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Von Tingo Maria nach Yarinacocha

 

Undurchdringliches, üppiges Grün, weite, endlose Wälder, Sümpfe und Dickicht bedecken knapp zwei Drittel der Fläche Perús. Verkehrswege sind dort rar, aber auch Siedlungen und Städte. Neben einer Unzahl tierischer Spezies leben hier auch zwei Sorten von Menschen: Die Ureinwohner, nämlich die Selva-Indios, und die später zugewanderten Iberer, die aus Raffgier den Lebensraum der ersteren unaufhörlich und unbarmherzig zerstören. Wo vor wenigen Jahren noch ein Indianerstamm lebte, lodern heute die Abflämmfackeln einer Ölraffinerie, gleich neben den Bohrtürmen der Gulf Oil Company und der Petroperú. Die Fischgründe eines anderen Stammes sind durch die Wellblechhütten, Giftschlämme und Müllhalden von Goldsuchern verdrängt, und Filmtrupps, Forscher, Spekulanten, Missionare, Abenteurer und Ethnologen schlagen ständig neue Schneisen in das sensible Grün, das vorher nur von schmalen Pfaden und scheuen, naturnahen Wesen berührt worden war. Ist es daher verwunderlich, dass die Ureinwohner dieser Region die fremden Besucher nicht mit überbordender Freundlichkeit empfangen? Soll man sich da beklagen, wenn es vorkommt, dass ein dreister Eindringling nicht mehr aus dem Urwald zurückkehrt?

Erwartungsvoll, fast scheu wenden wir uns der letzten der drei Regionen zu, die den Staat Perú bilden.

 

"Santa María del Carmen, behüte uns auf unseren Wegen!", lautet der Spruch, der bei energischem Wischen unter der dicken Staubschicht vorne an dem Bus der Firma "Perla del Oriente" zum Vorschein kommt. Man sollte meinen, dass wir für eine geraume Weile keinen Bus mehr von innen sehen mögen, aber wir gaben uns einen Ruck, um mit einer letzten Kraftanstrengung die letzten 250 km bis Pucallpa, im flachen, tiefen Dschungel, gleich am nächsten Morgen anzugehen. Die am Vorabend gewaschene und auf dem Flachdach des Hotels zum Tocknen aufgehängte Wäsche wäre am Morgen sicher trocken gewesen, wenn nicht um Punkt 6, im ersten Morgenlicht, ein böllerartiger Donnerschlag zum Wecken ertönt wäre, der wie auf Kommando die himmlischen Schleusen zu einem ordentlichen Tropenguss öffnete. Knapp 20 Minuten lang stand Tingo María unter Wasser, dann verschwand der Spuk ebenso plötzlich, wie er gekommen war. Nur Pfützen in der Größenordnung von Dorfweihern allenthalben zeugten von dem nassen Überfall. Die klatschnasse Wäsche in Plastikbeuteln verschnürt, wateten wir ungerührt zu unserer Orientperle, die zu unserer grenzenlosen Verblüffung fahrplangemäß losrumpelte und dem immer noch schlafenden Dornröschen den öligen Rücken zukehrte.

 

tropenguss

20 Minuten lang stand Tingo María unter Wasser

 

Die Fahrt über asphaltierte Straße durch welliges Waldland währte nur 20 Minuten, dann roch es stark nach verschmortem Gummi. Der Bus hielt, die Motorhaube wurde hochgestemmt und troff auf der Innenseite von heißem, schwarzem Öl. Auch dem technisch wenig versierten Fahrgast wurde sogleich klar, dass eine längere Rast bevorstand.

Die Mannschaft der Busdompteure steckte schon seit zwei Stunden in den Innereien unserer Ölperle, und die vereinzelten Arme und Beine, die hier und da aus dem Getriebekasten ragten und nach Brechstangen und kantigen Schraubenschlüsseln tasteten, hatten inzwischen die Farbe des Motorenöls angenommen. Die Passagiere vertrieben sich höchst geduldig die Zeit; es war allzu offensichtlich, dass wirsche "vamos, vamos"-Rufe den Bus nicht wieder in Bewegung brächten. Indessen geht das Werk seiner Vollendung entgegen, und einer der klebrigen Ölgötzen fährt per Anhalter ---ein LKW-Fahrer packte ihn auf die Ladefläche--- mit einem leeren Kanister nach Tingo María zurück, um Öl zu besorgen. Als er nach einer kleinen Ewigkeit, als wir ihn schon auf dem Weg direkt nach Saudi-Arabien glaubten, wieder auftauchte und dem kranken Motor das kostbare, honigfarbene Nass wie eine Medizin gluckernd einflößte, drängten sich Besatzung und Passagiere erwartungsvoll um den Ort der Zeremonie.

Und los ging's, flotte Fahrt voran!

Nach zehn Minuten war der Zwischenfall vergessen; die Leute guckten durch freigewischte Stellen in der Staubschicht der Fenster Löcher ins undurchdringliche Grün oder dösten vor sich hin, als das Motorengeräusch erneut in einem verzweifelten Röcheln erstarb, gefolgt von einem Echo von Seufzern aus ungezählten Fahrgastkehlen. Santa María del Carmen scheint uns heute ihr Wohlwollen zu versagen.

Das Fluchen der gerade erst notdürftig entölten Busklempner und das metallische Klackern wutentbrannt erneut gezückter Werkzeuge ist schnell außer Hörweite, je weiter man dem geheimnisvollen Pfad weg von der Straße in den Wald hinein folgt. Umso lauter tönt das Kreischen großer, elsterartiger, schwarzgelber Vögel, das Rauschen eines unsichtbaren Gewässers und eine Fülle anderer botanischer Laute, die sich keiner bekannten Quelle zuordnen lassen. Der Pfad wird zwar schmaler und unübersichtlicher, sieht aber nicht gefährlich nach Nattern, Ottern, Boas oder Vogelspinnen aus. An einem Baum lassen sich weinrote, mirabellengroße Früchte erwischen, an einem anderen locken hellorange khakihafte Bällchen, die sich aber nur mit Gewalt zum Mitkommen bewegen lassen. Zu unseren Füßen, am Boden, zieht eine Prozession von wandernden Blattstückchen voran, die, man sieht es beim näheren Hinschauen, von einer endlosen Karawane von Ameisen zu einem unbekannten Ziel befördert werden. Irgendwie kommt mir die Autobahn München-Salzburg zu Ferienbeginn in den Sinn...

Auch auf der anderen Seite der Straße findet sich ein schmaler Eingang ins Urwaldgrün, und während der Bus weiterhin Öl und Wasser schwitzt, erreichen Neugierige eine Anzahl von Kautschukbäumen, aus deren angeritzter Rinde eine zähe, weißliche Masse in eine leere Konservenbüchse fließt und dort zu Kaugummi-Rohstoff verhärtet. Ein fachkundiger Guide, der uns diese Gummifabrik erläutern könnte, war leider nicht zur Hand, das einzige Lebewesen außer den Pflanzen war ein kleiner, violetter Falter.

Sowohl die weinroten als auch die gelborangen Beutestücke waren ungenießbar. Das weinrote Zeugs schmeckt widerlich, und das gelbliche lässt sich nicht aufkriegen. Als ich's mit Gewalt versuchte, sagte es sssssrrrtschschsch, und eine Ladung feuchtschleimigen Fruchtinhalts flatschte mir in die Visage und duftete nicht nach genussfertigem Instantdessert.

 

platanos

Begehrliche Blicke schweifen zu den
Bananenstauden mit dicken gelben Früchten

 

Ächzend und hörbar indigniert röchelt der Motor wieder an, um uns 300 m weiter zu der Kooperative 16b im Landkreis Tingo María zu schaffen, wo es nach Berichten vereinzelt Vorüberkommender unter anderem Öl geben soll. Die vorige, mühsam beschaffte Portion ist nämlich zur Freude künftiger Prospektoren als schwarzklebriges Rinnsal im Boden versickert, und der Bus lechzt nach mehr von der Sorte. Die wenigen Lattenbuden der Kooperative sehen jedoch nicht allzu ölhaltig aus, denn der Betrieb baut Tee an. Während die Busmannschaft mit dem leeren Kanister in der Hand auf Ölsuche geht, streift der Teil der Fahrgäste, der sich nicht an dem Bittgebet an die Heilige María del Carmen beteiligt, durch die Plantage und schaut zu, wie die Teepflücker in der Mittagshitze Siesta halten. Das erinnert uns unangenehm daran, dass auch wir etwas zu essen gebrauchen könnten, und begehrliche Blicke schweifen zu den Bananenstauden mit dicken gelben Früchten, in deren Schatten jedoch leider meist beeindruckend große Hunde den unbefugt Nahenden mit bedrohlichem Knurren und fletschendem Reißzahn empfangen. Am besten folgt man den anderen, mit peruanischem Instinkt ausgestatteten Mitreisenden, die unter fünfzehn gleichartigen Lattenhütten unfehlbar diejenige herausfinden, in der die Kantine untergebracht ist, und kaum war alles verzehrt, da heulte auch schon der Busmotor in ungeahnt tatendurstigem Ton auf. Als wir weiterrollten, gegen 14 Uhr nachmittags, war Tingo María schon beinahe 30 km entfernt.

Nur wenig später ein neuer Stopp. Uns stockt der Atem, aber Stoßgebete an Santa María sind nicht notwendig: Es ist der reguläre Imbiss-Halt, weil nicht alle Passagiere so clever waren, sich in der Kantine der Tee-Kooperative zu verköstigen.

Das vertraute Geräusch des ersterbenden Motors der armen Orientperle mitten im Wald überfällt uns gegen vier Uhr nachmittags aufs Neue. Höhnisches Gelächter, zynische Witzeleien und spitze Bemerkungen sind nicht zu überhören. Santa María del Carmen, warum hast du uns verlassen?

Dabei hat die Busmannschaft heute wahrhaftig schon Schwerstarbeit geleistet, und all das wiederholte Zerlegen und Zusammenbauen eines ausgewachsenen antiken Reisebusses ist im Fahrpreis enthalten. Wer wird da so schofel sein, sich zu beschweren?

Nur ein Defekt an den Bremsen diesmal, eine Kleinigkeit von 20 Minuten....

 

orientperle

Nur ein Defekt an den Bremsen diesmal....

 

Spielend schnurrt der Bus den letzten, flachen Pass der Cordillera Azul hinauf, um damit auch den allerletzten Andenausläufer hinter sich zu lassen. Schnurgerade zieht sich eine breite, mitunter auch asphaltierte Piste durch das feuchte Grün, das wie eine Wand pfeilschnell seitlich an uns vorüberschießt, bisweilen auch unterbrochen durch gerodete Abschnitte, auf denen Vieh weidet, Mais angebaut wird oder ein paar Hütten errichtet sind.

Als der Bus erneut die Fahrt verlangsamt und schließlich zum Stehen kommt, schreckt jedermann voller böser Vorahnungen aus dem Nickerchen auf, aber die Ursache des Halts ist diesmal ausnahmsweise nicht technischer Natur, sondern eine Straßensperre, geflankt von uniformierten und bis an die Zähne bewaffneten Militärs.

"Kontrolle, keiner verlässt den Bus!"

Zwei behelmte Jungs, die Maschinenpistolen im Anschlag, entern den Bus und kontrollieren Ausweise und Pässe, als sei die Grenze zu Nordkorea erreicht, lassen stichprobenartig das Handgepäck öffnen und picken sich einzelreisende junge Männer heraus, deren gesamtes Gepäck vom Dach heruntergeholt, geöffnet, durchsucht und befummelt wird. Nach dem Bodycheck darf wieder eingepackt werden.

Auf mein verwundertes Fragen erklärt mir mein Sitznachbar, dass in den Tiefen des Urwalds mancherlei verbotene Kräuter angebaut werden und dass diese Strecke eine der Hauptrouten der Drogenkuriere sei. Auf Wunsch der Yanquís aus Nordamerika werden an wechselnden Stellen und in unregelmäßigen Abständen Straßensperren errichtet, um die Dealer zu fassen. Und in der Tat: Bei einem der Mitreisenden, einem halbwüchsigen Bürschlein von nicht einmal 20 Jahren, werden die Soldaten fündig. An den Ohren schleifen sie ihn aus dem Bus ins provisorische Wachhäusel, und ehe er sich's versieht, hat er zwei gewaltige Backpfeifen weg, als Einleitung zum Verhör. Nach einem kurzen Wortwechsel wird er dann, vom Busfenster aus durch die offenstehende Tür der Garita deutlich zu sehen, von zwei Uniformierten zusammengeschlagen, bis er sich kaum noch rührt. Die Fahrgäste im Bus sehen es schweigend mit an.

"Früher kam es oft vor, dass die Soldaten sich bestechen ließen und mit den Schmugglern gemeinsame Sache machten. In Lima und anderen Städten haben wir aber jetzt selbst ein Drogenproblem. Seitdem ist die Regierung dazu übergegangen, als Kontrolleure bevorzugt Opfer des Rauschgifts als Offiziere für diesen Dienst anzuwerben, Väter von süchtigen Söhnen und Töchtern beispielsweise, bei denen man sich eine hohe Motivation verspricht. Die fassen die Drogenkuriere nicht mit Samthandschuhen an...", erklärte mir der freundliche Sitznachbar, der mein entsetztes Gesicht wohl bemerkt hatte.

Nur noch ein "harmloser" Platten hielt die weitere Fahrt vorübergehend auf, und noch vor Mitternacht erreichten wir den Erdöl-Flecken Pucallpa, an dem wir laut Fahrplan eigentlich um 16 Uhr hätten eintreffen sollen. Gratias agimus tibi, Santa María del Carmen!

Dieser "Tag der Busreise" war trotz der langen Dauer durchaus nicht eintönig gewesen, und außerdem waren wir zu müde, um uns über die Verspätung zu ärgern. Erstens sind wir in Urlaub, und zweitens in Südamerika, da wollen wir mal froh sein, dass wir überhaupt wohlbehalten angekommen sind. Die kalte Dusche war ein Genuss, ein einzelner Floh wurde chemisch bekämpft, und die Mosquitos, die sich auf frisches Gringo-Blut freuten, machten in den Dämpfen aus der Spraydose eine ebenso klägliche Figur wie der keuchende Floh.

 

 

Die Palmen auf der Plaza de Armas von Pucallpa hätten Platz auch in Ihrem Wohnzimmer, verehrter Leser, in einem handelsüblichen, mittelgroßen Blumentopf. So spendeten sie, zumindest im Jahre 1980, naturgemäß nur wenig Schatten und ließen uns ungeschützt in der Tropensonne schmachten. Die Nacht hatte mit Mühe ausreichend Abkühlung gebracht, um Schlaf zu finden, aber schon die Morgensonne brannte uns mächtig auf den Pelz.

Überdies gibt es keinen ersichtlichen Grund, in Pucallpa herumzulaufen, denn zu sehen bietet der Ort nichts, was es nicht auch anderswo schattiger, billiger oder schöner gäbe. Der Rio Ucayalí, an dessen Ufer sich das Städtchen laut Landkarte erstrecken sollte, ist nur über ein Müllgebirge am Ortsrand zu erreichen, aber an Gebirgen haben wir vorerst nur geringen Bedarf. Überhaupt hat der Stadtplan so manche Tücke: Es sind Straßen verzeichnet, die noch gar nicht existieren, denn der Urwald ist noch nicht fertig gerodet. Ganze Stadtviertel, auf dem Plan bereits mit Namen verzeichnet, präsentieren sich noch als Stoppelacker oder Prärie. Das Postamt steht mitten auf freiem Feld, die Staatsbank ist eine Lattenbude im Stil eines Western Saloons und derzeit nicht erreichbar, weil Planierraupen im Begriff stehen, aus dem Trampelpfad eine Straße zu machen.

Mitten durch diese Baustelle namens Pucallpa juckeln freilich wie allerorts etliche Autos und wirbeln die bloß liegende rotbraune Erdschicht als Staubfontäne auf die Fußgänger. Auf einem anderen Acker wird Markt abgehalten, und zwar gänzlich ohne die andinischen Indias mit ihren ulkigen steifen Hüten, langen Zöpfen und bunten Mantas, was uns sofort auffällt, da wir soeben erst aus den Kordilleren herabgebollert sind. Stattdessen steht auf einmal ein zierliches, barfüßiges weibliches Wesen undefinierbaren Alters vor dir, mit langen, offenen schwarzen Haaren, engem, verziertem Rock und hübsch bestickter Bluse, in der Hand Kettchen aus bunten Perlen oder Bündel von Federschmuck, und hält dir wortlos mit unbewegtem, breitem Gesicht und platter Nase die Glasperlen zum Erwerb vor den Bauch.

 

shipibo

Ein barfüßiges weibliches Wesen
mit langen, offenen Haaren 
und engem, verziertem Rock 

 

Wir sind wirklich in einer anderen Welt. Anderthalb Tagereisen von hier herrscht schon jetzt, zum Herbstanfang, Nachtfrost, und die Hochlandbewohner tragen auch tagsüber wollene Mützen, Jacken und Pullover. Hier hingegen fällt die Temperatur auch in tiefster Winternacht niemals unter 22 Grad. Die kräftig gebauten, umfangreichen Indias mit ihren vielen Röcken da oben, vier Kilometer über uns, sind unmöglich zu verwechseln mit den zierlichen, samthaarigen Urwaldindianern, die selbst erwachsen noch kleinwüchsig wie Kinder sind, Schuhe beinahe nur vom Hörensagen kennen und noch nie im Leben ein Alpaca oder Schnee gesehen haben. Lima ist für sie exotischer als für uns Gringos aus Europa.

Da Pucallpa ein Ölexplorationszentrum und kein Kurort ist, bewegen uns seine Hitze und Unwirtlichkeit dazu, es noch am gleichen Tag zu verlassen. Konnte man nicht damals, als man den Urwald zu roden begann, um eine Stadt zu errichten, ein paar schattenspendende Bäume stehen lassen?

Der städtische Microbus trägt diese Bezeichnung zu Recht: Unser Gepäck passt kaum durch die Tür, und selbst Leute, die einen Kopf kleiner sind als ich, können im Innern nicht aufrecht stehen. So genieße ich die halbstündige Fahrt wie ein Fragezeichen in der Kurve, bemüht, im Gedränge mein Gepäck im Auge zu behalten und den Kopf nicht bei jedem Schlagloch an die Decke zu rammen. Glücklicherweise geht es oft abwärts, denn bei diesem Pygmäenbus funktionieren nur noch der erste und zweite Gang, und abwärts lässt er sich rollen und spart Benzin.

Yarina Cocha heißt das Ziel, ein sichelförmiger See, der durch schmale Urwaldkanäle mit dem Rio Ucayalí verbunden ist, und dort gibt es ein winziges Dorf namens Puerto Callao, was natürlich eine maßlose Übertreibung ist: Weder mit Puerto (Hafen) noch mit Callao (Übersee- und Containerhafen von Lima) hat es viel mehr gemeinsam als trübes Wasser; die einzigen Frachter, die in Puerto Callao anlegen, sind Einbäume, die mit Bergen von Bananen aus den Tiefen des Dschungels beladen sind.

Was sagt dir der Busfahrer, wenn du mit einem 50-Euro-Schein die Fahrkarte bezahlen willst, weil dir das Kleingeld ausgegangen ist? Was hörst du, wenn du am Flughafen dem Taxifahrer sagst, er soll dich zum Airport-Hotel chauffieren? Wie reagiert der Geschäftsführer des Vorort-Supermarktes, wenn du freundlich nach frischem serbischen Ziegenkäse fragst? Man wird ungezogen angeblafft, um es vornehm auszudrücken, nicht wahr?

Man bewundere also unsere Selbstbeherrschung, als wir beim befreienden Ausstieg aus dem stickigen Minimicro-Büslein, das schwere Gepäck auf der Schulter, die Hitze im Genick, den See vor Augen, ruhebedürftig nach grauseligen Bus-Odysseen durch Himmel und Hölle nicht einmal die Contenance verloren angesichts des geschäftstüchtigen Typs, der sich auf uns stürzt wie eine Wespe aufs Himbeereis und uns mit seinem "Mister, Bootsfahrt auf dem See, viele Fische, Indianerdörfer besuchen, billig, Mister!" nicht von der Seite weicht.

Wortlos schaffen wir unser schweres, von den Unbilden der Reise gezeichnetes Gerümpel unter einen schattigen Baum und sinken geschlaucht darauf nieder.

"Mañana, señor" ist das freundlichste, das ich in einer solchen Lage hervorbringen kann. Mit derlei kriegt man aber ein peruanisches Cleverle nicht von der Pelle, im Gegenteil.

"Mañana, morgen, ja, ist recht, ganz klar! Und heute? Bootsfahrt zu dem Hotel am anderen Seeufer? Billig, Mister!"

Ein erneuter Versuch einer matten Gegenwehr.

"Wir haben unser eigenes Hotel dabei."

Die Zeltstangen, die aus dem Rucksack ragen, lassen sich ohnehin nicht übersehen.

"Ja, prima, ausgezeichnet. Ihr könnt direkt neben meinem Haus zelten, da ist es sehr gut, sehr schön!"

Jetzt hat er sein "billig, Mister" vergessen. Ka sieht mir an, dass ich kurz vor einer heftigen Eruption stehe und hindert mich gerade noch rechtzeitig:

"Da können wir eventuell unser Zelt auch tagsüber stehen lassen und ohne Gepäck herumlaufen, wenn der das neben seinem Haus hat und vielleicht Frau und Kinder aufpassen lässt. Schließlich sind wir potentielle Kundschaft."

Da siehst du mal wieder, wie gut es ist, wenn man eine kluge Frau dabei hat. Keine drei Minuten später stehen wir vor seinem "Haus". Es besteht nur aus einem Fußboden und einem Dach. Und natürlich einigen Pfosten, welche die beiden Teile verbinden und mit Haken versehen sind, an denen Hängematten und ein paar Beutel mit Habseligkeiten befestigt sind. Auf dem Holzboden stehen einige Holzblöcke verschiedener Formate und zwei, drei Liegestühle, das gesamte Mobiliar. Unter, in, auf und um die Cabaña herum lebt der Haushalt, eine Schar von Kindern aller Altersstufen, zwei bis drei Frauen unbekannter sozialer Beziehung, zwei halbwüchsige Jünglinge, ein etwa 14jähriges Mädchen, Hühner, Enten, Papageien, Affen, Wellensittiche, Küken, ein struppiger Hund und ein bissiger, immer übel gelaunter Erpel --- das ist es, was unser neuer Freund uns mit einer weiten Handbewegung als "meine Familie" vorstellt. Neben seinem Haus steht ein weiteres, eine Nummer kleiner und ohne Fußboden, praktisch nur ein Palmwedeldach auf vier Stützpfosten.

Im Handumdrehn steht unser Zelt darunter, und die noch immer nicht ganz trocken gewordene Wäsche von Tingo María wedelt in der Brise, die vom nahen See her eine Idee von Kühle herweht. Eifrig bringt Pablo, unser Nachbar, eigenhändig eine Hängematte herbei, die uns wie gerufen kommt, denn nichts brauchen wir jetzt mehr als eine faule Siesta, ein dolce Farniente, ein bisschen Urlaub.

 

cabana

Eigentlich nur ein Palmwedeldach auf vier Stützpfosten

 

"Hiiiiiiiiiiiiilfe, ein Krokodil!" Ein schriller Hilfeschrei aus Kas Hängematte. Das wie der Blitz eintreffende Lebensrettungskommando findet vor Ort nichts als eine winzige Eidechse, die von der Decke gefallen und selbst nicht weniger erschrocken war als Kazuko. Das "Krokodil" wird sachte aus der Hängematte entfernt, und dann steht der Faulenzerei nichts mehr im Wege. Man kann höchstens am Nachmittag noch ausprobieren, ob sich der See zum Baden eignet: In Ufernähe braunes Flusswasser, lauwarm wie der peruanische Tee, tote Fische, am Ufer Geier, im Wasser Dorfkinder und Pirañas, aber sonst ganz ausgezeichnet.

Pirañas?
Sind das nicht diese säbelzahnraffgierigblutrünstigen Mordfische, die in zehn Sekunden ein lebendiges Pferd zum bleichen Skelett zernagen? Und da baden Kinder drin? Du willst mich wohl vergackeiern?

Na ja, immer mit der Ruhe. Die Pirañas, das sind wirklich diese Raffzähne, die dir in Windeseile die Tapete zerbeißen können, aber das tun sie eigentlich nur dann, wenn sie in nährstoffarmen Gewässern darben und darüberhinaus Blut schmecken. Ansonsten begnügen sie sich wie zivilisierte Lebewesen damit, tote und kranke Fische zu verwerten oder sich die Abfälle einzuverleiben, die es im Umkreis menschlicher Siedlungen in Fülle gibt. Ein Gebiss haben sie freilich, auf das ein Präriewolf neidisch sein könnte: Drei Reihen nadelspitze Zähne oben und unten, die gegenseitig ineinander passen wie ein Schlüssel ins Schloss und nicht dazu gedacht sind, wieder loszulassen, was sie einmal gezwackt haben. In dem Bewusstsein ihrer Stärke nehmen sie durchaus nicht Reißaus vor nahebei badenden Leuten, sondern lutschen mit ihren wulstigen Lippen immer mal wieder, mehr freundschaftlich, an Wade oder Bauchnabel des bleichen Schwimmers, wohl um den Geschmack zu testen. In aller Regel fällt das Urteil negativ aus: Bevor man sich einen blutarmen, blassen Gringo zum Nachtisch nimmt, müssen zuvor alle köstlicheren Möglichkeiten erschöpft sein.

Pablo ist die Freundlichkeit in Person. Er überwacht uns in der unauffälligsten Form, damit wir ihm nicht entwischen und seinen Riverboat-Service verschmähen: Er lädt uns zum Frühstück ein. Eine der Frauen hat Kaffee gekocht, das hübsche Töchterlein serviert Kuchen, und bevor wir es uns anders überlegen können, dirigiert er uns nach dem Mahl direkt in den bereit liegenden Kahn, holt seinen zweitältesten Filius herbei und überwacht noch die Abfahrt.

Ein weiteres Opfer seiner Güte, ein gewisser Giovanni aus Alassio, war mit auf das Boot geraten, weilte jedoch nicht hier, um Urwald-Indianer zu besuchen, sondern war sozusagen auf Geschäftsreise in Sachen "basische Stoffe", wie er es nannte. Wie alle Dauerkokser hatte er Probleme mit seiner Nase, die immer wieder unvermittelt zu bluten begann, behauptete jedoch, auf dem Rücken liegend und ein Taschentuch auf seinen lädierten Riechwurz pressend, Koks sei ganz wunderbar für sein körperliches Wohlbefinden. Seine Nase war vermutlich anderer Meinung.

Pablito, Pablos Sohn, hatte eine Angelschnur aus Plastik und einen Haken dabei. In einem der windungsreichen, schmalen und dämmrigen Urwaldkanäle, in die wir hineinschippern, überkommt uns die Lust zum Baden, weil das fließende Wasser hier kühler und sauberer ist als in dem fast strömungslosen, pipiwarmen See Yarina Cocha. Pablito versuchte sich indessen im Piraña-Angeln, denn er war der Meinung, sie zu essen sei vernünftiger als sich von ihnen essen zu lassen.

 

urwaldfluss

In einem der windungsreichen, schmalen und dämmrigen Urwaldkanäle


Giovanni konnte ich gerade noch davon abhalten, uns mit seiner unberechenbaren Nase nachzuspringen, denn ich hatte keine Lust, ein Opfer seiner Blutspur zu werden. Da ihm an seinem körperlichen Wohlbefinden so viel gelegen war, gelang es mir, ihn davon zu überzeugen, dass ein Blut riechender Piraña-Schwarm diesem eher abträglich sein dürfte. Die Stelle, an der wir uns tummelten, wäre möglicherweise ganz gefahrlos gewesen; weder knusperte jemand an meinen Zehen noch machte Pablito einen Fang.

Eine um einen weiten, offenen Platz gruppierte Anzahl von Cabañas (palmwedelgedeckte Hütten ohne Wände) ist das Zentrum von San Francisco. Also, natürlich nicht die hügelige, erdbebengeplagte Hippie-und-Homo-Kapitale von California, sondern die Heimat einer Sippe Indianer vom Stamm der Shipibo, erreichbar nur über den Kanal, auf dem wir hergetuckert kamen. An einem Landungssteg aus Lehm, an dem mehrere der Indianer-Einbäume lagen, begrüßten uns nackte, spielende und plantschende Kinder, die an Fremde, die vermutlich Tag um Tag hier einmarschieren, so gewöhnt sind, dass sie ihr Spiel wegen uns nicht unterbrechen. So wandern wir in Ruhe durch Bananenpflanzungen hoch zu dem Dorf, sehen uns um und bewundern die Sachen, die uns zum Verkauf angeboten werden. Aber oho, die Preise sind durchaus stattlich, da können die Indios in der Sierra noch was davon lernen. Abweisend, ja lustlos nennt man uns den Preis, wenn wir danach fragen, aufs Handeln lässt sich kaum jemand ein. Offensichtlich haben die Shipibo, anders als die Indios im kargen Hochland, die oft am Existenzminimum herumkrebsen, mit ihren gut bewässerten Plantagen und fischreichen Gewässern ihr gutes Auskommen bei der anspruchslosen Lebensweise, die sie führen, und sind nicht aufs Verkaufen ihrer Souvenirs angewiesen.

Weshalb sich ein Shipibo-Dorf tief im peruanischen Urwald ausgerechnet San Francisco nennt, wird auch der mit Indianerbräuchen wenig vertraute Leser gewiss schon ahnen. Und warum bedecken alle Frauen beim Nahen von Fremden eilig die Brust? Alles hat dieselbe Ursache: Hier führt ein Missionar Regie, der aus seiner zentralen Hütte mit dem großen Kreuz dran das Dorf und die Sitten kontrolliert wie ein Mullah in Nadschaf. Am Rand der Plaza, unter dem Dach einer besonders großen Cabaña, werden Tische zusammengerückt, Sitzbänke aufgestellt und ein Festmahl vorbereitet. Riesentöpfe sind gefüllt mit Reis, Yucca, Kartoffeln, Fisch und Brühe, und nach und nach erscheinen die Festgäste: Frauen, Mädchen, Mütter, Omas, Kleinkinder.... Und die Männer stehen da und bedienen die Damen, verteilen Teller und Besteck, denn unter den strengen Augen des Herrn Missionars wird auch im Urwald mit Löffel und Gabel gespeist, schöpfen das Mahl aus den Kesseln --- und keiner der Männer, außer dem Herrn Pastor natürlich, nimmt selbst Platz und isst mit.
Nun fassen sich alle Frauen an den Händen, und der Missionar erzählt eine lange Geschichte, in der viele Marias und Christkinder vorkommen, und anschließend wird ein gemeinsames Lied angestimmt, das ich zwar nicht kenne, aber dass es nicht die Internationale war, kann ich allen Zweiflern versichern.

 

sanfrancisco
Eine um einen weiten, offenen Platz gruppierte Anzahl von Cabañas

 

Von den Männern bedient von vorne und von hinten, speisen die Damen von San Francisco genüsslich und verschwinden anschließend, alles stehen und liegen lassend, in ihre Hütten, und die Männer beginnen abzuräumen und zu spülen.....
Ich glaube, ich träume. Ist etwa Alice Schwarzer hier gewesen? Matriarchat im Urwald? Amazonen am Amazonas? Emanzen-Modelldorf Santa Francisca?

Weit gefehlt: Muttertag bei den Shipibo! Heute ist nämlich der 11. Mai.

Die einzige Indianerin, die uns Besucher eines Blickes würdigt und sogar ein paar Worte mit uns wechselt, sagt genau das, was jede andere Frau auf der ganzen weiten Welt zum gleichen Anlass auch sagen würde:

"Ja, aber das tun die Männer nur an diesem einzigen Tag im ganzen Jahr!"

Auf der Rückfahrt nach Puerto Callao haben wir mit den Pirañas mehr Glück: Ein toter Fisch, in Stücke geschnitten, ist der Köder, und jeder Wurf ein Treffer! Zack, Köder dran, Angel rein, angebissen, rausgeholt, in fünf Minuten haben wir sechs Pirañas im Boot, aber der siebte war uns über: Happs, biss er die Plastikschnur sauber durch und verschlang Köder und Haken, und ohne Haken ist leider Schluss mit dem Express-Angeln. Aber frische Pirañas gegrillt mit in Öl fritierten Bananenscheibchen, die wie Pommes frites schmecken, das kann ich nur empfehlen. Zubereitet wurde das Schlemmermahl von einer der Frauen aus Pablos Harem, am Muttertag.

Gleich nach dem Essen kam eine zahnlose alte Hexe aus einer Nachbar-Cabaña mit einer Ladung Malzbierflaschen unterm Arm und gab allen Anwesenden eine Runde Malzbier aus: Prost auf den Muttertag! - Und wie viele Kinder haben die stolzen Mütter denn so? Die jüngste (35 Jahre) hatte es erst auf fünfe gebracht, die gestandenen Veteraninnen hatten hingegen Erfolgsquoten von acht bis zwölf zu vermelden. Na dann prosit! Es wird höchste Zeit, dass hier elektrische Leitungen und Fernsehgeräte herkommen!

Giovanni wollte die Manta sehen, die wir im Indioland gekauft hatten. Neugierig geworden, drängelte sich auch der Mütterclub um uns herum.

"Was hast du denn da? Wo gibt's denn sowas zu kaufe ? Willst du uns so ein buntes Tuch verkaufen?"

Zu unserer Verblüffung hatten die Frauen hier noch nie eine Manta gesehen. Bis zum nächsten Indiomarkt in Huánuco sind es von hier aus gerade mal 350 km, in Perú eine völlig andere Welt!

Entgegen allen Befürchtungen ist es in Yarina Cocha nicht sonderlich heiß, jedenfalls nicht wesentlich heißer als in einem guten Hochsommer in Lüneburg. Nachts kühlt es allerdings nur wenig ab, gerade so viel, dass man angenehm schlafen kann. Tagsüber kannst du auch bei bewölktem Himmel oder bei Regen am Seeufer hocken oder baden, der Temperaturunterschied zwischen Luft und Wasser ist minimal. Die Sonnenuntergänge sind prächtig: Am Horizont sinkt der glutrote Ball, purpurne Wolken im Gefolge, hinter Palmensilhouetten unter, wobei das leicht bewegte Wasser des Sees in allen orangeroten Tönen schillert und langsam geruderte Banana Boats wellige Furchen darüber ziehen. Nur darf man sich nicht allzu tief in den Anblick des Abendhimmels versenken, denn Sonnenuntergang ist das Signal zum Arbeitsbeginn der Mosquitos. Gut ausgeruht und hungrig stürzen sie sich auf die ahnungslos meditierenden Gringos, die sogleich aus betulichen Müßiggängern zu wild um sich schlagenden Veitstänzern mutieren.

Die zahlreichen Wolken verdichten sich oft, beinahe täglich, zu einem pampigen Tropenguss, mal länger, mal kürzer, aber immer voll Schlauch. Die unasphaltierten Staubpisten werden umgehend zu morastigen Sümpfen, und der ohnehin spärliche Verkehr ruht dann eben für zwei oder drei Stunden.

Ist unser Faltbungalow auch direkt neben einem bewohnten Haus errichtet, so führt doch ein Trampelpfad sehr nahe daran vorbei. Wer mag es wohl gewesen sein, der da nicht widerstehen konnte und das zum Trocknen aufgehängte Unterteil von Kas Bikini mitgehen ließ? Das Oberteil, na schön, das mag ja noch angehen, aber das Unterteil.... Wer kann denn was mit einem halben Bikini anfangen?

So führte uns der Drang zu weiteren Urlaubs- und Badefreuden noch einmal in das stickige Pucallpa, in dem wackligen Holper-Microbus wie Mehlsäcke transportiert. Aber wo strenge Fundi-Missionare nahebei das Sagen haben, sollte man lieber nicht ohne Unterteil ins lauwarme Wasser hüpfen, und Abhilfe schafft der Markt von Pucallpa, der tatsächlich auch Bademoden im Repertoire hat. Da staunst du, was?

Zurück in Puerto Callao, pulten wir einen vergammelten Indianer-Einbaum aus dem Schlick, bastelten einen halben Tag daran herum, um ihn notdürftig flott zu kriegen, schmissen zur Freude der Pirañas alle Schnecken und Blutegel über Bord und stachen dann mit einer krummen Wurzel als Ruder in die kaffeebraune See. Den Rest des Tages verbrachten wir auf dem Wasser, von niemandem gestört, paddelten zum andern Ufer, wo dichter Dschungel uns abwies, machten Picknick unter den herabhängenden Ästen uralter Bäume, bis sich uns Mosquitos zugesellten, plantschten, wenn die Sonne uns das Fell zu versengen drohte, im Wasser, das in der Mitte des Sees deutlich frischer und klarer ist als in Ufernähe, und verbrachten einen heiteren Urlaubstag im peruanischen Urwald. Der einzige Makel war das Alter unseres morschen Kahns, aus dem wir alle 10 Minuten das einsickernde Wasser rausschlabbern müssen, damit uns das Museumsstück nicht mittenmang absäuft. Zum Ergötzen einiger Weißer der Upper Middle Class, die im Lakeview Hotel "La Cabaña" logierten, kamen wir Alternativreisende mit unserm Gefährt aus der Holzzeit auch dort vorüber, machten mit unserem derben Keulchen aber tüchtig Fahrt, um uns das Gekicher der Pauschal-Urlauber nicht allzu lange anhören zu müssen.

 

einbaum
...pulten wir einen vergammelten Indianer-Einbaum aus dem Schlick

 

Pablos Gastfreundschaft war, nachdem wir die durchaus nicht billige Fahrt nach San Francisco bezahlt hatten, schlagartig abgekühlt. Die Hängematte wurde uns wieder entzogen, und zum Frühstück wurden die nächsten potentiellen Bootpassagiere, drei Holländer, eingeladen, während wir außen vor blieben. Der giftige Erpel fauchte uns an, die zahmen Affen im Dachgebälk streckten uns die Zunge raus, und die Papageien krächzten in irgendeiner Fremdsprache pausenlos Schimpfwörter, bis wir begriffen, dass es Zeit war, dem Ort den wieder schwer bepackten Buckel zu kehren. Auch Pucallpa vermochte uns nicht aufzuhalten; in grenzenlosem Optimismus vertrauten wir uns erneut einem Bus der Marke "Orientperle" an, und das Vertrauen wurde dadurch belohnt, dass Santa María uns diesmal hold war und die Fahrt durch den regenverhangenen Urwald ohne nennenswerte Unterbrechung verlief.

Die Bella Durmiente von Tingo María schlief noch immer seelenruhig, obwohl der peruanische Wahlkampf, der allmählich drastische Formen annimmt, mit seinem Getöse, Gehupe und Megaphon-Bombardement durchaus dazu angetan wäre, den alten Barbarossa aus dem Kyffhäuser zu scheuchen. Doch unsere Schöne wartete anscheinend auf einen jungen Prinzen und mochte sich nicht von dem grauhaarigen Señor Belaúnde, dem lautstärksten Kandidaten, aus ihrem Märchenschlaf küssen lassen. So ließ sie ungerührt ihr begrüntes, lang herabwallendes Haar in das Tal des Rio Huállaga münden. Statt ihrer wurden wir die bedauernswerten ersten Opfer von Perús Rückkehr zur Demokratie. Die Idee, anderntags einen Inlandflug nach Trujillo an der Nordküste des Landes zu erwischen, konnten wir uns getrost abschminken: Wegen des dreitägigen Urnengangs war sämtlicher Fernverkehr ausgesetzt, und keine noch so klapprige Orientperle würde uns von hier fortschaffen können. Aber wir sollten dankbar sein, immerhin in Tingo María und nicht etwa in La Oroya arretiert zu sein.

Also gut, sehen wir uns ein bisschen in Tingo María und Umgebung um!

Der gezähmte Dschungel nennt sich "Botanischer Garten", und wir sind die einzigen Besucher dieser Sehenswürdigkeit, die einigen Kindern als idealer Ort zum Versteckenspielen dient. Der Garten ist ohnehin zaun- und torlos, und wenn man zwischen Bambushecken und Kakaobäumen herumstreicht und manche seltsame Blüte bestaunt, gelangt man auf dem schmalen Weg zu einem Flüsschen, an dessen Ufer Frauen im Kies hocken und in der braunen Brühe Wäsche sauber zu kriegen versuchen. Über eine schwankende, an rostigen Stahlseilen aufgehängte Bohlenbrücke erreicht man die Insel gegenüber, auf der verzweigte, menschenleere Wege durch Bananenplantagen, Papayapflanzungen und Kakaozucht führen, an Hütten vorbei, die von grantig knurrenden Kötern bewacht werden und vor deren Eingängen Kakaobohnen in der Sonnenhitze trocknen. Weiß der Geier, ob das jetzt noch zum Botanischen Garten gehört oder schon freie Wildbahn ist. Es folgt ein Stück frisch gerodete Wildnis, und schließlich steht man vor einer grünen Wand, durch die ohne Machete kein Weiterkommen möglich ist.


tingo.np
...über eine schwankende, an rostigen Stahlseilen aufgehängte Brücke

Unversehens bleibe ich wie angenagelt stehen und kann nicht weiter: Ein abgesplitterter Bambusschaft hat mir einen dolchspitzen Speer, der in dem gerodeten Stück heimtückisch im Boden lauerte, glatt durch die Turnschuh-Gummisohle getrieben und meinen Fuß regelrecht aufgespießt. Ich kann allen Lesern versichern, dass Bambus, sei es als Speer, als Dolch oder als gespickte Fallgrube, menschliches Gewebe mit Leichtigkeit löchert und den metallenen Entsprechungen in seiner Wirkung nicht nachsteht, allenfalls im Verschleiß.

Mit einem sich schnell rot färbenden Taschentuch notdürftig verbunden, gebe ich mich geschlagen und kann auf dem Rückweg ins Hotel nur inständig hoffen, dass sich keine aggressiven Dschungelviren jetzt von meiner stigmatisierten Basis her auf den langen Marsch durch die Institutionen meines Körpers machen.

Aber damit nicht genug; der Urwald hält noch weitere Attentate auf mich bereit, da ich noch immer nicht von ihm ablassen will. Kaum ist der Fuß am andern Tag wieder halbwegs einsatzfähig, streifen wir schon wieder auf ungewissen Pfaden durchs Grüne, das hier nirgends weit entfernt ist, und dann steht man auf einmal vor einem glucksigen Bächlein und würde gerne ohne nasse Füße auf die andere Seite gelangen, wo der Weg weiterführt. Und was tut der grünhornige Tourist? Er greift sich wie weiland Herr Tarzan eine der zutraulich herabhängenden Lianen, zupft ein bisschen daran, ob sie auch hält, und dann, wusch, schwingt er rüber auf die andere Seite, weiche Landung, eins A. Schade, dass keine Fernsehkamera dabei war, das muss total professionell ausgesehen haben.

Allerdings endete der "Weg" auf der anderen Seite nach wenigen Schritten an einer Art von Wildtränke, ein bisschen sumpfig und plattgetrampelt, aber ohne Fortsetzung, und deshalb muss Jung-Tarzan wieder zurückpendeln. Er greift sich seine Liane, die freilich diese Spielchen satt war und sich irgendwo weiter oben aus ihrer Verankerung löste. Und der Gringo, der unten dran hing, unterbrach unversehens den geometrisch tadellosen Halbkreis zum anderen Ufer und landete in einer Kurve, die derjenigen des Konjunkturverlaufs verblüffend ähnelte, aus voller Fahrt am Boden, genauer gesagt, mitten im Bach, der ziemlich seicht und ungepolstert war. Gut, dass keine Fernsehkamera dabei war, das muss total stümperhaft ausgesehen haben.

Durchnässt, verschrammt, mit einem hart geprellten Oberschenkel und dem noch immer durchbohrten Fuß humpele ich heute ins Hotel zurück, und Ka, die sich am Morgen versehentlich auf unser geöffnetes Klappmesser gesetzt hatte, verdirbt sich an irgendeiner Mahlzeit den Magen, so dass wir den Zwangsaufenthalt in Tingo María sinnvollerweise vor allem zur Rekonvaleszenz nutzen. In La Oroya wären wir womöglich weniger lädiert geblieben.

Es hat dem großen Manco Capac nicht gefallen, dass wir nach provisorischer Wiederherstellung unserer ramponierten Körperteile, wenn auch verspätet, via aerea aus dem Dschungellaub aufsteigen und in einem kühnen Schwung auf den Fittichen der Aeroperú nach Trujillo gelangen wollten. Der Flug, den wir zu nehmen gedachten, war ausgefallen, der nächste deshalb ausgebucht, der übernächste nach Lima umgeleitet und der viertnächste erst in 10 Tagen fällig. Que será, será...!

Auf diese Weise kam es zu einem unverhofften Wiedersehen mit Lima, dem ein kurzer Traum von Zivilisation vorangegangen war, 35 Minuten in klimatisierten Polstersitzen, einen Grapefruitsaft lang. Der Flugplatz von Tingo María, zu Füßen des schlafenden Dornröschens, ist ein warziger Stoppelacker, an dessen Rand Schafe grasen und Kinder spielen. Viele Meilen weiter westlich, eine ganze Andenindiowelt übersprungen, sind wir wieder da, am Aeropuerto Jorge Chávez, aber jetzt lassen uns die tollen Angebote der Airport-Geier kalt, und statt mit dem rostigen Bollerwagen, der uns für 400 Soles in die Stadt zu schaffen drohte, fahren wir für zusammen 50 Soles mit dem städtischen Linienbus, der vor dem Tor des Terminals hält.

 

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