≪≪≪≪≪≪ M A D A G A S I K A R A ≫≫≫≫≫≫
August 1992
5
Viel merkt ein Tourist nicht davon, dass Madagaskar politisch am Brodeln ist. Am Tag vor unserer Ankunft ein gescheiterter Putschversuch, in Toliara eine Kundgebung, und hier und da ein paar Militärs oder Polizen, Militessen oder Politärs, aber keineswegs mehr als in anderen Ländern auch. Und bedrohlich wirken die Uniformierten auch nicht, solange sie nicht in Rudeln daherkommen. In Toamasina hielten rebellische Studenten den lokalen Radiosender besetzt, was die Gendarmen indessen nicht sonderlich kümmerte; auch die Bevölkerung fasste es offenbar mehr als eine Art Volksfest auf und tanzte zu wilden Rhythmen, die einem Kofferradio entquollen. Über die Hauptstraße spannte sich ein Spruchband mit der sinnreichen Drohung "Grève générale des chômeurs" (Generalstreik der Arbeitslosen), und es steht nur zu hoffen, dass dieser Streik nicht der maroden Wirtschaft des Inselstaates den Todesstoß versetzen möge. Nicht auszudenken, wenn sogar die Arbeitslosen streiken !
Die Arbeitslosen in Toamasina drohen mit Generalstreik!!
Ansonsten
geht alles
seinen gewohnten Gang, und der sieht etwa so aus: Du gehst auf
der Suche nach dem AIR MAD-Büro durch den Industriehafen, da
kommt ein Mensch dahergespurtet, macht ein Täschel auf und
fingert ein Beutelchen raus: "Vanille, Vanille, wullewu
Vanille kaufen?"
Ich
wäre dem Burschen
beinahe um den Hals gefallen. Nie habe ich Vanille dringender
benötigt als am heutigen Tage. Was sonst hat uns wohl in das
Industrieviertel geführt als die verzweifelte Suche nach
Vanille? Du bist im Begriff, eine Bank zu betreten, da will dich einer
davon überzeugen, dass der Kauf einer lebenden
Schildkröte,
rund 8 Pfund schwer, unumgänglich ist. Im Freihafen soll man
sich mit Vanilljestangen eindecken und auf dem Flugplatz, vor dem
Einchecken, noch einen frischen Fisch in die Tasche stecken....
Absolut faszinierend, die madegassische Logik. Verständlicher
ist da ein anderer Zeitgenosse, der uns vom Hotel kommen sieht,
ein paar Kilometer vom Stadtzentrum weg.
"Sucht
ihr ein
Taxi?", fragt er sicherheitshalber und erbietet sich, uns
beim Heranwinken behilflich zu sein. Kann ich selber. Oder die
Stadt zu zeigen. Danke, bin schon mal hier gewesen, kenne mich
aus. Oder oder oder. Seine Freundlichkeit ist überbordend und
grenzenlos. Da hält ein Taxifritze, und unser Schmarotzer
springt mit rein, labert pausenlos weiter und hört erst auf,
als
er am Ziel angelangt ist. Wuppdich, hoppt er raus, natürlich
ohne zu bezahlen, und meint wohl, mit seinem Gequassel genug
geleistet zu haben, um auf Kosten der dämlichen
Ausländer einen
Fußweg zu sparen. Nicht die paar Pfennige wurmen mich,
sondern
die Frechheit, ausgenutzt, für stinkreich und obendrein
blöde
gehalten zu werden. Das soll, das schwöre ich mir, das letzte
Mal gewesen sein, dass uns einer so dreist verarscht.
Kaum geschworen, schon
verloren. Um 10 Uhr früh steht der verblüffte Tourist
vor dem
Service-Büro der staatlichen
Luftfahrtgesellschaft und sieht,
wie die Angestellten gerade die Gitter RUNTERLASSEN,
zu einer Stunde, wo sonstwo
die Läden aufmachen.
What is then here loose?
"Aujourd'hui
il y
a des événements", lautet die lakonische
Auskunft, am
Nachmittag sei wieder geöffnet. Mein Hinweis, einen
VIP-Empfehlungsbrief zu haben, verfängt nicht, denn die Chefin
ist auf Dienstreise in Tana.
Am
Nachmittag gibt's
offenbar noch immer oder schon wieder événements,
denn das
Gitter ist nach wie vor unten und es sieht nicht aus, als
würde
es sich bald wieder öffnen. Ein paar ratlose
Ausländer stehen
davor.
"Die
machen sicher
erst übermorgen wieder auf", sagt ein freundlicher Passant.
Wieso übermorgen?
"Na,
morgen ist
doch Volksabstimmung!"
Ach
ja. Wieder eine
Probe für die Comédie mit dem Titel "Demokratie",
die
in Madagaskar schon seit Jahrzehnten auf ihre Première
wartet.
An solchen Tagen entfernt man sich besser aus Städten mit
Kasernen, wo Zeitgenossen mit Schießgerät den
Urnengang
überwachen.
Wir finden Abhilfe. Am Abend fahren wir in einer ordentlichen Mietkarosse vorm Hotel Miramar vor, die uns eine kompetente Dame und ein kundiger Ingenieur von der landesweit operierenden Firma Aventours ruckzuck bereitstellten, nachdem wir uns vehement gegen das aufdringliche Ansinnen zur Wehr gesetzt hatten, zum Wagen den passenden Chauffeur (und Führer, Träger, Funker, Mechaniker, Koch und Leibwächter etc) mitzumieten; so sind wir ab morgen vorerst von Massentransportern und Fahrplänen, vom Frühaufstehen, Ticket-Besorgen und Wartereien verschont und rollen auf unseren eigenen Gummifüßen.
Uns hatte gewiss doch die Glücksfee geküsst, dass wir gestern auf Anhieb ein ordentliches Automobil erwischten. Heute ist alles zu; Banken, Ämter und AIR MAD-Büro sowieso, es fährt keine Bahn, kein Bus, kein Taxi, kein Garnichts. ABER WIR!
Nur zwei Fehlversuche, und schon schuckeln wir durch die Pneu-Killer-Schlaglöcher in die freie Prärie raus, auf die wie ausgestorben wirkende Chaussee nach -- Antananarivo! Nicht dass wir es vor Sehnsucht nicht mehr aushalten konnten; nur hatten wir in Soanierana-Ivongo bereits das Ende der asphaltierten Fahnenstange Ost erkundet. Wir sind noch immer schwarzbraun wie die Kokosnuss, denn von Regen war auch an der Ostküste keine Spur gewesen. Nun hocken wir im Schatten unseres Blechdachs und schleichen wie deutsche Sonntagsfahrer genüsslich durch die Vegetation, die willkommene Freiheit in vollen Zügen genießend.
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Antsirabé, oder vielmehr Bad Antsirabé, ist DER Kurort auf Madagaskar. Wie der Schöpfer auf den Spleen gekommen ist, auf diesem tektonisch toten Eiland ausgerechnet in der Bergluft von Antsirabé heiße Quellen sprudeln zu lassen, sei seinem unergründlichen Ratschluss anheim gestellt. Die Franzosen, froh, auch fern der Heimat ein Vichy aufgetan zu haben, klotzten auf den Huppel nah der einzigen Therme eine Wuchtbrumme von Kur-Kasino, legten einen See an, bauten einen Bahnhof, zogen Platanen-Avenuen durch die Geografie und machten einen Kurpark aus der Steppe. Das muss man gesehen haben auf Madagaskar! Nichts wie hin!
Die einstige Therme ist heute das einzige passable Hotel in Antsirabé
Angesäuselt
vom vin
rouge, vollgestopft mit köstlich duftenden Erdbeeren, gegen
die
alle holländischen Treibhaus-Erzeugnisse wie abgestandener
Pappkarton schmecken, näherten wir uns erwartungsvoll dem
idyllischen Kurort Antsirabé, der uns bei der Ankunft jedoch
schlagartig ernüchterte und in die madegassische
Realität
zurückversetzte. Die Alleen: Eine Abfolge von Löchern
und
Mulden. Der See: Ein Schnakensumpf voller Müll. Die Hotels:
Man
wendet sich voll Grauen ab und landet, sofern man nicht im Auto
nächtigen will, im einzigen Nobelhaus am Platze, dem einstigen
Kasino, das heute Hôtel
des thermes heißt
und pro Zimmer eine
sechsstellige FMg-Summe verlangt. Dafür sind es allerdings
Zimmer, die andernorts Suiten genannt würden, mit englischem
Park hinterm Haus, Tennisplätzen und (wasserlosem)
Swimmingpool.
Dennoch ist die Vornehmheit nur Fassade: Man hockt kaum im
Zimmer, halb ausgezogen, den Rucksack-Rödel malerisch im
Zimmer
ausgebreitet, da klopft's, und eine Tante vom Hotelpersonal kommt
rein und packt Tischdecken aus. Service, service, staunt das
Greenhorn, aber die Alte denkt nicht daran, die Suite zu
verschönern, sondern will das Zeug verkaufen. Sehen wir aus
wie
Textilien-Einkäufer auf Akquisitionsreise? Ist das hier ein
Hotel oder ein Trödelmarkt? Weil das Personal beim Einchecken
angesichts unserer Trampsäcke auf Vorauszahlung Wert legte,
entledigten auch wir uns aller Reste von Stil, warfen die Tante
raus und spazierten zum Abendmahl in das gemütliche
China-Restaurant des Hotels Diamant am anderen Ende des Ortes,
dessen 12-seitige, eng beschriebene Speisekarte wahrhaft
eindrucksvoll und appetitanregend ist.
Supermarkt an der Straße nach Miandrivazo
Ab
und zu fahren wir
unsere Kalesche hinter eine Hecke nahe der Straße,
schließen
gut zu und folgen dann einfach einem Trampelpfad ins
Landesinnere. Mal nach wenigen hundert Metern, mal erst nach
einigen Kilometern endet der Weg dann in einem abgeschiedenen
Dorf, und weil dessen Bewohner angesichts ausländischer
Invasoren davonlaufen oder sich in ihren Hütten verschanzen,
tippeln wir dann eben, um nicht noch mehr Furcht und Schrecken zu
verbreiten, wieder zurück, die reine Luft, Stille und Aussicht
genießend. Und dann fahren wir ein paar Kilometer weiter und
stapfen erneut durch die baumlose Wildnis.
Die Bildungsfrucht dieser Spaziergänge: Wo immer ein Gewächs im Verdacht steht, zu einem Baum heranwachsen zu wollen, kommt alsbald ein Mensch mit Axt und verarbeitet den Kümmerling zu Brennholz. Ungezählte Baumstümpfe und Hackspuren zeugen von den unbarmherzigen Feldzügen gegen Baum und Wald, und was da an den fruchtbaren Hängen noch gedeiht, reicht uns nur selten bis zum Bauchnabel. Entweder wird demnächst eine neue, unerschöpfliche, auch für die Ärmsten erschwingliche Energiequelle gefunden, oder der letzte Baum Madagaskars wird noch vor dem Jahr 2050 fallen. Aber selbst wenn es bis ins letzte Dorf Strom gäbe, brauchten die Leute Geld, um Elektroherde zu kaufen. Dann ziehen sie in die Städte, um Geld zu verdienen. Die Städte verslumen, Gewalt und Drogen breiten sich aus undsoweiter, siehe Mexico City, Nairobi, Mumbay, Dacca oder São Paulo...
Vorne auf der Chaussee ist was los: Ein Menschengewimmel, ein Fest-Umzug! Die Band mit selbstgebasteltem Musikgerät trommelt und pfeift vorneweg, gefolgt von ein paar muskulösen Jünglingen, die ihr Dorfheiligtum geschultert haben, und hinterdrein eine tanzende, lachende, ausgelassene Meute, die sich um die bleichgesichtigen Fotoreporter, die da aus dem Mietwagen geturnt kommen und wie wild um sich knipsen, nicht die Bohne kümmern und uns allenfalls freundlich zuwinken. Eine feuergefährlich hochkonzentrierte Wolke von Rumgeist bildet den Abschluss des Festzuges; da unterscheidet sich Madagaskar keinen Deut von anderen Kulturen. Bei vergleichbaren Naturvölkern, etwa den Eingeborenen von Oberbayern, gilt die gleiche Devise: Man ehrt zwar seine Götter, die wahre Verehrung jedoch gilt jenem heiligen Geist, der den Spirituosen innewohnt. Ihm seien Ehre und Preis, und uns der Rum....
Festumzug zu Ehre, Preis und Rum von Sankt Spirituos
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Afro-Jazz mit Pauken und Trompeten
Unser
Erscheinen brachte die Fiedler und Trommler nur kurz aus dem
Rhythmus; zwar grüßten wir artig nach links und
rechts
"Salama", wie es sich für Gäste geziemt, wurden aber
dennoch bestaunt wie Marsmenschen, die soeben einem UFO
entstiegen sind. Zaghaft nur trauten sich in unserer Anwesenheit
die Leute, zur Blasmusik zu tanzen; als erste hüpften die
Kinder
los, und dann gab es kein Halten mehr, Tanz und Musik liegt den
Leuten einfach im Blut, und die Dorfjugend wollte unsretwegen
nicht länger auf ihre Gaudi verzichten.
Vazaha sind gekommen!!! ---- Neugier, Freude, Erstaunen und Misstrauen in den Gesichtern
Auf zahlreichen offenen Holzfeuerchen brutzelte und kokelte es, in riesigen Töpfen, in die durchaus auch ein Missionar als Suppeneinlage passen würde, brodelte und blubberte es, jede zweite Hütte war zum Rum-Ausschank umfunktioniert worden. Uns duldete man zwar mittenmang, machte uns überall Platz, wo wir hingingen, und musterte uns mit einer Mischung aus Neugier und Verwunderung, aber niemand versuchte, uns anzusprechen oder uns was zu zeigen, keiner bot uns was an oder lud uns zum Mittanzen, Mittrinken, Mitfeiern ein, wie es jedem Ausländer bei Festen in Asien unweigerlich geschähe. Immerhin dachte auch keiner dran, uns irgendwas verkaufen zu wollen. So machten wir, nachdem wir die Leute --und die Leute uns-- sattsam angeglotzt hatten, die Mücke und rauschten weiter gen Tana.