SCHNARCHSACK

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lippenstift


Sayuri


Wenn Jordy so ungalant mit den Damen umgeht wie mit der armen, allmählich in Fahrt gekommenen Aimi, darf er sich nicht wundern, wenn er zur Strafe ein ganzes Jahr lang nur mit der zutraulichen, holden, aber schneereinen Ayame zu tun hat, für die vermutlich der wesentlichste Unterschied zwischen Männlein und Weiblein die unterschiedliche Stimmlage ist. Und, als ob das nicht Strafe genug wäre, tauchte eines Tages Namiko in seinem Lehrerzimmer auf und wünschte sich Nachhilfestunden in deutscher Deklamation, weil es bekannt war, dass Jordy seinen Ex-Studenten solche Lektionen gratis verabreicht. Und das gemeinsame Mittagessen vor knapp zwei Jahren war in ihren Augen ausreichende Qualifikation für den Titel einer Jordy-Ex-Studentin. Und nach getaner Arbeit hatte sie auch Jordys neue Mail-Adresse wieder, so geht es halt im Leben. Diese Namiko taugt freilich vorzüglich, um das Auf und Ab des Daseins zu illustrieren. Niemand lebt seine Ups und Downs dramatischer aus als diese kapriziöse Schöne, die noch immer unerschütterlich daran glaubte, dass Jordy, der immergeile Oldtimer, insgeheim nach ihr schmachte und nicht ablassen werde, ihr nachzustellen.
Da Jordy nach Ende seiner Liaison mit der launischen Sängerin Yukari wie ein aufblasbarer Gummielefant mit Loch leer vor sich hin
schlaffte und bei all den zuvor genannten Ladies abgeblitzt war, übernahmen es einige junge Leute aus einer anderen Generation, ihn wieder aufzublasen. Nein, nicht so, wie du jetzt schon wieder denkst, sondern nur psychologisch, falls du dich mit Fremdwörtern auskennst und kapierst, was das bedeutet. Es ist nämlich keineswegs so, dass diese Twens geahnt hätten, wie es um ihn stand. Aber da sein Lebensmut nicht länger durch den Inhalt von Yukaris Dessous aufgefrischt wurde, wandte er sich verstärkt anderen Divertimenti zu, und der Jahrgang des Sängernachwuchses, den er just zu dieser Zeit in deutscher Deklamation unterrichtete, hatte aus unerfindlichen Gründen dermaßen Gefallen an ihrem kurz vor der Pension stehenden Prof gefunden, dass irgendwer auf die Idee kam, eine Party "für Jordy" auszurichten. Na, das ist doch mal eine Gaudi !

Jetzt willst du wissen, was das mit der eigenwilligen Namiko zu tun hat.
Nichts, um ehrlich zu sein. Aber da sie Jordys mail-Adresse wieder hatte, gerierte sie sich jetzt nahezu omnipräsent.
Also, ich kann dich beruhigen, sie tönte ihr Haar jetzt dunkel, war inzwischen älter und etwas normaler geworden, aber was heißt das schon bei ihr, die meisten ihrer Macken pflegte sie auch weiterhin. Jedenfalls hatte sie mal wieder ihren Job als Gesangslehrerin geschmissen, um sich nicht mehr mit "unmusikalischen Amateuren", so der Originalton Namiko, abzuplagen, die O sole mio üben möchten, sondern um per Zeitarbeit in diversen Firmen nach wohlsituierten Sponsoren Ausschau zu halten, und da sie sich trotz fortgeschrittener Jahre nicht ganz zu Unrecht noch immer für eine Schönheit hielt, die freilich nicht mehr gänzlich unwiderstehlich war, schickte sie Jordy neben einigen Selfies, wenn immer sie sich ein neues Kleid ausgesucht hatte, ihre Wochenend-Nachrichten
, und zwar mit Vorliebe, während sie in der Badewanne saß, allerdings leider ohne Fotos. "Leider" schreibe ich deshalb, weil Jordy anhand dieser Selfies zum ersten Mal konstatierte, dass sie auch über ein durchaus ansehnliches Decolleté und respektable Beine verfügte. Beides hatte sie in ihrem bisherigen Dasein ja sorgsam vor ihm geheim gehalten. Da hätte sie ihm eigentlich auch mal Selfies aus der Badewanne senden können, fand er.


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Obwohl Jordy ihr schon manchen sehr ungalanten Tort angetan und unmissverständlich verdeutlicht hatte, dass er an einer Liaison mit ihr ziemlich desinteressiert sei, betrachtete sie ihn als eine Art Lebensratgeber und wurde nicht müde zu betonen, wie sehr sie ihn möge und schätze und achte und was man so alles sagt, wenn man alleine daheim hockt und keinen festen Freund hat. Und lud bei ihm während der meditativen halben Stunde in der Badewanne alle ihre Erfolge und Misserfolge ab. Dass sie so einem Typen wie dem Jordy von dort aus keine Selfies sandte, kann ich gut verstehen. Täte ich auch nicht.

Also, ihre nach Schaumbad duftenden Unterwasser-News klangen in etwa so:
"Bin erst jetzt nach Hause gekommen, war zum Dinner im Sheraton. Mit einem Arzt, der an mir sehr interessiert zu sein scheint. Er verdient etwa eine halbe Million. Er hat nämlich eine eigene Klinik eröffnet und macht damit einen Haufen Geld. Dafür wäre ich bereit, sein Alter (um die 64), seine Glatze und Brille zu ignorieren. Schließlich kommt es bei Männern mehr auf den Charakter an. Aber küssen will ich ihn nicht. Er sieht aus, als hätte er Zahnfleischentzündung, will aber nicht zum Zahnarzt gehen. Außerdem schickt er mir zwar täglich eine e-mail, aber immer nur morgens um 7:50 Uhr und sonst nie. Er hat danach keine Zeit mehr, sagt er. Wie findest du ihn, meinst du, der wäre was für mich ?"
Da Namiko bei Partnerkandidaten üblicherweise mehr auf den Zustand des Portefeuilles als auf den des Gebisses achtete und darauf, dass sie ins Sheraton oder Hyatt eingeladen wird, hatte Jordy keine eigene Meinung zu Namikos unbekannten Geldgebern. Sollte sie ihn doch heiraten oder sich als Geliebte aushalten lassen.
"Nein, heiraten kommt nicht in Frage. Dann ist der Reiz weg, dann lädt er mich nicht mehr ins Sheraton ein, sondern lässt mich seine Unterhosen waschen. Außerdem sollte ein Mann mehr Zeit für mich haben. Und seine Zähne behandeln lassen."
Ich glaube, ich brauche dir nicht näher zu erläutern, weshalb Namiko schon lange von Jordys Kandidatinnenliste gestrichen war. Aber heiter stimmten ihn ihre launigen Erzählungen durchaus.


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Aber jetzt willst du erst mal wissen, was es mit den Party-Studenten auf sich hat ? Was gibt's da zu schildern ? Die Rasselbande trifft sich halt mit ihrem Deklaprof in einem deutschen Restaurant mit dem sinnigen Namen "Meine Kleine" in downtown Tokyo, besäuft sich mit Leewenbroi-Bier, mampft Sauerkraut und vermeint angesichts der Würstelplatte, beinahe in Deutschland gewesen zu sein. Ein Pianist in der Ecke klimpert Edelweiß, und weil die Kinderlein, die Old Jordy garnieren, allesamt Gesangsstudenten sind, beginnen erst einige, dann noch andere mitzusummen, bis allmählich ein biergetränkter dreizehnstimmiger, wohltrainierter Chor draus wird, der den Pianisten lauthals vom Hocker pustet.
Du weißt ja, dass in der Musik generell, und im Gesangsfach ganz besonders, ein deutlicher Herrenmangel bzw. Damenüberschuss besteht. Außer Jordy waren nur zwei Jungs gekommen, und je mehr die Stunde vorrückte und das Bierfass zur Neige ging, desto eifriger hockten die Mädels reihum auf Jordys Schoß, denn der eine der beiden Jungs war für sowas zu schüchtern, und der andere zu kindisch. Hinterher zog die lustige Mischpoke geschlossen in eine Bar, wo noch einige Cocktails nachgegossen wurden, aber niemand schlug über die Stränge, es war ein netter Abend mit den Studis aus Jordys Klassen, mehr nicht.

* * *

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'Wegen sowas schreibst du doch keinen Roman, Heinz Jabornik', sagst du jetzt, 'rück raus mit der Sprache, welche Schöne hat dem Jordy einen heißen Schwur ins Ohr gehaucht, als sie auf seinem Schoß saß ?' 
Hm, stimmt, mit dem Roman, da hast du vielleicht nicht Unrecht. Obwohl, "Roman" für diesen Schmonzes, da errötet ja das Internet. Aber denk dran, dass Jordy schon nicht mehr zur Generation der Eltern, sondern fast der Großeltern dieser Studenten zählte, weshalb die beiden Jungs, die von den Mädels als Anstandswauwaus vorsichtshalber mit dazu geladen waren, eigentlich gar nicht nötig gewesen wären. Für Namiko mögen Senioren ja den Reiz eines ansehnlichen Kontostands haben, aber Jordy pflegte nicht im Sheraton ein- und auszugehen, da würde ihm bei dieser Beauty auch sein gesundes Zahnfleisch nichts nützen. Wie sollte man also in so ein Ereignis irgendwas Erotisches reinbringen ? Völlig aussichtslos, zumal japanische Studenten und mehr noch die Studentinnen aussehen
wie Vierzehnjährige in Germanistan und sich zum Teil auch so verhalten. Da saßen zwar die Nummer zwei bis fünf von Jordys privater Hitliste dieser Gesangsklasse um ihn, aber sie juchzten alle nur wie Kinder, sangen Edelweiß und Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, flüsterten aber keine heißen Schwüre....

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Impek, die Organisatorin der Party, hatte ihm vorher nur gesagt, wie viele Personen kommen würden, aber nicht die Namen verraten. So war er zwar froh, vier der fünf hübschesten um sich versammelt zu sehen, aber zugleich auch ein wenig enttäuscht, dass seine Nummer eins, auf die er insgeheim gehofft hatte, nicht mit dabei war. Wahrscheinlich gehörte sie einer anderen Fraktion in der Klasse an und zählte nicht zum heutigen Party-Klüngel.
"Bei uns gibt es keine Fraktionen oder Klüngel, es sind alle gekommen, die Zeit und Lust hatten", meinte Impek, Jordys Nummer zwei. "Am Jahresende machen wir noch so eine Party mit Ihnen, es war so richtig nett heute Abend !"
Aber jetzt verrate ich dir erst mal, warum das Mädel auf den seltsam unjapanischen Namen Impek hört, damit du nicht glaubst, ich würde dich vergackeiern. Das ist nämlich die nur in Japan verständliche Abkürzung für "inspector" und bedeutet so etwas Ähnliches wie Klassensprecher/in.
"...machen wir noch mal so etwas...", das sagt man in Japan immer, wenn etwas Schönes vorbei ist, und meistens bleibt es dabei, weshalb Jordy richtig baff war, als Ende Oktober tatsächlich eine mail von Impek kam mit der Ankündigung, Mitte Dezember sei die nächste "Party mit Deklaprof Jordy" geplant, ob er wieder kommen würde. Partys, da kommt er immer, und so sah man sich im selben Restaurant wieder. Diesmal fehlten in dem Sängerinnenschwarm die Nummern eins und drei von seiner Hitliste, aber dafür waren etliche neue Gesichter mit dabei --- und ein einziger Bariton.



studiparty



"Eigentlich wollte Sayuri noch kommen, aber sie hat vorgestern angerufen, sie musste absagen wegen Erkältung."
Jordy war elektrisiert. Sayuri, so hieß seine Nummer eins.
So weit, so gut. Aber erstens hatte sie ja abgesagt, und zweitens gab es in der Klasse zwei Sayuris, die zudem auch noch den gleichen Familiennamen Endo trugen, und Jordy hatte keine Ahnung, welche von beiden da um ein Haar fast beinahe gekommen wäre. Er fragte auch nicht weiter danach.  

Unter fünfundzwanzig Japanern liegt die Wahrscheinlichkeit, dass einer oder eine davon mit Nachnamen Endo heißt, bei rund 80%, und da auch etwa jede 
fünfundzwanzigste
Japanerin auf den Namen Sayuri hört, ist es kein sonderlich großer Zufall, wenn in einer Klasse zwei Sayuris aus dem Hause Endo sitzen. Von den beiden aus Jordys Klasse war die eine bildhübsch und auffällig, und die andere schaute mausgrau durch ihre Brillengläser. Die hübsche galt in der Klasse als Miss Belcanto, Schwarm aller Jungs, und die andere mit der Sekretärinnenbrille saß irgendwo blass und still in der Ecke und studierte ihre Noten. Die Beauty jobbte in einem dunklen Kostüm, das sie in eine perfekte Lady verwandelte, im Opernhaus als Platzanweiserin und lächelte Jordy jedesmal an, wenn er ihr dort begegnete, während das kurzsichtige Brillchen sich nirgendwo auf dem Campus blicken ließ, Jordy sah sie nur im Unterricht, und im nächsten Jahr gar nicht mehr, während Miss Belcanto ihn aus der ersten Reihe im Deklakurs für die Oberstufe anstrahlte. Jetzt rate mal, welche der beiden Jordys Favoritin war....


missbelcanto
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Sayuri Miss Belcanto Sayuri Brillchen

 
"Heute war ich im Prince Hotel zum Dinner, da staunst du, was ? Mit einem Geschäftsmann, der mir sehr gut gefällt. Gut eine Million Jahreseinkommen, er hat drei Rennpferde. Allein für seine Pferde gibt er monatlich siebentausend Dollars aus, das finde ich cool. Er arbeitet als Broker an der Börse. Ich glaube, der ist besser als der Arzt, findest du nicht ?"
Aha, Namikos Badewannen-Liveticker war wieder online. Ein Blick auf das angebliche Jahresverdienst, kein Wunder, dass der unküssbare Zahnfleischdoktor da den Kürzeren zieht bei Namiko und der Börsianer ihr besser gefällt, da braucht sie doch Jordys Rat nicht ! Er riet ihr nur, seine Zahlen und sein Zahnfleisch gut zu überprüfen, bevor sie mit ihm anbandelt, es gab schon viele "Millionäre", auch solche mit künstlichem Gebiss, die sich mit einem teuren Dinner flotte Mädels ins Bett gelotst haben und danach ebenso schnell verschwunden waren wie ihre imaginären Millionen. Aber wenn Namiko große Geldscheine wittert, setzt ihr Verstand schnell aus. Ihr würde Jordy um keinen Preis Einblick in seine Finanzen gewähren, obwohl sie sich schon öfter mehr oder minder direkt nach seinen Vermögensverhältnissen erkundigt hatte.

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Interessiert dich alles nicht ? Du willst lieber wissen, wie es mit der Sayuri weitergeht ? Welche Sayuri ? Es gibt schließlich in Jordys Umkreis zwei davon, und beide heißen mit Nachnamen Endo.
Also, die hübsche Sayuri strahlte im gesamten darauffolgenden Studienjahr mit ihrem japanischen Dauerberufslächeln auf den Lippen gleichmäßig vor sich hin wie der Reaktor Fukushima 1 und mutete ansonsten an, als berge sie im Busen eine Silikonseele. Wahrscheinlich sind deswegen die japanischen Jungs so hingerissen von ihr. Immer das gleiche urjapanische Grinsen, zu jeder Tages- und Nachtzeit; sie sieht auch immer fotogen aus, kichert je nach Bedarf mal kindlicher, mal weltlicher, aber sonstige Attraktionen suchte Jordy bei ihr vergebens. Model aus der Retorte, dachte er, und zweifelte gar, ob es sich nicht womöglich um ein virtuelles Wesen handle, einen batteriegetriebenen Grinsroboter oder einen Avatar der Gesangskunst.
Um herauszufinden, dass sich hinter dem Brillchen der anderen, unauffälligen Sayuri ein Wunderwesen versteckte, benötigte Jordy gut fünf Monate, dann fühlte er, dass dieses Mädchen eine Aura besaß, die ihn langsam, aber sicher in ihren Bann zog wie ein ferner, aber starker Strudel.

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Dass sie immer sehr chic gekleidet war und sich ihr Haar nicht so abenteuerlich färbte wie viele andere, hatte Jordy schon früher bemerkt, aber nach den Sommerferien erkannte er hinter den dick gerahmten Brillengläsern ein überaus liebliches Gesicht, das ihm mit Geschmack und Intelligenz auf seine Fragen antwortete. Dass dieses interessante Wesen im Folgejahr in keiner seiner Klassen auftauchte, enttäuschte ihn ein wenig, denn auf dem Campus war Sayuri, im Gegensatz zu ihrer Plastikkollegin, nahezu unsichtbar. Es konnte aber sein, dass die beiden gleichnamigen Studentinnen sich abgesprochen hatten, unterschiedliche Kurse zu belegen, um nicht immer alle beide aufzuschrecken, wenn der Name Endo Sayuri aufgerufen wurde.
Er versuchte einmal, sie zu googeln, aber googel mal eine Endo Sayuri, davon gibt es Hunderte. Enkelkinder und Schauspielerinnen, Hebammen und Coiffeur-Azubis, Wahrsagerinnen und
Busenmodels, Quizmasterinnen und Stadträtinnen, Stylistinnen und Sportskanonen bevölkern die social networks und unzählige websites, und alle heißen Endo Sayuri; das singende Brillchen war zu unscheinbar, um sich so einfach aus dem Internet fischen zu lassen.
Ein einziges Mal hatte er sie mittags in einer Gruppe von Kommilitoninnen getroffen, die in einer Sitzecke am Palavern war. Da Sayuri ihm schüchtern zugewinkt hatte, war er näher getreten und hatte gesagt:
"Alle deine Kommilitoninnen sind auch in diesem Jahr wieder bei mir, aber dich vermisse ich..."
"Im nächsten Jahr komme ich bestimmt wieder !" hatte sie gelächelt, und dieses Lächeln war sehr charmant und schmeckte auch nicht nach Silikon.


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* * *
Tatsächlich erschien sie im darauffolgenden Jahr in seinem Lied-Interpretationskurs. Er erkannte sie erst nicht, als sie beim ersten Unterricht nahe dem Fenster ganz alleine in der ersten Reihe saß. Er ließ die Namensliste herumgehen, und als er dann einen Blick darauf warf, las er "Endo Sayuri" an erster Stelle - die unbekannte Schöne in der ersten Reihe war Sayuri... ja, wo hatte sie denn ihre Brille gelassen ? Aus der unscheinbaren Knospe vor zwei Jahren war eine prachtvoll aufgeblühte Orchidee geworden, anders kann man es nicht beschreiben. Auch die Haare hatte sie getönt, aber nicht zu hell, war diskret geschminkt und so chic gekleidet wie immer. Und jeder Blick, jede kluge Antwort in dem Interpretationskurs machte Jordy täglich sayurisüchtiger.
Sie war eine wirkliche, wenn auch stille Schönheit, das hatte Jordy trotz Brille schon vor zwei Jahren richtig erkannt. Und hatte eine Aura, die Jordy beinahe umwarf. Es gibt ja so eine Art Anziehungskraft, die noch unerforscht ist, aber auf irgendeinen sechsten oder siebten Sinn wirkt. Jordy war von dem Mädchen hingerissen, ließ es sich aber nicht anmerken, denn als Prof wollte er neutral sein und alle Studiker gleich behandeln. Er fürchtete aber, dass Sayuri es doch ihrerseits, mit ihrem eigenen sechsten oder siebten Sinn, spüren könnte. Sie war im Unterricht immer hellwach, immer vorbereitet, dachte immer mit. Nur zwei andere Studentinnen in der großen Klasse konnten es leistungsmäßig mit ihr aufnehmen. Manchmal fragte sich Jordy, ob sie wirklich so fleißig war oder sich vor ihm besonders anstrengte, aber sie bot ihm keinen einzigen Anhaltspunkt für irgendwelche Vermutungen. Sayuri gab sich als normale, wenn auch emsige und motivierte Studentin.


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Trotzdem gab es Momente, die Jordy stutzig machten. Einmal wartete sie nach dem Unterricht noch am Aufzug, als Jordy vorbeikam.
"Sie nehmen die Treppe ?" fragte sie, als sie ihn erblickte. "Dann gehe ich mit Ihnen zu Fuß, runter ist es ja leichter als rauf."  
Immer eine Stufe hinter ihm, wie es sich in Japan gehört, klapperte sie die Stufen vom 3.Stock bis ins Erdgeschoss zusammen mit Jordy runter und erzählte dabei auf seine Frage, wohin sie für ihr pädagogisches Praktikum gehen werde, dass sie aus Niigata stamme und dort an ihrem früheren Gymnasium hospitieren werde. Unterwegs nestelte sie ein Schoko-Candy, so eine Art Mon Chéri, aus ihrer Handtasche und reichte es Jordy mit ihrem entzückenden Lächeln.
"Das hat vorhin die Gesangsprofessorin verteilt, ich gebe Ihnen gerne eins davon ab."
Ein andermal fragte er w
ährend des Unterrichts, was das wohl zu bedeuten habe, wenn es in einem Mozart-Lied heißt "...er führte mich in ein Gesträuch, ich wollt' ihn fliehn und folgt' ihm gleich...". Wen er auch fragte, die Studentinnen drucksten und zierten sich, keine traute sich zu antworten. Bis er Sayuri drannahm; ohne zu zögern oder zu erröten sah sie Jordy an und antwortete mit fester Stimme: "Der Bursche will halt mit dem Mädel ein bisschen knutschen."
So sanft und zurückhaltend sie auch aussehen mochte, sie macht keinen Bogen um den heißen Brei und sagt schlicht und ergreifend, was Sache ist. Hundert Punkte für Sayuri.
Sie hatte noch einen Kurs belegt, deutsche Musikgeschichte der Neuzeit, der auch für Musiker anderer Fachrichtungen offen ist. Dort saß sie stets neben einem blassen Pianisten, mit dem Jordy sie auch nach dem Unterricht ein- oder zweimal zusammenstehen sah. So verliebt, dass er dabei Eifersucht verspürt hätte, war Jordy nicht; es wird halt ihr Klavierbegleiter sein, dachte er sich, das ist bei Gesangsstudenten das Natürlichste auf der Welt.
Auch dass sie im Abschlussexamen auf den Rand des Bogens für Jordy am Ende ein "herzlichen Dank für ein Jahr interessanten Unterricht" schrieb, ist in Japan nicht ungewöhnlich, etwa alle zwei bis drei Jahre findet sich bei den Studenten mal so ein Zusatz auf dem Prüfungsbogen.


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Mehr gibt es über Sayuri nicht zu erzählen. Nach dem Examen in diesem Studienjahr, ihrem letzten an der Musikakademie, verschwand sie aus dem Klassenzimmer, und Jordy meinte mit großem Bedauern, es sei ein Abschied für immer von einer bemerkenswert charmanten, gut aussehenden Studentin, die ihm sehr gefallen hatte. Sowas kommt halt immer wieder vor. Im neuen akademischen Jahr kommen wieder neue Gesichter, wieder neue, interessante Typen. Aber dieser wortlose Abschied von Sayuri schmerzte ihn doch ein wenig mehr, als er sich eingestehen wollte.

Von Impek kam fast zeitgleich eine mail.
"Wir möchten Sie zu unserer Abschlussparty einladen, haben Sie Lust zu kommen ?"
Ein paar Tage sp
äter lag in seinem Seminarraum für ihn ein hübscher Umschlag mit einer formellen Einladungskarte und einer Antwortkarte, auf der er nur "nehme teil" oder "nehme nicht teil" anzukreuzen brauchte. 
W
as diese Klasse an ihm gefressen hatte, war ihm ein Rätsel. Aber nach zwei Jordy-Partys gehörte er für diese Absolventen wohl irgendwie mit dazu. Phantom der Oper oder Faktotum des Liedgesangs. Na schön, er kreuzte "nehme teil" an und überreichte das Couvert der netten Party-Managerin Impek, als er sie zufällig auf dem Gang erwischte. Die Kommilitoninnen neben ihr machten erstaunte Gesichter.
"Ein Liebesbrief für Impek", scherzte Jordy, und die kleine Silberblick
-Eri seufzte:
"Ich würde auch gern einen Liebesbrief von Ihnen bekommen....!"
Jordy musste wirklich lachen. Babyface Eri könnte glatt als seine Enkelin durchgehen.

snowflakes

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Die Abschlussparty fand im schnieken Imperial Hotel statt. Jordy sah sich verstohlen um, ob nicht womöglich Namiko mit irgendeinem angegrauten Krawattenträger mit Zahnfleischbluten im Restaurant säße, aber von ihr war gerade eine neue Badewannen-message eingetroffen.
"In meinem Alter sind Liebesaffären mit den größten Schwierigkeiten verbunden. War gestern wieder mit dem Arzt im Hilton essen, er gab sich sehr charmant und großzügig, aber er weigert sich einfach, seine Zähne behandeln zu lassen. Und sowas will ein Arzt sein ! Der Börsenzocker mit seinen Rennpferden ist mir da doch irgendwie sympathischer, ach, wie soll ich mich entscheiden ?"
Da ist guter Rat teuer, und Jordy kannte sich mit der Psyche von Frauen wie Namiko nur wenig aus; er wusste nur, dass die liebliche Sayuri, die er im Festsaal in einem wunderschönen gelben Seidenkleid erspähte, in ihrer stillen, freundlichen Art ihm hundertfach wertvoller und attraktiver erschien als die Glamour-Schönheit Namiko. Jetzt, da Sayuri keine Studentin mehr war, ging er zu ihr und sagte schlicht und direkt:
"Im Lauf des Abends möchte ich unbedingt mit der hübschesten jungen Dame des Jahrgangs ein gemeinsames Foto machen, du darfst nicht fortlaufen."
"Sie meinen doch nicht etwa mich ?" fragte sie mit ungekünstelter Überraschung.
"Ja, wen denn sonst ? Du bist doch wirklich die Königin des Abends", gab er grinsend zurück, aber das war kein Charmeurkompliment, er meinte es wirklich so, denn auch die zierliche und hübsche Impek, seine Nummer zwei, reichte nicht an dieses dunkelhaarige Dornröschen Sayuri heran.

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Er konnte sein Foto machen, Sayuri lehnte ihren Kopf an seine Schulter, und als er das Foto zuhause auf seinem Screen vergrößert vor sich sah, freute er sich über das ausgezeichnet gelungene, tolle Souvenir. Es war das einzige Foto, das er von ihr hatte.
Am Ende des Festes stürmten auch die anderen zu Jordy. Er war noch immer Deklaprof, der alle Studenten gleich behandelte, und machte auch mit den männlichen Kindsköpfen und plastikgrinsenden Ladies Fotos. Dabei sah er aus seinem Augenwinkel, wie ein Mädel im gelben Kleid langsam alleine zum Ausgang ging, sich dort noch einmal kurz umdrehte, und dann, während Jordy gerade einer anderen Kommilitonin als Senioren-Fotomodel diente, einfach fortging, ganz alleine. Als Jordy mit allen Honneurs zu Ende war und das Hotel verließ, hielt er Ausschau nach gelben Seidenkleidern, die unter den dicken Märzmänteln hervorlugen mochten, aber weder unterwegs noch am Bahnhof fand er irgend jemanden, der auch nur entfernt nach Sayuri aussah.
"Das war's wohl. Adieu, schöne Sayuri", murmelte er etwas traurig vor sich hin.

Dumpf erinnerte er sich auf dem Heimweg an Impeks letzte Worte zum Abschied: "Im Sommer machen wir noch eine Party mit Ihnen, alle haben große Lust, nochmal zu feiern...."
Eine muntere Rasselbande, diese Klasse. Aber nach dem Studienabschluss würden sie sich wohl in alle Winde zerstreuen, die einen in den Magisterkurs, andere würden irgendwo Musiklehrer, wieder andere ins Ausland gehen, heiraten, Privatstunden geben oder ihre alten Eltern behüten. Diesmal nahm Jordy diese Aussage erst recht als Partybafel, und selbst wenn sich tatsächlich noch ein paar Leute zu einer Feier einfinden würden, die Chancen, dass Sayuri, und zwar die richtige der beiden Sayuris, daran teilnehmen würde, schätzte Jordy nicht sehr hoch ein. Wahrscheinlich gehörte sie doch nicht mit zur Party-Clique.
 
 
"Den Arzt habe ich abserviert. Ihm gesagt, dass es aus ist. Kommunikation ist schließlich wichtig zwischen zwei Partnern. Wenn sich jemand nicht richtig um mich kümmern mag und nur seine tägliche Siebenuhrfünfzigmail schickt, mache ich Schluss. Jetzt fühle ich mich deutlich besser, ein Stress weniger. Und außerdem ermöglicht jeder Abschied einen neuen Anfang."
Namikos neueste Erkenntnisse aus der Badewanne. War angesichts der Kontostände der beiden Konkurrenten eigentlich keine allzu große Überraschung.


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* * *
Nein, keine Angst, ich will dich nicht unnötig auf die Folter spannen, du willst also wissen, wie es mit den beiden Sayuris und Konsorten weiterging ? Dabei sind doch Namikos Aventüren viel vergnüglicher, stell dir nur einmal vor, wie viel weniger Jordy ohne sie zu lachen hätte. Aber der Wunsch des Kunden ist dem Autor Befehl.
Also, ob die Sommerparty stattfand oder nicht ? Natürlich fand sie statt. In einem italienischen Restaurant in der Nähe der Akademie. Impek warnte Jordy vorher, es seien nur noch sieben Teilnehmer/innen diesmal. Jordy fand es ganz toll, dass Impek, die schließlich ins ferne Nagoya, ihre Heimat, zurückgekehrt war, trotzdem noch so eine Feier arrangiert hatte. Dafür kamen nur die paar Tage in Betracht, in denen sie aus anderen Gründen gerade in Tokyo zu tun hatte. Sie würde so lange bei Babyface Eri wohnen, teilte sie mit.
"Herr Professor !" tönte es hinter Jordy auf der Rolltreppe am Bahnhof, an dem er ausgestiegen war und gerade dem Treffpunkt zustrebte. Er drehte sich um. Hinter ihm stand und lächelte die hübsche Impek, ein Rollköfferchen an der Hand.


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"Bist du eben erst aus Nagoya gekommen ?" staunte Jordy. Impek nickte lächelnd.
"Leider kommen jetzt nur drei weitere Teilnehmer", sagte sie bedauernd.
"Und eine muss früher fortgehen, andere kommen erst später. Es ging leider nicht anders...."
Es waren keine Teilnehmer, die vor dem Eingang des Restaurants warteten, sondern ausschließlich Teilnehmer
innen
.
Eine davon war Sayuri. Die richtige Sayuri.
Jordy strahlte sie an: "Dass du zum ersten Mal mit dabei bist, ist eine freudige Überraschung !"
Sayuri strahlte zurück. "Ich muss aber in einer Dreiviertelstunde schon wieder gehen."
"Umso netter, dass du trotzdem gekommen bist."
Jordy war ganz aus dem Häuschen. Insgeheim hatte er ja gehofft, dass Sayuri auch käme, aber für sehr wahrscheinlich hatte er das nicht gehalten. Es wäre genauso gut möglich gewesen, dass sie längst wieder zuhause in Niigata war.
"Nein, ich bin in Tokyo geblieben. Ich jobbe tagsüber in einem Büro, und abends singe ich in einer Bar in Ginza", erzählte sie nach dem Anstoßen mit dem Rotweinglas. Sie hatte sich neben Jordy gesetzt, weil sie bald wieder fortmusste, und ihre Knie an Jordys Beine gepresst. Die anderen bemerkten es nicht, war ja unter dem Tisch, aber Jordy merkte es und wunderte sich. Sayuri war ihm im Unterricht immer sehr lieb, aber in distinguierter Noblesse auf Distanz bedacht vorgekommen; sie mutete nicht gerade leicht zugänglich an, und dass sie von sich aus Beinkontakt suchte, hätte er ihr nicht zugetraut. Aber er hatte ihr auch nicht zugetraut, sich zu einem Klassentreffen in ein Weinrestaurant herabzulassen. Und jetzt war sie da, saß neben ihm und lächelte ihn herzig an.
Jordy plauderte natürlich auch mit den anderen und gewahrte die verwunderten Blicke von den Nachbartischen, an denen junge Geschäftsleute lärmten. Es war ihnen anzusehen, dass sie sich fragten, wie so ein verschnarchter ungebügelt verknitterter ausländischer Opapa es geschafft haben könnte, sich von einem Schwarm blutjunger Japanerinnen dermaßen fröhlich garnieren zu lassen. Am fröhlichsten war Sayuri. Sie schien richtig happy zu sein über das Wiedersehen. Allerdings raffte Jordy nicht, was der Zweck ihres Verbleibs in Tokyo sein könnte, denn nach dem Abschluss des Studiums einfach
nur ohne besonderes Ziel dazubleiben und zu jobben, um die Miete bezahlen zu können, das schien ihm nicht allzu sinnreich zu sein. Vielleicht bereitete sie sich auf die Prüfung für den Magisterkurs vor ?
"Nein, das Studium ist für mich vorbei. Aber ich singe halt gerne, und das kann ich nicht bei uns in der Provinz, sondern nur in Tokyo, abends in der Bar."



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Jordy war nicht ganz überzeugt, aber die dreiviertel Stunde war schon beinahe vorbei, Sayuri schmiegte sich an ihn fürs gemeinsame Foto. Nein, eine ganze Serie von Fotos. Jordy drückte sie so sehr, dass sie
 besser keines dieser Fotos ihren Eltern zeigen sollte.
Da er davon überzeugt war, dass dies die allerletzte Party mit dieser netten Sängerbande sein würde, verteilte er, als Sayuri sich zum Gehen fertig machte, seine Visitenkarten und ein paar Kleinigkeiten als Andenken an alle. Konnte ja sein, dass eine später mal was Deutsches singen musste und Dekla-Stunden brauchte. Sayuri sagte spontan: "Oh, da steht ja Ihre mail-Adresse drauf. Ich werde Ihnen garantiert eine mail schicken, darf ich ?"


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Was hatte Sayuri eigentlich dermaßen auftauen lassen ? Dass sie seit langem Jordys Favoritin war, hatte sie offenbar weder geahnt noch bemerkt. Jordy hatte als Pädagoge also einen guten Job geleistet. Zur ersten Party war sie gar nicht erst gekommen, die zweite hatte sie abgesagt; er wusste jetzt immerhin, dass es nicht die andere, die Plastik-Sayuri, gewesen war. Aber jetzt war sie gekommen, obwohl sie gleich wieder fort musste, und obwohl das ein guter Grund gewesen wäre, auch
heute nicht mitzufeiern. Kann es sein, dass ihr bei der Uni-Abschlussfeier sein Wort von der "hübschesten jungen Dame des Jahrgangs" und der "Königin des Abends" ein Jordy-high verpasst hatte ? Als alter Schnarchsack kann man doch mit solchen süßholzhaltigen Reden junge Mädels eigentlich eher in eine panische Flucht des Entsetzens schlagen....
Wohin sie am Abend noch gehen musste, willst du wissen ? Jobben. In die Bar. Sie sang dort keine Schlager, sondern Schubert und Schumann, wie sie es an der Akademie gelernt hatte. Es muss eine seltsame Bar sein. Jordy schlug vor, dass alle im Anschluss an das Dîner auf einen Cocktail in die Bar nach Ginza gingen, aber dazu hatten die anderen Mädels keine Lust. Jordy insistierte nicht, er wollte sich kein übertriebenes Interesse an Sayuri anmerken lassen.
Kaum war sie fort, erschien eine andere, Jordys Nummer vier, stopfte sich schnell die Reste von Pasta und Pizza rein, denn in einer halben Stunde wollten noch zwei Jungs kommen, aber woanders noch was essen. Daher zogen alle in einen Biergarten in der Nähe, wo sich die endlich erschienenen beiden Jungs Fritten, Lammspieße und Würstel in den hungrigen Rachen schoben, aber Jordy hörte dem allgemeinen Bierbafel nicht sehr konzentriert zu, sondern dachte an Sayuri. Er stellte sich vor, dass sie jetzt wohl aus ihrem Handköfferchen ihr Abendkleid gezogen und angelegt hatte und in der verräucherten Bar vor den whiskeyschlürfenden Pärchen Die Lotosblume hauchte. Und je detaillierter er sich die Situation vorstellte, desto unwohler wurde ihm dabei. 

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Wieso, willst du wissen ? Streng doch mal deinen eigenen Schädel an ! Immer bloß lesen, was dir hier vorgekaut wird, so eine passive Haltung macht dick und führt unweigerlich zu vorzeitiger Verkalkung, Parkinson und Alzheimer.
Siehst du, jetzt merkst du es endlich auch, war ja gar nicht so schwer. Jordy hatte schon öfter die Erfahrung gemacht, dass Denken zwar der geistigen Hygiene dienen mag, aber nicht immer nur hocherfreuliche Ergebnisse zeitigt.
Nur um deine Gedankengänge zu bestätigen, erzähle ich dir deshalb, dass sich bei Jordy nun auf einmal alles wie Puzzleteile zueinander fügte, was ihm bisher nicht so recht hatte einleuchten wollen. Wenn ein Mädel gerne singt, dann ist ihr Ideal gewiss nicht unbedingt das Jobben in einer Bar in Ginza. Es musste eine stärkere Motivation für Sayuri geben, in Tokyo zu bleiben und sich mit Jobben über Wasser zu halten. Und die wollte sie Jordy offenkundig nicht verraten. 'Ich singe halt gern' ist ja nun wirklich bloß eine dürftige Ausrede.
Jetzt stellte sich Jordy also konkret vor, wie sie da in der Bar Mein Herz ist schwer trällerte, und sogleich ertönte in seiner Fantasie nicht nur Sayuris Gezwitscher, sondern auch die Klavierbegleitung, und als er das imaginäre Spotlight auf den Pianisten richtete, der da im Dämmerdunkel hinter ihr klimperte, tauchte vor seinem geistigem Auge der Klavierstudent Okumura auf, der früher immer neben Sayuri gesessen und bisweilen auch bei ihr gestanden hatte. Jordy fürchtete, das Fallen des Groschens sei für die musikalische Sängerschar, die um ihn saß, hörbar gewesen, so stark schepperte es nämlich in seinem Hirnkasten. Schließlich müssen sich Pianist und Sängerin auch tagsüber öfter zusammensetzen und ihr Repertoire einüben. Mit anderen Worten, der Okumura, davon war Jordy überzeugt, war Sayuris Herzbube, und ihm zuliebe war sie in Tokyo geblieben. Womöglich wohnten sie sogar zusammen, und Sayuri war durchaus nicht so distanziert und nobel und unerfahren, wie sie sich an der Akademie gegeben hatte. Dazu passte auch ihr Satz aus dem Unterricht vor einem halben Jahr, den sie, ohne mit der künstlichen Wimper zu zucken, von sich gegeben hatte:
"Der Bursche will halt mit dem Mädel ein bisschen knutschen."


barpianist


Fragt sich bloß, warum sie sich dann am Party-Abend so emsig mit Jordy befasst hatte. Jordy, sei vorsichtig, vielleicht will sie ihrem Okumura bloß erzählen, wie sich ihr Deklaprof in sie verknallt habe, und die beiden lachen sich dann tot über den Schnarchsack Jordy.   
Handfeste Belege für seine Vermutungen hatte Jordy keine. Vielleicht hatte sie ja auch einfach keine Lust, nach Niigata zu gehen und Musiklehrerin an einer Mittelschule zu werden. Oder sie hatte Krumpel mit der Verwandtschaft. Und der Barpianist war vielleicht auch ein bierbäuchiger glatziger Alter mit Zahnfleischentzündung, aber ohne Millionen auf dem Konto, und Sayuri ganz alleine in Tokyo, total liebesbedürftig, wer weiß. 
Jordy beschloss, abzuwarten, ob sie ihm eine e-mail senden würde und was drin steht. Was hätte er auch sonst tun können, von Sayuri hatte er nur ein einziges Foto, sonst gar nichts.

"Der Pferdekrösus ruft dauernd an und schickt auch viele mails. Ich finde ihn wirklich attraktiv, und zu alt ist er auch nicht, so um die fünfzig. Aber er hat anscheinend eine ganze Menge Mädels, mit denen er genauso rummacht. Der ist mit größter Vorsicht zu genießen, meinst du nicht auch ?"
Nein, das war nicht die erhoffte Nachricht von Sayuri. Das hast du clever durchschaut, da siehst du mal, dass Mitdenken bei einiger Übung gar nicht so schwer ist.
Das war also die neueste Badewasser-Depesche. Jordy riet Namiko, sich anzustrengen und dem Kerl ordentlich Lust auf sie zu machen. Zumindest ein Batzen Kleingeld ließe sich mit etwas Geschick sicherlich herausholen, auch wenn man kein Pferd war.

"Guten Abend ! Es hat mich sehr glücklich gemacht, Sie nach längerer Zeit wiederzusehen. Und herzlichen Dank für das schöne Geschenk. Ich war so froh darüber, dass ich zuhause gleich ein Foto davon gemacht habe. Bei der nächsten Party werde ich auf jeden Fall mit dabei sein !" las Jordy am nächsten Abend auf dem Screen. "Von Endo Sayuri" stand in der Betreffzeile. Und das Foto war mit beigefügt.


picsart


Jordy antwortete zwar postwendend, aber eingedenk seiner Pianisten-Überlegungen im Hinterkopf nicht allzu enthusiastisch:

"Ich habe mich gefragt, ob du nach zwei Gläsern Rotwein überhaupt richtig singen konntest
in der Bar. Es wäre aber ganz lustig, dir noch vor der nächsten Party irgendwo mal zufällig zu begegnen, wenn du doch ohnehin in Tokyo bist...."
Außerdem schickte Jordy ihr eine Kopie des schönen Fotos, das er mit ihr auf der Abschlussfeier gemacht hatte.
Sie ließ einige Tage verstreichen, bevor sie ihm antwortete, aber es klang ganz lieb.
"Guten Morgen ! Ich bin noch rechtzeitig eingetroffen und habe, nachdem ich Sie getroffen hatte, viel fröhlicher und besser als je zuvor gesungen. Danke für das schöne Foto mit Ihnen von der Abschlussfeier. Es zählt jetzt zu meinen größten Schätzen. Ich würde Sie auch gerne bald wiedersehen und mich mit Ihnen unterhalten. Wenn Sie ein wenig Zeit
für mich hätten und so gütig wären, mich zu einem Treffen einzuladen..."
Jordy fragte sich, ob das nun tatsächlich dazu gedacht sei, um sich mit ihrem Boyfriend über ihren ollen Pauker lustig zu machen. Eigentlich traute er Sayuri so etwas nicht zu. Sie war schon vorher sehr lieb gewesen, als sie ihn die Treppe hinunter begleitete und ihm ein Schoko-Candy zusteckte. Sie war von freundlicher Natur und eigentlich nicht von der Sorte, sich über andere zu mokieren oder üble Streiche zu spielen. Jordy hätte das schon längst gemerkt, so viel Menschenkenntnis traute er sich zu. Falls aber wörtlich gemeint war, was sie ihm da geschrieben hatte, dann dürfte die vermutete Liaison mit dem pianistischen Okumura wohl doch nicht allzu eng sein.

Japanische Männer tun sich oft sehr schwer, ihr Herz zu öffnen. Und vor selbständigen, gleichberechtigten Frauen haben sie meist einen gewaltigen Bammel. Sobald sie sich so ein rätselhaftes Wesen als Ehegattin eingefangen haben, ist die Hierarchie klar, hier der Gebieter, da die Kochwaschputzfrau und Kindermama. Am liebsten lassen sie sich so eine Untergebene durch einen Vermittler in der Verwandtschaft präsentieren, das erspart die lästige Investition in Gefühlsduseleien. Sich selbst so eine launische Sphinx gefügig zu machen, herrje, da muss Mann sich ja tausenderlei Gedanken machen, sich als Kavalier aufspielen, sich überlegen, was ihr gefällt und eine Freude macht, sich von der besten Seite zeigen, dauernd mails schicken oder anrufen, einen Haufen Geld für Geschenke und Dîners ausgeben, zärtlich und romantisch sein, sich täglich waschen und Zähne putzen oder gar zum Zahnarzt gehen... Wenn es also Wege gibt, sich solche Scherereien und überflüssigen Pipapo zu ersparen, dann wählt Mann die doch, ist ja sonnenklar.
Jordy konnte sich vorstellen, dass Okumura so ein Typ war. Blass und ernst, dem Unterricht blieb er nach zwei Monaten vollkommen fern, er konzentrierte sich wohl auf seine pianistische Karriere, was sollte ihm da die europäische Musikgeschichte ? Angenommen, dass Sayuri aus dem fernen Niigata wirklich unter ihren Kommilitoninnen aus Tokyo, Nagoya oder Kyoto ein wenig isoliert war, hielt sie sich womöglich aus Einsamkeit an ihren Mann am Klavier, und dem fiel nur ein, sie als Gesangspartnerin in die Bar zu schleppen und trällern zu lassen. Womöglich war ihm überhaupt nicht bewusst, was für ein Juwel, was für eine Märchenprinzessin die Sayuri in Wirklichkeit war, oder er scheute vielleicht die Mühe, die es machen würde, wenn er sie an sich heranließe. Eine fahrlässige Liaison mit all ihren Kapriolen könnte am Ende gar seine Karriere gefährden....
Und nun fuhr Sayuri mit ihrer Sehnsucht nach ein wenig Zuneigung und Zärtlichkeit womöglich auf den furchigen Jordy ab, der sie so aufrichtig anschwärmte. Bloß würde sich dieser auch durch noch so intensives Küssen nicht in einen Märchenprinzen verwandeln lassen. Wobei das mit dem
Küssen natürlich nur rein hypothetischer Natur war.
Ja, so könnte es sein; das war die Version, die sich Jordy nun zusammenreimte und die ihm auch am besten in den Kram passen würde. Man biegt sich ja gerne die Realität in Richtung Wunschtraum zurecht.   


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"Wenn du Lust hast, treffen wir uns im September nach den Sommerferien, da ist das Schulfest an der Akademie. Dort können wir uns anhören, wie deine Nachfolger/innen singen und hinterher gemeinsam was essen gehen. Und wenn du am Abend singen musst, kommst du bestimmt rechtzeitig hin..." schrieb er ihr, und recht schnell kam die Antwort:

"Das ist riesig lieb von Ihnen, ich freue mich auf den September. Bin sooo glücklich, dass Sie mich zum Schulfest mitnehmen wollen !"
Nein, das konnte keine Lüge sein. Jordy wollte sehr lieb zu Sayuri sein und erkunden, wie stark ihre Sehnsucht nach Zärtlichkeit war. Oder ob er sich getäuscht hatte.
 

Namiko war neuerdings anscheinend enger mit ihrem Pferdehalter befasst, denn auf eine Anfrage von Jordy, der mit leichter Verwunderung konstatierte, dass die submarinen Nachrichten auf einmal ausblieben, erwiderte sie nur kühl, sie habe für leere Plaudereien keine Zeit. Ausgerechnet sie schrieb ihm so etwas. Er nahm es mit Humor, denn die Funkstille in Namikos Rundfunk konnte Jordy durchaus verkraften, zumal das Unifest und die Begegnung mit Sayuri nahte. Er fragte bei Sayuri, die sich zu seinem Bedauern ebenso still verhielt, an, ob sie die Lust auf ein Treffen verloren habe oder verhindert sei.
"Nein, im Gegenteil, ich freue mich sehr auf das Wiedersehen !" kam die Antwort recht prompt. Wenigstens etwas. Jordy dachte aber, dass es ihr vielleicht unangenehm sein könnte, wenn sie auf dem Schulfest in Jordys Begleitung von etlichen Bekannten und denjenigen Studienkollegen erblickt würde, die im Magisterkurs verblieben waren, und stellte ihr daher frei, erst nach dem Fest zu einem gemeinsamen Abendessen zu kommen. Diese Variante war ihr offenbar hochwillkommen, denn sie stimmte sofort zu. Für den hoffnungsfreudigen Oldie Jordy sah es beinahe so aus, als wolle sie die Zweisamkeit mit ihm dem Schulfest vorziehen, und falls sich seine Erwartung bestätigte, würde er mit ihr nach dem Essen einen Spaziergang durch den dämmrigen Park machen, um ihre Absichten auszutesten...
Wie immer ging es hoch her auf dem Schulfest; als Lehrkörper hatte Jordy zwei Konzertveranstaltungen zu beaufsichtigen. Das ist nur eine Formsache, aber irgendwer muss ja verantwortlich sein, falls Betrunkene im schuleigenen Saal randalieren, Konzertflügel zu Bruch gehen oder Joints herumgehen, was allerdings bei den braven japanischen Musikstudenten völlig ausgeschlossen ist. Aber in dem Festgetümmel traf er fast alle seine Studis aus der Impek-Party-Klasse.
"Hallo, wie geht's, was macht ihr denn jetzt so ?"
Sayuri war natürlich nicht mit dabei, denn sie
schminkte sich vermutlich jetzt gerade daheim oder saß schon in der Bahn auf dem Weg zum Treffpunkt.
"Richten Sie Sayuri schöne Grüße von uns aus, wenn Sie sie nachher treffen", sagte Chika, eine der Kommilitoninnen, mit unergründliche
m Gesichtsausdruck.
Jordy zuckte zusammen. Er hatte geglaubt, dass außer Sayuri und ihm niemand davon etwas ahnte.
"Ja klar, danke. Ich werde es ausrichten", brachte er heraus. Wenn es also so stand, dass Sayuri ihre Freundinnen, nicht anders als Namiko Jordy, über ihre Sponsoren-Treffen auf dem Laufenden hielt, kann man nur sagen, dass sie durchaus auf der Hut war und ihren Exkommilitoninnen nicht
nur alles über den Zustand von Jordys Gebiss, sondern auch jeden Annäherungsversuch haarklein berichten würde. Den Parkspaziergang konnte er daher schon mal von der to-do-Liste streichen. Er musste den Umstand, dass die heutigen Kids ständig alles und jedes über social networks miteinander beplappern, in seine Rechnung mit einbeziehen.


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Sayuri kam pünktlich, wartete sogar schon, als Jordy drei Minuten vor der vereinbarten Zeit erschien. Dezent geschminkt, mal wieder mit Brille, was ihre Attraktivität jedoch nicht beeinträchtigte. Sie gab sich sehr liebenswürdig, plauderte charmant, lobte das Essen und genoss den Abend, aber zu zweit sitzt man im Restaurant natürlich nicht nebeneinander, sondern en face; kein Beinkontakt, nur Augenkontakt, und mochte Sayuri auch für Jordy mehr Blicke übrig haben als für das Carpaccio, was er der interessanten Furchenlandschaft seines Keith-Richard-Gesichts zuschrieb, blieb es doch bei belangloser Plauderei. Sayuri erwähnte, dass sie den Trubel mit Menschenmassen auf Schulfesten nicht sonderlich möge und dass Chika, von der Jordy ihr auftragsgemäß die Grüße ausrichtete, ihre beste Freundin sei. Anschließend brachte er sie brav zum Bahnhof und beide fuhren, jeder in seine Richtung, nach Hause.
Es kam noch eine nette Danksagung von Sayuri, die sogar den Wunsch enthielt, sich bald wieder zu treffen, aber weil er damit rechnen musste, dass Derartiges sofort über Chika in der gesamten Studentenschaft bekannt würde, wollte Jordy mit neuerlichen Treffen äußerst sparsam sein und ging daher nicht näher darauf ein. Ob dies der Grund dafür war, dass Sayuri ihm nach ein, zwei Mails nicht mehr antwortete, konnte er nicht wissen.

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