CHINA 4
![]() |
||
![]() |
XIAN | ![]() |
Auch die Volksbefreiungsarmee stand uns in Taiyuan heute zu Diensten: Kaum waren wir im Bahnhof in das Wartesaal-Gewühl eingetaucht, fischte uns ein junger Soldat, der als Bahnpolizist Dienst hatte, aus dem Gewimmel und führte uns ab in einen separaten Raum, der laut Inschrift an der Tür als Wickelraum für Mütter mit Kleinkind gedacht war und wo wir unbehelligt sitzen konnten. Und als die Schlacht um den Zug begann, wurden wir von zwei lieblichen Bahn-Hostessen zu unserem Schlafwagen-Abteil geleitet. Selbst wenn es sich um die harte Version handelt, sind die Liegen durchaus brauchbar und so billig, dass sich auch die Chinesen drum reißen. Tagsüber räkeln sie sich träge in ihren Sitzen und dösen, aber wenn die müden Ausländer zu Bett gehen, werden sie putzmunter, paffen und quackeln, keifen und kloppen Karten, dass für uns an Schlaf erst weit nach Mitternacht zu denken ist. |
Chinericks Kommentar: Zwei Ausländer, die
nach Taiyuan reinschneien, |
Noch bevor die unvermeidlichen Zuglautsprecher zu dudeln und zu quäken beginnen, wird man von dem Radau geweckt, den die Mitreisenden veranstalten, sobald es licht wird. Wer mit asiatischen Gebräuchen vertraut ist, wird wissen, dass Asiaten grundsätzlich gegen Lärm immun sind und auch in einer Dezibel-Disco glatt einschlafen können. Deshalb tun sie sich während der Schlafenszeit auch keinen Zwang an, wer pennen will, der pennt, auch wenn die anderen alle singen. |
![]() |
![]() |
Imposanter Strom (Huanghe 1985) |
Gelber Boden, braunes Rinnsal (Huanghe 2005) |
Der schlaftrunkene
Blick fällt auf einen gelben, träge
dahinströmenden Fluss, der
dementsprechend auch Huanghe (Gelber Fluss) genannt wird. 1985
war das noch ein Fluss, der heute wegen zügelloser
Wasserentnahme für die Landwirtschaft und Industrie zu einem
Rinnsal versiegt ist. Während die Kaishui-Lady mit ihrem
Kessel
reihum die Teetassen füllt und die Erdnussschalen und
Melonenkerne frühstückender Fahrgäste zum
offenen Fenster
hinausfliegen, rumpelt die puffende Dampflok über eine lange
Brücke auf das andere Flussufer, zockelt durch sauber
angelegte
grünende Felder und erreicht wiederum pünktlichst
Xian, die
Hauptstadt des längst vergangenen alten China.
Der Bahnhof von Xian ist weiträumig, hell und supermodern --- nur leider noch im Rohbau. Die Schuppen und Hütten ringsumher, die derweil das Bahnhofsgebäude vertreten müssen, sind mit dieser Aufgabe völlig überfordert. Hier kann man nicht mal ausspucken, so dicht gerammelt stehen die Wartenden, Reisenden, Gaffenden, Zusteigenden, Lungernden, Aussteigenden, Taschendiebsenden, Fahrplanverkaufenden.... Mit dem Gepäck rammen wir uns eine Schneise durch die wabernden Bäuche, knuff, es weicht der Vordermann, puff, es öffnet sich ein schmaler Pfad, ramm, die Peanuts-Verkäuferin flieht, und schon haben wir uns aus der Rumpelkammer-Enge durch die Sperre und Gassen auf den weiten Bahnhofsplatz durchgewühlt, der jedoch, die Spucke bleibt uns fast weg, von Menschenmassen ebenso überbrodelt. Eine geschlagene halbe Stunde dauert es, bis wir in dem Bus sitzen, der uns zu dem vielversprechenden Renmin Daxia (Große Volksherberge) dieselt. |
![]() |
Menschenmassen, nicht zu fassen |
Ché palazzo,
diese Herberge! Eine Wuchtbrumme im stalinistischen Baustil, ein
Trumm, als sollte hier das Finanzministerium einziehen. Zinnen
und Türmchen, und an beiden Seiten je ein achteckiger,
restauranthaltiger Schnörkelpavillon. Vor det Janze erstreckt
sich ein chinesisches Gärtlein mit Blümelein und
runden
Brücklein, mit Teichlein und Springbrünnlein, des
Nachts
illuminiert im Glanze unzähliger Glühbirnlein aller
Farben des
Regenbogens. Erwartungsvoll stemmt der Reisende seinen Rucksack
in das Innere dieses Märchenschlosses, dessen stuckdekorierte
Innenhalle widerhallt von
englischfranzösischdeutschjapanischen
Lauten Logis-suchender Scharen, allein, es fehlt der Hotelier.
Gähnende Leere an der Rezeption, vor der eine Italienerin
tobt,
weil sie dringend zum Flugplatz muss, aber keiner da ist, der ihr
Gepäck aus dem Safe befreien könnte. Die Oma am
Andenkenladen
zuckt die Schultern, das Zimmermädchen ist nur fürs
Bettenmachen zuständig, die Kellnerin nur für den
Speisesaal,
der Liftboy nur für den Aufzug, und die Telefonistin nur
für
Ferngespräche. |
![]() |
Außen hui, innen kakerlikak, das Renmin Daxia |
Der Prunkbau hier ist nur für Gruppenreisende. Individualtouristen müssen mit dem unscheinbaren Hinterhaus vorlieb nehmen, in dem man für 74 Yuan ganze Suiten, zwei Doppelzimmer mit gemeinsamem Bad, mieten kann, und das teilen wir uns mit dem deutschen Pärchen, das uns seit Taiyuan anhänglich folgt, weil wir mit der chinesischen Schrift wenig Probleme haben. Da sich, als unser Gepäck schwer auf das Bett plumpste, eine ganze Sippschaft Kakerlaken aus selbigem erschrocken davon machte und in vermeintlich sicherere Ritzen flüchtete, hüllten wir den gesamten Palais in eine Wolke Chemie, kehrten der Bettenburg den Rücken und erwanderten uns erst mal ein örtliches Restaurant, in dem alle Platten, die wir aus der ansehnlichen Speisekarte herausrieten, artige Volltreffer waren. Unsere beiden Begleiter malten eifrig chinesische Schriftzeichen ab, um in Zukunft selbständig zwischen Muscheln und Kutteln, Fisch und Knoblauch, Bambus und Reisschnaps unterscheiden zu können. Im Hotel beäugten wir unsere Beute: Chinesische Kakerlaken sind chemische Keulen offensichtlich wenig gewöhnt und streckten, kakerlikak, massenhaft die Fühler von sich. Als Denkmal für das Dienstpersonal kehrten wir die ganze Strecke zu einem malerischen Häuflein vor der Tür zusammen. Angesichts der Abenteuer im Binguan zu Datong und der blinden Passagiere aus Kakerlakistan in Xian stellten wir seufzend fest, dass China noch einen langen Marsch zu einem ordentlichen Reiseland vor sich hat; was würde uns in den kommenden Wochen noch alles erwarten? Fast die gesamte Stadt Xian liegt innerhalb einer trutzigen, nahezu komplett erhaltenen Stadtmauer, die in etwa der Umfriedung des einstigen Kaiserpalastes entspricht. Wo heute ganz Xian unterkommt, hauste im Mittelalter nur der Genosse Kaiser samt Gesinde. Aber damals lebten wahrscheinlich in ganz China nur so viele Leute wie wir heute am Bahnhof erlebt hatten. Von Japan bin ich ja einiges gewöhnt, aber die Volksmassen in China, das schließlich nicht so ein pieseliges Archipel ist wie Nippon, stellen alles bisher Geschaute in den Schatten. Das sterbliche Volk lebte jedenfalls zu Kaisers Zeiten draußen vor den Toren, wo bis heute noch ein Flecken den stolzen alten Hauptstadtnamen Chang'an führt. |
![]() |
![]() |
Kleine und große Gänsepagode |
Von Kaisers ist in
Xian heute nicht mehr viel zu sehen; man begnüge sich mit der
Großen und Kleinen Gänsepagode, beide in
hübschen Parks
gelegen. Die Kleine ist eleganter, wenngleich ihr Obergeschoss im
Laufe der Geschichte abhanden gekommen ist und auf dem
verbliebenen Rest ein Wald von Unkraut wuchert. Die Große ist
zwar noch komplett, aber ein eher ungeschlachtes, plumpes Modell.
Sehenswert ist auch noch der Xingqing-Park, für 4 Fen zu
betreten; ausländische Gäste müssen das
fünffache zahlen. Na
schön, 20 Fen belasten unsere Kasse nicht wirklich, aber ich
will doch mal ausprobieren, wie weit meine Übungen in
chinesischer Dreistigkeit gediehen sind. Wie ein echter Chinese
krieche ich also mit dem halben Oberkörper durch das
Ticketschalterfenster, recke den Arm tief ins Innere rein und
klopfe energisch auf den Block mit den Tickets zu 4 Fen,
woraufhin die Tante schließlich genervt mit einem ergebenen,
milden Lächeln und angedeutetem Seufzer das volkseigene
Billigticket herausrückt. Hurra, ein Sieg des Kapitalismus, 8
Cent
gespart! Du weißt ja, wegen 2 Cent Ersparnis pro Liter fahren
manche Autofahrer von Köln bis nach Holland zum Tanken. |
![]() |
Die tonlose Ton-Armee |
Die Grabungen sind heute eingestellt, obwohl nur ein Teil des riesigen Heeres freigelegt ist. Andere Figuren stecken noch bis zum Nabel im Löß, weitere liegen umgefallen und zerbröselt wie nach verlorener Schlacht, und kein Mensch weiß, was da noch alles im Boden steckt. An zwei weiteren, davon weit entfernten Stellen hat man probeweise ein bisschen herumgepuhlt, aber dann erschrocken die Löcher wieder zugeschüttet: Überall waren die Archäologen fündig geworden, der ganze Untergrund steckt offenbar voller Tonriesen, die mehr als 2000 Jahre alt sind --- wer aber zahlt die Grabungen, wer die Erhaltung der Funde in einem noch immer armen Land wie China? Die freigelegte Stelle ist jetzt überdacht und für Besucher aus aller Welt eine erstrangige Attraktion. Die Bauern in der Umgebung dürfen weiterhin unbehelligt ihre Äcker bestellen, in dem Bewusstsein, dass unter ihnen eine riesige Armee Wache hält --- nur Brunnen bohren dürfen sie nicht. |
![]() |
Das Yang Guifei-Bad Huaqingchi, ein Juwel altchinesischer Architektur |
Auch das Thermalbad Huaqingchi in Lindong ist historisches Gelände, denn hier suhlten sich Kaiser und Höflinge der Tang-Zeit (618-906). Auch wir fühlen uns heute, dem wohl heißesten Tag bisher, zu einem Bad aufgelegt, zahlen die 45 Fen Eintritt und verschwinden nach der üblichen Wartezeit ---einsam ist es in China gewiss nirgendwo--- in kargen Einzelzellen, in denen man sich von dem gleichen heißen Nass berieseln lassen kann wie einst Kaiser und Konkubinen. Auch die legendäre Yang Guifei, die berühmteste Schönheit Asiens, hat hier angeblich ihren Rosenpopo benetzt, und staunende Gläubige bewundern noch heute ihre güldene Badewanne in einer der knallrot getünchten Hallen. Ursprünglich war sie die Gattin des Prinzen Shou, doch dessen Papa, Kaiser Xuanzong, war von der Schwiegertochter so hingerissen, dass er sie seinem Filius ausspannte und das Mädel dermaßen verwöhnte, dass er darob glatt das Regieren vergaß. Dies nahm ihm der Hofstaat krumm; ein Kaiser, der seine gesamte Apanage dazu einsetzt, um seiner Liebsten auch im Winter täglich frische Lychees vorzusetzen anstatt ordentlich Kriege zu führen --- kein Wunder, dass eine Rebellion ausbrach und die schöne junge Guifei vor den Augen ihres Liebhabers aufgeknüpft wurde, bevor die kaiserliche Hofgarde zu Hilfe eilen konnte. Der einzige Trost für den entmachteten Kaiser war, dass kein Geringerer als Bo Juyi, Chinas Goethe, die tragische Romanze unter dem Titel "Lied des ewigen Kummers" der Nachwelt als Epos erhalten hat. |
![]() |
Yang Guifei nach dem Bad |
Chinericks Kommentar: In Huaqing fragten Touristen
die Leute: |
Anderem Kummer konnten wir glücklicherweise abhelfen. Ein halbes Dutzend Hongkong-Girls, den Tränen nah, kam auf uns Fremdlinge zugeschossen. Auf Englisch sprudelte es hervor, dass der hiesige Dialekt eine Verständigung auf Chinesisch unmöglich mache (Anmerkung des Autors: in Wahrheit lag es wohl eher an dem echt schauderhaften Hongkong-Chinesisch) und kein Mensch Englisch könne - wo geht please der Bus zurück nach Xian? Nun, mit dem waren wir gekommen, und mit dem fuhren wir auch wieder heim, und erleichtert kicherten und keckerten die Hongkong-Mädels bis zur Ankunft in Xian. Da es im
Sozialismus nicht darauf ankommt, möglichst viele
Gäste
zufrieden zu stellen, ist den Chinesen eine
belegschaftsfreundliche Arbeitszeit wichtiger. Um 17 Uhr machen
die Restaurants auf, und spätestens um halb neun ist die Kelle
wieder im Spind; Einlassschluss ist um Viertel vor acht. Wer so
spät kommt wie heute wir, der braucht als Vorspeise eine
Portion
Glück. Wir versuchen's im Xian-Restaurant, erster Stock:
Chinesische Küche, aber "mei you", nichts mehr da.
Zweiter Stock: Western food, da gehn wir erst gar nicht rein.
Dritter Stock: Canting, eine Art Kantine, noch Licht an, Kellner
traben fleißig umher. Wir hocken uns hungrig nieder, aber die
Kellnerin guckt auf ihre volkseigene Armbanduhr und flötet
bedauernd "mei you". Vierter Stock: Snacks und Disco,
aus der uralte Beatles-Songs ertönen. Hat noch auf, aber nur
noch Getränke und Tanz. Ungenießbar. Also wieder
runter, zum
Western food, und da geschehen die Zeichen und Wunder. Die Tante
kommt getappst, in der Hand einen Papierblock, aber sie nimmt
nicht wie erhofft die Bestellung auf, sondern legt das Dokument
wortlos auf den Tisch.
"Today finished" steht da drauf, argwöhne ich, aber weit gefehlt: Es ist eine handschriftlich auf Englisch verfasste Speisekarte! Wir sind gerettet, und der Gag: Nix Western food, alles Chop suey, Reis und Stäbchen.... |
![]() |
So sieht "Western food" in Xian aus! |
"Wie habt ihr
es eigentlich fertig gebracht, in dem Labyrinth und
Menschenbrodel am Bahnhof in nur zwei Stunden unsere Bahntickets,
und auch noch in der Volkswährung RMB, zu beschaffen?"
"Och, hier blickt doch ohnehin keiner durch. Wir sind
einfach schnurstracks ins erstbeste Dienstzimmer reingeplatzt und
den Bediensteten so auf die Nerven gegangen, dass sie uns auf dem
Dienstweg ins Kartenbüro gelotst haben, von hinten rein, wo
wir
sofort bedient wurden."
Eine etwas ungewöhnliche Art des Bahnticket-Kaufs, aber offenbar ganz effektiv. So weit, so gut. Aber damit sind noch nicht alle Probleme gelöst. Das waren nämlich Hartsitzer-Tickets, aber unser nächstes Ziel, Jiayuguan, liegt in der Provinz Gansu, und das sind zwei Tagereisen quer durch China. Nichts gegen die volkseigenen Hartsitze, da sind wir uns nicht zu schade dafür, aber zwei Tage und zwei Nächte lang? Wir brauchen Liegen, meinetwegen auch harte! In dem
Durcheinander vor der Bahnhofsbaustelle von Xian hat man auf
einen Ausländerschalter verzichtet. So stellen wir uns in der
Menschensuppe an, jeder in einer anderen Gafferschlange, machen
Augen, Nasen und Ohren zu, um von Tobakqualm, Rotzgeräuschen
und
stieren Blicken so wenig wie möglich zu inhalieren, und nach
40
Minuten Warten in der Mittagsglut, der Schalter ist in Sichtweite
gerückt, fällt dort eine Klappe runter und ein Schild
mit der
Inschrift "Mittagspause bis 14:30" erscheint.
"Ist das ein Mao-Spruch?", fragt einer der
ausländischen Gefährten, der in chinesischen
Schriftzeichen
nicht allzu bewandert ist."Vermutlich ja", antworte ich mit Ingrimm. |
![]() |
In den Buchläden lebt er noch... |
Am Nachmittag
erneutes Anstehen, und als wir wieder in Reichweite des Schalters
gelangen, löst sich die Schlange auf. "Mei you", sagt
mein freundlicher Vordermann schulterzuckend, "die Liegen
sind ausverkauft." Aus dem Gewoge auf dem Bahnhofsvorplatz, wo sich die Myriaden tummeln (der Schiller mit seinen "umschlungenen Millionen" war noch reichlich naiv), tauchen ab und zu Bettler auf und lassen sich von den Reisenden Geldscheine in die schwarzen Pfoten drücken, Einäugige, Lahme und Verstümmelte, die sich für jeden Fen (Geldscheine gibt es ab 1 Fen!) bis zum Boden verneigen --- der Sozialismus hat noch allerhand zu tun. Ausländer sind außer uns nicht zu sehen, weshalb sich eine neugierige Schar um uns versammelt, die minütlich wächst, obwohl eigentlich niemand von uns Feuer speien kann oder über sonstige sehenswerte Fähigkeiten verfügt. |
![]() |
Drei Langnasen!!!! --- das muss man sich mal anschauen! |
Die Rettung naht, aber diesmal nicht durch die Volksbefreiungsarmee, sondern durch zwei kurzbehoste, fremdländische Rucksacktypen deutscher Zunge, von denen einer mindestens zwei Meter groß ist. So einen menschlichen Turm, den muss man sich von Nahem ansehen! Und schon verlässt uns auch der letzte treue Fan.... |