CHINA 2
BEIJING |
Zur Großen Mauer
Wir entern mal wieder einen der Riesenbusse, der vom Qianmen aus in Südrichtung kurvt, wo die Gassen enger und wuseliger werden, wo die Stände der privaten Marktzeilen bis auf die Hauptstraße reichen und Fußgänger, Radfahrer, Marktbesucher und Lastträger ein unentwirrbares Knäuel bilden, das der Bus mit bewundernswerter Bravour kühn und unfallfrei durchschifft. Am Eingang zum Tiantan-Park ist Endstation, und während wir aussteigen, wendet der Bus. Zufällig erblicke ich dabei das Cockpit und glaube zu träumen: Nicht ein kantiger Trucker mit dicht behaarten Popeye-Armen, sondern eine grinsende Göre mit frechen Pippi-Langstrumpf-Rattenschwänzen, die aussieht, als wäre sie gerade erst 18 geworden, reitet den Dieselruß speienden Busdrachen!
Ja, die Frauen in Beijing! Energisch, forsch, selbstbewusst, sie lassen sich nichts bieten. Der Arbeiter, der da "vergessen" hat, sein Busticket für 5 Fen zu lösen, wird von dem zarten Wesen in weißer Sommerbluse, das die Billets verkauft, im Handumdrehen rausgeschmissen, ein deftiger Schwall von Schimpfworten hilft ihm nichts, denn die Kleine keift nicht minder grell zurück. Die islamische Frauen-Unterjochung bräche augenblicklich zusammen, wenn es in jenen Regionen mehr Frauen vom Schlage der Chinesinnen gäbe.
Man sollte hier schon bis drei zählen können |
Aber zurück zum Tiantan-Park. Schon wieder eine symmetrisch-harmonische Anlage, an deren Nordende der kreisrunde Himmelstempel Tiantan steht. Seit 1530, als das Ding errichtet wurde, pflegte sich der Kaiser alljährlich von seinen Frauenzimmern loszureißen und hierher tragen zu lassen, um von seinem Ahn, dem Himmel, den Segen für die kommende Ernte und Nachsicht für die Sünden des gemeinen Volkes zu erflehen. Ob's was genützt hat, ist nicht überliefert.
Mit diesem blaugeziegelten Bau, dessen Kassettendecke im Innern der weiten Kuppel wirklich sehenswert ist, gelang den Chinesen der Ming-Zeit die Quadratur des Kreises: So rund das Häusel auch ist, es gründet sich doch auf einem quandratischen Sockel, und all das hat seinen Sinn, denn die gesamte Anlage spricht sozusagen aus Symbolen: Rund ist der Himmel, während die Erde quadratisch ist, zumindest nach dem damaligen Stand der Forschung. Weil in China, nicht anders als in Grimms Märchen oder in Mozarts Opern, die 3 eine heilige Zahl ist, hat der Tempel drei Dächer, und der runde Opferaltar südlich davon hat drei Bühnen und besteht aus 9 (drei mal drei) Steinringen, deren innerster aus 9, und deren äußerster aus 81 (neun mal neun) Pflastersteinen besteht. Ein weiteres Spielchen an der Halle der Guten Ernte, die ebenfalls rund, aber eine Nummer kleiner ist als Bruder Tiantan: Sie ist von einer kreisförmigen Mauer rings umzingelt, die nur von einer kleinen Pforte unterbrochen wird. Wer sich an eine beliebige Stelle der Innenseite an die Mauer stellt und auch nur leise etwas flüstert, dessen Worte sind auch auf der gegenüberliegenden Wand deutlich zu vernehmen, denn der Schall wandert immer an der Wand entlang.
Drüben steht ein älterer Mann mit zerfurchtem Gesicht und weißen Bartstoppeln, ein Bauer aus ferner Provinz sicherlich, der, einen groben Leinensack über die Schulter geworfen, langsam durch die Menge geschlurft ist und sich mit großen, staunenden Augen alles angeschaut hat. Am Souvenirstand hat er, vermutlich fürs Enkelkind, ein buntes Taschentüchlein für 35 Fen erstanden, und nun steht er, schon eine Viertelstunde lang, das Ohr an die Mauer gedrückt, und hört, erst ungläubig staunend, dann mit wachsendem Vergnügen, welche Stimmen weit entfernter Leute da die Mauer entlang gekrochen kommen, und ein frohes, kindlich entzücktes Lächeln lässt sein Ledergesicht aufleuchten --- wie wenig ist mitunter nötig, um einen Menschen grenzenlos glücklich zu machen!
Ein frohes Lächeln lässt sein Ledergesicht aufleuchten |
Und was treiben
die Leute so des Abends? Nightlife in Beijing?
Beijing-Ente (rechts) |
Eine andere Möglichkeit ist, noch tiefer in die Hutongs, die Gassen der Altstadt, einzutauchen, wo Obstfritzen ihre selbstgezüchteten und Brutzelfritzen ihre selbstgeköchelten Produkte offerieren. Mitten in dem Basargewirr liegt die Dazhalan-Gasse, wo Kaufläden, eine Volksbank und die Feuerwehr Tür an Tür hausen, wo, man glaubt es kaum, Jugendstil-Fassaden und schmiedeeiserne kunstvolle Torbögen vom Glanz der republikanischen Zeit in den 20er Jahren zeugen, als hier das Bohème- und Bordellviertel von Beijing war. In diesem Künstlerviertel existiert ein Theater, das gegen Beginn des 20.Jahrhunderts gegründet worden war und angeblich sogar während der Kulturrevolution seine speziellen Darbietungen ungestört offerieren durfte. Der teuerste Platz kostet 65 Fen, und dafür darf man sich auf einen hölzernen Klappstuhl in einem baufälligen Gemäuer niederlassen, das an den Hinterhof einer Borsig-Schmiede erinnert, und sich bei Zayi amüsieren. Wörtlich übersetzt bedeutet das Wort "Allerlei Geschicklichkeiten", gemeint ist aber die halsbrecherische traditionelle Akrobatik, für die China weithin berühmt ist. Da werden ganze gedeckte Tische balanciert und antikes Porzellan jongliert, da tanzen zwei Mädchen auf einem runden Couchtischlein, das voller Sektgläser steht, auf Rollschuhen umher, ohne ein Glas umzuschmeißen, da turnt ein Jüngling auf einer im Handstand errichteten, wackeligen Skulptur aus Küchenstühlen herum, dass dem Zuschauer dabei schwindlig wird....
Chinesische Kellner mit antikem Geschirr |
Man kann sich auch seine Freundin schnappen und ins brandneue Changcheng-Hotel fahren. Dort fährt man jedoch tunlichst im eigenen Daimler oder mit Chauffeur vor, um von den hochnäsigen Befrackten überhaupt zur Kenntnis genommen zu werden. Sowas soll Dienstpersonal sein? Diese Pinguine tragen die Nase so international hoch, dass sie gewöhnliche Sterbliche kaum, eingeborene Chinesen hingegen überhaupt nicht wahrnehmen. Im klimatisierten Innern gerät man in einen Zwitter aus Lobby und Cafeteria, ein Dom allerdings, in dem der gläserne Fahrstuhl wie eine Feuerwerksrakete bis zum 6. Stock sichtbar ist und eine Kapelle im Smoking sitzt und Mozart-Evergreens fiedelt. Du bist kaum drin in dem Palazzo, da hält dir schon einer der glatten Lakaien eine Cocktail-Karte vor die Nase, aber wenn du dann dein Cuba libre bestellst, näselt der Pinguin sein Bedauern, Cappuccino hamse auch nicht, und was von all dem Protz tatsächlich greifbar blieb, das war Tee, Eiskrem und Muckefuck, aber für 6 Yuan in FECs, alles andere war Schall und Rauch. Na ja, das war 1985, da haben sie den Kapitalismus noch geprobt.....
Probieren wir's mal am anderen Ende der Skala, da fühlt der Frank sich ohnehin wohler. Da musst du aber die Freundin daheim lassen und einen Kumpel mitnehmen, der was vertragen kann. Zieh durch ein paar Hutongs im Umkreis der Dazhalan-Straße, dann fällt dir das eine oder andere Etablissement auf, das in großen Lettern mit Kreide auf Schiefertafeln "Pijiu" verheißt. Das bedeutet nämlich Bier. Du gehst also rein und hockst dich an einen der Bierzelttische zu den angesäuselten Werktätigen, die sofort ehrfurchtvoll zur Seite rücken, wenn da ein Langnas reingeschneit kommt. Aber anders als im Changcheng-Hotel kommt hier kein Pinguin, du musst dir dein Bier an der Theke schon selber holen. Aber glaub nur nicht, jetzt kriegst du eine Bottel Qingdao-Bier, eine der wenigen Biersorten Chinas, die sich auch im Ausland blicken lassen können. Da nimmt die hutzelige Tante einen schrappigen Plastikbecher, der einen Liter fasst, taucht ihn in eine Wanne mit einer brackigen Flüssigkeit, die ich für Spülwasser gehalten hatte, und verlangt dir für das abgestandene, schale und lauwarme Hausmacher-Bräu glatt 1,50 RMB ab. Wenn dir das nicht auf den Magen schlägt, dann gibt dir das "Bier" den Rest; hast du den Liter Dünnbier überlebt und schleichst mit hängendem Magen zum Ausgang, brüllen die Mitsäufer aller umliegenden Tische, die dir eh schon neugierig fast den Sud aus dem Humpen geglotzt haben, wie im Chor auf Chinesisch hinter dir her und machen dir mit heftigen Gesten begreiflich, dass du den leeren Plastikpokal gefälligst zur Theke zurückzubringen hast. Diese extreme Ordnungsliebe erscheint mir verwunderlich; womögllich hat der Mao ja mal eine Direktive über das korrekte Zurückbringen von Bierseideln verfasst. Also, du willst ja nicht unangenehm auffallen und trägst das Geschirr brav zurück, und siehe da, der tiefere Grund wird sogleich sichtbar: Ein ganzer Yuan Pfand für den Plastikschrott kommt da retour, der Lohn eines halben Arbeitstages. Jetzt wird mir klar, warum die alle so gekräht haben wie eine Peking-Ente am Spieß!
Altes Theater in der Dazhalan-Gasse |
Wenn Einsamkeit dir am Herzen frisst, in China du sie bald vergisst! |
Und einen Ausflug
zum Kunming-See machen wir auch noch. Dieses Gewässer in der
hügeligen Lößlandschaft im Nordwesten von Beijing bildet den
Mittelpunkt des einstigen kaiserlichen Sommerpalastes. Dieser
wiederum von Menschenmassen überfüllte weite Landschaftspark
ist so eine Art antikes Disneyland der chinesischen Royals,
vollgestellt mit Pagoden, Lustschlösschen, Lotosteichen,
Wandelgängen, Aussichtstürmchen, Pavillons, Inselchen und
Brückchen, eine Nachbildung des fernwestlichen Paradieses, wie
man sich das eben so vorstellte, als Las Vegas noch unbekannt
war. Auch ein kleiner Zoo ist dort zu finden, wo man sich ein
wenig in die Haut der dortigen Affen einfühlen kann, denn als
Ausländer wirst du schnell im Mittelpunkt des Interesses vor
allem der Kinder stehen, auch wenn du dich mal gerade nicht laust
oder deinen roten Po in die Luft streckst wie deine
eifersüchtigen Brüder vom Affenfelsen.
Chinericks Kommentar: Zum Sommerpalast, um
Chopsuey zu essen, |
Beijing hat noch vier weitere große Parks, einen ganzen Sack voll Museen, Kulturpalästen, Märkten, Kunstgalerien, Basaren, Tempeln und Stadttoren, aber wir fahren jetzt einfach mal zum Nordtor Deshengmen, um auf die billige Tour nach draußen zu kommen, zur Großen Mauer bei Badaling. Natürlich gibt es jede Menge organisierte Touren im klimatisierten Ausländertransporter, hin und zurück für nur 15 Yuan FEC, oder im Touristenzug, in dem die Hin- und Rückfahrt nur 11,50 Yuan FEC kostet und ein Mittagessen mit einschließt. Aber falls man gewillt ist, mit volkseigenen Bussen zu fahren und zweimal umzusteigen, kommt man auch für weniger als 1 Yuan RMB zum Ziel, sagt das gescheite China-Handbuch. Das ist das Richtige für uns bourgeoise Zecken im Fell der Werktätigen. Heute haben sich am Himmel aber gewiss nicht Vega und Altair geküsst, sondern da müssen sich Drachen und Tiger gebissen haben; der Regen, der uns am Deshengmen durchnässte, war jedenfalls nicht von Pappe, und wo der Bus parkte, den wir von dort aus nehmen sollten, verriet das Büchel leider nicht. Nach der Befragung etlicher Einheimischer und dem Durchwaten zahlreicher Sümpfe, die von der Heftigkeit des Morgengusses zeugten, saßen wir endlich in einem museumsreifen Vehikel, das uns bis Changping transportierte. Die Hälfte des Weges war geschafft, die Uhr zeigte halb eins an. Die Touristen, die mit dem Zug gefahren waren, kletterten vermutlich schon auf der Mauer herum.
Also, die Mauer, die ringelt sich da ganz ansehnlich über die grünen Berge und durch die tiefsten Täler, aber ich bezweifle, dass man diesen Lindwurm vom Mond aus sehen kann, denn so imposant sie aus der Nähe ausschaut, hinter dem vierten Hügel sieht man nur noch einen Regenwurm, in 20 km Entfernung nur noch ein Fädchen, und dann bleibt nur noch Dunst und Fantasie. Immerhin hat das Bauwerk bis heute seinen Vorbildcharakter nicht verloren; an Israels Grenzen und zwischen den USA und Mexico haben ähnliche Bollwerke mehr Konjunktur denn je.
Chinas größter Drache ringelt sich über Berg und Tal |
Immerhin ist
dieser Ort fraglos die internationalste bisher erlebte Stätte
ganz Chinas: Hier hört man nicht nur das übliche Englisch,
Spanisch und Nordkoreanisch, sondern kann sich sogar in
sämtlichen Dialekten der deutschsprachigen Landkarte
unterhalten. Da trifft man sie alle, den Seppl, den Tünnes und
den Bolle und ein weiteres, miesepetrig dreinblickendes Kamel,
das allerdings einzig als Kulisse für Touristen-Gruppenfotos dem
Besuchervolke dient, als ob hinter der Mauer sofort die Wüste
Gobi begänne.
Chinericks Kommentar: Zur Großen Mauer bei
Badaling |
"ANTIQUE STORE" steht da groß angeschrieben, und verkauft werden antike (?) T-Shirts mit dem sinnigen Aufdruck "THE GREAT WALL - I was here" oder handliche Jade-Buddhas aus antikem (?) Plastik, und die emsigen Verkäufer/innen kommen dir auch nachgelaufen und zupfen dich am Ärmel, wenn du im Verdacht stehst, noch buddhalos des Weges zu ziehen.
Etwas, das wie eine Haltestelle für einen Linienbus aussieht, ist weit und breit nicht zu finden. Etwa 1 km weiter unten im Tal ist aber der Bahnhof von Badaling, doch der nächste Zug fährt erst in zwei Stunden, und das Tickethäuschen ist noch geschlossen. Offen hat nur das Hüttli der "Öffentlichen Sicherheit", wie sich die chinesische Polizei nennt, und zwei Sicherheitsmänner räkeln sich öffentlich unter ihrem Sonnenschirm. Ich frage nach dem Linienbus, aber der letzte Bus ist schon weg. Die Sicherheit funktioniert jedoch trotzdem, denn der Arm des Gesetzes bugsiert uns in einen Charterbus voller chinesischer Arbeiterbauernsoldaten, und fröhlich schuckeln wir mit den revolutionären Massen im volkseigenen Omnibus nach Beijing zurück, für 2 Yuan RMB.