CHINA 4
XIAN |
Chinericks Kommentar: Zwei Ausländer, die
nach Taiyuan reinschneien, |
Imposanter Strom (Huanghe 1985) |
Gelber Boden, braunes Rinnsal (Huanghe 2005) |
Der Bahnhof von Xian ist weiträumig, hell und supermodern --- nur leider noch im Rohbau. Die Schuppen und Hütten ringsumher, die derweil das Bahnhofsgebäude vertreten müssen, sind mit dieser Aufgabe völlig überfordert. Hier kann man nicht mal ausspucken, so dicht gerammelt stehen die Wartenden, Reisenden, Gaffenden, Zusteigenden, Lungernden, Aussteigenden, Taschendiebsenden, Fahrplanverkaufenden.... Mit dem Gepäck rammen wir uns eine Schneise durch die wabernden Bäuche, knuff, es weicht der Vordermann, puff, es öffnet sich ein schmaler Pfad, ramm, die Peanuts-Verkäuferin flieht, und schon haben wir uns aus der Rumpelkammer-Enge durch die Sperre und Gassen auf den weiten Bahnhofsplatz durchgewühlt, der jedoch, die Spucke bleibt uns fast weg, von Menschenmassen ebenso überbrodelt. Eine geschlagene halbe Stunde dauert es, bis wir in dem Bus sitzen, der uns zu dem vielversprechenden Renmin Daxia (Große Volksherberge) dieselt.
Menschenmassen, nicht zu fassen |
Ché palazzo, diese Herberge! Eine Wuchtbrumme im stalinistischen Baustil, ein Trumm, als sollte hier das Finanzministerium einziehen. Zinnen und Türmchen, und an beiden Seiten je ein achteckiger, restauranthaltiger Schnörkelpavillon. Vor det Janze erstreckt sich ein chinesisches Gärtlein mit Blümelein und runden Brücklein, mit Teichlein und Springbrünnlein, des Nachts illuminiert im Glanze unzähliger Glühbirnlein aller Farben des Regenbogens. Erwartungsvoll stemmt der Reisende seinen Rucksack in das Innere dieses Märchenschlosses, dessen stuckdekorierte Innenhalle widerhallt von englischfranzösischdeutschjapanischen Lauten Logis-suchender Scharen, allein, es fehlt der Hotelier. Gähnende Leere an der Rezeption, vor der eine Italienerin tobt, weil sie dringend zum Flugplatz muss, aber keiner da ist, der ihr Gepäck aus dem Safe befreien könnte. Die Oma am Andenkenladen zuckt die Schultern, das Zimmermädchen ist nur fürs Bettenmachen zuständig, die Kellnerin nur für den Speisesaal, der Liftboy nur für den Aufzug, und die Telefonistin nur für Ferngespräche.
Als die Italienerin einem Herzinfarkt nahe ist, kommt, gute zwanzig Minuten später, ein seimiger Typ aus einem Dienstzimmer geschlendert, holt sich aus der Küche einen Tee und kramt dann mit aufreizender Gelassenheit nach Schreibzeug und Schlüsseln. Ein bleicher Brite in der Ecke, gekleidet in einen blauen Monteur-Anzug mit Ballonmütze und Mao-Anstecker verzieht derart missbilligend seine Nase, dass ihm die Sommersprossen beinahe abzubröseln drohen; so hatte er sich die Umsetzung der Maozedong-Ideen und das berühmte "Wei renmin fuwu --- dem Volke dienen" offenbar nicht vorgestellt.
Außen hui, innen kakerlikak, das Renmin Daxia |
Der Prunkbau hier ist nur für Gruppenreisende. Individualtouristen müssen mit dem unscheinbaren Hinterhaus vorlieb nehmen, in dem man für 74 Yuan ganze Suiten, zwei Doppelzimmer mit gemeinsamem Bad, mieten kann, und das teilen wir uns mit dem deutschen Pärchen, das uns seit Taiyuan anhänglich folgt, weil wir mit der chinesischen Schrift wenig Probleme haben. Da sich, als unser Gepäck schwer auf das Bett plumpste, eine ganze Sippschaft Kakerlaken aus selbigem erschrocken davon machte und in vermeintlich sicherere Ritzen flüchtete, hüllten wir den gesamten Palais in eine Wolke Chemie, kehrten der Bettenburg den Rücken und erwanderten uns erst mal ein örtliches Restaurant, in dem alle Platten, die wir aus der ansehnlichen Speisekarte herausrieten, artige Volltreffer waren. Unsere beiden Begleiter malten eifrig chinesische Schriftzeichen ab, um in Zukunft selbständig zwischen Muscheln und Kutteln, Fisch und Knoblauch, Bambus und Reisschnaps unterscheiden zu können.
Im Hotel beäugten wir unsere Beute: Chinesische Kakerlaken sind chemische Keulen offensichtlich wenig gewöhnt und streckten, kakerlikak, massenhaft die Fühler von sich. Als Denkmal für das Dienstpersonal kehrten wir die ganze Strecke zu einem malerischen Häuflein vor der Tür zusammen. Angesichts der Abenteuer im Binguan zu Datong und der blinden Passagiere aus Kakerlakistan in Xian stellten wir seufzend fest, dass China noch einen langen Marsch zu einem ordentlichen Reiseland vor sich hat; was würde uns in den kommenden Wochen noch alles erwarten?
Fast die gesamte Stadt Xian liegt innerhalb einer trutzigen, nahezu komplett erhaltenen Stadtmauer, die in etwa der Umfriedung des einstigen Kaiserpalastes entspricht. Wo heute ganz Xian unterkommt, hauste im Mittelalter nur der Genosse Kaiser samt Gesinde. Aber damals lebten wahrscheinlich in ganz China nur so viele Leute wie wir heute am Bahnhof erlebt hatten. Von Japan bin ich ja einiges gewöhnt, aber die Volksmassen in China, das schließlich nicht so ein pieseliges Archipel ist wie Nippon, stellen alles bisher Geschaute in den Schatten. Das sterbliche Volk lebte jedenfalls zu Kaisers Zeiten draußen vor den Toren, wo bis heute noch ein Flecken den stolzen alten Hauptstadtnamen Chang'an führt.
Kleine und große Gänsepagode |
Sehenswert ist auch noch der Xingqing-Park, für 4 Fen zu betreten; ausländische Gäste müssen das fünffache zahlen. Na schön, 20 Fen belasten unsere Kasse nicht wirklich, aber ich will doch mal ausprobieren, wie weit meine Übungen in chinesischer Dreistigkeit gediehen sind. Wie ein echter Chinese krieche ich also mit dem halben Oberkörper durch das Ticketschalterfenster, recke den Arm tief ins Innere rein und klopfe energisch auf den Block mit den Tickets zu 4 Fen, woraufhin die Tante schließlich genervt mit einem ergebenen, milden Lächeln und angedeutetem Seufzer das volkseigene Billigticket herausrückt. Hurra, ein Sieg des Kapitalismus, 8 Cent gespart! Du weißt ja, wegen 2 Cent Ersparnis pro Liter fahren manche Autofahrer von Köln bis nach Holland zum Tanken.
Die tonlose Ton-Armee |
Die Grabungen sind heute eingestellt, obwohl nur ein Teil des riesigen Heeres freigelegt ist. Andere Figuren stecken noch bis zum Nabel im Löß, weitere liegen umgefallen und zerbröselt wie nach verlorener Schlacht, und kein Mensch weiß, was da noch alles im Boden steckt. An zwei weiteren, davon weit entfernten Stellen hat man probeweise ein bisschen herumgepuhlt, aber dann erschrocken die Löcher wieder zugeschüttet: Überall waren die Archäologen fündig geworden, der ganze Untergrund steckt offenbar voller Tonriesen, die mehr als 2000 Jahre alt sind --- wer aber zahlt die Grabungen, wer die Erhaltung der Funde in einem noch immer armen Land wie China?
Die freigelegte Stelle ist jetzt überdacht und für Besucher aus aller Welt eine erstrangige Attraktion. Die Bauern in der Umgebung dürfen weiterhin unbehelligt ihre Äcker bestellen, in dem Bewusstsein, dass unter ihnen eine riesige Armee Wache hält --- nur Brunnen bohren dürfen sie nicht.
Das Yang Guifei-Bad Huaqingchi, ein Juwel altchinesischer Architektur |
Auch das Thermalbad Huaqingchi in Lindong ist historisches Gelände, denn hier suhlten sich Kaiser und Höflinge der Tang-Zeit (618-906). Auch wir fühlen uns heute, dem wohl heißesten Tag bisher, zu einem Bad aufgelegt, zahlen die 45 Fen Eintritt und verschwinden nach der üblichen Wartezeit ---einsam ist es in China gewiss nirgendwo--- in kargen Einzelzellen, in denen man sich von dem gleichen heißen Nass berieseln lassen kann wie einst Kaiser und Konkubinen. Auch die legendäre Yang Guifei, die berühmteste Schönheit Asiens, hat hier angeblich ihren Rosenpopo benetzt, und staunende Gläubige bewundern noch heute ihre güldene Badewanne in einer der knallrot getünchten Hallen. Ursprünglich war sie die Gattin des Prinzen Shou, doch dessen Papa, Kaiser Xuanzong, war von der Schwiegertochter so hingerissen, dass er sie seinem Filius ausspannte und das Mädel dermaßen verwöhnte, dass er darob glatt das Regieren vergaß. Dies nahm ihm der Hofstaat krumm; ein Kaiser, der seine gesamte Apanage dazu einsetzt, um seiner Liebsten auch im Winter täglich frische Lychees vorzusetzen anstatt ordentlich Kriege zu führen --- kein Wunder, dass eine Rebellion ausbrach und die schöne junge Guifei vor den Augen ihres Liebhabers aufgeknüpft wurde, bevor die kaiserliche Hofgarde zu Hilfe eilen konnte. Der einzige Trost für den entmachteten Kaiser war, dass kein Geringerer als Bo Juyi, Chinas Goethe, die tragische Romanze unter dem Titel "Lied des ewigen Kummers" der Nachwelt als Epos erhalten hat.
Yang Guifei nach dem Bad |
Chinericks Kommentar: In Huaqing fragten
Touristen die Leute: |
Anderem Kummer konnten wir glücklicherweise abhelfen. Ein halbes Dutzend Hongkong-Girls, den Tränen nah, kam auf uns Fremdlinge zugeschossen. Auf Englisch sprudelte es hervor, dass der hiesige Dialekt eine Verständigung auf Chinesisch unmöglich mache (Anmerkung des Autors: in Wahrheit lag es wohl eher an dem echt schauderhaften Hongkong-Chinesisch) und kein Mensch Englisch könne - wo geht please der Bus zurück nach Xian? Nun, mit dem waren wir gekommen, und mit dem fuhren wir auch wieder heim, und erleichtert kicherten und keckerten die Hongkong-Mädels bis zur Ankunft in Xian.
"Today finished" steht da drauf, argwöhne ich, aber weit gefehlt: Es ist eine handschriftlich auf Englisch verfasste Speisekarte! Wir sind gerettet, und der Gag: Nix Western food, alles Chop suey, Reis und Stäbchen....
So sieht "Western food" in Xian aus! |
Eine etwas ungewöhnliche Art des Bahnticket-Kaufs, aber offenbar ganz effektiv. So weit, so gut. Aber damit sind noch nicht alle Probleme gelöst. Das waren nämlich Hartsitzer-Tickets, aber unser nächstes Ziel, Jiayuguan, liegt in der Provinz Gansu, und das sind zwei Tagereisen quer durch China. Nichts gegen die volkseigenen Hartsitze, da sind wir uns nicht zu schade dafür, aber zwei Tage und zwei Nächte lang? Wir brauchen Liegen, meinetwegen auch harte!
In den Buchläden lebt er noch... |
Am Nachmittag
erneutes Anstehen, und als wir wieder in Reichweite des Schalters
gelangen, löst sich die Schlange auf. "Mei you", sagt
mein freundlicher Vordermann schulterzuckend, "die Liegen
sind ausverkauft."
"Kein Problem", tröstet mich der gesprächige Herr aus der Warteschlange. "Ausländische Gäste werden vom Zugpersonal bevorzugt behandelt."
Aus dem Gewoge auf dem Bahnhofsvorplatz, wo sich die Myriaden tummeln (der Schiller mit seinen "umschlungenen Millionen" war noch reichlich naiv), tauchen ab und zu Bettler auf und lassen sich von den Reisenden Geldscheine in die schwarzen Pfoten drücken, Einäugige, Lahme und Verstümmelte, die sich für jeden Fen (Geldscheine gibt es ab 1 Fen!) bis zum Boden verneigen --- der Sozialismus hat noch allerhand zu tun. Ausländer sind außer uns nicht zu sehen, weshalb sich eine neugierige Schar um uns versammelt, die minütlich wächst, obwohl eigentlich niemand von uns Feuer speien kann oder über sonstige sehenswerte Fähigkeiten verfügt.
Drei Langnasen!!!! --- das muss man sich mal anschauen! |
Die Rettung naht, aber diesmal nicht durch die Volksbefreiungsarmee, sondern durch zwei kurzbehoste, fremdländische Rucksacktypen deutscher Zunge, von denen einer mindestens zwei Meter groß ist. So einen menschlichen Turm, den muss man sich von Nahem ansehen! Und schon verlässt uns auch der letzte treue Fan....