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Der Inca-Pfad nach Machu Picchu

 

Wir hatten der armen Kathy ungewollt einen Floh ins Ohr gesetzt: Wenn morgen der Zug nach Machu Picchu rumpelt, wollen wir auf halbem Weg aussteigen und auf den alten Inca-Pfaden, die in dieser Gegend noch erhalten sind, dem Ziel zuwandern - wozu haben wir schließlich unseren ganzen Campingrödel mit ins Hochland geschleppt? Als Kathy davon hörte, gab's für sie nur eins: Mitkommen. Vergessen war Alfredo, der geschäftlich in Cuzco zu tun hat und nicht mitkommen kann, vergessen war auch der Verlobte Miguel, dessen Vater in drei Tagen Geburtstag hat und Kathy und Miguel in Lima erwartet. Kathy dachte, sprach und lebte nur noch für den Inca-Pfad. Alfredo grummelte kopfschüttelnd etwas davon, dass peruanische Mädchen so etwas nicht täten, Miguel aber war stolz, dass seine Freundin sich für die Kultur Perús derart begeisterte und ließ sie gewähren. Geschäftig sauste Kathy am Abend noch in Cuzco herum, nachdem sie sich bei uns vergewissert hatte, dass wir sie wirklich mitnehmen würden, besorgte sich Vorräte, Suppe, Obst, Tee, Schokolade, Schlafsack, Kochtopf, Regenhaut, Gaskocher und noch viel mehr, und tat gewiss die ganze Nacht über kein Auge zu vor Aufregung. Wir hatten unsere Vorräte schon eingekauft, denn für drei, vier Tage würde es nichts mehr zu kaufen geben, und unsere Ausrüstung hatten wir ja dabei und schliefen deshalb in aller Ruhe, bis jemand an unsere Türe wummerte und fragte, wo wir denn blieben, es sei schon halb sechs....

In dreißig Minuten fährt der Zug! Uuuuwaaaah! Wie der wilde Wirbelwind wutschten wir aus unseren Decken in die Klamotten und aus dem Zimmer direkt in das Taxi, das Alfredo vorsorglich schon organisiert hatte, und fanden uns schlaftrunken irgendwie im Zug wieder, Sekunden vor der Abfahrt, mitten im Indio-Waggon, den wir bisher stets verschmäht hatten, und lauschten, langsam erwachend, Kathys endlosen Reden, in denen viele hohe Berge, Llamas, Condore und Inca-Ruinen vorkamen. Es dauerte mindestens zwanzig Bummelzug-Kilometer, bis wir Alfredo und Miguel, die es im Chaos der Hetze in einen anderen Waggon verschlagen hatte, wiederfanden und uns durch den proppevollen Zug samt Gepäck zu ihnen durchgebissen hatten. Erst als sich das Durcheinander zu lichten und die Finsternis dem Morgengrauen zu weichen begann, merkten wir so richtig, dass es aus allen Knopflöchern schüttete --- der erste trübnassekliggraue Tag in Cuzco. Das Wandern ist des Deutschen Lust....

Nüchtern, wir wir waren, schenkten wir den Händlern, die sich ununterbrochen durch das Gewühl wanden, erhöhte Aufmerksamkeit. Gigantische Stücke lockeren Marmorkuchens fanden unser Wohlwollen, dazu frische Äpfel, denn im Hochland ist der Herbst schon gekommen. Die dicke India auf dem Sitzplatz am Gang nestelte eine Thermosflasche mit heißem Kaffee aus dem Gemischtwarenladen ihrer Manta und füllte uns, wahrscheinlich zum Dank dafür, dass ich ihr zuvor voll auf die Zehen getrampelt war, mit einem lieben Frau-Holle-Lächeln einen Pappbecher voll, hoch soll sie leben!

Der Zug wurstelte sich derweil den Berg hoch, von einer Lok gezogen und von einer Lok geschoben, denn der Hang war zu steil, um so einfach hinaufzufahren; es ging ständig im Zickzack, ein paar hundert Meter vorwärts, dann wieder ein paar hundert Meter rückwärts, und dann wieder vorwärts usw., ohne sich nennenswert von Cuzco, das stets unter uns lag, zu entfernen. Ein bergsteigender Bummelzug! Als die Hochebene erreicht war, stiegen die Händler aus und wanderten zurück in die Stadt; Zeit zum Geschäftemachen hatten sie reichlich.

Ticket-Kontrolle. Der Schwarzfahrer diskutiert, Kilometer gewinnend, endlos mit dem Schaffner; auch den herbeigeholten Zugführer beschwafelt er pausenlos und schwört, dass am Zielort jemand warte und für ihn das Fahrgeld berappen werde. Der Zugführer unterliegt der Laberei ebenso wie der Schaffner, und so verschwinden sie beide, um allerdings wenig später mit einem uniformierten Zeitgenossen mit Maschinenpistole zurückzukehren. Am nächsten Halt wird der Schwarzfahrer von allen dreien mit vereinten Kräften an die frische Luft gesetzt, und es ist nicht auszuschließen, dass er zufrieden war, zumindest die Hälfte seines Weges kostenlos mit der Eisenbahn bewältigt zu haben.

Gleich nach dem ersten Tunnel ist wieder ein Haltepunkt bei km 88. Hier ist die Startlinie für den Camino incaico, 35 km über Berg und Tal bis Machu Picchu. Nur durch den energischen Einsatz unserer peruanischen Helfer Alfredo und Miguel, die uns rigoros eine Schneise durchs Getümmel schlugen, gelang es uns, mit unserem ganzen Warenlager, das wir in die Berge zu schleppen gedachten, eben so den Ausgang zu erreichen. Es blieb nicht einmal die Zeit für die peruanische Abschiedszeremonie mit Küsschen rechts, links, oben, unten, vorn und hinten, denn schon ruckte der Zug wieder an und machte Miene, unsere Freunde hier im Nieselregen stehen zu lassen. Winkend sprangen sie auf ein Trittbrett und verschwanden kurz darauf mit dem ganzen Zug im nächsten Tunnelloch.

Hatten wir aber geglaubt, nun in völliger Einsamkeit in menschenleerer Bergwildnis zu stehen, sahen wir uns arg getäuscht: Mindestens zehn weitere Gringos mit Rucksäcken, Zeltgestänge und Gaskocher, mit Gitarre, Filzhut, Wanderstiefeln und Regenhaut rödelten und nestelten um uns herum an ihrer zünftigen Ausrüstung, und der ganze Haufe setzte sich allmählich in Bewegung, dem einzigen Weg folgend, hinab zu dem reißenden Rio Urubamba, dem ersten Hindernis auf dem großen Marathon nach Machu Picchu.

 

urubamba

Über den Bergfluss war ein Drahtseil gespannt,
auf dem an zwei Rollen eine Bretterkonstruktion hing

 

Die Flussüberquerung stellte eine Art Mutprobe dar und war nichts für zarte Gemüter; wer nicht über den Urubamba kommt, der sollte lieber mit dem Gegenzug nach Cuzco zurückrattern. Über den brodelnden Bergfluss war nämlich ein Drahtseil gespannt, auf dem an zwei Rollen eine Bretterkonstruktion hing, die vier Personen samt Courage und Gepäck zu tragen vermochte. Parallel zu dem Drahtseil war noch ein Hanftau gespannt, an dem man sich auf dem Luftfloß auf die andere Seite hangeln konnte. Wer es geschickt anstellt, gibt dem Konstrukt mit seinen gut gefetteten Rollen, auf dem man sich möglichst gut festhalten sollte, einen kräftigen Schwung, durch den es bis auf die andere Seite eiert, wo man wie ein Eichhörnchen fix abspringen muss, bevor das Ding an einen hölzernen Puffer dotzt und die noch Draufstehenden unsanft in hohem Bogen in die Brennnesseln befördert.

Wir ließen den anderen Gringos erst mal den Vortritt, um den Mechanismus zu studieren und eine fehlerfreie Vorstellung zu bieten, und waren um 9:30 mit allem Zubehör als letzte auf der anderen Seite, wo der lange Marsch begann. An der ersten Weggabelung trafen wir die anderen aber wieder, die auf englisch, deutsch, spanisch und italienisch emsig palavernd Kompass, Karten und Reiseführer konsultierten ob der einzuschlagenden Richtung. Eine Mehrheit für links kristallisierte sich heraus, der sich die anderen anschlossen. Links, das bedeutete Richtung Cuzco, aber auf dem anderen Flussufer. Ich hatte in einem Trekking-Shop eine Karte für den Inca-Pfad gefunden, die uns sehr nützlich war; ja, die Richtung stimmte. Also, auf geht's! Zur allgemeinen Freude klarte der Regenhimmel bald auf, aber die Freude währte nicht lang, denn nun floss der Schweiß, weil nur die ersten zwei Kilometer wie durch einen Kurpark über Wiesen und durch lichte Wälder führten, wo sich der Gesang der Vögel mit dem wilden Rauschen des linkerhand fließenden Urubamba mischt. Danach aber ging es bergauf in ein Seitental hinein, vorbei an einzelnen Gehöften und weidenden Kühen. Die ungewohnte Last auf Rücken und Schultern begann zu drücken, denn das Gepäck, das sonst meist in Hotelzimmern, Gepäcknetzen oder auf Busdächern ruhte, musste nun von uns eigenhändig jeden Hüppel hochgewuchtet, über jeden Steg und durch jeden Bach gehievt werden. Um die Mittagszeit grüßte uns die Zivilisation ein letztes Mal, als der Weg an einem Gehöft entlang führte, dessen cleverer Besitzer ein großes Schild mit der Aufschrift "Coca Cola - Fanta - Inca Cola" weithin sichtbar angebracht hatte. Dieser Versuchung konnten sich die wenigsten Wanderer entziehen, und die ganze Mischpoke traf sich erneut, nachdem sie sich mit zunehmender Steigung merklich auseinandergezogen hatte. Am schnellsten war eine etwa 5-köpfige Gruppe gewesen, die außer Gitarren und Plastikbeuteln kaum etwas dabei hatte, bärtige Gestalten aus aller Herren Länder, die sich in einem Gemisch aus Spanisch und Italienisch verständigten und zwei deutschsprachige Blondinen mit sich führten. Wir drei indes hatten wenig Lust auf Chemiekeulen à la Inca Cola und taten auch gut daran, weiter zu gehen, denn erstens fand sich kurze Zeit später unter schattigen Bäumen ein klarer Bergquell mit kaltem Wasser, und zweitens hörten wir hinterher von Weggenossen, dass die Preise der reinste Wucher gewesen seien.

Nachdem die Sonne uns etwa eine Stunde lang gezeigt hatte, wie unangenehm sie sein kann, wenn sie auf die von Konserven prallen schweren Rucksäcke und die darunter gebeugten Puckel knallt, schoben sich wieder Wolken davor, die uns mit Nieselregen versorgten, den wir selten als angenehmer empfunden haben dürften. Während sich das Feld wieder auseinander zog, gelangten wir zu einer Brücke über einen wilden Bach, die nur aus darübergelegten, glitschigen rindenlosen Baumstämmen bestand, nicht anders als vor vierhundertsechsundzwanzigtausendachthundertsiebenundneunzig Jahren. Am jenseitigen Ufer standen vier Deutsche vor einer neuerlichen Weggabelung und stritten lautstark, ob es nun nach rechts oder nach links weiterginge. Meiner Karte zufolge war der rechte Weg der rechte, was ich ihnen auch nicht verheimlichte, aber rechts war den Kindern der Studentenbewegung nicht geheuer, sie bestanden auf links. Da wir drei nun die zwei einzigen waren, ließen wir uns zum Lunch nieder, ohne uns an dem fortdauernden Regen zu stören. Aus den umliegenden Büschen tauchten auf einmal wie die Heinzelmännchen Indiokinder auf, die uns halfen, die Reste der Konserven leer zu machen. Sie enthoben uns auch der Sorge um die Müllabfuhr, da sie sich um die leeren Büchsen regelrecht balgten; vermutlich hatten sie gute Ideen für ein sinnvolles Recycling.

 

pause

Brücke über einen wilden Bach, die nur aus darübergelegten,
glitschigen
 rindenlosen Baumstämmen bestand

 

Nach einer guten Weile, als wir schon beim Nachtisch aus Rosinen und Nüssen waren, erschienen die linken Germanen wieder und zogen mit sauren Mienen an uns vorüber den Weg nach rechts hinauf. Sicher hatten sie den weißen Pfeil auf dem Felsen, der nach rechts wies (siehe Foto), übersehen oder für ein sinnfreies abstraktes Kunstwerk der Hochland-Indos gehalten. Kurze Zeit später tauchte von hinten auch noch die internationale Gitarrengruppe auf, denen die teure Hacienda anscheinend einen längeren Aufenthalt wert gewesen war.

Man sieht, wir hatten nicht vor, auf dem Inca-Pfad einen Weltrekord aufzustellen, sondern wollten die Tage in den Kordilleren genießen. So lugte die Spätnachmittagssonne etwas besorgt um unseren Verbleib hinter den Wolken hervor, denn nachdem wir am Vormittag mit rund 10 km Weges schon ein knappes Drittel der Strecke hinter uns gebracht hatten, ließen wir es gemütlicher angehen und gönnten uns noch eine längere Siesta. Andere Gringos waren nicht mehr vorübergekommen; entweder hatten sie das Unternehmen wegen Schlechtwetters abgebrochen, waren irgendwo fehl gegangen oder saßen noch in der Kaschemme und besoffen sich an Inca Cola. Oder wir waren einfach mal wieder die letzten. Nun hechelten wir gewaltig, denn in dem steilen Seitental des vorigen Seitentales ging es ständig steil bergan; die schwer bepackten Damen verlangten immer öfter nach Rast, zumal wir allmählich bei 3700 m Höhe angelangt sein mussten, und alle Aufputsch-Mittelchen wie Traubenzucker, Vitamintropfen und Coca-Blätter zum Wiederkäuen wurden nun ausprobiert. Meter um Meter putschten wir uns nach oben, denn die Wasserstelle mit guter Campingmöglichkeit, die auf der Karte verzeichnet war, konnte nicht mehr allzu weit entfernt sein. Bisweilen begegneten uns Indios, auf ihren Eseln flott zu Tal reitend, und die Sonne, froh, uns auf dem rechten Wege erspäht zu haben, überließ den Wolken, denen wir uns langsam, aber stetig näherten, das Feld. An einer spitzigen Bergkante spaltete sich das Tal in zwei enge Schluchten, deren eine den immer schmaler werdenden Weg aufnahm; zuvor musste ein weiterer Bach durchwatet werden, dann ging es, immer unvermindert steil nach oben, in ein Wäldchen hinein. Der Weg wurde schmal und war stellenweise nicht nur von Geröll, sondern von mannshohen Felsbrocken blockiert, die umkraxelt werden mussten, ringsum dunkler Tann mit einem starken Unterholz aus dichtem Farn und kräftigen Schlingpflanzen. Mal näher, mal weiter von rechts ertönte das Geräusch eines stürmischen Gewässers. Übernachten konnte man hier nicht, es war steil wie eine Wendeltreppe; wir machten eine längere Pause zum Regenerieren der Kräfte und wollten dann den Rest des Tagespensums in Angriff nehmen. Seit der Mittagspause hatten wir außer zwei oder drei Indios keine Menschenseele mehr erblickt, bis uns auf einmal ein munter pfeifendes Bürschlein entgegen kam --- ein Gringo, der den Weg offenbar andersherum machte, mutterseelenallein. Zu einem kurzen Gruß und der flapsigen Bemerkung, dass heute aber viele Leute hier unterwegs seien, unterbrach er kurz sein Pfeifkonzert und stieg über tückisches Wurzelwerk und kantiges Gestein gut gelaunt weiter zu Tal.

Mit knirschenden Gelenken kraxelten wir weiter hinauf, als uns bald darauf schon wieder ein einzelner, pfeifender Gringo in die Quere kam; den hatten wir aber heute schon gesehen, und der hatte auch keinen Rucksack, sondern nur einen Henkelpott zum Wasserholen in der Hand: Das Ziel war nahe! Über unseren Köpfen ertönten schon Camping-Laute, das Einrammen von Zeltpflöcken, das Klappern von Alu-Töpfen und das Fluchen von Leuten, die mit dem nassen Laub kein Feuer in Gang brachten.

trailmap

Zwei Zelte standen auf einer kleinen Lichtung, und daneben eine Plastikplane, zwischen vier Bäumen aufgehängt, unter der die Gitarrenbande an freier Luft auf ihren Schlafsäcken hockte und Radau machte. Hundemüde knäulten wir in der Enge unser ambulantes Taschenhotel noch mit dazu. Kathy verzichtete aufs Probeliegen, und musste sich dafür in der Nacht mit einer widerspenstigen Wurzel unter dem Popo anfreunden. Auch wir schafften es nicht, ein Feuer zu entfachen, verzichteten auf eine warme Suppe und fraßen uns konservenkalte Kalorien an, damit wenigstens das Gepäck ein bisschen leichter würde. Gerade als wir am Einschlafen waren, kam von der Open-Air-Clique eine Wolke Haschduft herübergezogen, die den bisherigen Alkoholdunst ablöste, der Stimmung unter dem Plastikhimmel aber keinen Abbruch tat. Von Gitarren und Kochtopftrommelwirbeln begleitet, tönte das gesamte Trivialrepertoire von Evviva España bis El condor pasa durch die Andennacht und vertrieb auch die kühnsten Condore. Während ich mir ausmalte, mit welcher Wonne ich den fidelen Nachbarn den Hals rumdrehen würde, schnarchten Kazuko und Kathy schon um die Wette und überließen es mir, das Gedudel der Hasch-Papis zu erdulden.

Alle Übel haben einmal ein Ende; nur der Regen, der in der Nacht mit großer Heftigkeit zugenommen hatte, flatscherte auch jetzt auf die nasse Zeltbahn. Im Innern des Stoffhauses, in dem wir drei uns eng zusammengedrängt gegenseitig warm hielten, war es direkt gemütlich, und der Blick nach draußen nahm uns fast die Lust zum Aufstehen. Nebel oder tiefhängende Wolken, wer weiß das in dieser Höhe schon so genau, hüllten alles in kalte Herbsttücher ein. Die Waldesstille wurde unterbrochen durch ein lustloses Stöhnen aus dem Nachbarzelt, aus dem ein bärtiger Mensch seinen Kopf herausstreckte und in bayrischem Laut nach Kreislaufmitteln anfragte. Damit konnte ich dienen und fragte ihn, ob er bei der Haschparty am Vorabend mitgemacht habe, aber wütend bleckte er die Zähne und machte eine unanständige Handbewegung in Richtung Plastikplane, unter der die Junkies trotz Kälte und Regens im Freien kreuz und quer durcheinander lagen und pennten. Mit seinem Gaskocher und unseren Coca-Blättern brauten wir uns einen steifen Mate, giftig grün und kotzbitter, und dazu mampften wir Kekse. Allmählich kamen auch die anderen Bewohner der beiden Nachbarzelte herzu, und nach dem Frühstück begann der unerfreuliche Teil des Campings. Bei weiterhin strömendem Regen klamme Schlafsäcke und plitschnasse Zelte, die vom Wasser doppelt so schwer waren, zusammenzurödeln, mit fauligem Laub und klebrigen Schnecken im Rucksack auf die Unterwäsche zu packen, mit steifen, nassdreckigen Pfoten feuchte Kordel aufzuwickeln, durch triefenden Farn und unter Zweigen hindurch, von denen bei jeder Berührung eine kalte Dusche herabkommt, zum Zähneputzen an den schäumenden Bach zu klettern, mit eisigem Wasser vorsichtig das Gesicht zu betupfen, während einem der Regen ins Genick träuft, mit lehmigen Schuhen und Hosen, die bis zum Knie und um das Gesäß herum nach Auswringen schreien, wieder zum Zeltplatz hochzustiefeln, wo die Gefährten wie modrige Vogelscheuchen im Herbstnebel herumstehen und Trübsal blasen, das sind die wahren Freuden des rechten Wandersmannes, die Gelüste eines jeden Müllers.

Kathy spürte instinktiv, dass das Wort "Umkehr", noch unausgesprochen, in der Luft lag angesichts des steilen, engen Pfades, der sich zwischen Büschen im Nebel verlor, mit der Aussicht, dass Nässe, Schmutz und Kälte noch zwei weitere Tage und Nächte bevorstanden und in dem Bewusstsein, dass heute zwei hohe Pässe zu bewältigen waren.

"Wenn jemand umkehren will, soll er es sagen. Dann gehe ich nämlich alleine weiter, und wenn es schneit und hagelt. Wozu bin ich bis hierher gekraxelt und habe das ganze Zeugs da geschleppt? Wir sind doch nicht aus Zucker. Also, entscheidet euch, aber ein bisschen flott!"

Wer könnte so einer charmanten Bitte wiederstehen?

150 m weiter; der steile, schmale Pfad ist zu Ende und mündet auf eine weite, nur leicht schräge, von Schafen kurz gemähte Wiese, auf der allenthalben muntere Bächlein gluckern und unter dicht belaubten Bäumen hier und da ein Zelt steht: Hier, und nicht da, wo wir uns hingeknäult hatten, ist der Zeltplatz von Huayllabamba! Ein Pärchen und ein Einzelwanderer aus England, die eine ruhige Nacht verbracht und weich gelegen haben und soeben gut gelaunt den Abmarsch vorbereiten. Caramba!

Der Pfad steigt über die weite Wiese nur noch mäßig an. Auch die Berge zur Rechten wie zur Linken sind nicht allzu hoch - der Pass Huarmi Huañusca kann eigentlich nicht mehr allzu weit sein. Vielleicht schon dort vorne hinter der Biegung? Hoffnungsfroh legen wir einen forschen Gang ein, und unsere Laune steigt schneller an als die Außentemperatur. Die dünne Luft bereitet uns, obwohl der Gewöhnungsprozess inzwischen weit fortgeschritten ist, weiterhin leichte Schwierigkeiten; alle, die bepackt in diese Höhe vorstoßen, geraten bald ins Jappen und Hecheln, sogar die harmlos wellig ansteigende Wiese bringt uns fast außer Puste. Glücklicherweise legt auch der Regen, ebenso wie wir, immer häufiger ein Päuslein ein, denn er hat offenkundig Schwierigkeiten, uns bis auf Passhöhe zu folgen; den Großteil der Regenwolken können wir nämlich mitlerweile von oben betrachten, wie sie uns zu Füßen zu Tal gleiten.

 

bachweg

Den Großteil der Regenwolken können wir
mittlerweile von oben betrachten

 

Die Biegung der Hoffnung, hinter der wir den Pass wähnten, war nur noch wenige Schritte entfernt. Endlich wird der Blick frei auf das, was hinter der Biegung liegt: --- ein Esel! Bepackt mit großen Leinensäcken, getrieben von einem barfuß daneben laufenden Indio, gefolgt von einer India mit Kind auf dem Rücken und Korb auf dem Kopf, kommt uns das erste Grautier seit 24 Stunden entgegen, einen langen, steilen Pfad herab, der sich für mindestens drei weitere Bergkilometer den steiler werdenden Hang hinaufwindet. Schlagartig sinkt unsere Zuversicht auf den Gefrierpunkt, und das Keuchen des hinter mir kraxelnden Engländers wird kurz durch einen brunnenbodengrundtiefen Seufzer unterbrochen. An der Ecke hocken auch die drei Münchner mit geröteten Gesichtern, Luft und neuen Mut schöpfend. Ka & Ka treffen auch ein, schon ahnend, dass der Pass noch nicht erreicht sei, da hier niemand Freudentänze vollführte.

"Habt ihr Zigaretten? Oder Bonbons?", fragt der Indio im Vorübergehen, aber wir sind nun mal kein Supermarkt.

Die nächsten drei Kilometer wurden das schlimmste Stück Weges. Im Schneckentempo, die Köpfe gesenkt, mechanisch Fuß vor Fuß setzend, auf fünf Minuten Lauf drei Minuten Pause folgen lassend, so kraucht die Gringo-Karawane ächzend den Berg hoch. Der Weg ist wieder so steil, dass man nur die Hacken des Vordermannes vor Augen hat, ansonsten nur den Boden, um in dem Geröll den Fuß richtig zu setzen, denn eine Verstauchung oder gar ein Knochenbruch wäre hier fatal. Auch das Ende der sichtbaren 3 km Wegstrecke war nur eine Zwischen-Etappe, die Biegung gab den Blick auf mindestens zwei weitere Kilometer Himmelsleiter frei, aber dort oben, wo der Weg zwischen den beiden Gipfeln rechts und links geradeaus in den Himmel zu führen scheint und kein weiterer Berg dahinter zu erblicken ist, dort muss doch, verdammt noch mal, der elende Pass liegen!

Nach einer längeren Pause werden die letzten Kräfte mobilisiert, indem wir den mutmaßlichen Endpunkt des langen Marsches anstarren, als könnten wir den Huarmi Huañusca dadurch beschwören und bannen, damit er nicht noch weiter vor uns wegliefe.

.....97, 98, 99, 800, 801, 02.... Schritt für Schritt wird der steinige Hang bezwungen, und wenn wir in unserem Schneckentempo auch von den Ameisen noch überholt werden, wir nähern uns doch unmerklich dem Ziel. Für die grandiose Landschaft hat keiner mehr einen Blick übrig. Die kurzen Pausen auf den nassen Steinen, deren Nässe längst niemanden mehr stört oder am Draufsetzen hindert, dienen einzig dazu, festzustellen, wie viel man wieder näher gekommen ist und wie lange es schätzungsweise noch dauern werde....

Aus der stillen Hoffnung wurde bald Gewissheit, als sich dort oben am Horizont die zuerst eingetroffenen Gringos winkend und juchzend vom grauen Himmel abheben. Eine kleine Ewigkeit später trafen auch wir nach und nach ein, ließen alle Säcke und Päcke von uns gleiten und warfen uns erhitzt ins nasskalte Gras, die wenigen Sonnenstrahlen auskostend, die zwischen den Wolkenfetzen hervordrangen. Jeder Neuankömmling wird von den zuerst eingetroffenen Wanderern aus England mit einem heißen Tee empfangen, den sie inzwischen für alle vorbereitet hatten. Es gibt doch noch wahre Gentlemen unter dem Ozonloch! Und was für Strapazen muss man auf sich nehmen, um sie zu finden!

Der Blick zurück vom Huarmi Huañusca, dem höchsten Punkt unseres Trails, ist atemberaubend, kaum glaublich, dass wir zu Fuß bis hierher gelangt sind, in weit über 4000 m Höhe tief in den Anden!  Zwei Kilometer weiter unten, im unsichtbaren Talgrund, gluckert der Urubamba vor sich hin, den wir gestern auf dem Rollbrett überquert hatten...

 

pass

Für die grandiose Landschaft
hat keiner mehr einen Blick übrig

 

Wasser..., Wasser..., Wasser.... Wenn man nur ein bisschen davon in die Wüste am Pazifik senden könnte! Bei jedem Schritt quappt und schmatzt es, denn das, was man hier als Inca-Pfad anzusehen hat, ist identisch mit dem Lauf eines quirligen Bächleins, das gleich unterhalb des Passes entsprungen ist. Noch besteht zwar keine Gefahr, Forellen totzutrampeln bei unserer Wasserwanderung, aber die rundgeschliffenen, glitschigen Steine, der schlickige Grund und glibberiges Moos erschweren den ohnehin schwierigen, halsbrecherisch steilen Abstieg. Nachdem wir auf dem Pass mit Tee und Backwerk aufgepeppt worden waren und vom kräftigen Höhenwind in kurzer Zeit auch Zelt und Schlafsäcke weitgehend trocken gepustet bekommen hatten, trafen endlich die Hippies ein, denen der Suff vom Vorabend noch mächtig in den Gliedern zu stecken schien; ausgemergelt, fahl und bleich kamen sie mit hohlen Wangen und tiefen Augen heraufgekrochen, und nur weil sie fast gepäcklos waren, hatten sie es vermutlich bis hierher geschafft. Kaum waren jedoch die Joints entflammt und die ersten Cannabis-Züge eingeatmet, ertönten aus rauen Kehlen auch schon die ersten internationalen Evergreens zum Klang verstimmter Gitarren; bei den Anfangstakten von Yellow submarine waren sie dann unter sich, denn alle anderen verließen fluchtartig die Bildfläche. 

Schnell umfing uns wieder der immer dichter werdende Wolkennebel, und weil sich der Abstieg fast ebenso lange hinzog wie zuvor der Aufstieg und bei jedem Schritt Ladung und Körpergewicht Wadenmuskeln und Kniescheiben einen harten Stoß versetzten, waren wir bei der Ankunft im Talgrund ebenso fix und foxi und reif für eine lange Rast wie oben auf dem Pass. Das klare Bächlein vom Berggipfel war zu einem schäumenden, lehmfarbenen Strudel angeschwollen, den wir auf kaum vertrauenerweckenden, halbmorschen Holzstrünken überquerten. Dank Gaskocher brachten wir im strömenden Regen ein Mittagessen mit Suppe und heißen Ravioli zuwege, zusammen mit den gestrigen Zeltnachbarn aus München.

Wer mit wasserdichtem Schuhwerk versehen war oder barfuß lief, war auf der anschließenden Strecke eindeutig im Vorteil. Morastig schwappende Sumpflandschaft sickerte und gluckerte uns zu Füßen, jeder Schritt hinterließ eine deutliche Spur, die sich sogleich mit Wasser füllte. Erst der Anstieg zum zweiten Pass Runcuracay führte auf festeren Grund, aber Sneakersträgern wie der Ka rieselte noch lange das Moor aus den Schuhen, durch das sie längst mit Fatalismus gestapft war, wenn ihr ein hartnäckig saugendes Schlammloch wieder einmal den schlammbraunen Schuh von den schlammbraunen Socken an den schlammbraunen Füßen ausgezogen hatte. Gleichmütig schüttete sie die Brühe aus und stiefelte schlammig weiter.

Die dichtgrüne Vegetation, der nunmehr stellenweise mit flachen Steinen gepflasterte Inca-Weg und die hervortretende Nachmittagssonne ließen die Szenerie gleich etwas freundlicher aussehen. Allerdings troff das schöne Grün vor Nässe und verhalf uns auch noch zu nassen Oberschenkeln. Dennoch stapften wir klaglos dem zweiten Pass entgegen, wissend, dass wir ihn noch vor Einbruch der Dunkelheit bewältigen mussten. Immer wieder täuschen vorbeiziehende Wolken Nebel vor, durch den die Sonne aber immer häufiger durchbricht und weit unter uns zur Linken einen klaren Bergsee silbrig aufblinken lässt. Die Stille der Anden-Bergwelt wird nur unterbrochen durch das Rauschen eines fernen Wasserfalles, durch den Schrei der Falken, der sich an der Felswand gegenüber bricht und als kaum wahrnehmbares Echo aus dem Talgrund zurückkehrt, wo man vereinzelte Alpacas weiden sieht, aber keinen Hirten in deren Nähe. Bruchstücke eines sehr fernen Flötenspiels weht uns der leichte Bergwind, mal lauter, mal leiser, zu. Andächtig hocken wir im Nieselnebel und lauschen.... Ja, hier ist Perú, so wie man es sich vorgestellt hat.

 

inkatrail

Der nunmehr stellenweise mit flachen Steinen
gepflasterte Inca-Weg

 

Das letzte Stück war wieder extrem steil und grenzte an Bergsteigerei; oben am Runcuracay angelangt, halten wir auf 3850 m Höhe eine letzte Rast und plaudern gut gelaunt mit den Münchnern, denn das Ziel, das zerfallene Inca-Gemäuer Rucu Raccay, an dem es sich gut zelten lässt, ist schräg unter uns deutlich zu erkennen. In der Dämmerung erreichen wir den Ort und suchen unter einem Dachrest unser Taschenhotel halbwegs regensicher aufzupflanzen; die optimistischen Münchner stellen ihre Faltwohnung mitten auf die Wiese ins Freie, denn das Wetter zeigt sich von der freundlichsten Seite. Beide Lösungen waren gleich schlecht: Das Gewitter und der damit verbundene wilde Wolkenbruch mitten in der Nacht setzte alle Zelte voll unter Wasser; wir konnten heilfroh sein, dass es uns nicht bis zum Amazonas zu Tal gespült hat. Wie Ka & Ka schliefen, obwohl Blitze zuckten und Donner rumpelten, dass die Anden bebten, ist mir ein Rätsel. Überdies stieg angesichts dieser Sintflut auch der Wasserpegel im Innern des Zeltes unaufhaltsam. Als das Donnerwetter kurz nach Mitternacht vorbei war, schälte ich mich aus der wassergefüllten Schlafkuhle, aus dem badewannengleichen Schlafsack und aus dem triefenden Zelt, da unter solchen Umständen an Schlaf nicht zu denken war. Gerade in diesem Moment trat ein strahlend klarer Vollmond hinter der letzten abziehenden Wolke hervor und beleuchtete eine frisch gewaschene, vollkommen wolken- und nebelfreie nächtliche Hochgebirgslandschaft, die einfach atemberaubend war. Matt schimmerte der frische Schnee von den spitzigen Gipfeln, die sich ringumher himmelhoch auftürmten und dazwischen den Blick auf weitere, noch fernere Schneegipfel freigaben. Über allem glänzt ein Sternenhimmel, wie ich ihn noch nie gesehen hatte, mit Myriaden von gestochen klar glitzernden Sternen, die fast zum Greifen nah scheinen. Der Platz, auf dem unsere Zelte mehr schwammen als standen, war fast taghell beleuchtet, und auf dem Weg, der zu dem nahen Bach führt, war jeder einzelne Stein deutlich zu erkennen. Das Wasser toste noch wilder als sonst, und gischtete, vom Wolkenbruch gut aufgefüllt, bis zu meinen Füßen. Erschauernd von der eisigen Kälte ziehe ich meine Hand sofort wieder zurück und verzichte darauf, auch die andere noch zu waschen. Auch unter meinen Pullover kriecht zügig die Kälte, so dass ich mich von Sternenhimmel und Andenpanorama losreiße und in den klatschnassen Schlafsack zurückkrieche, der freilich in diesem Zustand kein bisschen wärmt. Während ich versuche, ein Auge zuzudrücken, zaubert der Mond fantastische Schattenrisse auf die Zeltbahn: Bambusrohr und Schilfblätter, wie auf chinesischen Tuschegemälden...
Wenn Abendnebel den Talgrund verhüllen
und der klagende Ruf des Condors
die Stille der Berge durchzieht,
wenn von weither, getragen vom Windhauch,
der einsame Klang einer Flöte ertönt,
gedenk ich vergangener Zeiten
und meiner Freunde fern in der Heimat.

 

gemaeuer

Das Ziel, das Inca-Gemäuer Rucu Raccay,
ist schräg unter uns deutlich zu erkennen

 

Gibt es hier eine Mühle? Oder gar Störche? Was klappert denn so?

Es sind Kathys Zähne, die zwischen blauen Lippen ein Schlagzeug-Solo vollführen. Nichts wie raus aus dem dampfenden Wasserbett! Im Takt des Zähneklapperns bibbern wir in der eisigen Morgenluft wie gerupfte Hühner. Keiner hat die geringste Lust, die Arbeit des Zeltabbrechens, Schlafsackzusammenrollens und Klamotteneinpackens in Angriff zu nehmen. Besonders Kathy schaut arg lustlos und geknickt drein. Sie, die uns gestern morgen laut die Leviten las, sehnt sich hörbar nach einem warmen Hotelbett. Jetzt müssen wir sie wieder aufpeppen. Als Treibstoffreserve für den Notfall habe ich nämlich einen kleinen Flachmann mit Rum eingesteckt, und während die Flamme des Gaskochers faucht, braut sich ein steifer Morgentee zusammen, schwarz wie unsere Füße. Der wird vorsichtig in den Rum gegeben, und spürbar rinnt uns die Wärme durch die eisgekühlten Innereien und bringt Kathys Lebensgeister wieder auf Trab. Das Panorama ringsumher ist am Morgen nicht weniger imposant als in der Nacht, als die Sonne am wolkenlos blauen Himmel über den Rand der Schneezinken steigt, und da es ohnehin von hier aus kein Zurück mehr gibt, wringen wir unsere Lumpen aus, schnüren alles zusammen und verlassen zusammen mit den genauso nassen Münchner Mitläufern die Stätte des nächtlichen Grauens.

 

cordill

Das Panorama ist am Morgen
nicht weniger imposant als in der Nacht

 

Ein vergnüglicher, netter Weg, der leider bisweilen unter Wasser stand, führte uns durch üppige Vegetation, die eine grüne Wand um uns herum bildet. Wie in den Gewächshäusern von botanischen Gärten sieht es aus, Lianen schlingen sich um Bambusstecken, und hier und da blüht es prachtvoll exotisch. Wenn die Sonne durch den Bambusvorhang blinkt, wärmt sie uns gleich mächtig den Puckel, während sich der nasse Weg mit seinen Trittsteinen nur sachte nach oben windet. Außer den Münchnern, mit denen wir eine lockere Wandergemeinschaft gebildet haben, waren uns heute keine anderen Gringos mehr zu Gesicht gekommen, eine Wohltat! Die Hasch-Familie wissen wir weit hinter uns, wer weiß, ob sie im Gewitterwolkenbruch abgesoffen sind; fixer als die Haschis waren wir sicherlich. Wo die Briten mit ihrem Teeservice waren, weiß der Condor, vermutlich schon in Machu Picchu, bei dem Tempo, das sie nach dem ersten Pass vorgelegt hatten. Wir jedenfalls hatten unsere Ruhe und tippelten gemütlich über Stock und Stein, durch Felsspalten und an Steilhängen entlang, durch Dickicht und Gestrüpp, aber bei meist heiterem Wetter und einem fast ebenen Weg. Mitunter tauchten wir auf aus dem grünen Tunnel und labten uns an der makellosen Aussicht auf die Täler weit und Höhen, genossen die frische Luft und klares Trinkwasser, und schlenderten noch im Laufe des Vormittags beinahe gemütlich den dritten Pass Phuyupatamarca hinauf, der nur noch harmlose 3500 m aufweist. Hier ist der rechte Ort zum Trocknen unseres Unterwasser-Equipments, und damit sollten wir nicht zu lange warten, denn erste flockige Wölkchen schieben sich bereits aus den Tälern herauf, während wir uns noch in der warmen Sonne aalen und vollends auftauen lassen. Derweil liegt unser ganzer Trödelladen malerisch ausgebreitet auf dem Kordillerenpass, als wollten wir hier Markt halten. Ringsumher entdecken wir Walderdbeeren und Heidelbeeren und tanken mit Eifer die sauren Vitamine, besser als Effortil und Coramina glucosa.

trocknen

Hier ist der rechte Ort zum Trocknen 
unseres Unterwasser-Equipments

 

Hinter dem Pass ging es dann spürbar bergab, denn Machu Picchu liegt auf nur 2300 m Höhe; über immer grünere Matten und erquickende Auen stiegen wir den irdischen Jammertälern zu, dass uns die Waden knackten, und die Alm kippte allmählich zu einem Schräghang um, den selbst waghalsige Skifans nur misstrauisch beäugen würden, und gab den Blick frei auf den weit, weit unten im Tal wie ein kakaofarbenes Rinnsal sich einherschlängelnden Rio Urubamba - und auf den ersten Boten der nahen Zivilisation: Den großen Masten einer Überland-Hochspannungsleitung.

Bald eine dreiviertel Stunde war ich nun den schrägen Hang heruntergehampelt wie ein betrunkenes Karnickel und hatte als erster den Masten erreicht, unter dem sinnigerweise eine Bambushütte mit Schilfdach errichtet war, sogar mit einem Teppich aus frischem Heu versehen. Von diesem Rastplatz aus sah ich den Verrenkungen der Gefährten zu, die ebenso wie ich ihre Mühe hatten, nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten und samt ihrer Rückenlast koppheister bis zum Urubamba hinabzukullern. Da tauchten hinter den vier Kumpanen, die vorsichtig den Hang heruntergeturnt kamen, auf einmal drei weitere Gestalten auf, die sich mit mindestens doppelter Geschwindigkeit näherten. Auf den letzten Metern vor der Hütte überholten die nie zuvor erblickten Fremdlinge sogar unser Trüppchen.

"Hi, where d'ye come from? We're from the States...."

Die Yanquís waren einen Tag später gestartet als wir. Bei aller Bewunderung für die sportliche Leistung wollte ich doch nicht so durch die Landschaft rasen wie diese Amis. Wahrscheinlich hatten sie nächste Woche wieder geschäftliche Termine. Time is money. Schon rauschten sie wieder davon, nach zwei Bissen trockenen Brötchens, während wir schon wieder ein Mittagsmenü komponieren, ein Süppchen brauen, Gemüsekonserven entdeckeln und Knackwürstchen knacken lassen, eine typisch peruanische Anden-Mahlzeit?? Als wir dem Thunfisch-Salat zu Leibe rückten, verspürten wir den Luftzug einer weiteren, an uns vorüberstürmenden Marathon-Truppe, aus deren Mitte einer noch Zeit fand, uns im Vorbeiflug kund zu tun, dass sie für Australien am Start seien. Na gut, dann hastet mal schön weiter durch die Anden, chacun à son goût...!

 

talblick

Die Alm kippte allmählich zu einem Schräghang um und gab den Blick frei
auf den weit unten im Tal sich einherschlängelnden Rio Urubamba

Wir könnten heute noch bis Machu Picchu gelangen. Fünf Kilometer vorher bleiben wir aber für eine weitere Nacht. Wir stellen es uns einfach schöner vor, im Morgenlicht anzukommen als in der Abenddämmerung, und ziehen eine weitere Nacht im Zelt den Rüchlein und Geräuschen einer peruanischen Billigabsteige vor, mag es auch wieder rumpeln und schütten. Der letzte Ort, an dem es laut Wanderkarte Wasser und Wiese zum Zelten geben soll, heißt Huiñay Huayna, eine andere kariöse Anlage aus Tupac Amarus Zeiten. Dicht daneben finden wir aber auch Bauten aus jüngeren Epochen: Bauhütten und Betonfundamente, flankiert von Bulldozern, Raupen, Baggern und Kränen. Bierflaschen schwenkend kommt uns ein geschäftstüchtiger Bauarbeiter einladend grinsend entgegen.

"Cerveza, Inca-Cola....!"

Die Zivilisation hat uns wieder.

Was so ein rechter Münchner ist, der zögert da nicht lange.

"Jo mei, her mit dera Zervessa, i hob oan pfundign Durst!"

Den Arbeiter laden wir gleich mit ein, damit er es nicht so einsam hat beim Bewachen der abgelegenen Baustelle. Was hier im Entstehen begriffen ist? Na, das künftige Hotel de turistas Machu Picchu doch! Mit asphaltierter Verbindungsstraße, Shuttle-Bus-Service, Swimmingpool und Heliport. Prost!

Heute Abend bekamen wir zum ersten Mal ein Feuerchen in Gang, denn es hat den ganzen Tag nicht einen Tropfen geregnet. Während im Widerschein der untergehenden Sonne der Schnee auf den umliegenden Gipfeln erst rosa, dann purpur aufleuchtete, knisterte und sprühte ein munteres Flackerchen unter dem großen Topf, in dem der Inhalt sämtlicher verbliebener Dosen zu einem grandiosen Kordilleren-Eintopf zusammenblubberte. Lange hockten wir noch gut gelaunt und vollgefressen um die Glut herum und wärmten unsere Bäuche. Wieder beleuchtete der urplötzlich hinter einem Zinken hervorgetretene Mond ein anderes, eindrucksvolles Panorama. Bald verstummte das Gespräch, und andächtig genossen wir die letzte Gelegenheit, beim Schein des Feuers die Gedanken schweifen zu lassen, meditierend im Sternenhimmel zu versinken und dem Schmatzen der Schweine des Herrn des Bieres zuzuhören, die alle Romantik ignorierend unsere ungespülten Töpfe ausleckten.

Aus der Hosentasche kam ein zerknittertes, feuchtes, vergammeltes beschriebenes Stück Papier zum Vorschein. Ach du liebe Zeit, unser Zeitplan! Ein mitleidiges Lächeln begleitet das nutzlose Papier ins Feuer.

Wohlgemut trabt unser Trupp im Morgenlicht den schmalen Weg entlang, im Gänsemarsch; ein Bergrutsch, der auf ca. 200 m Länge den Weg unpassierbar macht und bungalowgroße Felswacker vor uns auftürmt, kann uns so kurz vor dem Ziel nicht mehr schrecken, auch da krabbeln wir noch drüber. Auf der anderen Seite empfängt uns schon wieder dichter Dschungel, Farn, Schlinggemüse, Bambusgras und riesige Bäume mit dichter Laubkrone. Es wurde stellenweise wieder morastig, denn in dieses Urwald-Dämmerlicht dringt kein trocknender Sonnenstrahl, und dann geht's eine lange Zeit immer an der Wand lang, die links von uns steil und senkrecht aufragt. Ein vorsichtiger Blick nach rechts unten wird gerade so von der dichten Vegetation aufgefangen --- wer weiß, wie tief er sonst hinuntergefallen wäre! Kazuko trabt unbekümmert vor mir her, denn sie hat es offensichtlich noch nicht gemerkt, dass die Stecken auf dem Boden, die laubbedeckt unsere Schritte tragen, nicht auf festem Grund, sondern über losem Abgrund liegen. Glücklicherweise täuscht die grüne Wildnis zur Rechten genügend Sicherheit vor; wäre es hier kahl, müsste man schwindelfrei und couragiert sein, um diese federnden Bambusstecken zu betreten.

Anderthalb Stunden unterwegs.... Es dürfte eigentlich nicht mehr weit sein, denn wir sind flott gelaufen. Da, sieh mal, der Weg mündet auf eine Steintreppe, die zwischen Moos, Farn und Lianen ins Dickicht führt. Haben wir's geschafft? Andächtig steigen wir die Treppe hinauf und sehen im Geiste Huayna Capac mit Gefolge hier hinaufwallen und oben den erlauchten Blick auf die Stadt Machu Picchu zu richten geruhen....

Erreicht das End' mit Müh' und Not, und schon ist alle Hoffnung tot: Oben an der Treppe geht der Weg einfach weiter. Ist ja unerhört!

Zehn Minuten später. Eine weitere moosbedeckte, geheimnisvolle Steintreppe im Urwalddämmerlicht, wohin wird sie führen? Wieder ein feierlicher Anstieg. Oben ein verwittertes Portal. Die letzten Schritte, und der Blick wird frei: Eingefasst vom Grün der Berge liegt wie ein schimmerndes Juwel die ersehnte Stadt der letzten Incas im Morgenlicht, weit unter uns, und trotz der Ferne wirkt diese letzte, nie eroberte Stätte einer versunkenen Kultur noch erhaben. Mögen Erdbeben und Dschungelfraß die verlassene Stadt auch zerstört haben, so zeugen doch selbst die Ruinen inmitten der Bergstille noch von der einstigen Anmut.

mpicchu

Eingefasst vom Grün der Berge liegt wie ein schimmerndes Juwel
die Stadt der letzten Incas im Morgenlicht

Gebannt vergessen wir sogar, die Rucksäcke abzusetzen, und erst, als sich der Zauber, dem wir erlegen waren, allmählich auflöst, kehrt die prosaische Welt der schmerzenden Waden und heißgelaufenen Füße in unser Bewusstsein zurück. Die letzte Strecke bis zum Ziel fällt uns leicht, nasse Schuhe hin, dreckige Jeans her, und auch Kazuko, die sonst oft weit hinter den anderen hergetapst war, hüpft beschwingt mit wippendem Rucksack flott zu Tal.

Noch ist Machu Picchu fast frei von Touristen, noch ist es erst kurz vor 9, als wir ankommen und einen letzten Blick von oben auf die gesamte Anlage werfen, bevor wir die schattenreichen Gemäuer betreten.

"Tickets please!" Ein Sombrero löst sich aus einer schattigen Ecke und streckt uns die braune Pfote entgegen. Wo sollen wir denn Tickets herhaben? Der müsste doch gesehen haben, dass wir vom Berg herabgestiegen kamen.

"Der Eintritt von der Bergseite her ist illegal. Begeben Sie sich sofort zur Boletería und besorgen Sie sich ordnungsgemäße Eintrittskarten! Dort haben Sie auch Ihr Gepäck abzugeben. Rucksack-Abstellen und Campieren ist hier verboten!"

Fast wie in Deutschland, die lieben Zeitgenossen.

Provisorisch gewaschen und unseres Gepäckes ledig stapfen wir in der heißen Mittagssonne durch die ollen Gemäuer und bewundern gebührend den satten Rasen, die zahlreichen Eidechsen und die prachtvollen wilden Orchideen. Machu Picchu selbst, mittlerweile von Gringo-Horden bevölkert, deren Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch, Bayrisch und Japanisch von den mächtigen Inca-Mauern widerhallt, hat seine Reize verschlossen wie eine Muschel. Am frühen Morgen haben wir das wahre Machu Picchu erlebt, wie es gerade aufgewacht war und sich unbeobachtet glaubte. Jetzt aber streckt es dir aus der wunderschönen trapezförmigen Fensteröffnung des Sonnentempels höhnisch einen feisten kalifornischen Damenhintern entgegen, und oben, wo einst die Priester in feierlicher Zeremonie der hehren Gottheit Inti ihre Opfer darbrachten, nestelt ein glatzköpfiger Niederländer mit Sonnenbrand seine Kamera vom schwabbeligen Bauch, um die weißhaarige Gattin, die mit ihrer riesigen Sonnenbrille im bleichen Gesicht wie ein exotisches Insekt aussieht, für spätere Generationen zu verewigen. Nahe der Brüstung über der Hauptstraße, wo einstmals aufgeregte junge Mädchen mit klopfendem Herzen auf den Augenblick warteten, da der Inca in seinen goldglänzenden Festgewändern in feierlicher Prozession auf dem Weg zum Tempel hier vorbeiziehen würde, lagern sechs bärtige, langhaarige Deutsche in schwarzer Lederkluft und lassen unter lautem Gelächter Bierflaschen kreisen.

Ich weiß, Machu Picchu, es hat wenig Zweck, länger hier zu bleiben. Du hast mir ein Zeichen gegeben, wie ich dir deine Geheimnisse entlocken kann, und dass du bereit bist, jemandem, der dir zuhören will, manches zu erzählen. Ich werde wiederkommen, aus den Bergen, in mondheller Nacht....!

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