt wie Urumchi kommt, findet man sie wunderschön.

 

strassenfeger

Straßenkehrer in der Morgendämmerung

 

Wenn der Bus die Hauptstraße verlässt und das im Norden liegende, bis zu 5400 m hohe Gebirge ansteuert, beginnt für den Fahrer körperliche Schwerarbeit, denn nun geht es über wilde Pisten, durch enge Schluchten, über sandigen Grund, auf dem die Räder genussvoll durchdrehen, ständig und zunehmend steiler bergauf, und es würde sicherlich noch mehr Spaß machen, wenn unser Bus der einzige wäre. Aber heute ist Sonntag, und dazu sind noch Sommerferien, und schon schwant mir Ungutes, denn die staubige Fahrbahn füllt sich, je unwirtlicher die Gegend wird, mit immer mehr Vehikeln aller Art, in der Überzahl Busse, aber auch LKWs, auf deren Pritsche sich sinouigurisches Volk drängelt, Jeeps, Minibusse, Taxis... --- ganz Urumtschi scheint heute auf dem Weg in die Berge zu sein. Und damit kein Zweifel besteht: Dieser Weg führt nirgendwo anders hin als zu dem Tianchi-See in den Bergen, an dem wir uns norwegische Einsamkeit erhofft hatten.

Gut, dass ein wilder Bergbach die rohe Chaussee säumt; mit dessen Hilfe wird das laufend verkochende Kühlwasser ergänzt und unser Bus vor dem Kollaps bewahrt, obwohl da angesichts der steilen Kehren auch modernere Modelle schnell ins Hecheln geraten. Entsprechend häufen sich auch die Havarien, und die Busbrüchigen stehen um ihr malträtiertes Vehikel herum, das im Schatten jappt und schnauft, Dampf und Öl schwitzend. Auf den letzten 10 km geraten wir in einen veritablen Stau; auf den Serpentinen, die sich den Berg hinanringeln, sind 120 Busse und 50 andere Fahrzeuge zu zählen, das wird, scheint mir, ein munteres Wochenende werden !

 

nach.tianchi

Weg zum Tianchi-See: Erster Halt nach Abzweigung in die Berge

 

Wird es auch. Es sieht, nach einer Stunde Stau wie auf der Autobahn München-Salzburg zu Ferienbeginn, mit zunehmender Annäherung an das Ziel aus, als ob hier in Kürze ein Europapokal-Endspiel zwischen Manchester United und Real Madrid angepfiffen würde. Riesige Waldparkplätze, mit Bussen vollgepackt, Hunderte davon, die anderen Karren gar nicht mitgezählt, und eine ununterbrochene Prozession von, fast hätte ich gesagt, Fans, aber es findet leider doch kein Fußballspiel statt, sondern es handelt sich um ein schlichtes Wochenend-Ausflugsziel in Xinjiang.

Der See und die umgebende Berglandschaft, der Kranz von schneebedeckten 5000ern, die sich im klaren Tiefblau des Sees spiegeln, ein Anblick, ganz wie in der Schweiz, einfach hinreißend ! Und hinreißend auch der Anblick der Massen, die sich den staubigen Uferpfad entlangwälzen, und unser Bus, eine milchige Staubfahne aufwirbelnd, schiebt sich im Schritttempo mittenmang durch bis zum Ende des Saumpfades, wo sich dieser um eine Fichtenkiefertannengruppe herumwindet und in einer bauchigen Verbreiterung ausläuft. Auch hier parken schon einige Busse, es scheint die Endstation für Linienbusse zu sein. Und es drängen sich die Scharen, als gäbe es irgendwo Freibier, der Fahrer schreit noch laut, dass die Rückfahrt um 16 Uhr sei, und dann versinken wir im Gewimmel.

 

tianchi

Nein, es ist nicht der Vierwaldstätter See, sondern der Tianchi in Xinjiang !

 

Vom Seeufer bis zum Hang hinauf ist an dieser Stelle kein Wald, sondern eine Art Campingwiese, auf der einige schlichte Holzchalets im finnisch-schwyzerischen Fantasiestil gleichmäßig verteilt stehen, und diese kann man mieten. In dieser Absicht sind wir nämlich hier hergekommen, um am herrlichen Tianchi-See zwei Tage lang Waldesstille und Vogelsang zu genießen. Die Rezeption ist schneller gefunden als die Waldesstille, und wir bekommen einen kantigen Schlüssel für die malerischste der Hütten ausgehändigt. Sehr schlichter Komfort, aber sauber bezogene Betten und ein gewaltiger Wassertank, der das Innere des Häusels zur Hälfte anfüllt.

Kaum sind wir alleine in unserem Stübchen, der Tee ist gerade aufgegossen, da fängt es an zu spuken. Es raspelt an den Wänden, es knispelt an der Tür, und an dem riesigen, vorhanglosen Fenster erscheinen Gesichter --- wir sind belagert von Neugierigen, die ihre Nasen an der Fensterscheibe plattdrücken, um zu sehen, was die Ausländer in dem Häuschen so treiben. Und wenn erst vier oder fünf Leute gaffen, sind es drei Minuten später sechzehn oder siebzehn, und nach einer halben Stunde ist der Tianchi-See um eine Attraktion reicher: Selbst Humpel-Omas und Wackelgreise krauchen die Wiese herauf zu dem Hüttlein, vor dem sich Erwachsene zu Gruppenfotos scharen und wir uns auf die Verteidigung der Burg einrichten: Das Bettlaken wird mit Reißzwecken, die sich gottlob in der Nachttisch-Schublade fanden, vor die Fensterscheibe gepinnt, die herzigen Guckfensterlein neben der Türe werden mit Handtüchern verhängt, und dann warten wir einfach, bis die Gernseher sich allmählich verlaufen. In einem ruhigen Augenblick machen wir einen Ausbruchversuch und mischen uns unter die Heerscharen am Seeufer.

Lauschiges Grün, idyllische Saumpfade, einladende Aussichtsfelsen --- aber hinter jedem Busch lagert eine Großfamilie, unter jedem Baum picknickt eine Sippe, auf jedem Felsen hat sich eine Mischpoke niedergelassen, Konservendosen, Scherben, Abfälle und Fäkalien zieren Wegesrand und angrenzendes Grün, so dass man besser daran tut, den Seemannsblick in die Ferne schweifen zu lassen. Dort, am fernen gegenüberliegenden Ufer fällt der schweifende Blick auf eine Gruppe von Paos, wie die Yurten der kasachischen Nomaden heißen.

 

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Lamm-Kebab, auf uigurische Art gewürzt

 

Am anderen Ende des Uferpfades sind zahlreiche mehr oder weniger stabile Bretterbuden aufgereiht, an denen es Mittagskost gibt. Da die Lattengitterkottergatterbudenbesitzer ihre Ingredienzen, ob Nudeln, ob Obst, ob Tee oder Fleisch, allesamt über den beschwerlichen weiten Weg heranschaffen mussten und zudem hier keine Konkurrenz in Form richtiger Restaurants droht, nehmen sie knapp 50% höhere Preise als in Urumchi, aber wenn der Magen knurrt, nimmt man das eben in Kauf. Der verlockendste Stand wird von einer uigurischen Großfamilie im Teamwork geführt: Im Hintergrund hocken diverse Damen, mit ihren farbigen Kopftüchern und güldenem Ohrgeschmeide Zigeunerinnen nicht unähnlich, und zerschnetzeln ein frisch geschlachtetes Lamm, daneben spießt der vielköpfige Nachwuchs die Fleischbrocken auf Metallspießchen, und vorne, an der Grillglut, thront ein bärtiger Ayatollah und röstet, würzt und preist sein Shish Kebab lautstark an, während ein Halbwüchsiger wieselflink kassiert und die lapprigen Scheine in einen großen Pappkarton befördert, der schon weitgehend vollverdient ist. Und jetzt rat mal, wer da schon hockt und auf beiden Backen kaut:

Sönke und Peer....

 

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Fladenbrot-Mullah auf dem Markt

 

Am Nachbarstand wird Fladenbrot gebacken. Wir kaufen auch gleich fürs Abendessen mit ein, denn am Seeufer wächst nichts außer den Müllbergen, und versehen uns auch mit Obst und ein paar Botteln Uigurenwein, denn wenn die Trauben in diesen Landstrichen so köstlich munden, kann der Wein auch nicht allzu übel sein. Aber --- wie kommen wir wieder in unser Hexenhäusel rein ? Das ist noch immer, oder schon wieder, von einer Menschentraube umgeben, und die Leute stehen vor unserer Haustüre Schlange, um sich vor dem hölzernen Palazzo ablichten zu lassen, und das ist in China meist eine größere Zeremonie. Zugegeben, die Architektur ist für Uiguristan reichlich exotisch.

Wir hocken uns erst mal in der Nähe auf die Wiese und zersäbeln eine Wassermelone in der Hoffnung, dass ab 16 Uhr der Karneval hier ein Ende nimmt und die wildesten Scharen dann im Bus nach Urumchi sitzen, aber zu unserem Leidwesen lässt sich erst um halb fünf ein schwacher Sog in Richtung Parkplatz feststellen. Eine Stunde später können wir, ohne einen Massenauflauf zu verursachen, in unser Märchenschloss schlüpfen, um halb sieben dieselt der letzte in Sichtweite befindliche Bus davon, und um 20 Uhr haben wir endlich den See für uns alleine.

 

chinerick

Chinericks Kommentar:

Es sprach ein Hirsch am Tianchi-See
zu seinem Weib, dem zarten Reh:
"Dort lagern und baden
die wahren Nomaden ---
Bald rollen sie wieder auf der Chaussee !"

 

 

pao

Die kasachischen Nomadenyurten heißen in China Pao

 

Zu dieser Stunde ist es wegen Beijing-Zeit noch lange sonnig und hell. Wir erschrecken beim Spätnachmittagsbad die See-Forellen, die schon aufgeatmet hatten und sich alleine wähnten, genießen beim Abendspaziergang die norwegische Einsamkeit und finden endlich auch Waldeslust und einige Walderdbeeren, die den Massen-Ansturm überlebt haben; es fehlen eigentlich nur Alphorn und Edelweiß, um zu vergessen, dass wir nicht in Schwyzer, sondern in uigurischen Landen weilen. Gut, dass wir uns mit ausreichendem Proviant eingedeckt hatten, denn wenn sich die Nacht über den Tianchi-See senkt, ist wirklich keine Menschenseele mehr zu sehen. Dafür erscheinen Rehe und Rinder von irgendwoher und fressen sich an den Müllbergen die Wampe voll mit Obstabfällen und Picknickresten, während wir mit Sönke und Peer vor unserer Almhütte hocken, mit Blick auf See und Berge, und zum Sonnenuntergang schweren uigurischen Wein schlürfen, honigsüß wie Portwein. Vom Wein angesäuselt necken wir den baumlangen Peer mit Schüttelreimen:

"Einmal hielt Peer den Schnabel nur, da hing er an der Nabelschnur."
"
Beim Wettbewerb der Segelflieger, da wurde Peer, der Flegel, Sieger."
"
Da wolln wir mal ganz offen sein: Peer fand sich hier besoffen ein !"
"
Der Peer, der plagte sinnenleer mit Susilein die Linnen sehr."
"Ordinäres Volk, ihr !" moserte dieser, und dann gelang ihm endlich aus dem Stegreif eine hölzerne Erwiderung:
"
Habt nichts im Kopf als Tittensaugen, was sollen solche Sitten taugen ?"

Leider zog er sich damit nur noch mehr Spott zu, denn reichlicher Alkoholgenuss ist ein richtiges Doping für Schüttelreim-Spötter:

"Beim Peer ist längst die Liebe trocken, wenngleich ihn noch die Triebe locken."
"
Nein, nichts gefährdete je seine Tugend, denn Peer verbrachte mit Tee seine Jugend !"
"
Peer strapaziert kein Sofa mehr, statt Susi liebt er sein Mofa sehr !"
"
Besser ist's, wir meiden Lust, damit du, Peer, nicht leiden musst !" prasselte es auf den Ärmsten ein, und wenn ich die Sprüche hier alle aufzeichnen wollte, kämest du, lieber Leser, so bald nicht nach Urumchi zurück.

Herrlich, am Morgen vom Meckern der Ziegen und nicht der Chinesen geweckt zu werden und bis 10 Uhr in der Stille, die nur vom Brümmeln des Stromgenerators gestört wird, herumzuspazieren oder im See zu baden. Dann aber setzt die erneute Morgeninvasion ein und wir fliehen auf einsamen, zuvor erkundeten Bergpfaden weit in die Wildnis, wo nur vereinzelte Nomadenyurten und Schafe zu sehen sind. Sönke und Peer wollen noch länger bleiben, aber wir haben für morgen den Flug nach Lanzhou gebucht, weshalb sich um 16 Uhr, als wir den Bus nach Urumchi bestiegen, unsere Wege trennten. Zum Abschied wollten wir dem Peer noch einen netten Schüttelreim mitgeben, aber er hatte anscheinend die Schnauze voll davon.
"Es reicht, ich brauch 'ne Zeitlang Abstand. Ich bin anscheinend im Gegensatz zu euch vollkommen unbegabt für diese Kunst."
"Sein Tatendrang wie Sturmgewalt, der schrumpfte schnell zur Wurmgestalt", konnte ich mir nicht verkneifen zu kommentieren.

Mit waldluftgeblähten Lungen rumpeln wir wieder in Smog und Staub des Jammertals von Urumchi nieder, wo wir uns nach einem anderen Hotel umsahen und Aufnahme in der für Übersee-Chinesen und Hongkonger vorbehaltenen Herberge fanden, wo man es mit dem Vorbehalt nicht so genau nahm oder Ka einfach zur Übersee-Chinesin erklärte.

 

seebaden

Der klare Tianchi-See lädt zum Morgenbad ein

 

In Xinjiang, das wir morgen verlassen, sind wir bei den Uiguren meist auf freundliche Aufnahme und lächelnde Gesichter gestoßen. Dass die Chinesen besonders grantig wirkten, schreiben wir der Tatsache zu, dass sie sich hier gleichsam im Exil befinden. So freuen wir uns auf Lanzhou und Sichuan, wo die Chinesen in ihren Herzlanden leben, und wollen nun endlich fort von Löß, Sand und Wüste, hinein ins wahre China, wo steile Berge und grüne Täler wie auf chinesischen Tuschegemälden auf uns warten und Bauern mit Strohhüten in ihren sauber angelegten Reisfeldern arbeiten. Sicher treffen wir dort den einen oder anderen Lao-tse, die eine oder andere Himmelsfee an.....

 

tanz10

 

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