CHINA 3
DATONG |
In Beijing, wo mittlerweile Bocuse die Kelle und Cardin die Elle schwingen, ist die Suche nach weiland Maos wildem Rotchina zu einer vergeblichen Mühe gediehen. Rotchina ist allenfalls noch schwach rosa, und zwar nicht allzu revolutionär, sondern eher kussecht. Plakatwände in der Innenstadt werben für SONY-Farbfernseher, VW Shanghai oder Miele-Waschautomaten, hier und da wird die glückliche Einkind-Familie gepriesen, und blitzblanke Toyotas, Renaults oder Mofas der Marke Chongqing quirlen durchs Fahrrad-Gewühl. Jünglinge mit Kofferradios in engen Jeans, Mädchen mit atemberaubendem Minirock, auch junge Pioniere mit rotem Halstuch, die jedoch Eiscreme (5 Fen) lutschend am Flipper daddeln, das ist die hauptstädtische Realität 1985. Macht man den Fernseher an, quält sich nach dem Wetterbericht (Shanghai 37 Grad) ein Schlagersänger literweise Schmalz ab, dann folgt eine Serie von Werbespots, die für Ferngläser, Mikrowellen, Feuermelder und Hustensaft Propaganda machen, und anschließend ein rührseliger Spielfilm. Wo ist da der Unterschied zu Taiwan? Einsam bewacht noch ein Marmor-Mao am Portal der Beida, der Uni von Beijing, die letzten Überreste des Sozialismus, und kann heilfroh sein, dass da noch keiner "Keine Macht für niemand" draufgesprayt hat, und an der Dongdan-Kreuzung kann man noch den reichlich verwaschenen Spruch "Lang lebe der großartige Marxismus-Leninismus" entziffern, aber gerade dies scheint mir nicht der Fall zu sein. Der großartige M-L'ismus liegt unübersehbar in seinen letzten Zügen, und niemand weit und breit, der ihm nachtrauert.
Chinericks Kommentar: Ein China-Fan mit
Gepäck, der |
Die Bahnhofsuhr fängt wieder an zu dudeln "Der Osten ist rot", was ein klarer Beweis für die Verlogenheit kommunistischer Propaganda ist, denn heute ist der Osten reichlich grau, und dicke Regenwolken dräuen über der Stadt. Der Bahnhof ist einem Ameisenhaufen vergleichbar, die Wartesäle gleichen einem Flüchtlingslager, zum Bersten gefüllt mit Menschen, Waren, Päcken, Ballen, Kisten und Kästen, Hühnern und Enten, Taschen und Koffern, Kiepen und Körben. Uff de chines'sche Eisebahne ist es Brauch, dass die Fahrgäste sich in den Wartesälen hinter ein Schild mit der entsprechenden Zugnummer gruppieren und warten, bis sie etwa eine halbe Stunde vor Abfahrt von einer Bahnbeamtin zur Sperre geleitet werden.
Von den Bussen in Beijing sind wir es schon gewöhnt: An einer Haltestelle wartet ein Dutzend Leute auf den Bus, aber kaum kraucht das Vehikel um die Ecke, quellen auf einmal zahllose Figuren wie die Heinzelmännchen aus dem Erdboden, die zuvor niemand gesehen hatte, und der Bus hält noch längst nicht, da wirft sich schon eine wilde Meute auf die geschlossenen Türen, klammert sich an die Griffe, verwurzelt die Füße auf dem Trittbrett, und geht die Türe dann auf, knufft und pufft ein jeder mit Brachialgewalt um sich und erfightet sich ohne Rücksicht auf Alte, Frauen und Kinder seinen Stehplatz. Wer unverletzt einsteigen will, muss warten, bis die Wilden alle drin sind und sich dann noch irgendwie reinknäulen.
Bei der Bahn ging ich anfangs mit der guten Hoffnung schwanger, die nummerierten Sitzkarten würden für zivilisiertere Sitten bürgen, aber die gute Hoffnung ergab eine Missgeburt. Wenn immer eine uniformierte Bahnbeamtin auch nur von ferne sichtbar wird, kommt eine fast panikartige Bewegung in den Wartesaal, alles springt auf, packt sich seinen Rödel und drängelt auf das Absperrgitter zu, als hätte das Mädel mit seiner riesigen Beamtenmütze auf den schwarzen Haaren einen Menschenmagneten unter dem Jackett.
Als es dann wirklich losging, kam die zuständige Tante von hinten, wo wir standen, und die Bibel hat doch mal wieder Recht: Die Letzten waren die Ersten geworden. Aber nicht lange, denn daraufhin wurden wir von der Corrida hinter uns beinahe über den Haufen gerannt; wer hätte gedacht, dass vollbepackte Leute, so hager und mager wie die meisten der minzligen Chinesen, in der einen Hand 10 Kilo Gemüse, an der andern Hand die Oma, auf dem Puckel eine Hucke Gepäcke, so olympisch hetzen kann? In der Tat scheint diese Hatz nur eine Art Volkssport zu sein, denn als wir unseren Wagen erreichten, nahm uns eine andere uniformierte Tante in Empfang, musterte unsere Platzkarten und verfrachtete uns in ein vollkommen leeres Abteil.
In einer klassenlosen Gesellschaft gibt es gottseidank im Zug natürlich keine erste, zweite oder gar dritte Klasse, das leuchtet ein. Allerdings wird fein unterschieden zwischen Yingzuo und Ruanzuo, zwischen hartem und weichem Sitz. Und dass der weiche Sitz ein wenig teurer und vornehmer ist als der harte Sitz, das leuchtet selbst dem mit klassenlosen Gesellschaften wenig vetrauten Leser ein. Und im Schlafwagen gibt es ebenfalls weiche Liegen und harte Liegen, also, wenn mal bei uns die klassenlose Gesellschaft ausbrechen sollte, braucht die Bundesbahn praktischerweise nur ein paar Schilder auszutauschen.
Superexpress Beijing-Datong-Lanzhou |
Da wir angesichts der schreckenerregenden Drachenschwänze vor den Volks-Ticketschaltern im Beijinger Hauptbahnhof unsere Tickets vom Reisebüro hatten besorgen lassen, hat man uns ungefragt auf unsere Kosten "weiche Sitze" verpasst, und weil der Zug, der am Abend in Datong eintrifft, über Nacht noch bis Lanzhou weiterfährt, war unser weicher Sitz de facto eine "weiche Liege", deren vom stundenlangen Draufsitzen etwas verknitterte Laken nach unserem Aussteigen vom Personal vermutlich ein wenig glatt gezoppelt werden. Das Abteil gleicht einem gemütlichen Wohnzimmerstübchen, mit Blumentopf und stoffschirmbespanntem Leselämpchen auf dem Tischlein, mit Rüschenvorhang am Fenster und vorbereitetem Tee-Set, und schon kommt eine volkseigene Stewardess mit einem dicken Kessel voller Kaishui, heißem Wasser --- nur den Tee, ja, den muss man schon selber mitbringen.
Kaishui für die Fahrgäste auf weichem Sitz... |
Auf die Sekunde pünktlich setzt sich der Express in Bewegung und rumpelt durch Beijings Vororte hinaus in eine Lößebene, schnauft den Berg bei Badaling hoch, wo wir ein unverhofftes Wiedersehen mit der langen Mauer erleben und prescht, allmählich in Fahrt kommend, durch die weite, fruchtbare Ebene der Provinz Hebei dahin. Der unverändert gelbbraunlehmige Boden, aus dem kein Hügel, kein Berg und kein Fels herausragt, ist das Material, aus dem alle Bauten, Mauern, Häuser und Wege gebacken sind, und sogar alle Bäche und Flüsse haben die gleiche Farbe angenommen. Schon ahnt man, woher der nicht allzu ferne Gelbe Fluss seinen Namen bezogen hat. Auch in der benachbarten Provinz Shanxi bleibt die Landschaft unverändert: Ordentliche, gepflegte weite Weizenfelder, denn hier gedeiht kein Reis. Pünktlich wie die Abfahrt ist auch die Ankunft in Datong, da kann die Bundesbahn blass werden vor Neid.
Weiß der Geier, warum der Beijing-Lanzhou-Express ausgerechnet in Datong hält. Der Ort ist nämlich, diplomatisch formuliert, kein Kurort. Er gehört zu den "nur bedingt" für Fremde geöffneten Regionen, die nur mit Sondergenehmigung betreten werden dürfen --- nach selbiger kräht hier allerdings kein Hahn. Der Grund dafür, dass Datong nicht allgemein zugänglich ist, wird freilich jedem ersichtlich, dem das Schicksal eine Übernachtung im Binguan (Gästehaus) zugemutet hat. Es ist das einzige Etablissement des Ortes, das Ausländern als Logis gestattet ist und sieht aus wie ein Schulgebäude aus den 50er Jahren. Durch ein Tor betritt man den Schulhof, hinter dem das graudüstere Gebäude hockt und auf die ahnungslosen Gäste lauert.
Datong ist, gelinde gesagt, kein Kurort |
Der Pedell am Eingang hat andere Sorgen als sich um neu eintreffende Gäste zu kümmern. Die Zigarette muss in Ruhe ausgelutscht werden, ein Tee aufgebrüht, der Kollege nebenan mit Bemerkungen zum Wetter erheitert werden, und wenn man energisch kund tut, dass man hier zu übernachten gewillt sei, reicht er mit einem gelangweilten Grinsen die Formulare heraus und erwähnt, dass ein Zimmer mit Bad 49 FECs, ohne Bad 21 FECs pro Person koste. Service tranig, Preise saftig, und wie das Bad in so einer Ruine aussieht, kann ich mir lebhaft vorstellen. Aber nein, die Fantasie wird noch weit übertroffen! Die innerräumliche Landschaft nach dem Entschlüsseln der teuren Suite ist ein Juwel chinesischer Gartenbaukunst: Eine künstliche Hügellandschaft aus leeren Bierflaschen, im Zentrum ein idyllischer See aus brackigem Bier, mit Inseln aus Zigarettenkippen. Der übervolle Abfalleimer ist eine Reminiszenz an den Himalaya, im Bett ein Wald aus menschlichen Haaren und Flusen, und über allem ein betörender Duft von Kippen und schalem Bier. Als ich an der Rezeption diese Errungenschaften von 40 Jahren Sozialismus laut preise, bequemt sich ein lässiger Typ, mit einem Läppchen symbolisch über den Nachttisch zu wischen, als sei meine Reklamation nur ein Spleen verwöhnter Kapitalisten, und als ich anfange, Papierkorb und Flaschen auf den Flur zu feuern, zupfert er noch ein wenig das Laken zurecht.
"Da ruht sich
manchmal das Personal in der Mittagspause aus", säuselte er
seelenruhig, "das ist ja gar nicht schmutzig".
Ka hat sich einfach in die Rentner-Sitzung eingeschmuggelt |
Wo uns der Bus ausspeit, führt ein schmaler Pfad durch die brüchig rottenden Hütten eines unbeschreiblich elenden Lehmkaffs hin zum nahen Marktplatz, an dessen Stirnseite sich der Eingang zu den Buddhagrotten befindet, um deretwillen wir das Binguan von Datong erdulden. Die Yunggang-Höhlen mit ihren mehr als 50000 Buddhaskulpturen gelten, zusammen mit denen von Luoyang, als die ältesten in den Berg gemeißelten Buddhafiguren Chinas. Noch älter sind zwar die von Dunhuang, aber die sind nicht gemeißelt, sondern aus Ton gefertigt oder auf den Fels gemalt.
Buddha bei der Abwehr von Kohlenstaub |
Wem das noch nicht genügt, der kann für 10 Fen Eintritt in der Altstadt von Datong den Tempel Huayansi besuchen, dessen zwei große Hallen während der Kulturrevolution fest verrammelt die stürmischen Zeiten unbeschadet überlebt haben. Angesichts der hübsch bemalten Wände, 5 Buddhafiguren und 21 Bodhisattvas beginnt der Besucher über die chinesische Inflation zu meditieren, denn im Vorjahr hat der Eintritt noch 5 Fen gekostet. Man sollte aber nicht zu lange meditieren, denn auf dem Lande giltst du Blondkopf als VIP, und wo sich zwei oder drei Verehrer in deinem Namen versammelt haben, da kommen schnell fünf weitere gelaufen, und im Nu ist das ganze Viertel auf den Beinen, um dich Sehenswürdigkeit nicht zu versäumen.
Außer blauen Ameisen hat in Datong noch eine anderswo längst ausgestorbene Spezies überlebt, die sich hier besonders wohl fühlt, weil sie sich nämlich überwiegend von Kohle ernährt. Hier steht eine der letzten Dampflok-Schmieden der Welt, und dass solche fauchenden und feuerspeienden Drachen in China noch in freier Wildbahn leben, das wundert keinen drachenkundigen Sinologen.
Ein lebender feuerspeiender chinesischer Drache |
Chinericks Kommentar: In Datong, der
Bergbau-Metropole, |
Da weder das kohlehaltige Datong noch das liebenswürdige Binguan zu längerem Aufenthalt animieren, sitzen wir bald wieder auf den weichen Ruanzuo-Sitzen der pünktlichen Bahn und nödeln durch die unendlich weite Weite nach Süden zur Provinzstadt Taiyuan. Kurz vor 12 Uhr mittags kommt eine der milde lächelnden Zug-Stewardessen, aber ohne ihren Kaishui-Kessel, und bedeutet uns unmissverständlich, ihr zu folgen. Verwundert gelangen wir in den Speisewagen, wo zwei gekühlte Bierchen bereit stehen und dann ein Festmahl aufgetischt wird, an dem wir, um alle Platten zu putzen, bis zum Abend hätten sitzen können, wenn wir nicht vorher ermattet und von der unglaublichen Gastfreundschaft überwältigt die Stäbchen hätten sinken lassen. Just zu diesem Augenblick erschien ein amerikanisches Ehepaar mittleren Alters und erkundigte sich nach dem für 12 Uhr vorbestellten und vorbezahlten Essen, wo das denn bliebe....
Nun, auch die Amis kamen in den Genuss ihres Menüs, nachdem sich die schreckensbleiche Bahnhostess wieder gefasst hatte, und wir mussten zwei Stunden später, nachdem das Zugpersonal offenbar scharfsinnig die wahren Zusammenhänge durchschaut hatte, 13 Yuan nachzahlen. Dafür gab es ein Eis gratis, das eine deutschsprachige Blondine bei einem Zwischenhalt von der Eiskremtante geschenkt bekommen hatte, als sie gerade in der Gegend herumfotografierte.
Liegewagen und Ausländer-Getränke |
"Willst du'n Eis? Ich ess hier nichts Unabgekochtes, aber die Tante da unten hat mir das in die Hand gedrückt und ich konnt's doch nicht ablehnen!" Fast flehentlich bekam ich das tropfende Eis am Stiel hingehalten, und ich hab's auch ungekocht gegessen und überlebt.
In Taiyuan müssen wir umsteigen, aber unerwartet schnell findet sich der zuständige Ausländerschalter, der uns das übliche Schlangestehen erspart. Die gewonnene Zeit nutzen wir zu einem Stadtbummel mit dem Ziel, ein nettes Restaurant zu finden, und da Taiyuan über keine nennenswerte Sehenswürdigkeit verfügt, müssen wir westliche Spaziergänger dafür herhalten. Drei der halbwüchsigen Fans folgen uns bis ins Restaurant hinein, wo wir die Spezialität des Hauses, fleischgefüllte Paozi (Teigbällchen in Tennisballgröße), sogar an den Tisch gebracht bekamen, ohne wie die anderen Gäste vor der Küche anstehen und das fertige Gericht an den Platz balancieren zu müssen. Selbst für vier Esser ---ein deutsches Pärchen hatte sich uns angeschlossen--- war die Portion Tennisbälle mehr als reichlich, aber da unser Fanclub, der sich am Nebentisch niedergelassen hatte und sich keinen Happs entgehen ließ, sich offenbar noch nicht genügend sattgesehen hatte, stopften sie sich, nachdem wir aufgestanden waren, die restlichen Paozi wie der geölte Blitz in Münder und Taschen und begleiteten uns noch bis zum Bahnhof.
Man sieht, 1985 waren Ausländer noch echte VIPs, denen manche Sonderbehandlung zuteil wurde. China wollte sich vor den "ausländischen Gästen" nicht blamieren, und alle Volkspolizisten, Bahnbeamte und andere staatliche Bedienstete gaben im Rahmen des Möglichen ihr Bestes. Dass wir auch von Amateuren eskortiert wurden, verdanken wir wohl keiner Partei-Direktive, aber es gab uns einen ersten Einblick in die Realität auf dem Lande, wo es wirklich Leute gibt, die sich an Ausländer dranhängen, um mal was Warmes in den Bauch zu bekommen.
(Da ist sie ja wieder, die schöne Himmelsfee, die 2. von rechts !)