Was es mit "Oh Danny Boy" auf sich hat

 

  

Also, ein Dach über dem Kopf. Dem guten Dean of Derry wollten wir keinen tödlichen Schrecken einjagen, und außerdem weiß man nie, wie lange das sonnige Wetter noch anhält; auf Zelten im Pfarrhausgarten haben wir beide eigentlich wenig Lust. Aber die Mary Roddy, die gute Haut, die weiß vielleicht was, fragen wir die mal. In ihrer Old Oak Bar in der Bogside, dem ärmlichen Katholikenviertel von Derry, bekamen wir gleich einen Willkommens-Trunk zum halben Preis, die Mary hatte uns nicht vergessen, und das sag ich dir, die wird mit ihrer Bar nie reich, und das Flanieren in Rom und Paris, das kann sie sich mal gleich abschminken, wenn sie jedem dahergelaufenen Typ das Bier zum halben Preis vorsetzt. So ein Pub, der kann eine richtige Wohltätigkeitsanstalt sein; Marys arbeitslose Stammkunden kriegen den Sprit nämlich auch zum halben Preis. Auf dem Barhocker nebendran hockte so einer, der nur drei oder vier Häuser entfernt alleine haust, und der nahm uns gleich mit in seine Bude. So haben wir Danny Cunningham kennen gelernt. Etwa 35 Jahre alt, gelernter Arbeitsloser, aber mit Oberarmen, als würde er Tag für Tag Eisenbahnschienen verknoten. Keinen Job zu haben, kann der Gesundheit jedenfalls nicht schaden, denn Danny strotzt vor Saft und Kraft. Seine Verwandtschaft ist mehrheitlich nach Amerika ausgewandert, und dahin würde er lieber heute als morgen nachziehen, wenn er nur die "fuckin' bucks" für den weiten Weg dorthin zusammen bekäme. Aber für eine Reise nach Amerika reichen die 5 £ Stütze pro Woche leider nicht.

  

bogs hois

"Miete, Strom und Wasser zahle ich selber nicht, und pennen könnt ihr im Schlafzimmer meiner Eltern. Und bleiben könnt ihr, so lange ihr wollt, kommen und gehen, wann ihr wollt. Nur durchfüttern kann ich euch nicht, da sorgt gefälligst selber dafür."

Der gefällt uns, der Danny, der meint es so, wie er es sagt. Außerdem freut er sich, ein bisschen Gesellschaft zu haben in seinem leeren Haus. Mit dem kann man auch über alles reden, stundenlang, der hat zu allem eine Meinung und sagt sie freiweg heraus, ganz anders als der rosige Pastor.

  

Beim abendlichen Rundgang durch die Stadt stellten wir fest, dass angesichts der anstehenden Ereignisse eine spürbare Unruhe in die Stadt eingekehrt war. Wesentlich mehr Soldaten, und abends auch mehr Leute auf den Gassen, beinahe wie in Belfast. Danny ging ein Stück mit, aber nur im Katholikenviertel.
"Hier kennt jeder jeden, und drüben auch. Nur ihr könnt überall frei rumlaufen, weil ihr nicht dazugehört, ihr seid sozusagen neutral."

 

Außerdem hatte Danny eine gewaltige Wut auf den feindlichen Stamm der Protestanten von der Waterside, seit die weiter unten in seiner Straße nachts heimlich eingedrungen sind und ein Haus angezündet haben. Die Leute, die da wohnten, kannte er zwar nur vom Sehen, aber dass da eine ganze Familie mit vier Kindern im Feuer umgekommen ist, genügt ihm, um seither immer mit dabei zu sein, wenn es Zoff mit den Protestanten gibt. Eigentlich ist er ein friedlicher und unpolitischer Mensch, aber wenn er in Rage ist, würde ich dir empfehlen, außer Reichweite seiner Fäuste zu bleiben. Und in Rage bringt den gutmütigen Danny vor allem sein verletzter Gerechtigkeitssinn; wenn er Unrecht wittert, wenn es irgendwo irgendwelchen Underdogs an den Kragen geht, dann hämmert er drein, auch wenn er freimütig zugibt, dass Fäuste allein der Gerechtigkeit selten den Weg ebnen. Und diesen fucked Bürgerkrieg, den kann er leider auch nicht aus der Welt schaffen mit seinen Pranken, die er anschaulich ballt und durch die Luft boxt, als sei ihm Ian Paisley in die Fänge geraten.


 
Es ist schon bald 23 Uhr, sieht aber nicht nach Zubettgehen aus. Wo die Longtower Street, in der wir jetzt wohnen, nach circa 50 Metern in die London Road (die heutige B 507), die Demarkationslinie zwischen den feindlichen Stämmen, einmündet, hat sich eine Menge Jugendlicher eingefunden. Soldaten haben eine Barrikade errichtet, vor der die Jungs in die genau gegenüber einmündende Protestantengasse hinüberstarren, denn da stehen etwa genauso viele Jugendliche, von einer gleichartigen Barrikade zurückgehalten. Es ist ein Eldorado für Linguisten und Ethnologen, denn die köstlichsten Schimpfwörter fliegen hin und her, von der entsprechenden Antwort gefolgt. Nach diesem Auftakt werden hier irische Freiheitslieder angestimmt, die drüben in Katholiken-Schmähliedern ihr Echo finden. In der Bogside ist alles stockfinster, während die Waterside festlich illuminiert ist. Auf weiten, verschlungenen Umwegen mogeln wir uns auf die andere Seite, sorgsam darauf achtend, dass wir nicht zwischen die Fronten geraten.

 

  tin

Blendende Helle bei den Protestanten. In allen Fenstern sind Lichter entzündet, auf den Plätzen lodern Festfeuer, Musik dudelt aus zahllosen Lautsprechern, mehr Wimpel und Fähnchen denn je hängen an den Häusern. Feststimmung war es durchaus, aber Freude kann man das nicht nennen. Nur Jubel über die Schlappe, die "wir" "den andern" vor soundsoviel Jahrhunderten beigebracht haben, und dass man es "denen" noch immer zeige, wer hier Herr im Lande ist. Viele Leute liefen in historischen Trachten umher, Union Jacks schwingend und Plaketten auf der Brust: "I'm backing Paisley", "I remember July 1690", "God save our Queen" und dergleichen. Vom Tonband tönte der Reverend Ian Paisley mit Hassparolen auf die Roman Catholics, denn als das Kapitel mit der christlichen Nächstenliebe im Theologie-Unterricht durchgenommen wurde, da haben Hochwürden wahrscheinlich gerade gefehlt, Masern oder Keuchhusten oder was immer.

 

Die Mädels hatten sich Schärpen um die Hüfte geschlungen, die mit dem Slogan "No surrender" bedruckt waren, "keine Kapitulation" vor den aufmuckenden Catholics. Sie flirten mit den britischen Soldaten, kichern wie Ingos Kichererbse Heather, und klopfen den Jungs so ausgiebig auf die Schultern, dass diese schnell lazarettreif wären, wenn sie sich nicht so martialisch gepanzert hätten. Welch ein Kontrast zu der finsteren, elenden Bogside!

 

 parades

Die Menge, die von dort auf die hell erleuchtete Gegenseite starrt, wächst minütlich, als ob sich die gesamte Bogside-Jugend zum Sturmangriff auf die feiernden Feinde vorbereiten würde. Die Militärs drängen die vordersten Reihen zurück, da fliegen die ersten Pflastersteine über die London Road, klatschen an die gegenüberliegenden Häuserwände und fallen dumpf zu Boden. Spätestens jetzt nehmen die Linguisten und Ethnologen Reißaus, aber auch Danny zieht uns energisch zu seinem Haus, bis zu dem sich die Menge schon staut, macht die Läden zu und drückt uns kantige Bohlen und Holzlatten in die Hand.

   

"Packt mal mit an, ich hab nicht genug Geld, um mir jede Woche neue Scheiben einsetzen zu lassen", brummt er, während er seine Burg verbarrikadiert. Als wir drinnen waren, ging es draußen erst so richtig los. Steine prasselten gegen die Wand und donnerten auch auf die soliden Bohlen, als flöge die Bogside durch einen Meteoritenschwarm, laute Stimmen riefen Kommandos, hastige Schritte trappelten außen am Fenster vorbei, und ein handfestes Schlachtgetöse ließ uns hellwach im Zimmer hocken. Durch schmale Ritzen in den Läden sahen wir im Dunkeln Taschenlampen blitzen und schemenhaft Leute hin und herrennen, auf einander eindreschen und Steine werfen. Dann knallte es ein paarmal, und durch die Ritzen drang Tränengas ins Zimmer, eine kräftige Ladung. Ahnungslos inhalierten wir einen guten Schluck davon und fingen an zu husten und zu prusten. Ich griff mir meinen Schlafsack und presste ihn auf Mund und Nase, aus der Rotz und Wasser flossen. Ingo keuchte und spotzte, und dann kam auch Danny mit rotem Gesicht fluchend die Treppe vom Obergeschoss heruntergepoltert und rang nach Luft. Er stürzte ins Freie, und Ingo hinterdrein, und dann war alles totenstill, der Spuk war zu Ende.

 
Ich bewunderte die Wirksamkeit von Tränengas, das den nordirischen Raufereien ein so jähes Ende bereitet hatte. Vorsichtig machte ich ein Fenster von innen auf, atmete ein bisschen, schnupperte --- die Luft war wieder rein. Wo Danny und Ingo abgeblieben waren, wusste ich nicht, aber da ich mich dank der überraschend guten Filterwirkung eines Bundeswehr-Schlafsacks nicht sonderlich gasgeschädigt fühlte, legte ich mich aufs Ohr, denn es war inzwischen gegen halb 3 Uhr früh.

  

Als ein Morgensonnenstrahl durch den gleichen Spalt wie das nächtliche Gas in die Stube fand und mich nach tränenreicher Nacht weckte, war es kurz vor zehn. Ich war allein zuhaus und hütete die Wohnung eines mir bis gestern Nachmittag noch völlig unbekannten nordirischen Arbeitslosen. Da siehst du mal, wie idiotisch es manchmal zugeht auf dem Globus, und wie wenig dazu nötig ist, um sich in die Haut eines beliebigen Mitmenschen zu versetzen und sich für sein bisschen Hab und Gut verantwortlich zu fühlen. Aber mehr noch hätte mich interessiert, wo Ingo und Danny abgeblieben sind. Wenn sie eingelocht worden sind als Krawallmacher und Terroristen, sollen sie mal ihren Jail genießen, ich hab jetzt erst mal Hunger. In der Küche machte ich mich in aller Ruhe über das Beste von den gestern eingekauften Frühstückszutaten her, nachdem ich gewahrt hatte, dass Danny, trotz eiliger Flucht, wohl instinktiv die Haustür hinter sich zugeschlossen und den Schlüssel mitgenommen hatte. Es wäre zwar keine Kunst gewesen, aus dem Fenster im Erdgeschoss eines nordirischen Reihenhauses ins Freie zu gelangen, aber als Haushüter wollte ich mal nichts offen stehen lassen. Meine Sorge um die beiden Mitbewohner hielt sich in Grenzen, denn verhaftet zu sein und im Kittchen zu übernachten, ist immer noch besser, als bei Gewitterwolkenbruch im Zelt zu pennen.

 

Gegen Mittag kamen sie putzmunter und gut gelaunt zurück. Die Schluris haben sich als Giftgasopfer von der Ambulanz ins Hospital fahren und auf Kosten der öffentlichen Hand behandeln und verpflegen lassen. Danny grunzte vor Wonne, als er lauthals prahlte, dass er es sich wieder einmal auf britische Kosten hat gutgehen lassen. Eine Nacht im Krankenbett, und am Morgen noch Sandwiches und einen barmherzigen Tee, "was müssen sie uns auch mit Gas vergiften, diese Brits, da sollen sie auch dafür blechen und uns restaurieren!"

Zwei Polizisten sind bei dem Zoff der letzten Nacht ums Leben gekommen, vermelden die Zeitungen.

 

 riot

 

Am Nachmittag war die Sonne weg, und der Nieselregen dämpfte die Festtagsstimmung auf der Waterside. Aber noch mehr Leute als gestern stiefelten in Kitteln von dunnemals herum, vor allem etliche angejahrte Jugendliche mit Schärpen, auf denen sie als "apprentice boys" kenntlich gemacht wurden; die Lehrbuben hatten seinerzeit Entscheidendes zur englischen Victory über die Katholiken beigetragen. Für Mitglieder des Orange-Ordens gab es Gratis-Essen und protestantisches Freibier, bei dem wir freilich nur zugucken konnten, da wir nicht zu den Apfelsinenrittern zählen. Auf jedem Platz bellten Festredner ihre Kriegsparolen in pfeifend übersteuerte Mikrophone. Die schwarzen Herrenschirme der Zuhörer verliehen dem Fest das Flair eines Begräbnisses.

Aber jetzt pass mal auf, was noch kommt. Ich hatte ja den Denker in mir auf Sparflamme gedreht, wie du weißt, und ahnte nicht im geringsten, dass wir heute im Stadtpark am Foyle River anschaulich gezeigt bekämen, dass die Schicht der Zivilisation, auf die wir in Europa so stolz sind, nur ziemlich dünn und keineswegs kratzfest ist.

  

 apprentice

Dabei hatten wir es gar nicht eilig, denn vom Zugucken, wie sich andere paisleyLeute mit Freibier bezischen, wird man ziemlich hungrig und durstig, und als wir Spätaufsteher schließlich den St. Colomba Park am River Foyle erreichten, wo die Abschlusskundgebung nach dem Festumzug stattfinden sollte, war die Chose schon zu Ende, und die Leute strömten uns, von Alkohol und Ian-Paisley-Parolen angeheizt, grölend und fahnenschwenkend entgegen wie Hooligans nach einem Länderspiel. Aber weil in dem Park anscheinend noch was los war, näherten wir uns neugierig der Ecke, aus der rhythmisches Geschrei und Getöse erscholl. Wir erblickten einen Ambulanzwagen vom Roten Kreuz, eingekeilt von einer johlenden Rotte, die versuchte, den Wagen umzuwerfen. Schon wieder eine saftige Keilerei? Es hieß, dass zwei Rundfunkreporter aus der irischen Republik, die eine Reportage über das Fest nach Irland übertragen und für Protestanten-Ohren missliebige Kommentare zu sprechen gewagt hätten, von der Meute gelyncht werden sollten und sich in letzter Not in die Ambulanz gerettet hätten. Die Wilden droschen und traten auf das Blech ein, versuchten die Scheiben einzuschlagen und die Türen aufzubrechen. Die Windschutzscheibe splitterte, eine Handvoll Rowdys hatte das Dach geentert und stampfte wie bescheuert drauf rum, und als die Hintertüre nachgab, gelang es dem blutgierigen Mob, eine Krankenschwester halb herauszuzerren, aber die Ärzte im Wagen konnten sie in letzter Minute wieder zurückreißen, bevor die Bestien das Mädchen vollends zerfleischen konnten. Wie ein Wolfsrudel, das sich auf ein waidwundes Reh stürzt, wogte die blindwütige Horde um das schwankende Vehikel, das sich im Schrittempo, mehr geschoben und gehoben als selbst fahrend, vorwärts bewegte, bis in wahrhaft letzter Minute die per Funk alarmierten Truppen eintrafen und die tollwütige Meute zurückdroschen.

 

Siehste, da braucht man gar nicht erst nach Indien, Ruanda oder Iran zu fahren, um sich anzusehen, wie Witwen verbrannt, Familien zermetzgert oder angebliche Ehebrecherinnen gesteinigt werden. In Nordirland bekam man Ähnliches schon 1970 zum Schnäppchenpreis geboten, da konntest du dir mal ansehen, wie man Krankenschwestern mit bloßen Händen in der Luft zerreißt, und dass wir heute nur die Ouvertüre erlebten, lag an den blöden Militärs, die den Leuten nicht mal ihren kleinen Festtags-Blutrausch zur Teatime gönnen wollten. Da wäre ein Abenteuerurlaub im Kosovo lohnender gewesen, denn da ging es richtig zur Sache, aber das weiß man alles erst hinterher. Als sich die heutige Narretei zutrug, da waren die Serben, Kroaten und Albaner nämlich noch gute Nachbarn und haben sich gegenseitig beim Dachdecken, Autoreparieren und Ziegenhüten geholfen; bis sie auf die Idee kamen, einander die Haut abzuziehen und Löcher in die Köpfe zu schießen, musste erst noch ein Vierteljahrhundert vergehen. Überrascht hat mich das dann allerdings nicht mehr allzu sehr, denn seit dem Sommernachmittag im St.Colomba Park habe ich mir gemerkt, dass erstens auch in Derry die Zeit der Wasserpistolen vorbei ist, und dass zweitens dem Mitmenschen und seiner Zivilisation nur bedingt zu trauen ist.

   

Um unsere Studien in Massenhysterie fortzusetzen, sprangen wir vom Ast unseres Aussichtsbaumes im Stadtpark runter und spurteten an dem heimwärts schlurfenden protestantischen Pöbel, der sich wieder zu einem Zug zu formieren begann, vorbei, um dessen Ankunft in den katholischen Stadtvierteln und vor allem den Empfang, der ihm dort bereitet würde, zu beobachten. Noch bevor die Vorhut der Marschierer die Lower Bridge erreichte, schafften wir es, den Zug zu überholen und wutschten, vermutlich als allerletzte, zwischen den Barrikaden, mit denen die Militärs die Brücke absperrten, auf die katholische Seite rüber. Dass die Raufbolde von hüben nicht mit Blumen-Girlanden in den Händen auf die Raufbolde von drüben warteten, brauche ich wohl nicht eigens zu erwähnen. Uns beachteten sie kaum, denn wir hatten uns nicht so aufgedonnert wie alle die kostümierten Festbesucher vom Protestanten-Stamm mit ihren Schärpen und Wimpeln, und so konnten wir in Ruhe ein erhöhtes Garagendach als Aussichtsplattform besteigen und harrten der Dinge, als sei, Kölle alaaf, ein Faschingszug im Kommen.

 

 marching


De Zoch kütt aber nicht, denn vor dem Stacheldraht-Verhau kamen die Hooligans zum Stillstand. Jugendliche Eiferer drängelten sich vor, denn sie wollten nicht einsehen, warum sie an der Rückkehr ins Stadtzentrum gehindert werden sollten. Es bildete sich ein zu allem entschlossener Stoßtrupp, der im zweiten Anlauf die Barrikaden durchbrach, aber die Jungs liefen dort geradewegs den wartenden Soldaten vor die Kanonenmündung oder rannten sich am zweiten Verhau fest. Die nachdrängende Herde wurde mit Tränengas zum ungeordneten, beschleunigten Rückzug veranlasst, wobei der Wind sich freilich ein Späßle erlaubte und die Schwaden in die Stellungen der Soldaten zurückwehte, die das Zeug zum Kotzen fanden und schniefend aus ihren Unterständen gequollen kamen, fast so amüsant wie im Kino, die Szene hätte von Chaplin gedreht sein können.


Danach waren für zwei lange Stunden keine besonderen Vorkommnisse mehr zu verzeichnen. Blödes Kino, wir wollen unser Eintrittsgeld zurück. Nicht mal 'ne anständige Keilerei kriegt man hier geboten. Die Protys standen sich an der Brücke vor den Sperren die Beine in den Bauch, und die Catholys auf der anderen Seite mit ihren handlichen Pflastersteinen in den Pfoten ebenfalls. Und wir bekamen kalte Pos auf unserem harten Garagendach. Das Bier war alle und der Rausch am Verdunsten, und der Abendregen tat ein Übriges, die erhitzten Gemüter abzukühlen, weshalb beide Schlachtreihen sich auch ohne Feindeinwirkung zu lichten begannen, wie es die Taktik der psychologisch versierten Militärstrategen vermutlich auch vorgesehen hatte. Weniger fanatische Protys, die zum Abendbrot pünktlich bei Muttern sein wollten, nahmen den Umweg von einer guten Meile in Kauf und trotteten zur Upper Bridge, und der Magen knurrte überkonfessionell und gleichermaßen friedenstiftend auch auf katholischer Seite. Zuletzt, es begann langsam zu dämmern, ließen die Soldaten den harten Kern der noch immer ausharrenden Protestants über die Brücke, aber nur tröpflesweise, immer nur 5 Mann, und die schlichen sich, der stark machenden Masse beraubt, mit eingezogenen Köpfen kleinlaut nach Hause, durch die feindlichen Gassen, in denen inzwischen die Ordnungshüter in der Überzahl waren.

 

fishnchipsAuch bei uns hatte der Magen überkonfessionell mitgeknurrt. Vor dem 3.Akt der heutigen Festspiele fraßen wir uns durch einen Fish'n'Chips-Laden und brachten auch dem Danny eine Tüte mit, und dann gingen wir zu der Stelle, an der die London Road, die Demarkationslinie zwischen den beiden Stämmen, eine komische Beule hat. Frag mich nicht, warum. Laune der Natur? Die verbreitert sich da einfach, wie eine Python, die gerade ein Schwein verschluckt hat. Vielleicht haben ja früher die Fuhrwerke da gewendet, oder die örtlichen Meisterschaften im Guinness-Abschlagen wurden da ausgetragen, keine Ahnung. Es ist jedenfalls kaum denkbar, dass die Baumeister seinerzeit schon an ein Aufmarschfeld für feindliche Feierabend-Heere gedacht hatten. Dafür war der nach dem Herausreißen fast aller Pflastersteine staubige Platz allerdings hervorragend geeignet; hier standen halbwüchsige Bogside-Jungs, mit Knüppeln und Steinen bewaffnet, und ihnen gegenüber britisches Militär mit Schilden, Helmen und Tränengaskanonen. Und hinter denen wieder die Kids von der Waterside. Alle standen sich fast reglos Aug in Auge gegenüber und warteten auf irgendwas, die Dunkelheit, den Anpfiff oder den Schiedsrichter, was weiß ich. Naiv wie wir waren, fragten wir jemanden, um was es da eigentlich gehe, ernteten aber nur ein verständnisloses Schulterzucken. Als es gänzlich finster war, hörte man die ersten Steine dumpf auf Soldatenleiber und -schilde prallen, dann klatschten Gummiknüttel und platzten Gaspatronen, genau wie gestern Abend auch, nur an anderer Stelle diesmal. Es schien um gar nichts zu gehen, war wohl so eine Art nordirischer Nationalsport. Die spinnen, die Nordiren. Take it easy.

   

Als uns die ersten Gasschwaden um die Ohren wehten, zogen wir uns von dem Spektakel zurück, denn zu sehen war im Dunkeln ohnehin wenig, und da wir weder die Spielregeln kannten noch von der UNO bezahlt wurden, waren uns unsere Knochen zu schade, um da frischweg mitzumischen. Zur Erholung ließen wir uns bei der guten Mary Roddy nieder, die sich freute, dass wir noch heil waren, und brachten noch andere internationale Beobachter mit, die Brüder Neil und Jack Shanahan aus den USA und Halvard Jansen aus Oslo, und weil Danny sich über Besuch freute und genug Platz hatte, nächtigten heute fünf Gäste in seiner internationalen Jugendherberge.

  

Unsere neuen amerikanischen Bekannten hatten ein uraltes Vehikel gemietet, mit dem sie nach Belfast tuckern wollen. Da findet ein Meeting der katholischen People's Democratic Party statt. Fein, sagt der Ingo, auf eine Party hab ich immer Lust, da fahr ich auch mit. So wechselten wir aus dem Tollhaus Derry ins Irrenhaus Belfast, wieder einmal. Da wir nicht zu trampen brauchten, ließen wir uns Zeit und töffelten bei herrlichstem Sommersonnenschein die Küstenstraße entlang zum Giant's Causeway, dieser eindrucksvollen Basaltformation, die als größte Sehenswürdigkeit von Ulster gilt. Noch eindrucksvoller war der Anblick "normaler", friedlicher Mitbürger, Papas mit Töchterlein, Schleifchen im Haar, an der Hand, freundliche Omas im geblümten Ausgehkleid mit liebem Frau-Holle-Lächeln, sonnenölglänzende Bikini-Girls auf bunten Frotté-Tüchern am Strand. Der Alptraum im Nieselregen-Park und seinem Ausbruch von Bestialität von gestern Nachmittag kam mir vor, als hätte ich nur einen flimmernden Schwarzweiß-Film aus längst vergangenen Kriegszeiten gesehen. Eine fast surrealistische Aufgabe, sich vorzustellen, dass es eine nur 20 Stunden und 30 Meilen nahe Realität war.

 

 giants cw



Auch in Belfast wurde getrödelt, erst mal was spachteln, dann ein Bierchen, und dann wollte das Versammlungslokal erst gefunden sein. Wider Erwarten wurde es weder von der Polizei abgeschirmt noch von wütenden Protestanten belagert, wir konnten einfach reinschneien und uns die lebhafte Diskussion anhören, die bereits in vollem Gang war. Und unterhaltsam, denn ein vereinzelter, hochprozentig angetörnter Oppositioneller vom Briten-Stamm riss mit wahrhaft kabarettreifen Solo-Einlagen und Schimpftiraden den ganzen Saal immer wieder zu schallenden Lachsalven hin. Und als er schließlich beleidigt und von den Catholys unbehelligt den Saal verließ, war die Versammlung zu Ende. So schön kann Politik sein.

  

Die PDP-Leute besorgten uns bei ihren Mitgliedern Übernachtungsmöglichkeiten, und wir wurden auf verschiedene Adressen verteilt. Bei der Gelegenheit bemerkte Ingo, dass er seinen Schlafsack am Strand beim Giant's Causeway vergessen hatte. Das kommt davon, wenn man sich nach langem mädchenlosen Frust die Augen nach den Bikini-Schönheiten ausguckt anstatt sein Hirn zu aktivieren. Ich will ja nichts über den Ingo sagen, der ist ein guter Kumpel, der viele nützliche Talente hat und auch dann, wenn's mal mies läuft, den Kopf nicht hängen lässt, aber wenn der Röckchen oder Bikinis wittert, kann man sich nur in Geduld fassen. Glücklicherweise gehen die Anfälle meist auch ohne Flops à la Kilconnel bald vorüber, aber wenn der Schlafsack dabei flöten geht, dann hat sich die Sache nicht gelohnt, das steht fest.

 

Weil die Shanahan-Brüder auf Ahnenforschung weiter in die irische Republik fahren wollten, trennten wir uns von ihnen und von Halvard Jansen, der ebenfalls auf dem Weg nach Átha Cliath war, und der schlafsacklose grandorangeIngo trampte nach einem Besuch im Hauptquartier des anderen Stammes, der Unionists, nach Derry zurück, um dort vor Einbruch der Dunkelheit anzukommen, während ich noch zur deprimierend verhackstückten Falls Road trabte, um unserem Freund Jim O'Kane hello zu sagen, aber dort war kein Mensch daheim.

  

Wenn es sich richtig einregnet in Derry, dann hört es lange nicht mehr auf. Und wenn dann noch Zahltag des Stempelgeldes ist, kannste als Arbeitsloser echt nichts tun als dich in die Kneipe zu hocken und die Piepen zu versaufen. In Dannys Haus steht kein Radio und kein Fernseher, er liest keine Zeitung und hat kein Buch. Der größte Wertgegenstand in der Wohnung ist der schrappelige, kleine Kühlschrank, aber der ist nahezu leer. Das wird ein echt beschissen langweiliger Tag, sagte ich mir, und blieb einfach im Bett liegen. Da siehste mal wieder, wie man sich täuschen kann.

  

Gegen Mittag, als wir gerade lustlos am Aufstehen waren und knobeln wollten, wer Fressalien einkauft, kam Besuch. Zwei stämmige Iren, mit ebensolchen Möbelpacker-Oberarmen wie Danny sie hat, holten ihren Freund Danny ab zum Ausgehen, und wir blieben allein zurück. Aber kaum war Danny weg, da kam schon wieder jemand durch den Regen getapst. Ein hageres, verschlissenes Männlein mit deep-purple-farbener Alkoholikernase schlurfte herein, bepackt mit Brot und Würsten. Halbnüchtern oder halbvoll wie er war, fing er in der Küche an, herumzubrutzeln. Es schien ihm überhaupt nichts auszumachen, dass Danny, mit dem er speisen wollte, gar nicht zu Hause war. Nun, beim Essen vertraten wir Danny gern, und machten uns her über das, was der unbekannte Saufbruder da zusammengeköchelt hatte, und hörten uns an, was er zusammenhanglos aus seinem Leben berichtete. Von seiner Frau, die ihm weggelaufen ist, als er seinen Job verlor, von seinen Söhnen, von denen einer zur See fährt und der andere irgendwo Pfarrer ist, und dann fing er an zu flennen und verfluchte den Alkohol, der ihn vollends ins Elend gestürzt habe. Wenn er nämlich seine 5 £ Wochenstütze am Samstag abholt, dann sind sie am Sonntagabend versoffen, und wenn Danny nicht wäre, der ihn dann bis zum nächsten Samstag durchfüttert, wäre er längst in irgendeiner Gosse krepiert.

  

"Und jedes Mal schwöre ich ihm hoch und heilig, dass es das letzte Mal sei, aber dann muss ich doch immer wieder bei ihm betteln," schluchzte er. Die Wurst hatte er von seinen letzten Pennies gekauft, um Danny etwas Gutes zu tun. Und wir haben's ihm weggefressen.....
Wir versuchten, diese gebrochene Gestalt ein bisschen aufzurichten und steckten ihm einen Shilling zu, weil er vom Jammern ziemlich durstig geworden war, und dann schob er seine traurige Gestalt wieder zur Türe raus in den nordirischen Landregen. Dass Danny von seinem bisschen Geld auch noch eine Schnapsleiche päppelt, davon hatte er uns keinen Ton erzählt.

   

Knapp zwei Stunden später kam auch der Alte von vorhin wieder angeschlurft, sternhagelbedöselt. Wie viel Sprit man doch für einen einzigen lumpigen Bop tanken kann! Mit schwer lallender Zunge legte das Männchen wieder seine Lebenslauf-Platte auf, heulte sich eins und sang dann schaurig falsch, aber innig "Oh Danny Boy" als Hymne auf seinen abwesenden Wohltäter, bevor er endlich in dem abgewetzten Sessel im Wohnzimmer einschlief.

 

 suff


Als sein Danny Boy dann heimkam, pennte der Säufer so fest, dass er nicht mal von dem Fußtritt richtig wach wurde, den Danny ihn mit dem irischen Gruß "du alter fuckin' Gauner bist ja schon wieder besoffen" verpasste. Er lallte nur so etwas wie "Lassmichinruh" und drehte sich auf die andere Seite.

  

Nach einer langen Nacht in endlosen Gesprächen mit Danny pennten wir anderntags glatt bis zum Nachmittag durch, denn der Regen dauerte noch unvermindert an. Die hagere Schnapsdrossel vom Vorabend war ausgeflogen, keiner weiß, wann und wohin, aber als wir Danny von dem guten Willen des seltsamen Männleins berichteten, das gestern mit Wurst beladen angetrottet gekommen war, um ihm mal was Gutes zu tun, da war er schniefgerührt.
"Dieser fucking Gauner", murmelte er, musste sich aber dabei heftig schneuzen.

  

Weil heute Sonntag war, fiel uns ein alter Bekannter ein, und wir zogen los, um dem Dean of Derry mal "Guten Tag" zu sagen. Der war auch zu Hause, ließ uns aber trotz des Regens nicht mal zur Türe rein, was wir freilich auch nicht vorgehabt hatten. Schließlich hatten wir ein erstklassiges Obdach. Der Pastor wechselte ein paar Floskeln mit uns, konnte aber kaum verbergen, dass er lieber in Ruhe gelassen werden wollte. Den Gefallen taten wir ihm auch, um auf dem Rückweg allerhand einzukaufen, weil wir gestern alles weggefressen hatten, und feierten dann so eine Art Abschiedsparty mit Danny. Als der Regen ein wenig nachließ, verließ ich allein die palavernde Runde zu einem letzten Gang durch die Bogside und entdeckte, dass auch da Feste gefeiert werden. Keine politischen oder historischen Spektakel, sondern eine Art Kinderfest, zu dem hier und da Feuer entzündet waren, um die katholische Lumpenkids mit ihren "students" sprangen und tanzten. Als es vollends finster war, schlich ich mich in das heute dunkle und menschenleere Protestantenviertel, um mir ein Souvenir zu besorgen: Von einer Hauswand nestelte ich einen der riesigen Union Jacks ab und verließ unentdeckt und ungelyncht die Waterside. Den Briten-Wimpel, groß genug, um den Boden eines mittelgroßen Wohnzimmers zu bedecken, habe ich noch heute. Und diejenigen, die dreist behaupten, dass der von mir gemopste Lappen Ursache für die später folgende Eskalation des Konfliktes gewesen sei, sind allesamt vom KGB bezahlte Provokateure.

  

Montag und blauer Himmel, das war für uns das Signal zum Aufbruch. Danny, der gute Kumpel, hatte für uns schon in aller Frühe Marschverpflegung eingekauft und ließ es sich auch nicht nehmen, noch einmal seine allseits beliebten, selbstgemachten Fritten zu brutzeln. Nur ungern gab er zu, dass er uns zuliebe schon fast die Hälfte seines Wochenbudgets verplempert hatte, aber er machte Anstalten, mir an die Gurgel zu fahren, als ich ihm für die Gastfreundschaft wenigstens einen Pfundschein in die Pfote drücken wollte. Aber da kannste sagen, was du willst, es gibt womöglich doch irgendwo im Himmel einen großen Manitou, denn anders ist es kaum zu erklären, dass just im Moment unseres Aufbruchs der Postbote kam und einen dicken Einschreibebrief aus Amerika bei Danny ablieferte, der ein ordentliches Bündel Dollarnoten enthielt. Wenn wir nicht schleunigst unseren Rümpel geschnappt hätten, dann hätte uns dieser Danny Boy nach dem Ende seines Freudentanzes garantiert in sämtliche Bars und Restaurants von Derry eingeladen, also nichts wie fort von hier!

   

"Wenn ich genügend von diesen verdammten Dollars beisammen hätte, würde ich sofort diesen fuckin' place in Richtung Amerika verlassen!", waren Dannys Abschiedsworte, und kurze Zeit später begann für uns wieder der Alltag am Straßenrand.

 
 

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