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Von Trujillo nach Huaraz und Chavín de Huantar

 

mantas

 

Lima, das uns nach der Ankunft aus Europa unwirtlich, chaotisch, müllhaltig, hektisch, vergammelt und trostlos erschienen war, wirkt nach dermaßen langer Zeit in der Wildnis mit ihrer echten Unwirtlichkeit auf einmal großstädtisch, geräumig, weitherzig, charmant und leutselig. Nur der Müll prangt nach wie vor an prominenter Stelle im Stadtbild. Im Vergleich zu der ölhaltigen Pionierstadt Pucallpa sind die Preise in Lima angenehm niedrig, im Vergleich zu den Bretterwirtschaften in Costa und Sierra sind hier die Bars, Imbisshallen und Restaurants modern, komfortabel, gut ausgestattet und bestens sortiert. Auf den Abendboulevards flanieren Bürger, Geschäftsleute, Ausländer und Liebespaare --- Lima macht eine ganze Menge Punkte gut!

 

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Lima wirkt auf einmal großstädtisch, geräumig

 

Eine silbrige Wellblechrakete röhrt am andern Morgen mit Karacho die Panamerica Norte hinauf nach Trujillo, selbst Colectivos und entsetzt beiseite stiebende Privat-PKWs wie aufgescheuchte Hühner hinter sich lassend. Bei der Ankunft nach dem Rennen durch die nördliche Küstenwüste ist von den anderthalb Stunden Verspätung, die wir am Morgen noch hatten, ein magerer Rest von 20 Minuten geblieben. Hoch lebe der bravouröse Busfahrer!

Trujillo macht auch auf den zweiten Blick noch einen guten Eindruck, ähnlich wie Arequipa. Einzig die Plaza de armas liegt ein wenig abseits; das Zentrum der Stadt hat sich den Stadtplanern zum Trotz von der Plaza entfernt und in die Calle Gamarra verlegt. Diese Straße ist die reinste Fressgasse. Dicht an dicht reihen sich hier Kneipen, Bars, Teestuben, Chifas (China-Restaurants) und Hendl-Grillerias aneinander, deren Preise noch eine Stufe moderater sind als in Lima.

Weit im Norden gelegen, stöhnt Trujillo naturgemäß unter noch größerer Hitze als die Küstenorte des Südens, aber vom nahen Meer gelangt bisweilen eine Brise Frischluft in die Gassen, so dass man die Gelegenheit zum Atemholen nutzen kann.

In der Umgebung morschen die Überreste alter Kulturen vor sich hin; wenige Kilometer südlich der Stadt stören die gewaltigen Überreste zweier Heiligtümer der Mochica-Kultur die Landwirtschaft, und obwohl dies die bedeutendsten Monumente dieser alten, präincaischen Kultur sind, verirrt sich doch kaum ein Fremder zur Sonnen- und Mondpyramide. Dabei ist der Besuch auch in anderer Hinsicht lehrreich: Zwischen den beiden Lehmziegel-Bauwerken befand sich nämlich früher eine Nekropole, die jedoch von den frühen Kolonisatoren auf der Suche nach Gold respektlos durchwühlt und umgegraben wurde. Was die Grabräuber des 16. Jhs. als wertlos liegen ließen, Grabbeigaben aus schönster Mochica-Keramik, puhlen heute clevere Jüngelchen von den nahen Haciendas aus dem Sand und verkümmeln es an die Touristen. Wenn man den Raubgräbern eine Weile zusieht, wie sie mit fast jedem Spatenstich Mochica-Scherben mit Mustern und farbiger Bemalung, Schmuckstücke oder Kultgefäße ans grelle Licht heben, möchte man beinahe selber Hobby-Archäologe werden.

 

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Südlich der Stadt stören die gewaltigen Überreste
zweier Heiligtümer der Mochica-Kultur die Landwirtschaft

 

Etwa gleich weit von der Stadt entfernt, aber in nördlicher Richtung, erstreckt sich das, was von Chanchan, der einstigen Hauptstadt des Chimú-Reiches, übrig geblieben ist. Obwohl diese riesige Stadt niemals vorsätzlich zerstört worden ist, verrottete sie nach dem Untergang des Chimú-Reiches, und da keiner mehr die Lehmziegel auffrischte, wenn sie von einem der seltenen Regenfälle (der letzte wurde 1958 registriert) weggeschwemmt worden waren, stehen heute nur noch kariöse, ausgewaschene Mauerreste in der Landschaft herum, von diesen allerdings so viele und so weit angelegte, dass die gesamte Anlage dennoch einen beachtlichen Eindruck auf den verlorenen Besucher macht, der nicht weiß, wohin er sich in diesem Lehmziegel-Labyrinth wenden soll. So trottet man denn aufs Geratewohl umher und landet schließlich, wenn die Füße heiß gelaufen sind, am Erfrischungsstand mit seinem Angebot von Inca-Kola.

 

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Da keiner mehr die Lehmziegel auffrischte, stehen heute
nur noch kariöse, ausgewaschene Mauerreste in der Landschaft

 

Südlich von Trujillo gelangt man durch die übliche Küstenwüstenszenerie nach Casma, einem kleinen Fischernest, das Touristen nur wegen Sechín, einer steinalten, aber erst kürzlich entdeckten Kultstätte einer vorerst noch unidentifizierten Kultur, eines Blickes würdigen. Dabei ist der ausgezeichnete Fisch, den man in Casma serviert bekommt, durchaus einen Halt auf der Reise wert.

Aber auch Sechín lohnt den Besuch: Auf Steinplatten sind Reliefs graviert, die in zeitloser Gültigkeit die menschliche Natur darstellen: Zwischen hochgewachsenen, an Pinochet gemahnenden Männern in Kriegermontur, die Augen geöffnet, die Zähne gebleckt, sieht man die Überreste ihrer Mitmenschen, bluttriefende, abgeschlagene Köpfe, halbierte Leiber, zerschnetzelte Körperteile, abgetrennte Gliedmaßen, gespaltene Schädel und ausgerissene Augen ...... Szenen aus dem Kosovo, aus Rwanda, aus Cambodia?

Uralt und doch hochaktuell.

 

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Bluttriefende, abgeschlagene Köpfe, halbierte Leiber,
abgetrennte Gliedmaßen

 

Von nun an geht die Fahrt wieder bergauf. Nach dem großen Bogen durch Küste, Hochland und Urwald folgt jetzt noch ein kleiner Bogen. Trujillo, Chanchan, Casma, das war ein zweites Mal die Costa, und jetzt geht es erneut ins Obergeschoss, hinauf in die Kordillere nach Huaraz. Erstaunlicherweise spüren wir diesmal, bei der ganztägigen Rumpelbusfahrt von Meeresniveau bis hiauf in die Viertausender-Region, keinerlei Beschwerden mit dem Höhenunterschied, der menschliche Körper ist offenbar höchst anpassungsfähig und gewöhnt sich rasch auch an steilste Karrieren. Kurz nach Mittag, bei dem Indio-Ort Pariacoto, wird die schneebedeckte, klare Kette der spitzigen Westkordillere sichtbar, dann ein 4000-m-Pass, und danach geht es wieder ein bisschen runter in ein breites Tal, das berühmte Callejón de Huaylas mit seiner Haupstadt Huaraz.

Berühmt ist das Tal in zweierlei Hinsicht: Einerseits gilt es als das landschaftlich schönste Gebiet von Perú, flankiert von der Cordillera negra zur Linken und der Cordillera blanca zur Rechten, fruchtbar und voller Agaven und Kakteen, dominiert von den beiden höchsten Gipfeln der peruanischen Anden, dem Huascarán (6768 m) und dem Huandoy (6588 m). Andrerseits ist das Callejón de Huaylas aber auch eine Region großer Naturkatastrophen, vor allem von Erdbeben häufig heimgesucht. Erst zehn Jahre ist es her, dass die Indiodörfer der Region ringsumher zu Bruch gingen, und Lehmziegelruinen künden allerorten von dem Unheil. Sind auch direkt neben den Schutthügeln der alten Häuser neue Hütten aus Wellblech, Spendengeldern und Holzlatten errichtet worden, so lässt sich das Ausmaß des Schreckens noch deutlich erahnen. Huaraz ist 1958 von einer anderen Katastrophe heimgesucht worden: Von dem eisbedckten Gipfel des Huascarán hatte sich ein gewaltiger Gletscher gelöst, war zu Tal gedonnert und in einem See gelandet, der sich daraufhin in einer unvorstellbaren Flutwelle über Huaraz ergoss und ein Drittel der Stadt mit sich fortspülte.

 

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Dominiert von dem höchsten Gipfel der peruanischen Anden,
dem Huascarán (6768 m)

 

Die Ankunft in dem hübschen, kleinen Hotel, das uns Alfredo zuvor empfohlen hatte, gestaltete sich vergnüglich, aber die Lacher waren nicht auf meiner Seite. Man stelle sich einen hochgebirgs- und urwaldgezeichneten Gringo vor, mit seinem Globetrottel-Schlappfilz auf dem Kopf, einem wild gewucherten Reinhold-Messner-Bart und einer urigen Kiepe auf dem Buckel, mit abgelatschten, bambusdurchspießten Sneakers und beuligen, von Schmutz starrenden Jeans angetan, der durch das Portal in die Vorhalle tritt, sich nach einer Art Rezeption umsieht und die nächste Tür öffnet.......

Noch bevor die Lehrerin-Nonne der Klosterschule sich bekreuzigen und dann entgeistert in Ohnmacht fallen kann, bricht die gesamte Mädchenklasse in schallendes Gelächter aus, und der Gringo, der unter dem quietschenden Gewieher der Gymnasiastinnen schleunigst den Rückzug antrat, machte gewiss keine allzu bella figura. Das Hotel war im Nachbarhaus, eine einzige Tür weiter......

 

 

Fast genau vor zehn Jahren, am 31.Mai 1970, als in México die Fußball-WM eröffnet wurde, an der erstmals ein peruanisches Team teilnahm, ging Yungay unter. Das nächtliche Erdbeben löste einen Teil der umliegenden Bergmassen, die in einem gewaltigen Fels- und Erdrutsch in das Tal stürzten und den gesamten Ort mit all seinen 20.000 Einwohnern in einem einzigen Augenblick unter sich begruben.

Das Bild lebendiger Indio-Städtchen vor Augen, mit ihren Marktfrauen, Schuhputzer-Jungs und Schulmädchen, den überfüllten Bussen, hupenden Taxis und feilschenden Straßenhändlern, den allgegenwärtigen steifen India-Hüten und bunten Mantas, wird es mir schwer, die Tränen zu unterdrücken, als ich über die weite, von dornigem Gestrüpp und harten Unkräutern bewachsene Geröllebene steige, hin zu den vier in der Ferne sichtbaren Palmen, die anzeigen, wo einst die Plaza de armas des versunkenen Ortes lag. Es ist nutzlos, nach anderen Überresten der Stadt zu suchen. Sie liegt unter meterhohem Schutt, ein gewaltiger Friedhof, auf dem die Verwandten aus den Nachbarorten dort, wo sie die Wohnungen ihrer Angehörigen begraben vermuten, schlichte Holzkreuze aufgestellt haben.

 

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...ragt rostig ein zertrümmerter Omnibus halb aus dem Grund

 

"Von der Gemeinde Caraz in Trauer um die Menschen der Brudergemeinde Yungay errichtet", kündet eine Inschrift, andere Tafeln listen bis zu 15 Namen einer einzigen Familie auf, von den Großeltern bis zum Säugling, die alle im gleichen Augenblick umgekommen sind, vielleicht mit Ausnahme des Sohnes, der zum Militärdienst eingezogen war und fern der Heimat weilte. In der Nähe der Palmen ragt rostig ein zertrümmerter Omnibus halb aus dem Grund, auf dessen noch nicht völlig abgeblätterter Farbe noch "Linie 6" zu lesen ist. Ein Stück weiter stolpert man über ein Stück Autochassis, das eine Handbreit aus dem harten Boden hervorschaut, mit zerfetzten Reifenresten an der beuligen Felge. Die Kirche ist das einzige Gebäude, von dessen dicken Mauern ein größerer Brocken zwischen den halb verschütteten Palmen übrig geblieben ist, und auf diesen hat man ein großes, schwarzes Kreuz gestellt wie eine stumme Beschwörung, eine ohnmächtige Geste flehender Verzweiflung gegenüber dem riesigen Berg, der das Unglück gebracht hatte und hinter dem sich, in blendend weißer Schönheit, unnahbar wie seit uralten Zeiten, der schneebedeckte Gipfel des Huascarán in den tiefblauen Himmel reckt. Von den vier noch stehenden Palmen des untergegangen Städtchens Yungay ist eine noch grün, und ihre frischen Blätter rascheln im Windhauch eines herrlichen Spätnachmittags.

 

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Von den noch stehenden Palmen des untergegangen Städtchens
ist eine noch grün

 

Anderthalb Kilometer weiter, immer die Straße entlang, steht man vor einem neuen Ortsschild "YUNGAY". Keine Stadt, sondern ein kleines Dorf, ein wenig über 2000 Einwohner: Die Überlebenden der Katastrophe, solche, die gerade im Nachbarort gewesen sind, auf Reisen, beim Militär, beruflich unterwegs oder in Lima. Gibt es hier jemanden, der nicht um seine ganze Verwandtschaft, um Freunde und Bekannte trauern muss?

"Das Leben geht weiter", sagt der junge Mann an der Bushaltestelle lächelnd. "Wir können nichts mehr ändern. Naturkatastrophen kommen und gehen, und wenn es nicht uns getroffen hätte, wäre es woanders geschehen. Uns wird ein ähnliches Unheil wohl nicht wieder treffen. Deshalb bleiben wir hier, nahe der Stelle, an der unsere Angehörigen gelebt haben."

Die letzten Tage in Perú, im Hochland, im Indioland. Das grausame Callejón de Huaylas zeigt sich von seiner schönsten Seite. Ein strahlender Tag, gleißende Cordillera blanca, anmutige Cordillera negra, oberhalb der Ortschaften terrassenförmig angelegte Felder, Bewässerunsanlagen in schattigen, grünen Hainen, weiter oben dann, wo der Baumbestand endet, ein dicht bewachsener Berghang voller Buschwerk. Ein aromatischer Duft füllt die Hittagshitze, und wenn man dem gewundenen Pfad weiter bergan folgt, bemerkt man, dass sich dieser Duft aus einer Vielzahl von Einzelgerüchen zusammensetzt, die hier mal süßlicher, dort wieder würziger, woanders wiederum strenger ihr Aroma versenden.

Ein noch halb lesbares, halb zugewachsenes Schild am Rand der Straße weist einen steinigen Fahrweg zu den Baños de Chancos. Es sind natürliche heiße Quellen, die sich am Fuß der Berge in einem schmalen Seitental befinden. Als Gringo braucht man nicht lange zu suchen, bis ein Lieferwagen hält und ihn den Rest der Strecke mitnimmt. Für den Spottpreis von 150 Soles (0,50 Euro) kann man sich eine überdachte, dunkle Zelle mieten und das heiße Quellwasser in einen Mini-Pool einlassen, um sich darin nach Lust und Laune stundenlang zu suhlen. Und wenn man Glück hat, wird man auf dem Rückweg, frisch gebadet und erholt, vom selben Lieferwagen wieder aufgelesen und in die Stadt Huaraz zurückgeliefert, und zwar auf asphaltierten Straßen.

Da kein Bus und kein Colectivo die steinigen 65 km Gebirgsstrecke bis nach Chavín de Huantar fährt, brachte uns ein Taxi zu dem alten Heiligtum. Kostet zwar das Doppelte des Colectivo-Preises, aber da wir uns sonst keinen Luxus leisten, rollen wir in einem geräumigen Chevrolet, eine riesige Staubschleppe hinter uns herziehend, über die Schotterpiste den Hang zur Weißen Kordillere hinauf. Langsam werden die Kurven enger, die Windungen steiler, Dörfer und Gehöfte seltener; schließlich kreuzen Schafe und Ziegen unseren Weg häufiger als andere Fahrzeuge, die sich von weitem schon durch ihre Staubfahne bemerkbar machen. Endlos krauchen wir die Spitzkehren zum Pass hinauf, und schließlich, kurz nach einem klaren, tiefblauen See, der von den Gletschern der nahen Eisgipfel gespeist wird, sind wir ausweglos von steilen Felswänden eingekeilt, an denen alle Straßenbaukunst versagen muss. Der einzige Straßentunnel, den ich in Perú je zu Gesicht bekommen habe, bringt uns über die Wasserscheide zur anderen Seite; alles Gewässer diesseits des Passtunnels plätschert, rinnt und fließt den weiten Weg hinab zum Pazifik, während jeder Tropfen, der 70 m weiter, nach dem Verlassen des Tunnels aus den Ritzen quillt, als kleines Rinnsal die ersten Meter seines noch viel weiteren Weges via Amazonas zum Atlantik gluckert.

 

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Querstreben, die in den Löchern an der Außenwand gesteckt hatten
und in steinernen Köpfen enden

 

In ähnlichen Serpentinen geht es eine weitere Stunde lang zu Tal, bis unsere Staubwolke am Ortsrand von Chavín de Huantar zum Stehen kommt. Wir sind die einzigen Besucher, die sich das Gittertor zur Privataudienz bei dem dreifaltigen Gott Huiracocha Contiquí entschlüsseln lassen, der zugleich die Kraft des Jaguars, die Weisheit der Schlange und die himmlische Zauberkraft des Condors in sich vereint. Dieser jaguargesichtigen Gottheit ist das "Castillo" gewidmet, ein burgähnliches Heiligtum aus präincaischer Zeit, Zentrum der ältesten bekannten peruanischen Bergkultur. Das Obergeschoss ist im Laufe der Jahrhunderte verschwunden, vermutlich als Baumaterial für Indiowohnungen recycelt worden. Die Basis des wuchtigen Bauwerks ist hingegen erhalten, desgleichen die meisten der labyrinthartigen Gänge im Innern. Den Eingang bildet ein von Säulen getragenes Portal, das von mystischen Reliefs bedeckt ist. Alle vielfach variierten Figuren tragen jedoch das Motiv der Reißzähne des Jaguars, der katzenhaften Nase und den Raubtieraugen dieser Gottheit. Auf flachen Reliefplatten sind weitere Muster der gleichen Art eingemeißelt, die Huiracocha als Jaguar, als Condor und als Schlange darstellen, wobei diese Motive oft zu einer einzigen Figur zusammengefasst sind, die eines Condors Umrisse zeigt, aber aus Jaguarfratzen und Schlangensymbolen besteht.

Im dunklen, nur von funzligen Glühbirnen erhellten Innern findet man weitere Reliefplatten, aber auch steinerne Querstreben, die in den Löchern an der Außenwand gesteckt hatten und in steinernen Köpfen enden, vermutlich Wächter-Dämonen, die Teufel, Räuber und Touristen abschrecken sollten, allerdings wenig erfolgreich, denn fast alle, die nicht ins Innere verbracht worden waren, sind geklaut worden. Im Zentrum des Castillo steckt "El lanzón" noch immer an seinem angestammten Platz, ein 4,50 m hoher Monolith, der über und über mit Huiracocha-Symbolik bedeckt ist.

Bei der Besichtigung dieser wundervollen Schätze bekamen wir zum ersten Mal an diesem Ort Gesellschaft, und zwar für diese Art von Örtlichkeiten recht ungewohnte: Wo sonst ausschließlich Gringos umherstiefeln, trat ein junger Mann mit 100% Indio-Gesicht herein und zeigte und erläuterte alles Sehenswerte zwei jungen Indias mit langen, pechschwarzen Zöpfen und ihren India-Hüten, die andächtig zuhörten. Sie alle waren Bewohner des nahen Ortes, die sich normalerweise nicht um historischen Kokolores kümmern, sondern vor allem ihre Felder, Gelder und Familien im Kopf haben, was bei ihrer Armut auch verständlich ist. Für steinernen Rümpel kann man sich nichts kaufen. Aber der junge Indio war stolz auf diese Relikte nahe seiner Heimat, wegen der Besucher aus aller Welt nach Chavín de Huantar kommen, und versuchte, seinen Mitbürgern in geduldigen Führungen ein bisschen das Gefühl für die Bedeutung dieser Stätte zu vermitteln.

 

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Im Zentrum des Castillo steckt "El lanzón"
noch immer an seinem angestammten Platz

 

Noch einmal die halsbrecherische Taxifahrt nach Huaraz, dann der letzte Abend in der Sierra. Wir sehen mit brennenden Augen dem abendlichen Treiben des lieb gewordenen Indiovolkes zu, gehen fast zärtlich an der Galerie der unbewegten, faltigen Gesichter der grauzopfigen Indias vorbei, die wie immer auf dem Straßenpflaster hocken und Brot, Kuchen, Obst, Krimskrams und Andenken feil bieten oder Mais, Kartoffeln und Suppen kochen, Spießchen, Fleisch und Fisch braten, Churros, Pfannkuchen und Kreppel brutzeln, während langsam das Tageslicht erlöscht und in dem Dämmerdunkel der Seitengassen im Widerschein des flackernden Herdfeuers nur die weißen Zähne und blitzenden Augen aufleuchten. Der typische peruanische Abendgeruch senkt sich über das Lachen und Schwatzen, das aus halb geöffneten Hütten dringt wie der warme Strahl flackernder Petroleumleuchten im stromlosen Innern, der auf die dunkle Gasse abstrakte Streifen zeichnet und die Vorübergehenden zu erhaschen sucht.

Ein herrlicher Morgen, strahlend klar die Bergwelt ringsumher, die Andinisten aus aller Welt nach Huaraz zu locken pflegt; sie hat sich gewiss zu unserem Abschied fein herausgeputzt! Und nicht nur die Bergwelt, sondern die ganze Stadt Huaraz hat sich geschmückt, als wollte sie unsere Zuneigung erwidern. In einer endlosen Reihe defiliert die gesamte Schuljugend von Huaraz unter unserem Hotelbalkon vorbei, mit Kinderbands, Trommeln, Pfeifen und Trompeten, braunhäutige Schulmädchen ziehen, einander an den Händen fassend, mit lachenden Gesichtern unter den schwarzen Haaren winkend an uns vorüber, als seien wir zum Königspaar von Huaraz ernannt worden. Vom Morgenmarkt her drängen junge Leute und alte Indias herzu, wie seit Urzeiten mit ihren Mantas voller Waren und Kindern auf dem kräftigen Rücken. Die Welt ist heute mit Frieden erwacht, Huaraz feiert die Rückkehr Perús zur Demokratie und die Wahl des Herrn Belaúnde zum Präsidenten.

 

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Die Freude und Festtagsstimmung ist ansteckend

 

Die Freude und Festtagsstimmung ist ansteckend, auch für uns Gringos, die sich unter die Menge gemischt haben: Fünf halbwüchsige Burschen, die im Übermut des Trubels dem entgegenkommenden kleinen Indiomädchen den unvermeidlichen steifen Hut von den glänzend schwarzen Zöpfen reißen und in hohem Bogen auf die andere Straßenseite schleudern...... Ich laufe rüber, klaube den abgewetzten, schäbigen Hut aus dem Staub der Gosse, bevor er von dem Jubelvolk vertrampelt wird, klopfe den Schmutz ab und setze ihn dann schnell dem Kind auf den Kopf, dem schon die ersten Tränen über die dunkelbraunen Wangen zu kullern begannen.

Adiós, Perú, mit deinem liebenswerten Chaos, mit deinem anheimelnden Müll! Adiós, ihr schweigsamen, geduldigen und tapferen Indios, die ihr die Last der Armut mit Würde und Lächeln zu tragen versteht!

Es war nicht leicht für uns Fremde, mit eurer Welt vertraut zu werden, zu viele Hürden aus unwegsamen Staubpisten, unpünktlichen Bussen und maroden Verkehrswegen habt ihr errichtet, die nur für den zu überwinden sind, der sich darum bemüht. Aber was sollen wir uns beklagen über all diese Unzulänglichkeiten, wo wir doch aus eigenem Antrieb und aus freien Stücken den Weg zu euch gesucht haben? Was würdet ihr da sagen, die ihr ein ganzes Leben lang unter diesen Mängeln leidet, während wir wieder in unsere bequeme, hochentwickelte und saturierte Heimat zurückkehren und euch nur noch auf Bildern und in der Erinnerung vor uns sehen?

Adiós, du fremde, vertraute Welt, von der wir nur einen winzigen Zipfel gesehen haben, der uns aber für immer deutlich macht, dass die exotischen Namen Perús für nichts anderes stehen als für lebende Menschen, liebenswürdige Nachbarn in diesem globalisierten Dorf Erde, hilfsbereite Männer, hübsche Frauen, lachende Kinder. Perú ist für uns nicht länger nur ein Flecken auf der Landkarte, nicht länger nur ein Urlaubsziel. Perú, das sind Flor Arriaga, Alfredo Carranza und die vielen Namenlosen, deren Weg flüchtig den unseren gekreuzt und in uns unauslöschliche Spuren hinterlassen hat.

 

ninadecalle

 

manta

                                                          EPILOG

Sollte dir Deutschland zu eintönig sein,
immer der gleiche Trott, tagaus, tagein,
Eigentumswohnung, Auto und Kind,
ob CDU/CSU wohl gewinnt?
Sauerkraut, Fußball, Fernsehen, Bier ---
wenn du das satt hast, dann rate ich dir:
Fahr nach Perú, und du kannst was erleben!
Was es dort nicht gibt, wird's sonstwo kaum geben.

Lass dich von Wanzen und Flöhen mal zwicken,
oder du kannst auch im Staub halb ersticken.
Gelbfieber, Mosquitos, Ausschlag und Läuse,
und im Hotelzimmer Ameisen, Mäuse.
Regnet's, verwandelt der Staub sich zu Schlamm,
alles im Rucksack wird muffig und klamm...
Fahr nach Perú, und du kannst was erleben!
Was es dort nicht gibt, wird's sonstwo kaum geben.

Hochland? Ist eisig, du keuchst in der Höhe,
Urwald? Da schmilzt du vom Kopf bis zur Zehe.
Willst du den Bus nehmen, ist er grad weg,
der nächste geht Freitag --- es hat keinen Zweck!
Sitzt du mal drin, schon geht er entzwei,
niemand macht deshalb ein großes Geschrei.
Fahr nach Perú, und du kannst was erleben!
Was es dort nicht gibt, wird's sonstwo kaum geben.

Eisenbahn! Da läuft es besser, da klappt's.
Kaffee serviert, ruckt die Lok, und schon schwappt's
auf den Tisch, auf die Hose, die Tasse ist leer ---
Der Zugkellner wischt's emsig auf, bitte sehr!
Ein Indio schnarcht, der Mund steht weit offen,
die Gringos daneben sternhagelbesoffen.
Fahr nach Perú, und du kannst was erleben!
Was es dort nicht gibt, wird's sonstwo kaum geben.

Fahr in der Holzklasse, da ist was los!
Da kriegst du Kuchen, Fleisch, Mais, riesengroß.
Wuselnde Kinder, Karnickel und Hühner,
rucksackbepackte Franzosen, Berliner....
Im Tunnel erleichtern dich fremde Hände
um Kamera, Geld und Wertgegenstände.
Fahr nach Perú, und du kannst was erleben!
Was es dort nicht gibt, wird's sonstwo kaum geben.

Spätestens aber nach sechs Wochen Reise
per Bus oder Bahn oder andere Weise,
durch Hitze und Wüste, durch Urwald und Wirrwarr,
mal billig, mal teuer, oft undefinierbar,
ja dann, caramba, das sage ich dir:
Dann sehnt sich mach einer nach Schnitzel und Bier,
nach Sauberkeit, Ordnung und Pünktlichkeit
und was sonst des Deutschen Gemüt noch erfreut.
Erholung, die findest du schwer in Perú.
Drum nimm hinterher nochmal Urlaub dazu!

Am besten Mallorca, drei Wochen am Strand,
erst dann bist du wieder erholt und entspannt!

 

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