≪≪≪≪≪≪ M A D A G A S I K A R A ≫≫≫≫≫≫
August 1992
6
Es dauerte freilich keine Viertelstunde, bis ich wieder in die Bremsen stieg; noch ein Volksauflauf nahe der Straße, wo freilich keine Wohnhütten, sondern aus Lehm gemauerte, aber fensterlose Häuser standen. Mir schwante schon, was da passieren würde, ich hatte den Reiseführer gut gelesen. Die Merina bauen für ihre Verstorbenen nämlich luxuriöse Paläste, um die sie die Lebenden nur beneiden können. Einmal alle fünf oder sechs Jahre feiern sie eine Famadihana, das Totenfest. Da werden die Leichen aus den Gräbern geholt und während eines mehrtägigen Festes im Familienkreis willkommen geheißen. Man glaubt, wie auch in anderen Religionen, dass die Ahnen irgendwie weiterleben. Die Vorstellung, dass mit dem Tod alles aus sein sollte, ist den Menschen in allen Erdteilen gleichermaßen unerträglich. Wenn man also glaubt, dass die Toten nicht tot sind, muss man sie auch über die familiären Ereignisse auf dem Laufenden halten; wer wen geheiratet hat, wie viele neue Ururururenkel inzwischen zur Weltbevölkerungsexplosion beitragen, wie viele Bäume neu abgehackt wurden und wie viele Zebus man der Nachbarsippe erfolgreich geklaut hat.
Leiche auf Urlaub vor dem Umtopfen
Die Frauen jeder
Familie hockten sich um die Leiche auf Urlaub, wiegten und
streichelten das längliche Totenpäckchen,
schluchzten, heulten
und stimmten eine Art Wiegenlied an, bevor die männlichen
Angehörigen den Grufti auspackten und in frische
Tücher
wickelten. Währenddessen sind auch die Erdgräber
offen, und aus
den schlichten Särgen kamen ähnliche, frischere,
wenngleich
etwas angefaulte Leichenbündel zum Vorschein, die man ohne
weiteres als Vogelscheuchen verwenden könnte. Auch die wurden
umgetopft, frisch verpackt und von den Klageweibern bewimmert und
befingert, während die Männer mit Eifer
dafür sorgten, dass
wenigstens der Rum in den Leibern der Lebenden begraben werde.
Klageweiber wiegen singend die Ahnen
Trotz
des Heulens und
Zähneknirschens der Frauen, das dem jüngsten Gericht
alle Ehre
machen würde, ist diese Auferstehung der Toten keineswegs eine
friedhofspietätvolle Angelegenheit. Gleich nebenan schrummt
und
fiedelt schon wieder ein Jazz-Trio, Teenies hopsen und rumvolle
Würdenträger lallen im Afro-Rhythmus derart
enthusiastisch mit,
dass zu befürchten steht, die Toten wachen ob des
Getöses
unsanft auf.
Bei diesem Fest standen
wir ausnahmsweise nicht im Mittelpunkt des allgemeinen
Interesses; was da aus den Gräbern herausgepuhlt wurde, hatte
für die Mehrzahl der Malagasy größeren Reiz
als wir Vazaha,
weil wir weder verwest noch skelettiert waren wie die geliebten
Vorfahren. Da wir dies auch vorerst nicht vorhaben, verließen
wir die Schädelstätte, als sich der Totenzug zum
Leichenschmaus
auf das Dorf zu in Bewegung setzte.
Vom Dach des Grabes hält der Ombiasy seine Ansprache
≪≪≪≪≪≪≫≫≫≫≫≫
Zunehmende
Verkehrsdichte, vermehrte Schlagloch-Fallen und immer
verschmocktere Großstadt-Lüfte: Tana, Tana, wie
liebe ich dich
!
Sonntagmorgen,
früh um
halb acht. Zwei Ladies aus Südafrika warten ebenso
nervös wie
wir auf den schlaftrunkenen Boy des Hotels "Au cheval
blanc", der uns zum Flughafen fahren wollte. Unsere
Mietkarosse sind wir wieder los, um halb neun wollen wir mit AIR
MAD auf die Insel Nosy Bé düsen. Der Fahrer
fährt erst die
Blumenrabatte im Vorgarten zuschanden, bevor er richtig wach wird
und mit fast einstündiger Verspätung doch noch den
nur 8
Minuten entfernten Airport erreicht. Noch steht die Karre nicht
recht, da stürzt sich schon eine Meute von Jungs auf den
Kofferraum und reißt Taschen und Päcke an sich. Ein
schriller
Schrei des Schreckens, im Duett von den beiden Tanten
ausgestoßen, lässt die "Räuber" erstarren.
"Wir tragen unsere
Sachen selbst!"
Gibt's das auch in
Südafrika? Nun, die beiden Damen sind erst vor wenigen Jahren
aus Frankreich zugewandert und haben noch europäische
Koordinaten im Kopf. Andrerseits brauchen wir wahrhaftig keine
Träger für die 9 Meter bis zum Eingangsportal und von
da die 14
Meter zum Check-In. Und auch die Eile war unnötig, der Flug
hat
mehr als 2 Stunden Verspätung.
Aus dem kostspieligen Bungalow-Dorf will uns jedes vorbeifahrende Vehikel fortschaffen, das Taxi-Schild griffbereit unter dem Fahrersitz, und scharf auf alle Vazaha-Devisen. Dabei gibt es außer diesen Raffgeiern auch demokratischere Transportmittel. Das Sammeltaxi, das wir erwischten, trieb die Demokratie freilich ins Extrem. Wie viele Leute passen in einen R4? Wir haben es am eigenen Leib ausprobieren dürfen: 15 Personen und ein Baby, das Gepäck nicht mitgezählt, quollen aus dem geplagten Rostmobil; Kazuko lag quergestapelt über einem Knäuel Leuten auf der Hinterbank, und ich hing zu drei Vierteln hinten aus der Heckklappe raus, die glücklicherweise hielt, obwohl sie noch drei anderen zahlenden Passagieren als einziger Halt diente. Trotzdem rumpelte der Behelfsbus mit gut 80 Sachen durch die Schlaglöcher, und dass unterwegs nur einer der antiken Reifen schlapp machte, wundert mich bis heute. Hellville erreicht mit Müh und Not, aber für nur 1000 FMg, und das war der Sinn der Übung.
Deutschen
Gemütern
suggeriert der Name des Hauptortes Licht und Sonne; britische
Ohren denken wohl mehr an Orkus und Schwefel. Recht haben alle
beide: Tatsächlich verströmt hier auch im tiefsten
Winter die
gleißende Sonne höllische Hitze, und für
infernalische
Rüchlein sorgen die müffelnden Abfallberge rund um
den Markt
und in den Gärten der einstigen Strandvillen aus der
Kolonialzeit, die jetzt von vermehrungsfreudigen Malagasy behaust
sind, in jedem Zimmer eine Großfamilie. Sonst aber geht es
eigentlich ganz friedlich zu. Wenn man vornehm über den
Müll,
Rost und Verfall der Jahrzehnte hinwegsieht, wirkt der Ort
beinahe nobel; die lang gestreckte Haupt-Avenue, die zum Hafen
hinunterführt, erinnert mit ihren schattenspendenden
Alleebäumen an die Pracht vergangener Zeiten. Es gibt sogar
eine
ruinöse, stellenweise auch als Erdrutsch
strandabwärts
gegangene Uferpromenade mit halb zugewachsenem Blick aufs Meer,
und hinter dem grünbunten Vorhang von Unkraut und Unrat
bröseln
die Reste der ehemaligen Prunkpaläste vor sich hin, zernagt
von
der Karies der Zeitläufte. Unbekümmert prachtvoll
ranken sich
nur die üppigen Bougainvillea um die Ruinen, und wenn sie
duften
könnten wie Rosen oder Orchideen, würden sie
vielleicht sogar
den Drittweltruch von Müll, Urin und Dieselruß
gnädig
parfümieren.
Am späten Nachmittag tapern wir durch den Slumgürtel am Rand des Hafens, denn da legen angeblich zu dieser Stunde Pirogen ab zu den Nachbarinseln. Wir wollen auf das kreisrunde Vulkaninselchen Nosy Ambariovato, für Touristen und andere Fremdlinge einprägsamer auf Nosy Komba getauft, auf dem es nur zwei kleinste Dörflein gibt. Diese straßen- und autolose Insel ist ein Reservat für Lemuren, denen wir noch einmal auf den Pelz rücken möchten.
"Pirogen?? Die
fahren morgens um sieben!", gibt lässig ein Mensch vor einer der
grauschwarzen Wellblech-Hütten Auskunft. Nicht zu glauben. Die
Reiseführer beharren einstimmig auf ihrer Version, dass abends
die Leute vom Hellville-Markt mit ihren Einbäumen zu den
Nachbarinseln lospirogieren und die zwei Meilen entfernte, just
gegenüber sichtbare Insel Nosy Komba gerne ansteuern, wenn
weiße Geldbringer mitzufahren wünschen. Aber auch
andernorts
ward mir die gleiche negative Auskunft, und in der Tat sah das
mit Gerümpel übersäte Meeresufer nicht allzu
pirogenträchtig
aus. Sollten wir schon wieder, wie vor Nosy Boraha, die Flinte
ins Zuckerrohr werfen müssen?
Eingedenk der hiesigen
Hotelpreise soll das Glück auf Biegen und Brechen
herbeigezwungen werden und nichts unversucht bleiben, um trotzdem
unsere einsame Traum-Insel zu erreichen. Noch heute. Auf geht's,
in den Hafen! Dort aber, oh weh, dümpeln in der Abendsonne
nur
wenige rostrote Seelenverkäufer vor sich hin, die nicht so
aussehen, als würden sie je wieder in See stechen. Eine flotte
Segelyacht kommt gerade von einem Törn zurück; auch
das ist
kaum das Richtige für uns. Verflixt nochmal, da schiebt sich
eine Piroge in unser Blickfeld, von links, wo wir zuvor nach
Booten gefragt hatten, die offene See anstrebend! Sogar mit
Segel versehen, reitet das Ding flott über die Wellen in
Richtung Nosy Komba. Wo kommt die denn her? Wir winken und
brüllen und hüpfen wie Lambada-Tänzer im
Koksrausch. Trotz der
Entfernung werden die Pirogisten auf uns aufmerksam. Sie winken
und brüllen zurück, machen aber keine Anstalten,
umzukehren und
noch zwei Paxe an Bord zu hieven. Das war's wohl für heute.
Adieu, Nosy Komba, Einsamkeit, Wildnis und Lemuren....
Südländische
Leser
sind mit dem, was nun folgt, kaum zu beeindrucken; japanischen
Fleißlingen hingegen sei ein dickes Lob des
Dolce
farniente
hinters
Ohr gerieben. Wie
nutzbringend auch mal ein faules Herumlungern sein kann, zeigte
sich im Verlauf der restlichen Stunde bis zum Sonnenuntergang,
den wir nämlich doch noch auf Nosy Ambariovato erlebten.
Und
das ging so: Wir blieben einfach
faul da. Ist es nicht auch ganz romantisch, wie Otis Redding
on
the dock of the bay
zu
hocken und in die
rotgüldenen Abendwellen zu blinzeln, die eine immer kleiner
werdende Segelpiroge durchfurcht? Schließlich sind wir zum
Urlaubmachen hier und nicht zum stressig-manischen
Organisierhetzhastrennen. Lieber schlagen wir unser Taschenhotel
auf dem Anlegesteg auf als jetzt nochmal in Panik in die
müllduftige Oberstadt zu hecheln, Transfer, Quartier,
Menü,
Tickets und wasweißich zu besorgen, nach Banken,
Ämtern,
Büros, Information, Restauration, Gastronomie, Hotellerie und
Taxisten zu suchen und überall ein lappriges Scherflein zu
spenden. Schluss damit heute, es reicht uns einfach, jetzt machen
wir
moramora!
Hafen von Hellville im Abendrot, im Hintergrund Nosy Ambariovato
Und siehe da, es
brümmelt was von der See her, und nicht lange, da rumst eine
Art
Badewanne mit Außenbordmotor an die Mole und entlädt
ihre
Fracht von acht Globetrottern toskanischen Mutterlautes, die auf
meine Frage hin kund taten, soeben von der Lemureninsel gekommen
zu sein. Und der junge Schiffer war willig, für uns heute
Abend
noch eine Extra-Tour zu fahren, für 10 000 FMg. Und schon
zischte und gischtete die Yamaha-getriebene Bütte
über die
Wellenkämme, überholte besagten Segel-Einbaum und
knirschte
knapp 20 Minuten später in den Sandstrand von Nosy Ambariovato. Ha, da waren wir also!
Wer auf diesem Inselchen geduldig den Strand entlang watschelt, kommt nach spätestens drei Stunden wieder da an, wo er losmarschiert ist. Da passt also nur ein Dorf drauf, und noch eins oben am Krater des eingeschlafenen Vulkans, dem das Eiland sein Dasein verdankt. Fremde Besucher müssen dennoch keineswegs auf ein Robinson-Crusoe-Leben gefasst sein, denn gleich zwei Etablissements halten Gäste-Bungalows im Stil der örtlichen Architektur für reisende Lemuren-Fans parat. Dort logierten wir, wie die Einheimischen, in Holz- und Grashütten, die wir in der Nacht mit Heimchen teilten, die uns die Ohren vollzirpten, und mit anderem Geziefer, als da wären Heerscharen von Schnecken und Schnaken, welche die weit klaffenden Spalte zwischen den Lattenwänden wohl als Einladung missverstanden. Obwohl angeblich ein (derzeit abwesender) Allemand, das einzige auf der Insel ansässige Bleichgesicht, den Laden managen soll, war von preußischer Perfektion nichts zu spüren; das originell durchlöcherte Moskitonetz bot jedenfalls keinen Schutz vor nächtlichen Luftangriffen der blutrünstigen Flug-Draculas, so dass wir uns vom harzigen Qualm japanischer Moskito-Coils umschmaucht der unfreiwilligen Blutspende entzogen.
Lemuren-Eiland Nosy Ambariovato
Einen Abort hat die
tierliebe Villa ebenso wenig wie elektrische Leitungen; dafür
beginnt der Busch gleich hinter der Rückwand. Es ist jedoch
ratsam, auf Austritte während der Nacht zu verzichten, weil
die
Vormieter mit ihren Notdurftmarken den Vorgarten des Palastes
geziert haben. Immerhin rinnt Quellwasser aus einer hölzernen
Pipeline, die im Dusch-Erker endet, und Dutzende von Fröschen,
denen man beim Kerzenschein beinahe auf die Pfoten tappt, duschen
freudig jauchzend gleich mit.
Plumps, sagt es, und,
kaum in den Schlaf gezirpt, erwacht der Stadtmensch, weil ihm ein
Frosch im Eifer der nächtlichen Grillenjagd auf den Wanst
gehoppt ist. Dreht sich der Vazaha um und drückt die Augen zu,
um noch eine Mütze Schlaf zu fassen, kräht der erste
Hahn los
und gibt das Kommando für sämtliche Gickel der
umliegenden
Hütten, in einem Bremer-Nachtmusikanten-Wettbewerb
loszukeckern.
Kein Wunder, dass sich auf dieser naturnahen Insel auch Lemuren
wohl fühlen!
Die kommen in den
Vormittagsstunden aus dem Busch geflitzt, sausen durch Blattwerk
und Gebälk, greifen sich Gemüseabfälle und
vegetarische Reste
des Abendmahles, kiebitzen und stibitzen, um dann das Geknatter
der Boote voller Touristen zu erwarten, die in Gruppenexkursionen
von den feinen Strungalotels hier Tag für Tag einfallen, den
Dorfleuten alle faulen und schimmeligen Bananen abkaufen und an
die pelzigen Akrobaten verfüttern. Wenn die Boote sich
verspäten, fläzen sich die Tierchen zwischen die
Latten
baufälliger Hütten und äugen missmutig auf
die Dorfkinder, die
mit Bananenschalen wedeln und die langschwänzigen Urviecher zu
locken und zu foppen suchen.
Rat der Lemuren
"Maki, Maki
!", flöten kleine Mädchen in den
süßesten Locktönen,
aber die ulkigen Lemuren mit ihren großen, ernsten Augen und
weißen Backenbärten seilen sich nur unwillig an der
Regenrinne
ab, denn sie ahnen schon, dass die Kiddies ihnen wieder nur leere
Schalen andrehen wollen, um sie dann garantiert an ihrem Stolz,
den buschigen, langen Schwänzen, zu zoppeln.
Den ganzen Tag stromern wir den Hauptpfad der Insel zum Berggipfel rauf; oben bräuselt ein angenehm frischer Luftzug durch Kaffee- und Ananas-Plantagen. Die Kaffeebäume stehen in voller Blüte und duften weder nach Muckefuck noch gar nach Eduscho, sondern, wer hätte das gedacht, nach Jasmin. Ein Chamäleon entging, obwohl es sich dem graugesprenkelten Ast angepasst und perfekt getarnt zu haben vermeinte, durchaus nicht unserer Aufmerksamkeit und ergriff schleunigst die Flucht, als ihm der bärtige Fremde mit der Kamera nachzustellen begann. Baobab-Bäume wachsen in dieser Gegend selten, dafür aber andere Scherzartikel aus der Humorkiste der Natur: Kein Ylang-Ylang-Baum schafft es offenbar, ohne fünf Knoten und zig Verrenkungen in Stamm und Geäst einfach nur nach oben zu wachsen. Dafür riechen die unscheinbaren Blüten dieser Ulkhölzer nach Chanel, oder besser gesagt, das Chanel-Parfum duftet nach Ylang-Ylang, denn aus den Blüten dieses Baumes wird der Grundstoff der französischen Parfum-Industrie gewonnen.
Uuiiiuuiiihh! Schon
wieder ein Schreckensschrei aus japanischem Munde, kann ja nur
ein Ringelvieh die Ursache sein. Nein, zweie! Mitten im
Paarungsakt begriffen. Die schlanke Dame verdrückte sich
schleunigst ins diskretere Unterholz, ihren verdatterten Gemahl,
der sich nicht von ihr lösen mochte, holterdipolter
hinterdrein
schleifend, obwohl er sich dabei fast verknotete und mehrfach
überschlug, wobei ihm ziemlich schwindelig geworden sein
dürfte. Kazuko steht währenddessen starr wie eine
Notrufsäule,
abgewandt und von Entsetzen gelähmt.
Eine Wegbiegung weiter
grunzt und knarzt es aus dem Dickicht, dann raspelt und paspelt
was in den Laubkronen: Lauter neugierige Lemurengesichter glotzen
auf uns herab, und wir von unten zu jenen hinauf. Nicht lange,
und das gegenseitige Anglotzen langweilt die Lemuren; sie setzen
ihre Wipfelkonferenz fort, turnen durch das Ur-Laub und palavern
und kollern noch eine Weile weiter, bis sie wie auf Kommando
plötzlich alle die Raffel halten und mucksmäuschen
still sind.
Der einzige Laut, der die Stille jäh zerreißt, ist
ein erneutes
uuiiiuuiiihh, aus gleicher Kehle und Ursache ausgestoßen wie
zuvor. Auf diesem Inselchen wimmelt es wahrhaftig vor Schlangen.
Natur-Ikebana am Gipfel des Vulkans Ambariovato
Auch
auf diesem Eiland
kickt die fußballversessene Dorfjugend allabendlich auf dem
Sandstrand vor einem Blockhaus, auf dessen Veranda allmählich
die wundersamsten Vazaha-Typen eintröpfeln. Es hat sich bis zu
den Yachten, die weit draußen vor der Küste
dümpeln,
herumgesprochen, dass hier eines der Top-Restaurants von
Madagaskar zu finden ist. Anders als im schwyzerischen Récif verzichtet
der germanische Chef
nämlich auf das Selbst-Kochen, und jedermann ist ihm dankbar
dafür. Stattdessen werkeln vier oder fünf
einheimische Frauen
um die Feuerstelle hinter dem Haus, hantieren mit gewaltigen
Kesseln und Kellen, rühren, köcheln, brutzeln,
palavern und
zaubern wahre Wunderwerke von Delikatessen aus frischem
Meeresziefer vor die staunenden Gäste. Die Maîtresse
de
cuisine
ist eine Seele von Frau, mit Armen wie Nudelhölzern und einer
Figur, die an einen ausgewachsenen Baobab erinnert. Ich lobe sie
aufrichtig für ihr Dreisterne-Menü; da strahlt ihr
ebenholzfarbig glänzendes Gesicht verlegen. Am
nächsten
Tag kommt sie auf mich zu und fragt, ob ich für das
Abendessen
einen besonderen Wunsch hätte.
"Hm.... Ich habe
schon lange keinen Oktopus mehr gegessen."
Am Abend balanciert
sie, extra für mich, einen Teller mit Oktopus à la
malagasy
herbei, einen Traum von Köstlichkeit, zusätzlich zum
sonstigen
Menü und kostenlos, als Dank für meine lobenden
Worte. Hoch
soll sie leben! So etwas Liebes entschädigt für
manchen
Ärger...
Um halb acht, so hatte
der Kapitän der Yamaha-Wanne versprochen, werde er uns am Tag
unsrer Abreise von Nosy Ambariovato wieder abholen. Auf dem ganzen
Inselchen existiert kein motorgetriebenes Fahrzeug, weder für
Land noch für Wasser, und wer seine Rückreise nicht
vor der
Hinfahrt organisiert, kann so lange vor Madagaskar liegen, bis er
die Pest an Bord kriegt oder ein zufällig anlandendes Boot
erwischt. Um halb acht kam niemand herbeigetuckert, um halb neun
auch nicht, und um halb zehn warteten wir noch immer auf Godot.
Als die komische Blechbüchse um kurz nach zehn endlich auf den
Sandstrand rauschte, waren wir sauer und fest entschlossen, die
Jungs Pünktlichkeit zu lehren. Im Hafen von Hellville
zählte
er mit Erstaunen nur 15 000 FMg und erhob Protest:
"Wir hatten doch
20 000 FMg vereinbart? Da fehlen ja 5000!"
"Ja, wir hatten
auch halb acht vereinbart. Da fehlen auch ein paar Stunden."
Er sah wohl ein, dass
der Weg zum Reichtum mit diversen Tugenden gepflastert ist, und
trollte sich maulend.
≪≪≪≪≪≪≫≫≫≫≫≫
Um auch von Nosy
Bé
noch was zu sehen, logiert man zwangsläufig in der "Villa
Blanche", dem billigsten unter den teuren Strungalotels. Die
einzige Alternative wäre die verkommene, schmuddelige
China-Herberge im Stadtzentrum von Hellville.
Um nicht aus dem Urlaub
heimzukehren, ohne wenigstens einmal im Indischen Ozean gebadet
zu haben, hopsen wir auch mal in die seichte, pipiwarme und
sandtrübe Brühe, aber nach dieser touristischen
Pflichtübung
zieht es uns schon wieder zu neuen Abenteuern ins Landesinnere.
Die lassen auf
Madagaskar niemals lange auf sich warten. Um tunlichst allzu
hitziges Schwitzen zu vermeiden, wollten wir uns die gut 2 km bis
zur Abzweigung zu unserem Wanderziel im preiswerten Taxi Bé
transportieren lassen, denn für eine so kurze Strecke
lässt
sich auch die demokratischste Enge notfalls ertragen. Ein
Grüppchen Malagasy wartet ebenfalls am Straßenrand.
Und dann
beginnt ein amüsantes Spielchen. Jedes leere Privattaxi, auch
aus der Gegenrichtung, von weitem schon hellhäutige
Fremdkörper
unter den wartenden Malagasy erspähend, hält
unaufgefordert an,
mit herrischer Handbewegung die Weißen zu sich winkend, die
doch
nur aus Versehen mitten unter den Einheimischen auf den
Massentransporter warten können. Wir lachen uns halb tot ob
der
Zielstrebigkeit, mit der die Schlitzohren am Volant der Droschken
sich die Ausländer aus der Menge picken. Mancher steigt gar
aus
und möchte fassungslos wissen, weshalb wir seine teure
Dienstleistung verschmähen, als sei es Ausländern
gesetzlich
verboten, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Dem 11.
staunenden Taxisten erzähle ich, ein Freund käme
gleich
vorbeigefahren, um uns abzuholen, und als ich diesen Bären
etwa
dem 17. Menschen aufzubinden im Begriff stand, rollte
tatsächlich der Freund heran und lud uns in sein nicht mal
überfülltes Taxi Bé.
Durch
Zuckerrohrplantagen, die weite Teile der Insel bedecken, führt
ein breiter Weg zu einem Dorf mit Namen Androandroatra. Ich hatte
seit gestern Abend den Namen geübt und auswendig zu lernen
versucht, um nach dem Weg fragen zu können, falls wir uns
verlaufen sollten, aber das war nicht nötig: Die Piste
führte
nach einigen Kilometern geradewegs in das Dorf mit dem eleganten
Namen hinein. Dann aber begingen wir den Fehler, nach dem Weg zu
den Kaskaden zu fragen, als sich die Straße vielfach gabelte.
Im
Nu stand die gesamte Dorfjugend bereit, uns als Führer zu
beguiden, und fortan sannen wir nur noch angestrengt nach
Methoden, die Eskorte anhänglicher Fans elegant
abzuhängen. Wer
am Ende einer Prozession latscht und sich abseilen will, kann
sich ohne Aufhebens in eine Kneipe oder Seitengasse
verdrücken.
Aber Baldachin, Pfarrer und das Allerheiligste müssten schon
gerissene Künstler sein, wenn sie sich unbemerkt
verkrümeln
wollten. Und bei der gegenwärtigen Buschprozession spielten
wir
leider die Rollen von Baldachin, Pfarrer und Heiligtum zugleich.
Kurz hinter dem
Ortsausgang hielt ich an, rief der Menge unmissverständlich
und
gezwungen lächelnd "adieu!" zu und gab den
nächststehenden Jungfrauen die Hand zum Abschied. Das
reduzierte
lediglich den Altersdurchschnitt unseres Anhanges geringfügig,
dessen Zahl aber nur unwesentlich. Scharf forciertes Gehtempo
brachte ebensowenig Erfolg wie übertriebenes Trödeln.
Eine Rast
und eine mit Stentorstimme gehaltene Ansprache des Dankes für
die geleistete Gesellschaft, unüberhörbar der Hinweis
eingeflochten, dass Mama und Papa, Oma und Opa gewiss zu Hause
warten, amüsierte die Androandroatresen sehr, aber meine
rhetorischen Finessen wussten sie nicht zu goutieren, weil sie kaum
Französisch verstanden.
Ein paar hundert Meter
weiter endlich die Rettung dank einer zündenden Idee: Der Weg
teilte sich erneut, und als die Vorhut unserer Begleitmannschaft
nach rechts abbog, nahmen wir den Weg nach links.
Es erhob sich ein
vielstimmiger Chor: "Là-bas, là-bas!", und ein
wildes Rufen und Gestikulieren, weil die dummen Ausländer,
trotz
wohlwollender Guides, den total falschen Weg nahmen, aber wir
winkten nur freundlich zurück und schlugen uns nach der
nächsten Wegbiegung fix in die Büsche, bevor sich die
Kiddies
aus ihrer staunenden Starre lösten, drangen querfeldein durch
Strupp und Strauch einen Hügel hinan, von dem aus zu sehen
war,
wie der Jugendpulk unten ratlos hin- und herwogte. Einige, die
uns anscheinend suchend hinterhergelaufen waren, kamen soeben
unverrichteter Dinge zurück. Schließlich trottete
die
androandroatresische Jugend in Richtung Dorf heimwärts.
Gerade
wollten wir uns
den Hang zum nunmehr richtigen Weg runterkämpfen, da
tönte von
fern das eben erst verstummte Hallihallo aufs Neue; uns zu
Füßen tapsten vier kurzbehoste Vazaha, ebenfalls auf
dem Weg zu
besagten Kaskaden, und jeder hatte seine zehn kleinen Afrikanerlein
im Gefolge. Die Prozession verschwand unterhalb unseres
Feldherrenhügels in einem grünen Dickicht, von dem
aus eine
halbe Stunde lang Johlen und Schreien heraufklang; da unten lag
also das Ziel!
Unter uns wieder Vazaha mit ihren zehn kleinen Negerlein*) .....
Picknick im Schatten;
noch waren wir nicht fertig, da kam die ganze Mischpoke wieder
aus dem Tal hervor und stampfte zum Dorf zurück. Als alle weg
waren, stiegen wir ins Tal hinunter. "Kaskaden" ist
eine Übertreibung, aber dort, wo schon jahrhundertelang ein
kleiner Bach etwa 30 Meter tief in die grüne Schlucht
gestürzt
ist, hatte sich ein wunderschöner, schattiger, tief
grünblauer
See gebildet, dessen Hinterwand wie bei den Wasserspielen der
Villa d'Este der Wasservorhang des niederfallenden Bächleins
bildet, und niemand war zu sehen außer einer Matrone, die am
Rande des Teiches Wäsche wusch. Nach Herzenslust badeten,
schwammen und suhlten wir uns in dem kühlen Nass,
ließen uns
vom Wasserfall den Kopf waschen und den Rücken massieren. Auch
Ka fing bald an zu johlen wie zuvor die schwarzbraunen
Bengels, aber aus anderem Grunde: Auch hier wimmelt es
förmlich
vor Schlangen.....
Natürliches Schlangenbad bei Androandroatra
Wir versuchten, den
Trubel der Neuankunft zu einem unauffälligen Rückzug
zu nutzen;
drei dörfliche Wegweiser hefteten sich dennoch unverdrossen an
unsere Fersen und machten an besagtem Kreuzweg das gleiche
lautstarke Theater, weil wir schon wieder die Richtung ins Dorf
verschusselten und den "falschen" Weg wählten. In der
Dorfchronik von Androandroatra werden wir zweifellos als die
begriffsstutzigsten Besucher des Jahrzehnts Erwähnung finden.
Trotzdem gelangten wir
nach einem interessanten, halbstündigen Spaziergang wieder zur
Insel-Hauptstraße, leicht zu erkennen an den parallel
führenden
Schienen, auf denen zu unserer grenzenlosen Verblüffung gerade
ein richtiger Zug angezockelt kam, im Schritttempo. Eine
funktionierende Eisenbahn auf diesem Inselchen?! Es ist der
Rum-Express, eine Diesellok mit 15 angerosteten Wägelchen
voller
Zuckerrohr, der unermüdlich die Plantagen abklappert und seine
Fracht in der Rum-Destille abliefert.
Rum-Express von Nosy Komba
Es bedarf keiner
großen Überlegung, was wir uns von unserer Reise
mitbringen
wollen; nach dem vielen Rumlaufen folgt nun das Rumkaufen.
Nach Hellville fahren
alle Vehikel auf der einzigen Chaussee. Und halten natürlich.
"Taxi, Taxi? Bis
Hellville 8000 FMg!"
Man kann es auch
billiger kriegen, wir sind keine Anfänger mehr.
"Ich biete 500 FMg
pro Person, mehr habe ich nicht. Ich wollte eigentlich das Taxi
Bé nehmen."
Da ist der Chauffeur
aber beleidigt, gibt Gas und fährt davon, hält aber
nur 30
Meter weiter wieder an. 1000 FMg sind immer noch besser als leer
und ohne Verdienst davonzutöffeln, und im Rückspiegel
zeichnet
sich das nahende Taxi Bé ab. Brav, der Mann, das lob ich mir!
Eine gesunde Einstellung zum Geschäft. Warum nicht gleich so?
Den Fusel zapft die freundliche Dame im Rum-Shoppe aus dem Fass. Wer keine leere Flasche mitbringt, muss den Sprit in der hohlen Hand heimtragen. Oder eine Bottel leasen. 2500 FMg kostet der Liter Zuckersaft, und 1000 FMg das kostbare Gefäß samt Korken, den die Tante mit geübter Hand kraftvoll reinpeppt, damit wir uns auf der langen Rückreise nicht auch noch mit Rum bekleckern.
Nachdem wir auf Nosy
Komba kulinarisch exzeptionell verwöhnt worden waren, will uns
die schale Kost der "Villa blanche" nicht sonderlich
munden. Glücklicherweise sind es nur wenige hundert Meter bis
zum benachbarten, eine Nummer teureren Strungalotel; zwar
lässt
sich auch da, wie in jedem Terrassen-Restaurant auf Madagaskar,
zur Mahlzeit neben dem Tisch ein Köter nieder und guckt dem
Gast
fast das Steak von der Gabel, Scharen von Muschis samt Nachkommen
maunzen "donnez-moi einen Fischkopf", Papageien
krächzen "donnez-moi ein Stück Melone", und
Schildkröten jappen nach Tomatensalat, aber sonst
lässt es sich
zu dezenter Barockmusik ganz ordentlich dînieren, denn die
Gäste der "Villa blanche" sind zum Abendessen fast
vollzählig hier versammelt; drüben hingegen speist
man
anscheinend nur einmal.
Einen
zusätzlichen
Service dieses Lokals entdecke ich, als ich an der Kasse das
"vergessene" Wechselgeld reklamiere: Vom Bar-Tresen
löst sich ein junger Mann mit einer kurzberockten, drallen
Dame
im Gefolge, und möchte dem vermeintlich einzelreisenden Vazaha
gerne "seine Schwester" vorstellen, die er ebenso
glaubhaft auch als seine Mutter hätte ausgeben
können. Und mit
Kennerblick befand er -nicht sie-,
dass ich ihr auf Anhieb
ungemein sympathisch sei. Von einem so charmanten Herrn werde sie
sich gern auf einen Drink in sein Hotelzimmer einladen lassen....
Am Ende der Reise noch
ein Flirt mit Mademoiselle Sida oder Miss Syphilia? Ich bin
schon froh, wenn ich mir hier keine Malaria oder Bilharziose
einhandele, und außerdem, aber das kann er ja nicht ahnen,
ist meine Ka Herausforderung genug.
Die Taxifahrt zum
Airport kostet 7500 FMg. An der Tankstelle in Hellville, vor der
Abfahrt, quetscht sich noch eine Quasseltante mit rein, labert
auf dem ganzen Weg lautstark mit dem Driver und springt am
Flughafen hurtig raus, offenbar in stillem Einvernehmen mit dem
Chauffeur. Mir aber reicht die dreiste Verarscherei; der
Taxifritze kriegt nur 5000 FMg, denn ich bin weder ein grüner
Neuankömmling noch eine doofe Weihnachtsgans, die sich nach
Belieben ausnehmen lässt. Ich würde es niemandem
abschlagen,
der höflich anfragt, ob er vielleicht das von uns gemietete
Fahrzeug mitbenutzen dürfe, das er selbst nicht berappen kann,
denn wir haben ja wirklich mehr Moos als die Leute hier. Aber
vergackeiern lasse ich mich nicht mehr.
Sein Zeter-und
Mordio-Geschrei nützt dem Taxisten nichts, die restlichen 2500
FMg soll er sich von der Labertante holen, und wenn es für die
gratis gewesen sein sollte, zahlen wir auch nichts, danke sehr
für den freundlichen Service.
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(* Steack à cheval ist französisch für Hackbraten / Frikadelle ) |
"Scheint
Pferdefleisch zu sein."
"Oh nee, also sowas
ess ich doch nicht...!"
Wir mussten
gehörig an
uns halten, um uns nicht zu verschlucken oder pferdehaft
loszuwiehern vor Lachkrampf. Und so was landet frech auf
Madagaskar, anstatt erst mal im Elsass zu üben!
Mir
schwant, dass alle zaghaften Versuche, die Bettel-Kids und
Service-Haie zu erziehen, total vergebliche Mühe bleiben. Wenn
in den Ferienmonaten Tag für Tag solche Trampeltiere auf der
Lemureninsel einfallen, lacht sich die Nepp-Mafia ins
Fäustchen,
reißen sich die Bettel-Profis erwartungsvoll malerische
Löcher
in die Hemden und freuen sich alle großen und kleinen Gauner
auf
so einfältige, fette Beute, aus deutschen Landen frisch auf
den
Seziertisch. Und wenn die Opfer dann, beduppt, behumst und für
dumm verkauft, nach ihrer unfreiwilligen Entwicklungshilfe wieder
in den heimatlichen Mief zurückdüsen, können
sie hoffentlich,
ebenso wie wir, geläutert und um etliche Erfahrungen reicher,
dem eingangs erwähnten frankfurter Weimarer nur beipflichten
in
der bedeutsamen, zeitlos-gültigen Erkenntnis:
Reisen bildet.
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