perustrip

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Von NAZCA nach AREQUIPA

 

Das dritte nach Colectivo und Bus in Perú getestete Transportmittel ist der LKW. Testurteil: Sehr gut bis sehr schlecht, je nach Fahrer. Wir trafen einen von der guteren Sorte, und das ist ein Glücksfall, wenn man inmitten von imposantem Geröll hockt und der Zipfel Asphaltschnur die einzige Nabelschnur ist, die uns mit der Menschheit und dem dringend benötigten Frühstück verbindet.

"Aha, aus Alemania kommt ihr. Hm, Beckenbauer ist fabelhaft. Jeder kennt ihn in Perú, und den Gerd Mudschar auch. Aber Perú hat auch gut gespielt bei der Weltmeisterschaft. Habt ihr gesehen, wie wir die Schotten vom Platz gefegt haben?"

Ein Anfang für lange Gespräche ist gefunden. Beckenbauer... Also, vergiss nicht, die geschilderten Geschehnisse spielten sich im Jahre 1980 ab, als man zum Telefonieren noch so klobige schwarze, mit tausend Schnüren verkabelte Kästen mit einer Drehscheibe statt Display vorne dran verwenden musste. Irgendwann dämmerte mir auch, dass mit Gerd Mudschar offenbar Gerd Müller gemeint war. Wer kann das einem peruanischen Fernfahrer schon übel nehmen? Ich möchte gar nicht erst wissen, wie ein Trucker aus dem Ruhrgebiet spanische Namen zerfleischen würde....

In Nazca gibt's ein prima Frühstück mit Waschgelegenheit, und dann folgt ein ganzer Tag mit unserem LKW-Piloten. Was man so alles unterwegs erledigen kann, wenn man mit dem LKW durch Perú rumpelt, zeigt uns der Camionista ausführlich. Zunächst einmal wird das karge Einkommen durch den Verkauf eines Teils der Ladung (Bauholz) auf private Rechnung aufgebessert. Das erfordert viel Sorgfalt beim Abzählen der Hölzer und der Geldscheine und bringt uns einen zweistündigen Zwischenaufenthalt ein, bessert aber die Laune des Chauffeurs spürbar auf. Nun geht's über die Regierung her.

"Haha, so ein Staatspräsident, der hat gut lachen. Der zieht sich die Uniform an, und schon stehen sie alle stramm vor ihm. Besucht er sein Volk, dann guckt er sich das Land gut an, hihi, aber von oben, vom Hubschrauber aus, wo die Felder ordentlich aussehen und die Mehlwürmer und der Grind der Kinder nicht zu sehen sind. Dann fährt er in der Stadt vor, die Blaskapelle empfängt ihn, täterätätä, die Lakaien machen einen tiefen Diener, die Schulmädchen im Sonntagskleid winken mit Fähnchen und Plastikblümchen, und dann geht der Präsident wieder in seinen Palast, isst gut zu Mittag und sagt sich, ha, das Land ist doch in Ordnung, picobello, den Leuten geht's gut, ich bin beliebt, na, also! Der sollte mal ein Bus-Ticket kaufen, mal gucken, wie die Leute im Dreck hocken, die vertrockneten Plantagen von nahe sehen! Hier vorn...", eine weite Handbewegung, "...hier waren vor zehn Jahren noch Felder. Ja, da staunst du, was? Sieht man nichts mehr davon. Da haben die Militärs eine Landreform durchgeführt, wovon sie selber nichts verstanden, und da haben sich die Leute gesagt, wenn ich mein Land weggenommen und zerstückelt kriege, dann mach ich keinen Handschlag mehr dran. Und bums, aus war der Traum. Zwei Jahre später war's wieder Wüste, und bis da wieder was wächst, hab ich schlohweiße Haare!"

lehmdorf

Ab und zu ein Fischerdorf, dessen Lehmhütten an Farbe
völlig dem Boden gleichen

Also sprach Señor Martínez. Derweil zockelten wir durch bizarre Gegenden, die Wüste präsentierte sich in ihrer ganzen Vielfalt: Sanddünen, Felsformationen, Oasen, Cañóns, Strecken, in denen die Asphaltdecke der Panamericana vom Treibsand verschlungen war, Strecken, die sich Schluchten hinab- und hinaufwinden; dann wieder so dicht am endlosen, menschenleeren Meeresufer entlang, dass der Gischt der Brandung die Scheiben benetzte und der Dunst des wild bewegten, eisig kalten Meeres einen kühlenden Nebel bildet. Ab und zu ein Fischerdorf, dessen Lehm- und Schilfhütten den allererbärmlichsten Eindruck machen und an Farbe völlig dem Boden gleichen, so dass man das Dorf aus der Ferne für eine groteske Felsformation ansieht. Die eine der beiden weiß getünchten Hütten verfügt über ein Vordach und trägt stolz den wackelig aufgemalten Schriftzug "Restaurant Buenos Aires", und just diesen Schuppen steuert unser Käptn zur Mittagszeit an. Mit der drallen Chefin verbindet ihn offensichtlich eine enge Freundschaft, er war sicher nicht zum ersten Mal hier. Allerdings sah ihm keines der vielen Kinder besonders ähnlich; es gibt ja noch mehr Fernfahrer. Das Essen war übrigens ein Gedicht. Ein Riesenfisch, in gutem Öl gebacken, frisch wie das 12jährige Mädchen, das ihn servierte, fein gewürzt mit einer peruanischen Geheimmischung, die uns noch öfter begegnete, und dazu ein Berg Reis mit Zwiebeln und einer Süßkartoffel. Im Angebot waren auch Reis mit Mariscos, gebackene Meeresschnecken, Camarones (Garnelen) und vieles mehr, und zu einem Preis, für den man in der Pfalz noch nicht mal ein Glas Landwein bekommt.

 

rest buenosaires

Die weiß getünchte Hütte mit dem Vordach trägt stolz 
den wackelig aufgemalten Schriftzug "Restaurant Buenos Aires"

  

Das Reisen per LKW ist in Perú weit verbreitet. Fast alle Camionistas nehmen für einen geringen Betrag Mitreisende mit, um ihre Kasse aufzubessern, und so lange auf der Ladefläche Platz ist, sind der Anzahl der Mitreisenden keine Grenzen gesetzt. So bekomme ich an der nächsten Tankstelle auf meinem sonnigen Sitz auf der Holzladung Gesellschaft, denn ich hatte mich der frischen Luft und der schönen Aussicht wegen aufs Deck gesetzt. Drei Generationen Peruanerinnen, Mutter, Tochter und Enkelkind, steigen noch zu, und meinen Platz im Fahrerhaus nimmt eine weitere junge Frau ein. Die Begeisterung der Frauen, mal einen Gringo aus nächster Nähe betrachten zu können, führt zu nicht enden wollender, lebhafter Konversation, und auch dem Wissensdurst der Damen ist nichts heilig:

"Ist das Mädchen da vorn im Fahrerhäusel deine Frau? Warum hast du keine Peruanerin geheiratet? Gefallen sie dir nicht?"

Doch, doch, vielleicht bei der nächsten Gelegenheit...

indias

"Warum hast du keine Peruanerin geheiratet?"

An einer Stelle, wo sich die Straße wie ein Dickdarm grundlos zu einem breiteren Platz erweitert, rollt der Laster aus und bleibt stehen. Hier ist allerdings kein Restaurant oder dergleichen zu sehen; gar nichts gibt's weit und breit.

"Willst du nicht mal 10 Minuten mit deiner Frau spazieren gehen?"

Der Señor hat wohl 'nen Sonnenstich. Wozu sollte ich am heißen frühen Nachmittag in der Wüste herumlatschen? Der Mensch sieht mir die Verständnislosigkeit an und wird deutlicher.

"Ich will mal ein paar Minuten lang mit der jungen Mitfahrerin alleine sein. Du kannst so lange mit deiner Frau einen Spaziergang machen."

In die Wüste schicken lassen wir uns nicht; seinen Spaß soll er meinetwegen haben, aber ich trenne mich nicht von meinem Gepäck auf der Ladefläche, das kommt mir nicht in die Tüte. Noch dröhnen mir die Ohren von den Erzählungen über geklaute Trekker-Ausrüstung. So hocken wir also alle auf den Bauholzbalken und wiegen uns in dem Seegang, der in rhythmischen Stößen vom Fahrerhaus ausgeht, derweil die Peruanerinnen ein verlegen-schalkhaftes Grinsen aufsetzen. In kaum drei Minuten ist alles vorüber; sogleich wird der Motor angelassen und weiter donnern wir nach Süden, durch die immer bergiger, enger und wilder werdende Einöde.

Camaná. Es ist schon halb sieben, als wir dort ankommen, also stockfinster, denn hier ist es von 6 bis 6 hell, man kann die Uhr danach stellen. Ein typisches Oasenstädtchen; ringsum Sandwüste, aber hier, wo ein schmales Rinnsal das ganze Jahr über Feuchtigkeit bringt, explodiert geradezu die Vegetation. Alles grün, weite Felder und Haine, Vieh und Schilf, und ein geschäftiges Abendtreiben wie in allen peruanischen Städtchen. Der Abendmarkt ist voll im Gange, an allen Ecken sind Verkaufs- und Fressalienstände, die gesamte Einwohnerschaft scheint auf den Beinen zu sein und sich in der Abendkühle zu ergehen. Es wuselt und wimmelt nicht nur von Fußgängern, sondern auch von Haustieren, Radfahrern und Mopedpiloten; Taxis und LKWs schieben sich hupend durch die Menge, Busse von Anno Tubak blasen Dieselwolken auf das Spanferkel, das an der Ecke von Faltern und Käufern umschwärmt wird, und wie in jedem größeren Ort hat unser Driver auch hier ein Geschäftchen zu erledigen und verlässt uns und unseren LKW "für zehn Minuten".

Was gab's nicht alles zu tun unterwegs! Die anderen Mitfahrerinnen waren kaum ausgestiegen, da fuhr er wieder an einem Landstraßen-Restaurant vor, um was zu trinken. Bald saß er der robusten Wirtin auf dem Schoß und erklärte vielsagend "meine Verlobte". Die hatte freilich heute schon von mehreren Verehrern Besuch gehabt und war nicht zum Scherzen aufgelegt, weshalb wir keine 30 km weiter die Bekanntschaft einer weiteren seiner zahlreichen Verlobten machen durften. Auch diese Dame hatte zwar Haare auf den Zähnen und mindestens zehn Kinder, aber keinen Ehegatten, und nun versuchte Señor Martínez vermutlich in Camaná sein Glück bei einer anderen Braut.

Nicht alle Stopps unterwegs waren freilich Damenbesuche. Hier fuhr er bei einem Bekannten vor, um frische Oliven und Pacayes (eine Hülsenfrucht) zu kaufen, dort wohnte ein Alter, der mit Groschenromanen handelte und ausgelesene Bändchen für eine geringe Gebühr gegen nicht minder zerlesene andere Exemplare umtauschte. In der einen Ortschaft waren die Feigen besonders frisch und billig, in der anderen gab es ein Geschäft für die Rückfahrt abzusprechen. Trotz allem waren wir glücklich bis nach Camaná gelangt, und bis unser Chauffeur wieder auftauchte, waren keine zehn Minuten, sondern anderthalb Stunden verflossen. Vielleicht hatte es ja Zoff mit seiner hiesigen Liebsten gegeben.

 

duene

Hinter uns ist der Blick begrenzt von einer mächtigen Düne

 

Aus dem Innern des Zeltes sieht man nur das Panorama der ständig bewegten Brandung, die vergeblich versucht, bis zu uns herauf zu gelangen. Brüllend vor Wut, dass er uns nicht verschlingen kann, wirft der Ozean unermüdlich gischtende Wogen auf den Strand, die dann aber ohnmächtig zerrinnen und im Sand versickern. Nach beiden Seiten nichts als menschenleerer Sandstrand, so weit das Auge reicht, nur am nördlichen Horizont zeigt ein dunkler Streifen an, wo die Vegetation von Camaná beginnt. Hinter uns ist der Blick begrenzt von einer mächtigen Düne, die sich etwa 500 m vom Meerufer entfernt himmelhoch auftürmt. Davor, klein wie ein Puppenhäuschen, duckt sich ein längliches, flaches Gebäude, eines der vielen Landstraßenrestaurants an der Panamericana, die dort vorüberführt. Gestern Abend haben wir dort gegessen, und während unser Camionista in der Nacht seine Fahrt fortsetzte, waren wir durch die Finsternis zum Strand getapst, um ein letztes Mal vor dem Eintritt in die Bergwelt der Anden das Meer hautnah zu genießen.

Eigentlich wollten wir heute früh weiterfahren, um unseren Zeitplan einzuhalten, aber hier draußen auf freier Strecke war kein Vehikel zum Anhalten zu bewegen. Außerdem ist heute Sonntag, da kommt oft eine gute Viertelstunde lang überhaupt kein Fahrzeug vorüber. Weit und breit kein Baum, kein Schatten, nur knallige Mittagssonne, da war es uns angenehmer, am Strand den Krabben zuzuschauen, die wie große Spinnen zu Zigtausenden auf dem Sand herumflitzen und bei jeder unserer Bewegungen wie der Blitz in etwa fingerdicken Löchern verschwinden; nach einer Weile lugen sie dann vorsichtig wieder hervor, und wenn die Luft rein ist, hoppen sie heraus und sausen weiter auf dem Sand umher.

Das Wasser ist eisig. Der Humboldt-Strom kommt aus antarktischen Regionen und ist hier noch nicht sonderlich aufgewärmt, trotz der subtropischen Spätsommerhitze in diesen Breiten. Man hat die wenig erquickliche Wahl, entweder in der Sonnenglut zu verbrennen oder im Eiswasser zu erfrieren; wir wechseln die Alternativen ab. Weil es dem Meer auch jetzt nicht gelingen will, uns zu verschlingen, rächt es sich auf andere Weise: Meine Brille, ein unentbehrliches Utensil fürs Krabben-Foppen, hatte ich vergesslicherweise aufgelassen, als ich mich wieder einmal in die Brandung stürzte, und sogleich warf sich mit höhnischem Getöse eine schäumende Woge auf mich und entführte mir mein Sehgerät von der sonnenbrandigen Nase. Sollte also irgend jemand von euch, verehrte Leser, am Strand südlich von Camaná eine rostige, von der Flut ans Ufer gespülte, seetangbewachsene Herrenbrille aus dem späten 20. Jahrhundert finden, so möge er meiner gedenken....

Der Spaziergang am Strand entlang auf der Suche nach Schatten führte uns zu einer Reihe von Hütten aus Schilf und Bambusrohr, die wohl als Umkleidekabinen für Strandgäste in milderen Jahreszeiten gedacht waren, nun aber vollkommen leer standen. Dies war der richtige Ort für eine lange Siesta. Leider bemerkten wir zu spät, dass diese Hütten noch andere, kleinere Bewohner beherbergten. Ein einzelner Floh, den ich am späten Nachmittag in unserem Stoff-Appartement hüpfen sah, erregte noch keinen Verdacht, doch als kurz darauf der zweite und dritte gesichtet wurden, schrillten die Alarmglocken. Gut, dass es draußen, kurz vor Sonnenuntergang, noch sehr warm war, trotz der steifen Brise, die vom Eismeer her aufs Land zu wehte. All unser Krempel wurde malerisch im Zeltinnern ausgebreitet und dann, hussa, eine kräftige Ladung chemischer Keule hinein, und während wir hüllenlos ein letztes Bad nahmen, seufzten die Flöhe im Innern, schnappten nach Luft und fielen tot um. Requiescant in pace.

 

himmelhoch

Am Ende der Ebene türmt sich eine neue Bergkette auf

 

Der Ozean ist fern wie ein Traum. War das denn wirklich Wüste, jener sandige Streifen am Rande des Pazifiks, oft durchbrochen von grünen Oasen? Nein, die wirkliche Wüste hat jetzt erst begonnen. Mit dem Eintritt in die hügelige Ödnis, die uns stets zur Linken begleitete, mit dem Aufstieg in windungsreiche Berge, Vorläufer der Westkordillere, verliert das Meer, das man in der Ferne noch erahnen kann, seinen lebensspendenden Einfluss. Kein noch so ärmliches Fischernest mehr, keine noch so mickrige Palme, noch nicht mal ein Kaktus --- nichts. Über dem glühenden Asphalt flimmert die Luft, die Meeresbrise reicht nicht bis hierher. Keine Spur von Leben, so weit das Auge reicht, nur Sand, Geröll und Fels ringsumher. Etwa alle zehn Minuten kommt unserem Colectivo ein anderes Fahrzeug entgegen, meist Lastwagen, und ein Gefühl der Erleichterung befällt uns: Wir sind doch nicht allein auf der Welt. Hinter der ersten, bald überwundenen Bergkette tut sich eine weite Ebene auf; unser Chevrolet saust auf schnurgerader Strecke pfeilschnell dahin, um den Insassen im Fahrtwind ein wenig Kühlung zu verschaffen. Alles döst vor sich hin, außer uns Fremden und dem Fahrer; wir nämlich malen uns aus, wie lange wir im Falle eines Motorschadens auf dieser schattenlosen Bratpfanne wohl schmoren müssten.... Am Ende der Ebene türmt sich eine neue Bergkette auf, der eine weitere Hochebene und eine weitere Bergkette folgt, grandiose Schutzmauer für die Völker des Hochlandes! Nun begreift man, wie groß die Macht des Goldes ist, wie groß die Gier der Conquistadores gewesen sein muss, um durch diese Todeszone zum Hochland zu reiten!

 

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Mitten durch die dritte Hochebene zieht sich ein Cañón

 

Mitten durch die dritte Hochebene zieht sich ein breiter Spalt, ein Cañón, aus dessen Grund endlich, endlich Grün heraufleuchtet. Welch eine Augenweide! Felder, Weiden, Menschen, Tiere, Wasser: Das Tal des Rio Síhuas. Wir sind so ausgedörrt, dass uns die Orangen, die eine dicke India teuer feilbot, köstlicher mundeten als alle je zuvor verspeisten.

Eine weitere Bergkette, eine weitere gute Stunde Fahrt, und allmählich wird es durch die erreichte Höhe und sinkende Sonne erträglicher; auch wird allenthalben stachliges Gestrüpp sichtbar, die Wüste wird weniger wüst. Hinter einer Biegung tut sich ein unerwartetes Panorama auf: Die schneebedeckten Gipfel der Anden, wolkenhoch über uns! Und wir glaubten, schon beinahe oben zu sein nach all den bisher bewältigten Bergketten, die vor diesem Anblick freilich zu Hügelchen schrumpfen.

In einem fruchtbaren Talkessel, am Rio Chili, liegt unser Ziel Arequipa, die drittgrößte Stadt Perús. In nur zweieinhalb Stunden Fahrt von der Höhe des Meeresspiegels sind wir nun auf 2200 m gelangt, wo das Klima schon wesentlich angenehmer ist. Arequipa liegt nicht so hoch, dass man die dünnere Luft spüren könnte, aber hoch genug, um der Wüstenhitze zu entgehen. Hier ist das Tor zum Indioland, zur Sierra, die als eindrucksvolles Panorama die ganze Stadt beherrscht: Im Nordosten die Kette des Chachani (6096 m), im Osten der perfekte Kegel des Vulkans El Misti (5843 m), und im Südosten die Zacken des Pichu-Pichu (5669 m), alle mit schneebedeckten Kuppen. Arequipa macht einen sehr freundlichen Eindruck, ein ansprechendes, gepflegtes Stadtbild, alles etwas heller, sauberer, moderner, attraktiver als Lima, ein Ort, an dem man es gut ein paar Tage lang aushalten kann.

 

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Am Rio Chili liegt unser Ziel Arequipa

 

Wie in allen Orten wird es auch in Arequipa mit Einbruch der Dunkelheit so richtig lebendig. Die Geschäfte haben natürlich alle auf, viele Bars und Restaurants erfüllen die Straßen mit köstlichem Duft. Wie könnte man da Zurückhaltung üben? Es ist zwar ratsam für den Fremden, sich vor Atahualpas Rache, dem gefürchteten "Inca quickstep", in Acht zu nehmen, aber wer bringt es tatsächlich fertig, sich aus Konserven und mit abgekochtem Wasser zu ernähren? Welch eine Sünde wäre es, in diesem Land, wo an allen Ecken und Enden gebrutzelt und gekocht, gesotten und gebacken wird, steriles Einerlei in sich zu stopfen! Und wenn ich die Ruhr kriege, in dieses kleine Lokal, an dessen Eingang ein großes Schild mit Sopa de pescado (eine gut gewürzte Gemüsebrühe, in der ein kompletter, dicker, gekochter Butt schwimmt), Ocopa (Zwiebelkartoffeln mit Curry-Sauce), Palta rellena (gefüllte Avocados) und Anticuchos de corazón (Schweineherz-Spießchen) lockt, müssen wir rein! Und was für eine Mahlzeit aus lokalen Spezialitäten bekamen wir da aufgetischt, so recht geeignet, um auf der Stelle Stammkunde zu werden!

Zur Besichtigung der Stadt gehörte für mich auch der Besuch eines Optikerladens und eines Augenarztes. In dessen Wartezimmer habe ich Zeit und Muße, die vielen Eindrücke zu sortieren und über das bisher kennen gelernte Perú zu sinnieren, denn bisher ist dieses Land noch gar nicht das, was man sich unter "Perú" gemeinhin vorzustellen pflegt. Sicher, es ist ein fernes, fremdes Land, ganz anders als Europa, aber die Menschen sind meist weder echte Indios noch echte Nachfahren von Iberern; die Regel ist ein Mischtypus, dunkelhäutig, schwarzäugig und -haarig. Es wird wenig vom Innenleben nach außen hin gezeigt; Peruaner wirken eher still, ernst und ein bisschen melancholisch. Sie sprechen wesentlich langsamer als Spanier, bewegen sich aber auch langsamer; das ganze Leben spielt sich beinahe wie in Zeitlupe ab. Man hat Zeit, ist unpünktlich, weiß allerdings auch genau, wo man sich den Trott leisten kann und wo es schief gehen könnte. In bestimmten Situationen können Peruaner durchaus sehr flink sein, etwa im direkten Dienstleistungsbereich, wo der Schnellere den größeren Verdienst hat, beim Schuheputzen, im Chaussee-Restaurant, auf dem Markt und als Taschendieb.... Wo der Verdienst hingegen unabhängig von der Leistung gesichert ist, in Büros, Banken oder Ämtern, geht es in ostblockartigem Schneckentempo voran, egal wie lange die Schlange der wartenden Kundschaft ist. Ausländern gegenüber sind Peruaner freundlich und hilfsbereit, wenngleich man sich scheut, die Gringos anzusprechen, vielleicht weil man annimmt, dass der Fremde Nordamerikaner ist und kein Spanisch versteht. Nur die Kinder kennen keine Zurückhaltung; ihr "Mister, Mister!" verfolgt die Gringos, wo immer sie gehen und stehen, aber die Buben meinen das eher als eine Art von Gruß denn als Wunsch nach Konversation. Junge Mädchen, die sich ein Herz fassen und dem fremden Jüngling ein "¡Gringo!" zuhauchen, benutzen dieses Wort durchaus nicht als geringschätziges Schimpfwort, sondern mehr als Synonym für "Fremder", oft mit Sympathie.

 

schuechtern

Nur die Kinder kennen
keine Zurückhaltung

Es erstaunt vielleicht, wie häufig man selbst zu fortgeschrittener Nachtzeit in den dunkelsten Gassen der Städte Mädchen und Frauen ohne Begleitung begegnen kann. Einerseits haben Frauen ein starkes lateinisches Selbstbewusstsein, und andrerseits leiden südamerikanische Machos kaum unter sexueller Frustration. Das Sittenleben in Perú ist sehr freizügig; die Indios pflegen eh seit Urzeiten, ob christlich oder nicht, ohne Trauschein miteinander zusammenzuleben. Junge Frauen, die ihre Kleinkinder mit auf den Markt, auf die Busreise oder auf die Ämter nehmen müssen, haben keine Scheu, zu jeder Zeit und an jedem Ort dem Kind die Brust zu geben. Kinder und Männer pinkeln ungeniert auf offener Straße, hinter dem Bus oder aus dem fahrenden Zug, und die Frauen hocken sich irgendwo mitten in die Landschaft und verrichten ihr Geschäft im Schutz der weiten Röcke.
Gelüstet es einen Mann auf ein Mädchen, bekommt er die gewünschte Dienstleistung für 500 Soles (1,20 Euro) geboten, und dennoch sind solche Mädchen, von denen jeder weiß, dass sie käuflich sind oder damit ihren Lebensunterhalt bestreiten, nicht weniger angesehen als andere Frauen. Da die Prostitution nicht verboten ist, wird sie auch nicht in finstere Stadtviertel abgedrängt und kriminalisiert, und die Mädchen werden daher auch nicht von Zuhältern ausgebeutet und drangsaliert, sondern arbeiten nach eigener Lust und Laune, voll in die Gesellschaft integriert. Und Aids, das war 1980 noch unbekannt.

 

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Hölle, Fegefeuer und Paradies ---
all dies zugleich ist Santa Catalina

 

Hölle, Fegefeuer und Paradies --- all dies zugleich ist Santa Catalina. Wer in diese weitläufige Klosteranlage eintritt, schreitet durch das Tor direkt ins Inferno. Alles ist rostrot angemalt, einfaches Gemäuer aus schmucklosen Steinquadern, fensterlose Zellen für die Novizinnen und das Dienstpersonal, das einstmals in diesem Nonnenkloster von der Größe einer Kleinstadt hauste. Dass es sich freilich auch im Inferno gut leben lässt, davon zeugt die riesige Küche in diesem Teil des bedeutenden Klosters von Perú im Herzen von Arequipa, von der lauten, sündigen Umwelt natürlich abgeschirmt durch eine dicke Mauer. So bietet sich Santa Catalina selbst von seiner höllischsten Seite dar wie ein kleines Paradies im Chaos und Lärm der Stadt. Saubere Wege, vorbei an Blumenbeeten und riesigen Poinsettsia-Bäumen (Weihnachtsstern), führen zum Purgatorio, wo alles hellblau getüncht ist, ein Vorgeschmack auf den Weg ins Paradies. Auf dem grünen Rasen zwischen himmelblauen Arkaden durften sich die jüngeren Nonnen mangels anderer Freuden am Springbrünnlein in der Mitte des Hofes laben. In unserer heutigen Zeit, da die Mädchen andere Dinge als klösterliche Kasteiung im Kopf haben, lieber in der Disco herumhopsen als auf Knien die Zelle der Oberin schrubben und der Liebe Jesu diejenige ihres Fernando oder Alfredo vorziehen, konnte man die wenigen fossilen frommen Nonnen ohne weiteres in einen fernen Winkel verbannen und den Rest für zahlende Besucher zur Besichtigung freigeben. So gelangen selbst wir arme Sünder in den Genuss des Eintritts zum Paradies, den lieblichsten, weißgepinselten und mit Geranien und Rosengärten gezierten Teil des Klosters, bevor wir wieder in den profanen, weltlichen Alltag eintauchen.

 
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