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Von Ayacucho nach Tingo Maria
Am Nachmittag sitzen wir wieder in dem rollenden Markt, der durch das enge Urubamba-Tal nach Cuzco zurückrumpelt. Wie immer sind die Wagen des Zuges, der alle Indiodörfer im ganzen Tal abklappert, überfüllt, die Leute haben alle ihre Tücher, Säcke, Körbe, Kisten und Kästen mit dabei, auf dem Schoß, im Gepäcknetz, unter den Sitzen, auf dem Boden. Indias mit Babys in der Manta auf dem Rücken klettern über die Gepäckberge und verkaufen Maiskolben, Minzblätter, Äpfel, Kuchen, Bananen, Pullover, Braten, Apfelsinen und Strickmützen an die Fahrgäste, Buben verkaufen Erdnüsse, Kugelschreiber, Popcorn, Zigaretten, Zündhölzer und Brötchen, kleine Mädchen bieten Bänder, Stoffe, Spangen, Souvenirs und Knöpfe an... An jeder Station ein Riesendurcheinander; alle wollen gleichzeitig mit ihren Habseligkeiten ein- und aussteigen, wobei manches durcheinanderkullert. Während der Fahrt fliegen pausenlos Abfälle zum Fenster hinaus, Männer und Jungens pinkeln von den Trittbrettern aus ins Freie. Ein Tunnel löst den andern ab, und mit allen Sinnen versuche ich, in der stockdunklen Finsternis auf verdächtige Geräusche an meinem Gepäck zu achten, das ich mit beiden Armen fest umschlungen habe, denn die Halbwüchsigen just gegenüber sehen mir nicht allzu vertrauenerweckend aus.
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Beginn der Rückfahrt nach Cuzco |
Neben der zierlichen Kathy sitzt ein groß gewachsener Indio mit einem riesigen Pferdegesicht, um das ihn Fernandel glatt beneiden würde. Mit weit offenem Mund schnarcht er, in die Ecke gelehnt, wobei ihm ständig die wiedergekäute Ladung Coca-Blätter aus dem Gesicht zu fallen droht.
"Direkt aus dem Busch, was?", raunt mir einer der Münchner amüsiert zu. Unterdessen aufgewacht, rückt der Indio seine gestrickte Wollmütze mit den Ohrenklappen zurecht, deren wundervolle Farben selbst durch den Schmutz der Jahrzehnte hindurch schimmern, und guckt sich um. Kathy bietet ihm eine Zigarette an, worauf sich sein bronzenes Monumentalgesicht zu einem faltigen Lächeln verzieht und ein uriges Gebiss hervorblecken lässt. Wenn ich ein Filmemacher wäre, würde ich ein Vermögen dafür geben, um den Burschen zu engagieren. Einem solchen Jahrhundertgesicht zuliebe sollte man ein eigenes Drehbuch schreiben....
Stilvolle Einrichtung, antike Möbel und holzgeschnitzte, dicke Türen |
Über eine blumengeschmückte hölzerne Brüstung schauen wir auf den offenen Innenhof, in dessen Mitte ein geraniengezierter Brunnen plätschert, und unterhalten uns mit dem Empfangschef, eine typisch peruanische Konversation:
"Warum verkaufst du mir nicht deinen Kugelschreiber?"
"Den brauche ich doch zum Schreiben. Auf dem Markt kriegt man doch überall Kugelschreiber, warum soll ich dir meinen verkaufen?"
"Ja, aber du hst einen sehr schönen roten mit silbernem Ring drum."
Ach, das war's also! In der Tat, die hiesigen Kulis sind alles Plexistifte mit Einwegmine, billigste Aldi-Ware. Dem Caballero ging es um ein Prestige-Objekt.
"Gut, du kannst ihn kriegen, mir ist es egal. Aber du musst mir dafür deinen geben, damit ich was zum Schreiben habe."
Der Tausch war perfekt, und seither trägt er mit sichtlichem Stolz meinen Kuli wie einen Orden in der Brusttasche, so, dass das silbrige Oberteil gut sichtbar herausschaut.
Am andern Tag gehen wir gemeinsam essen, wobei uns Alfredo sehr gerne Gesellschaft leistet, und nehmen Abschied, da wir anschließend nach Ayacucho weiterreisen wollen. Wenn der große Huiracocha es will, werden wir uns eines Tages wieder sehen, die Welt ist ja ein kleiner Hühnerstall... Ein Peruaner, eine Canadierin, ein Deutscher und eine Japanerin, eine Viererbande aus vier verschiedenen Kontinenten, die da beisammenhockt und beim Abschied die feuchten Augen wischt, als sei man schon jahrelang miteinander befreundet.
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Wir wollten am Boden bleiben, wo man das lebendige Perú erlebt |
Man sucht dafür also die Busunternehmen auf; Roggero, El condor, La perla del oriente, Tepsa, Morales Moralitos, Arellano und wie sie alle heißen, es gibt eine Unzahl davon. Dort besorgt man sich das benötigte Ticket mindestens einen Tag vor der Abreise und bekommt dafür einen nummerierten Sitzplatz. Am Tag der Abfahrt begibt man sich wieder zu der Agentur, diesmal mit Gepäck, und hat Glück, wenn der Bus schon vor der Türe steht, denn dann kann man damit rechnen, dass die Verspätung weniger als eine Stunde beträgt. Meist steht der Bus aber noch nicht da, und mitunter ist es nicht einmal sicher, ob überhaupt einer fährt.
Uns widerfuhr das Glück, dass der Bus schon da stand. Ein dunkelrotes Ungetüm mit rußgeschwärzten Rückfenstern oberhalb des Auspuffs. Das Gepäck wurde gewogen, mit einem Kontrollzettel versehen und auf das Dach gewuchtet. Bis zur Abfahrt ist noch viel Zeit, man kann gemächlich frühstücken gehen. Sind all die vielen Körbe, Säcke, Beutel, Taschen und Rucksäcke auf dem Dach festgezurrt und mit einer löcherigen Plane halbwegs wetterfest bedeckt, vollzieht sich vor der Abfahrt das bürokratische Ritual der Passagierliste: Name, Alter, Passnummer, wo, wann und warum geboren etc., und dann besteigt die Crew, in der Regel drei Mann stark, das Cockpit und bringt Leben in das scheppernde Vehikel.
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Uns widerfuhr das Glück, dass der Bus schon dastand |
Für Leute, die es nicht eilig haben, ist die erste Stunde Busfahrt die interessanteste. Die Ehrenrunde durch den Ort macht den ersten Halt an einer Tankstelle; dann geht es noch einmal zur Agentur zurück, um die Quittung abzuliefern und Nachzügler aufzulesen. In einem Vorort ist noch eine Kiste Hühner abzuholen und aufs Dach zu rödeln, und der nächste Halt ist an der Garita, dem Kontrollpunkt, wo die Passagierliste überprüft wird. Die Ausländer, die nicht zum ersten Mal mit dem Fernbus unterwegs sind, wissen schon, was dann folgt:
"Señores los extranjeros todos a la garita, por favor!"
Die Señores los extranjeros schnappen sich ihren Pass und das Handgepäck, das man besser nicht unbeaufsichtigt auf dem Sitz liegen lässt, und lassen die Pass- und Visumkontrolle geduldig über sich ergehen. Wenn das Ritual vorüber ist, beginnt jedoch noch immer nicht die flotte Fahrt, denn am Ende der Stadt, wo die Chaussee beginnt, hält der Bus erneut. Indios warten am Straßenrand, um zu ihren Dörfern mitgenommen zu werden. Für die Stehplätze zahlen sie nur den halben Preis, der voll in die Taschen der Bus-Crew wandert, die Agentur hat damit nichts zu tun. So wird auch der Bus bald so voll wie die Züge, und dicht gedrängt stehen die alten Indios und kleinen Kinder samt Gepäck Stunde um Stunde im holpernden Bus.
Ein neuerlicher Halt. Kaum öffnen sich die Türen, drängen schon ganze Banden von Kindern herein.
"Choclos, choclos" - "Chupetes, chupetes!" - "Helados, Mister, cómprate un helado!"
Man kann also bei Fernbusreisen durchaus auf das Mitführen von Proviant verzichten. Etwa fünf Minuten lang lässt der Fahrer die Verkäufer auf die Passagiere los, die gelangweilt unter Käse, Maiskolben, Spießchen, Popcorn, Obst und Eiscreme wählen, und man kann sicher sein, dass die Indiokinder nur ausgewählte Exemplare vom Feld, Maiskolben, frisch gekocht und noch warm, und Spießchen oder Kuchen direkt aus Pfanne und Backofen, offerieren, und zwar billiger als in der Stadt. Es ist geradezu unsinnig, sich vorher mit Keksen oder Konserven zu staffieren, wenn man hier viel Besseres geboten bekommt und damit auch, wenn auch nur ganz wenig, den kirchenmausarmen Indios, die sich auf ihren Äckern abplagen und selbst bei guten Ernten wegen der hohen Transportkosten in diesem unwegsamen Land kaum je auf den grünen Zweig kommen, zu Bargeld-Einkommen verhelfen kann.
Jetzt aber sollte die eigentliche Fahrt langsam beginnen. Luftlinie Cuzco - Ayacucho: rund 220 km, auf der Landstraße sind es mehr als 600 km, Fahrtzeit --- besser nicht dran denken! Im Guidebook heißt es über die bevorstehende Strecke lapidar:
"A rough trip, not recommended to pleasure-seekers."
Wir werden's ja sehen.
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...da war der Asphalt zu Ende |
Plumps, sagte es, und da war der Asphalt zu Ende. Von nun an ging's bergauf. Stöhnend, stampfend, schlingernd und ächzend brummelt der vollgepackte Bus unter Protest die kurvigen Hänge hinauf, über Stock und Stein, eine dichte Staubwolke hinter sich herziehend. Gut, dass hier nur wenig Verkehr herrscht! So dringt nicht allzu häufig die entsprechende Staubwolke überholender oder entgegenkommender Wagen durch die weit geöffneten Fenster, doch was da so hereingerieselt kommt, genügt schon: Der Kragen des gestern erst frisch gewaschenen Hemdes bekommt schnell einen Trauerrand --- nun ja, wir sind nicht in der Sommerfrische ! In diesem komischen Klima möchte man in der Mittagshitze alle Kleider von sich werfen, aber in den Abendstunden greift man gern zum Pullover. Jetzt wird uns auch klar, warum die Mitreisenden alle Wolldecken griffbereit haben! Unsere einzige Decke fährt im Rucksack mit, unter der Plane auf dem Dach...!
Alle 5 bis 6 Stunden gibt es eine kleine Pause an einem "Restaurant"; diese Etablissements gleichen denen an der Küste, und sie bieten im Wesentlichen nur die drei peruanischen Standardgerichte feil: Estofado (gekochtes Fleisch mit Soße auf Reis), Lomo saltado (Geschnetzeltes auf Zwiebelreis) und irgendein gehaltvolles Suppen- oder Eintopfgericht. Wie in einer Kantine stehen diese Speisen ruckzuck vor dem hungrigen Gast, aus dem großen Generaltopf geschöpft, und billig sind sie auch. So lange man keine exotischen Sonderwünsche (etwa nach Bier) äußert, wird man hier prompt und kernig abgefüttert, zu jeder Tages- und Nachtzeit.
Zwischen all den Leuten, die im Mittelgang als Stehpassagiere stehen oder auf dem Gepäck hocken, stand auch ein kleines Indiomädchen mit schwarzen Zöpfen, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt, und es dauerte acht Fahrtstunden, bis sie sich mit mir anfreundete. Anfangs schaute sie sofort weg, wenn sich unsere Blicke trafen, aber wenn ich zum Fenster hinaussah, fühlte ich, wie ihre blanken schwarzen Augen unter dem strubbeligen Haar den Gringo neugierig musterten. Nach der ersten Stunde wich sie nicht mehr sofort aus, wandte sich aber nach einem kurzen Blick verschämt ab, wenn ich meine Strategie des Lächelns anzuwenden versuchte. Im Verlauf der zweiten und dritten Stunde aber gelang es mir, ein schüchternes Lächeln zurückzubekommen, aber nur ganz flüchtig....
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...gelang es mir, ein schüchternes Lächeln zurückzubekommen |
Jetzt aber sitzt sie zwischen uns, denn viel Platz nimmt sie ja nicht weg, puhlt mit ihren schwarzbraunen Pfötchen an dem halben Maiskolben herum, den ich ihr gegeben hatte, und beißt auch an der Banane mit an; nur zum Reden habe ich sie noch nicht gebracht. Mit einem fast verwunderten, halb fragenden Blick guckt sie ab und zu hinauf zu dem hellhäutigen, bärtigen Gringo, der sich von Herzen wünscht, Zauberkräfte zu besitzen, um das kleine barfüßige Kind durch einfaches Handauflegen von Schmutz und Grind, Armut und Elend befreien zu können.
Die Nachtfahrt wird schlimm. Bis gegen 10 Uhr ist es noch einigermaßen warm, danach aber wird es unangenehm kalt. Die stehenden Fahrgäste, die ich keineswegs beneide, machen es sich so bequem wie möglich, quetschen sich da, wo es die Platzinhaber zulassen, mit auf die Sitze, setzen sich auf ihr Handgepäck, auf Armlehnen oder Kisten, während die Kinder sich wie Hunde, nur mit einem Jäckchen zugedeckt, auf den kalten, nie geputzten, müllbedeckten Fußboden rollen. Auch unser Mäuschen bleibt nicht auf dem engen Sitz, sondern verschwindet im Dunkel unter einem der Sitze. Während der ganzen Fahrt hat es von seiner Mutter nur eine Handvoll Popcorn bekommen für 10 Soles (4 cent), aber die Mutter selbst gönnte sich überhaupt nichts bis zum Ende der Fahrt. Der Fahrpreis von ca. 15 Euro für die Strecke Cuzco - Lima, dem Ziel der Busfahrt, ist für die bitterarmen Indios ein Vermögen.
In frostiger Nachtkälte bibbernd und von der anhaltend holpernden, motorenheulenden, kurvenreichen Fahrt geschlaucht, versuchen wir, eine Mütze Schlaf zu fassen, aber zu mehr als einem dämmrigen Dösen reicht es unter den gegebenen Umständen nicht.
"Vamos, vamos!"
Immer ungeduldiger, lauter, mehren sich diese Rufe der Fahrgäste und drohen die Bewohner der umliegenden Häuser zu wecken, sofern sie nicht eh vom Dröhnen des bulligen Busses, der durch die nachtschlafenden Gassen von Andahuaylas gedonnert ist, aus dem Schlaf gerissen worden sind. Das einzige früh um halb vier beleuchtete Fenster gehört der Bus-Agentur, und die Fahrer-Crew hockt drinnen in der geheizten Stube und wärmt sich bei stundenlangem Kaffee-Süffeln, während die Fahrgäste im eiskalten Bus, in dicke Decken gehüllt, der Weiterfahrt entgegenfiebern, als ob es sich beim gleichmäßigen Rattern der Karosserie und beim Holperschuckeln durch die staubigen Schlaglöcher besser und wärmer schlafen ließe als in der nächtlichen, lautlosen Unbewegtheit. Zum Verrichten der diversen Notdürfte mitten auf der unbeleuchteten Hauptstraße des Ortes wären 10 Minuten sicherlich ausreichend gewesen, aber die Busmannschaft braucht eine richtige Pause, auch zu unserer Sicherheit, denn die Andenpisten zu bewältigen ist Schwerstarbeit.
Die Morgensonne sieht den Bus durch raue Täler kriechen, sich in endlosen Serpentinen stundenlang mit einem einzigen Bergmassiv abmühen, dann über eine geländerlose, schmale Bohlenbrücke über den wilden Fluss Apurimac holpern, um in der jenseitigen Schlucht im Schatten eines Steilhanges zu verschwinden. An der Staubwolke, die das mutige Gefährt in der Ödnis aufwirbelt und zuverlässig hinter sich herzieht wie die etwas dünnere schwarzrußige Auspufffahne, lässt sich der Weg verfolgen, der zwischen mannshohen Kakteen, mächtigen Felsbrocken und steilen Bergwänden hindurchbalanciert. Eine Stunde später dürfte die Sonne den staubbedeckten Wagen schon deutlich näher am Ziel vermuten, doch wider Erwarten scheint er nicht vom Fleck zu kommen, trotz pausenlosen Abmühens; nur an Höhe hat er gewonnen. Hin und her, ohne wirklich weiter voranzukommen, kriecht das schnaufende Vehikel auch eine weitere Stunde später noch den selbigen Berghang hinauf, als sei die Luft hier zäher und ein Vorwärtskommen nur unter Aufbietung aller Kräfte möglich. Weit oben ist ein Pass in Sichtweite, und der Weg bis dorthin kommt uns im Bus nicht einfacher vor als zu Fuß auf dem Inca-Pfad. 10 Uhr, die Stunde, zu der man uns die Ankunft in Ayaucho verheißen hatte, verbringen wir in ständig wechselnder, aber dennoch nur wenig abwechlungsreicher Bergwildnis, können aber noch immer im Talgrund das Dorf erkennen, in dem es in der Dämmerung vor 4 Stunden Frühstück gegeben hatte. Eine halbe Stunde später ist der Pass erreicht, und der Blick auf ein Städtchen im jenseitigen Tal wird frei; na, da sind wir wohl bald in Ayacucho... glauben wir in unserer Einfalt, bis der Blick auf den Meilenstein am Straßenrand fällt: Noch 66 km bis Ayacucho!
Die Straße machte ihre Drohung wahr: Jeder einzelne der 66 Kilometer musste abgekrebst werden, in Serpentinen zu Tal, obwohl das Ziel unten im Tal deutlich greifbar vor Augen lag. Bei der Ankunft war es 14 Uhr.
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...obwohl das Ziel unten im Tal deutlich vor Augen lag |
Was hält uns in Ayacucho? Der Wunsch nach einer Übernachtung im Federbett. Aber wir müssen weiter und besorgen uns die Tickets für die nächste Bustour, denn wir wollen nicht nach Lima, sondern müssen hier in eine andere Richtung weiterfahren. Wir bekamen mit Glück noch Karten, Plätze Nummer 36 und 37, aber das war eine üble Gaunerei, denn als wir den Bus bestiegen, stellte sich heraus, dass er nur über 36 Sitze verfügte. Im Geiste sah ich mich schon die Nacht im Stehen verbringen, da alles wütende Reklamieren keinen zusätzlichen Sitzplatz hervorzaubern konnte, aber da bei der Abfahrt, bevor noch die üblichen Steh-Passagiere zugeladen wurden, wundersamerweise ein Sitz frei geblieben war, nahm ich ihn für mich in Beschlag. So brauchte ich wenigstens nicht zu stehen wie die Passagiere mit den Platznummern 38 bis 40.
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Das Gepäck wurde gewogen und auf das Dach gewuchtet |
Überhaupt war dieser Bus alles andere als erste Wahl: Zu dem Zeitpunkt, zu dem er fahrplanmäßig hätte starten sollen, lagen noch zwei ölverschmierte Overall-Burschen zwischen Getriebe und Lichtmaschine und werkelten mit kantigen Stangen und groben Schraubenschlüsseln im Innenleben des Fahrzeugs herum. Als nach dem Wieder-Zusammenbau die übrig gebliebenen Dichtungen und Muttern säuberlich in die Gosse gekehrt worden waren und der Motor einen knallfauchenden Ton beim Probelauf von sich gab, verzogen sich die schwarzen Gesichter zu einem öligen Grinsen, und die Passagiere durften einsteigen. Nur zwei Stunden Verspätung, was ist das schon in Perú! Und die einzige Panne auf dem Weg nach Huancayo, das sei zur Ehre der Maschinendoktoren gesagt, war ein platter Reifen nach 10 Minuten Fahrt. Für die Nacht hatten wir diesmal unsere einzige Decke zur Hand, aber da wir getrennt saßen, hatte ich wieder nichts davon. Glücklich wurde jedoch auch die Ka nicht: Die India neben ihr mit dem Umfang einer hundertjährigen Eiche und noch zwei Niños an der Brust ließ ihr kaum den zum Atmen nötigen Raum, und an Schlaf war da kaum zu denken. Neben mir saß ein Bursche, der sich enger an mich drückte, als es allein durch die nächtliche Kälte zu rechtfertigen wäre, und ich, von einem warmen Nachbarn geheizt, haderte mit dem grausamen Schicksal, das mir nicht eine hübsche jungen Dame mit dem Bedürfnis nach mitmenschlicher Wärme an meiner Seite gegönnt hatte.
Huancayo, das Ziel der nächtlichen Busfahrt, ist zwar größer, aber auch erheblich schmuddeliger als Ayacucho; Erinnerungen an Lima werden wach. Die einzige Sehenswürdigkeit ist der Supermarkt, ein unverfälschter, untouristischer Indio-Markt, der mindestens ein Viertel der Stadt umfasst.
Die einzige Sehenswürdigkeit ist der Supermarkt |
La Oroya ist der Inbegriff der Hässlichkeit. Ich bitte um Verzeihung, falls sich unter den Lesern jemand aus La Oroya befinden sollte.
Dann wurde das Grün immer
spärlicher, |
Was dann kam, war La Oroya.
La Oroya... Ein klangvoller Name, in dem südamerikanisches Feuer, heiße Musik und wilde Rhythmen mitschwingen, so hatte ich mir das vorgestellt: Gut gebaute Schönheiten in Hülle und Fülle, stolze Indios, liebliche Gärten.... nichts von alledem! Das erste Zeichen menschlicher Tätigkeit war, dass der zuvor rot gefärbte Fluss zusehends schmutziger wurde, bis er schwärzer als der Rhein zu Zeiten des Wirtschaftswunders war. Dann näherte sich der Zug dem ersten Gebäude: Eine riesige Fabrik, qualmend, geschwärzt, verstunken, besudelt, triefend vor Dreck, Gift, Abgasen, Dämpfen, Todeswässern und Mordmaschinen, und rund um die Fabrik war alles bis dahin ohnehin nur kümmerliche pflanzliche Leben vergammelt, verdorrt, im toxischen Kneist erstarrt zu bizarren Skulpturen, und der Zug bollerte langsam mitten durch die Todeszone hindurch, meternah an der schwarzen Wand der giftspeienden Drachenburg entlang. Vereinzelte Arbeiter mit Schutzkleidung, Gasmaske und Helm geisterten durch diese Höllenmaschine und verstärkten noch deren infernalisches Aussehen. Am Ende des Industriebezirks Stacheldraht, Zäune, Gitter, Sperren, Scheinwerfer und ein kahler Todesstreifen, und anschließend marode, schwarzgraue Arbeiter-Wohnbaracken. Im Nieselregen erreichte der Zug den Bahnhof, um den sich zaghaft einige wenige Häuser gruppierten, die ebenso trostlos, rußschwarz und verkommen aussahen wie die wenigen Leute, die wie Vogelscheuchen dort herumhingen. In der letzten Zeit meint es Huiracocha nicht gut mit uns. Einer Prüfung unsrer Geduld folgt die nächste. Was soll man während vier Stunden Umsteigeaufenthaltes in einem Ort machen, der von der UN zu den acht schmutzigsten Regionen der Welt gezählt wird? Mehr als 20 Minuten braucht man nicht, um den mickrigen, armseligen Markt und die paar pieseligen Hütten auswendig zu lernen, die den Ort La Oroya bilden, immer auf der Hut, um der schwarzen Höllenmaschine nicht zu nahe zu kommen, damit sie nicht wie ein ruhender Vulkan plötzlich ausbricht und Schwefel, Tod und giftige Asche über uns ausspeit. Ja, und dann? Herumsitzen und Löcher in die bleihaltig graue Nieselregenluft starren? Unsere Freunde in der Heimat wähnen uns jetzt am sonnigen Strand, im piekfeinen Hotel, an aufregenden Ruinen oder an reichgedeckter Tafel....
Eine riesige Fabrik, qualmend, geschwärzt, verstunken |
A propos Tafel: Keine schlechte Idee, denn es ist bald Essenszeit. Zwar war uns bisher kein verlockendes Restaurant aufgefallen, aber da vorne, neben den baufälligen Wellblech-Slums, ein Stück hinter der Nationalen Müllausstellung am Ortsrand, stand inmitten der windschiefen Hütten ein schwarzverrußter Schuppen mit einem riesigen Ofenrohr, aus dem ein würzigerer Dunst aufstieg als aus den Schloten des Monsters am anderen Ortsende. Wolln wir mal nachschaun....
Zehn Minuten später knusperten wir an braungebratenen Hendln herum, die zwar heftige Bekanntschaft mit der letzten Knoblauchernte gemacht hatten, einen gewissen Geflügelgeschmack aber nicht verleugneten. Na, wer sagt's denn....
Centromín ist der Kurzname der staatlichen peruanischen Bergbaugesellschaft Centro Minero Nacional. Diese Firma hat nicht nur La Oroya auf dem Gewissen, sondern besitzt auch eine private Eisenbahnlinie, die von hier aus zum größten peruanischen Bergbau-Zentrum, der Stadt Cerro de Pasco, führt. Es handelt sich um eine größere Stadt, Hauptstadt der Provinz Pasco, und ist mit 4300 m Höhe auch die höchstgelegene peruanische Provinzhauptstadt. Leider führt kein anderer Weg von hier aus in den Urwald; eigentlich haben wir von andinen Höhen mittlerweile genug, und außerdem hält sich nach der Bekanntschaft mit La Oroya unsere Sehnsucht nach weiteren Industrie-Zentren in engen Grenzen.
Wieder einmal schleicht der Zug Stunde um Stunde bergan, sausen uns die Ohren, flattern die Lungen und flimmern die Augen, und der Zugkellner verschüttet bei der Ruckelfahrt erneut den Tee, aber es ist alles nur halb so schlimm wie vorher. In der letzten Abendsonne krauchen wir über kahle Altiplano-Gefilde, die etwa so aussehen, wie ich mir die Mongolei vorstelle. Cerro de Pasco enttäuscht die Befürchtungen nicht: Die letzten Kilometer windet sich der Zug durch schwarze Schlackehalden, in denen brackig-schwarze Gewässer stehen, rings umher ist der Boden aufgerissen, abgetragen, umgewühlt und vernarbt; verlassene und aktive Fördertürme markieren die Szenerie, Planierraupen verteilen Abraum und Schutt gleichmäßig über das geschundene Land, und schließlich erscheint am Rande eines Plateaus, an dessen Fuß sich ein See aus schwarzgrauer Flüssigkeit ausdehnt, eine Ansammlung von Industrieanlagen und Arbeiterhütten, die den Namen Cerro de Pasco trägt. Wo sind wir da nur hineingeraten! A rough trip, not recommended to pleasure-seekers --- die weise Mahnung des Guidebooks pocht mir in den Schläfen.
Ringsumher ist der Boden aufgerissen, abgetragen, umgewühlt und vernarbt |
Längst ist es dunkel. Durch die nächtliche Kälte der Hochgebirgsstadt stapfen wir auf staubigen, anthrazitgeschwärzten Gassen auf der Suche nach dem einzigen Hotel, das unser Reiseführer für erwähnenswert hält: Voll belegt! Auch das in Sichtweite, gleich um die Ecke liegende andere Hotel hat kein Bett mehr frei. Was ist denn da los? Verfügt dieser Ort über heimliche Attraktionen? Badeurlaub im Abwassersee, Luftkurort für Staublungenfreunde? Woher kommen denn all die Leute, die hier dermaßen durch die Gassen wimmeln, dass wir fast Mühe haben, uns einen Weg durch die Massen zu bahnen? An einer Straßenecke prallen wir zurück: Eine Bataillon Soldaten, Bajonett im Anschlag, marschiert dröhnend und drohend auf uns zu, unter Trommelwirbeln und zu Marschmusik. Nachdem der erste Schreck über den vermeintlichen Militärputsch verflogen ist, erkennt man, dass die Uniformen aus dem vergangenen Jahrhundert stammen und die Waffen antike Musketen sind; der vorderen, martialischen Reihe folgt eine Blaskapelle, und dann Fahnen, Transparente und Plakate verschiedener Aufschriften, aber im gleichen Grundton: Wir wollen Belaúnde als Präsident. Ach ja, in ein paar Tagen sind Wahlen, und der Wahlkampf ist in seinem nervenzermürbenden Endstadium. Jede halbwegs bemalbare Fläche im ganzen Land ist mit Parolen für oder gegen die eine oder andere Partei bekritzelt, und wenn man nach der Faustregel gehen darf, dass derjenige gewinnen wird, der am lautesten krakeelt und den größten Rummel veranstaltet, dann dürfte die Partei Acción Popular mit ihrem Kandidaten Belaúnde sicherer Sieger sein.
Es lässt sich nicht verheimlichen: Alle Hotels sind voll belegt von Delegierten der Belaúnde-Partei, der ich von Herzen eine saftige Niederlage gönne. Ein Tipp der Polizei bringt uns eine Übernachtungsmöglichkeit im neu erbauten Vorort San Juan, wohin uns in einer grausamen Fahrt ein überfülltes Rostdenkmal der städtischen Busgesellschaft brachte, so niedrig gebaut, dass ich darin nicht einmal aufrecht hocken konnte; der war anscheinend für den Export ins Pygmäenland angefertigt worden. Das Hotel war das neuste und teuerste der Region, und trotzdem schon total vergammelt; erstklassig war nur der Preis von 2500 Soles. Eine Zelle in Stammheim ist wohnlicher als das Zimmer, und das Klo war verstopft und bis zum Rand gefüllt mit ..... nun ja, womit Klos im schlechtesten Fall halt gefüllt sein können. Auf dem Boden lagen Flusen beachtlicher Dimensionen, leere Zigarettenschachteln und volle Aschenbecher. Aus dem Wasserhahn kam nur kalte Luft und ein bedauerndes Röcheln, im Bett lagen noch die Überreste des Vorgängers, nämlich seine Haare, und ein einsamer Floh übte auf dem Tisch Hochsprung oder Weitsprung für die nächste Olympiade. Wütende Proteste an der Rezeption machten immerhin so viel Eindruck, dass wir ein anderes, in einem solchen Notfall bei nicht allzu genauem Hinsehen akzeptables Verlies erhielten, in dem es ab zehn Uhr sogar fließendes Wasser gab. Auf meine Bitte nach Handtüchern brachte uns der Boy ein Heizöfchen; nicht übel, aber ich wusste nicht, dass mein Spanisch so schlecht ist....
Der eisige Fahrtwind beißt sich durch bis unter die Haut an diesem Morgen. Wie beneide ich die Indios mit ihren herunterklappbaren Ohrenschützern an den Alpaca-Wollmützen! Auf der fast knöcheltief mit graubraunem Staub bedeckten hinteren Ladenfläche eines Omnitrucks (halb Omnibus, halb Lastwagen) stehend, brechen die rotgefrorenen Öhrchen bald ab, wenn das so weitergeht, denn da es nach kurzer Steigung nur noch bergab ging, machte der Bastard eine rauschend schnell holpernde Fahrt über die wilde Piste, einen undurchdringlichen Staubschleier hinter sich lassend. Der Wind pfeift durch den Pullover, durch Mark und Bein, durch Herz und Seele, treibt die Tränen in die verstaubten Augen und lässt die Zuversicht gefrieren. Weh uns, ein anderer LKW fährt vor uns und lässt sich nicht überholen: Oh, wäre das nur Nebel, was uns da minutenlang einhüllt! Nach vollzogenem Überholmanöver rieselt der literweise inhalierte Feinstaub aus den Ohren, knirschen die Gelenke, blättert die braungraue Schicht von den Gesichtern. Alle Passagiere haben nun die gleiche Haarfarbe, sogar die kohlpechrabenschwarzhaarige India neben mir hat in nur drei Minuten graues Haar bekommen! Wer hätte das geahnt, als uns am Morgen in aller Frühe nach dem fluchtartigen Verlassen von San Juan und seinem "Luxus-Hotel" ein Mensch auf dem Marktplatz von Cerro de Pasco zurief "A Huánuco, Huánuco!"
Wäre das nur Nebel, was uns da minutenlang einhüllt! |
Abenteuerlustig waren wir auf den halb überdachten Omniwagen geklettert, des günstigen Preises und der frühen Abfahrt wegen, aber auch diese Kalesche musste erst die obligatorische Ehrenrunde drehen und fuhr nicht eher ab, als bis sogar das Ungeziefer Angst bekam, zerquetscht zu werden in der Enge der Passagiermassen. Und nun ratterte, polterte, rumpelte und schuckelte der fahrbare Lattenverschlag, keine entgegenkommende Staubwolke auslassend, keine sich in der gleichen Richtung bewegende Staubwolke scheuend, zu Tal, als sei ein Rekord zu brechen, während die Leute auf der Ladefläche mit bewundernswerter Geduld verstaubten.
Seit Huancayo waren wir stets und überall die einzigen Gringos gewesen. Späße à La Oroya und Cerro de Pasco machen selbst hartgesottene Rucksack-People nicht mit. Recht haben sie, denn mit derlei ist kein Globetrotter-Ruhm zu gewinnen, und die Bräune des Pistenstaubes ist abwaschbarer als diejenige, die man sich im Swimmingpool holt, gottseidank. So lassen wir uns gefasst die Landstraße in ihrer feinsten Version den Rücken runterrieseln, schniefen mürbe mit der Nase, lassen beim Umherblicken die Augen knirschen und schlucken auf dem Weg in die Tiefe noch manche Portion peruanischen Bodens.
Zur Mittagszeit hat das Frösteln ein Ende; wir sind schon weit gesunken, unter 2500 m. Der unwirtlichen Felswildnis war nach und nach immer luschigeres Grün gefolgt, ein quickes Bächlein, dichte Bäume, Siedlungen und spielende Kinder, die sich ungerührt die Staubdusche der vorüberdonnernden Vehikel gefallen ließen, und nun begann auf unserem Massentransporter der allgemeine Striptease. Pullover wurden ausgezogen, damit auch die Hemden in den Genuss der kostenlosen Bestäubung gelangten, und das war höchste Zeit, denn gegen halb zwei, in der größten Mittagshitze, war Huánuco erreicht, und zwar pünktlich! Lange hätte diese Tortur keiner mehr ausgehalten. Nun versuchte jeder, beim Aussteigen seine eigene Staubschicht dem Nachbarn in Genick oder Ausschnitt zu kippen, und wir machten uns eilig mit unseren staubgrauen Rucksäcken davon, suchten uns einen Colectivo und brausten, ohne sogar zu Mittag gegessen zu haben, in dem komfortablen PKW auf anfangs asphaltierter Piste sanft abwärts in Richtung Tingo María.
Tingo María ist die Grenzstadt zwischen Sierra und Selva, zwischen Hochgebirge und Amazonas-Urwald. In knapp 600 m Höhe gelegen, gehört es nach Klima und Vegetation schon zum tropischen Regenwald, landschaftlich indes erinnern die umliegenden mittelhohen Berge noch ein wenig an die Sierra. Es hatte nur zweieinhalb Stunden gedauert, unterbrochen durch eine Reifenpanne und eine kurze Rast mit Imbiss, und dann kamen wir in der Nachmittagshitze an und sehnten uns nach einer kalten Dusche. Trotzdem ist es hier nicht so heiß wie ganz unten im flachen Regenwald hinter der Cordillera Azul, dem letzten Andenhügel, und Mosquitos schwirren hier nur vereinzelt umher. Mit wenig Mühe ließe sich Tingo María zu einem attraktiven Touristen-Resort ausbauen. Der Rio Huállaga strömt von Huánuco kommend breit durch den Ort, der von mittelhohen, bis obenhin dicht begrünten Bergen umsäumt ist. Der markanteste Gebirgszug, direkt vor den Augen derjenigen, die am Abend die Hauptstraße entlangflanieren, gleicht, so heißt es, einem auf dem Rücken liegenden jungen Mädchen, sanft gerundet, zart begrünt, und wird deshalb "La Bella durmiente", das "Schlafende Dornröschen", genannt. Wer Fantasie hat und noch kein schlafendes Dornröschen gesehen hat, erbaut sich an der fernen Schönen, die sich auch vom Wahlkampfgetöse nicht aufwecken lässt.
Der markanteste Gebirgszug
gleicht einem auf dem Rücken liegenden jungen Mädchen |
Nun sind wir in weniger als 10 Stunden aus höllischen Höhen um mehr als 4000 m in himmlische Tiefen gelangt, aus schwarzschwefliger Ödnis in grünluschigen Wald, und wir hüstelnden Staubleichen hüpften als erstes lustvoll unter die kalte Dusche, wuschen Wäsche wie die Waschbären, hängten selbige im lauen Abendlüftchen aufs Dach zum Trocknen und sanken dann, kurz nach Sonnenuntergang, mit bleiernen Gliedern ins weiche Bett in einen dornröschenhaft festen Schlaf.