SCHNARCHSACK
4
Sayuri
Wenn
Jordy so ungalant mit den Damen umgeht wie mit der armen,
allmählich in Fahrt gekommenen Aimi, darf er sich nicht wundern,
wenn er zur Strafe ein ganzes Jahr lang nur mit der zutraulichen,
holden, aber schneereinen Ayame zu tun hat, für die vermutlich der
wesentlichste Unterschied zwischen Männlein und Weiblein die
unterschiedliche Stimmlage ist. Und, als ob das nicht Strafe genug
wäre, tauchte eines Tages Namiko in seinem Lehrerzimmer auf und
wünschte sich Nachhilfestunden in deutscher Deklamation, weil es
bekannt war, dass Jordy seinen Ex-Studenten solche Lektionen gratis
verabreicht. Und das gemeinsame Mittagessen vor knapp zwei Jahren war
in ihren Augen ausreichende Qualifikation für den Titel einer
Jordy-Ex-Studentin. Und nach getaner Arbeit hatte sie auch Jordys neue
Mail-Adresse wieder, so geht es halt im Leben. Diese Namiko taugt
freilich vorzüglich, um das Auf und Ab des Daseins zu
illustrieren. Niemand lebt seine Ups und Downs dramatischer aus als
diese kapriziöse Schöne, die noch
immer unerschütterlich daran
glaubte, dass Jordy, der immergeile Oldtimer, insgeheim nach ihr
schmachte und nicht
ablassen werde, ihr nachzustellen.
Da Jordy nach Ende seiner Liaison
mit der launischen Sängerin Yukari wie ein aufblasbarer
Gummielefant mit Loch leer vor sich hin schlaffte und bei all den zuvor genannten Ladies abgeblitzt war,
übernahmen es einige junge Leute aus einer anderen Generation,
ihn wieder aufzublasen. Nein, nicht so, wie du jetzt schon wieder
denkst, sondern nur psychologisch, falls du dich mit Fremdwörtern auskennst und kapierst, was das bedeutet.
Es ist nämlich keineswegs so, dass diese Twens geahnt
hätten, wie es um
ihn stand. Aber da sein Lebensmut nicht länger durch den Inhalt
von Yukaris
Dessous aufgefrischt wurde, wandte er sich verstärkt anderen
Divertimenti zu, und der Jahrgang des Sängernachwuchses, den er
just zu dieser Zeit in deutscher Deklamation unterrichtete, hatte
aus unerfindlichen Gründen dermaßen Gefallen an ihrem
kurz
vor der Pension stehenden Prof gefunden, dass irgendwer auf die Idee
kam, eine Party "für Jordy" auszurichten. Na, das ist doch mal
eine Gaudi !
Jetzt willst du wissen, was das mit der eigenwilligen Namiko zu tun hat.
Nichts, um ehrlich zu sein. Aber da sie Jordys mail-Adresse wieder hatte, gerierte sie sich jetzt nahezu omnipräsent.
Also, ich kann dich beruhigen, sie tönte ihr Haar jetzt dunkel, war inzwischen älter und etwas
normaler geworden, aber was heißt das schon bei ihr, die meisten ihrer Macken pflegte
sie auch weiterhin. Jedenfalls hatte sie mal wieder ihren Job als Gesangslehrerin
geschmissen, um sich nicht mehr mit "unmusikalischen Amateuren", so der Originalton Namiko, abzuplagen, die O sole
mio
üben
möchten, sondern um per Zeitarbeit in diversen
Firmen nach wohlsituierten Sponsoren Ausschau zu halten, und da
sie sich trotz fortgeschrittener Jahre nicht ganz zu
Unrecht noch immer für eine Schönheit hielt, die
freilich nicht mehr gänzlich unwiderstehlich war, schickte sie Jordy neben
einigen
Selfies, wenn immer sie sich ein neues Kleid ausgesucht
hatte, ihre
Wochenend-Nachrichten, und zwar mit Vorliebe, während sie in der
Badewanne saß, allerdings leider ohne Fotos.
"Leider" schreibe ich deshalb, weil Jordy anhand dieser Selfies zum
ersten
Mal konstatierte, dass sie auch über ein durchaus ansehnliches
Decolleté und respektable Beine verfügte.
Beides hatte sie in ihrem bisherigen Dasein ja sorgsam vor ihm geheim
gehalten. Da hätte sie ihm eigentlich auch mal Selfies aus der
Badewanne senden können, fand er.
Obwohl Jordy ihr schon manchen sehr ungalanten Tort angetan und
unmissverständlich verdeutlicht hatte, dass er an einer Liaison mit ihr ziemlich
desinteressiert sei, betrachtete sie ihn als eine Art Lebensratgeber
und wurde nicht müde zu betonen, wie sehr sie ihn möge und
schätze und achte und was man so alles sagt, wenn man alleine daheim hockt und keinen festen Freund hat. Und lud bei ihm während der meditativen halben Stunde in der Badewanne alle ihre
Erfolge und Misserfolge ab. Dass sie so einem Typen wie dem Jordy von dort aus keine Selfies sandte, kann ich gut verstehen. Täte ich auch nicht.
Also, ihre nach Schaumbad duftenden Unterwasser-News klangen in etwa so:
"Bin erst jetzt nach Hause gekommen, war zum Dinner im Sheraton. Mit
einem Arzt, der an mir sehr interessiert zu sein scheint. Er verdient
etwa eine halbe Million. Er hat nämlich eine eigene Klinik
eröffnet und macht damit einen Haufen Geld. Dafür wäre
ich bereit, sein Alter (um die 64), seine Glatze und Brille zu
ignorieren. Schließlich kommt es bei Männern mehr auf den
Charakter an. Aber küssen will ich ihn nicht. Er sieht aus, als
hätte er Zahnfleischentzündung, will aber nicht zum Zahnarzt
gehen. Außerdem schickt er mir zwar täglich eine e-mail,
aber immer nur morgens um 7:50 Uhr und sonst nie. Er hat danach keine Zeit
mehr, sagt er. Wie findest du ihn, meinst du, der wäre was
für mich ?"
Da Namiko bei Partnerkandidaten
üblicherweise mehr auf den Zustand des Portefeuilles als auf den des Gebisses achtete und darauf,
dass
sie ins Sheraton oder Hyatt eingeladen wird, hatte Jordy keine eigene
Meinung zu Namikos unbekannten Geldgebern. Sollte sie ihn doch heiraten
oder sich
als
Geliebte aushalten lassen.
"Nein, heiraten kommt nicht in Frage. Dann ist der Reiz weg, dann
lädt er mich nicht mehr ins Sheraton ein, sondern lässt mich
seine Unterhosen waschen. Außerdem sollte ein Mann mehr Zeit
für mich haben. Und seine Zähne behandeln lassen."
Ich glaube, ich brauche dir nicht näher zu erläutern, weshalb
Namiko schon lange von Jordys Kandidatinnenliste gestrichen war. Aber
heiter stimmten ihn ihre launigen Erzählungen durchaus.
Aber jetzt willst du erst mal wissen, was es mit den Party-Studenten
auf sich hat ? Was gibt's da zu schildern ? Die Rasselbande trifft sich
halt mit ihrem Deklaprof in einem deutschen Restaurant mit dem sinnigen
Namen "Meine Kleine" in downtown Tokyo, besäuft sich mit
Leewenbroi-Bier, mampft Sauerkraut und vermeint angesichts der
Würstelplatte, beinahe in Deutschland gewesen zu sein. Ein Pianist in der
Ecke klimpert Edelweiß, und weil die Kinderlein, die Old Jordy garnieren, allesamt Gesangsstudenten
sind, beginnen erst einige, dann noch andere mitzusummen, bis allmählich ein
biergetränkter dreizehnstimmiger, wohltrainierter Chor draus wird, der den
Pianisten lauthals vom Hocker pustet.
Du weißt ja, dass in der Musik generell, und im Gesangsfach ganz
besonders, ein deutlicher Herrenmangel bzw. Damenüberschuss besteht. Außer Jordy waren
nur zwei Jungs gekommen, und je mehr die Stunde vorrückte und das
Bierfass zur Neige ging, desto eifriger hockten die Mädels reihum auf Jordys
Schoß, denn der eine der beiden Jungs war für sowas zu schüchtern, und
der andere zu kindisch. Hinterher zog die lustige Mischpoke geschlossen in eine
Bar, wo noch einige Cocktails nachgegossen wurden, aber niemand schlug
über die Stränge, es war ein netter Abend mit den Studis aus
Jordys Klassen, mehr nicht.
* * *
'Wegen sowas schreibst du doch keinen Roman, Heinz Jabornik', sagst du
jetzt, 'rück raus mit der Sprache, welche Schöne hat dem
Jordy einen heißen Schwur ins Ohr gehaucht, als sie auf seinem
Schoß saß ?'
Hm, stimmt, mit dem Roman, da
hast du vielleicht nicht Unrecht. Obwohl, "Roman" für diesen
Schmonzes, da errötet ja das Internet. Aber
denk dran, dass Jordy schon nicht mehr zur Generation der Eltern,
sondern fast der Großeltern dieser Studenten zählte, weshalb
die beiden Jungs, die von den Mädels als Anstandswauwaus
vorsichtshalber mit dazu geladen waren, eigentlich gar nicht nötig
gewesen wären. Für Namiko mögen Senioren ja den Reiz
eines ansehnlichen Kontostands haben, aber Jordy pflegte nicht im
Sheraton ein- und auszugehen, da würde ihm bei dieser Beauty auch
sein gesundes
Zahnfleisch nichts nützen. Wie sollte man also in so ein Ereignis
irgendwas
Erotisches reinbringen ? Völlig aussichtslos, zumal japanische
Studenten und mehr noch die Studentinnen aussehen wie Vierzehnjährige in Germanistan und sich zum Teil
auch so verhalten. Da saßen
zwar die Nummer zwei bis fünf von Jordys privater Hitliste
dieser Gesangsklasse um ihn, aber sie juchzten alle nur wie
Kinder, sangen Edelweiß und Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, flüsterten aber keine heißen Schwüre....
Impek, die Organisatorin der Party, hatte ihm vorher nur gesagt, wie
viele Personen kommen würden, aber nicht die Namen verraten. So
war er zwar froh, vier der fünf hübschesten um sich
versammelt zu sehen, aber zugleich auch ein wenig enttäuscht, dass
seine Nummer eins, auf die er insgeheim gehofft hatte, nicht mit dabei
war. Wahrscheinlich gehörte sie einer anderen Fraktion in der
Klasse an und zählte nicht zum heutigen Party-Klüngel.
"Bei uns gibt es keine Fraktionen oder Klüngel, es sind alle
gekommen, die Zeit und Lust hatten", meinte Impek, Jordys Nummer zwei.
"Am Jahresende machen wir noch so eine Party mit Ihnen, es war so richtig nett
heute Abend !"
Aber
jetzt
verrate ich dir erst mal, warum das Mädel auf den seltsam
unjapanischen Namen Impek hört, damit du nicht glaubst, ich
würde dich vergackeiern. Das ist nämlich die nur in Japan
verständliche Abkürzung für "inspector" und bedeutet so
etwas Ähnliches wie Klassensprecher/in.
"...machen wir noch mal so etwas...", das sagt man in Japan immer, wenn etwas Schönes vorbei ist,
und meistens bleibt es dabei, weshalb Jordy richtig baff war, als Ende Oktober tatsächlich eine
mail von Impek kam mit der Ankündigung, Mitte Dezember sei die
nächste "Party mit Deklaprof Jordy" geplant, ob er wieder kommen
würde. Partys, da kommt er immer, und so sah man sich im selben
Restaurant wieder. Diesmal fehlten in dem Sängerinnenschwarm
die Nummern eins und drei von seiner Hitliste, aber dafür waren etliche
neue Gesichter mit dabei --- und ein einziger Bariton.
"Eigentlich wollte Sayuri noch kommen, aber sie hat vorgestern angerufen, sie musste absagen wegen Erkältung."
Jordy war elektrisiert. Sayuri, so hieß seine Nummer eins.
So
weit, so gut. Aber erstens hatte sie ja abgesagt, und zweitens gab es
in der Klasse zwei Sayuris, die zudem auch noch den gleichen
Familiennamen Endo trugen, und Jordy hatte keine Ahnung, welche von
beiden da um ein Haar fast beinahe gekommen wäre. Er fragte auch nicht weiter
danach.
Unter fünfundzwanzig Japanern liegt die Wahrscheinlichkeit, dass
einer oder eine davon mit Nachnamen Endo heißt, bei rund 80%, und
da auch etwa jede fünfundzwanzigste
Japanerin auf den Namen Sayuri hört, ist es kein sonderlich
großer Zufall, wenn in einer Klasse zwei Sayuris aus dem Hause Endo sitzen. Von
den beiden aus Jordys Klasse war die eine bildhübsch und
auffällig, und die andere schaute mausgrau durch ihre Brillengläser. Die hübsche galt in der Klasse als Miss Belcanto,
Schwarm aller Jungs, und die andere mit der Sekretärinnenbrille
saß irgendwo blass und still in der Ecke und studierte ihre
Noten. Die Beauty jobbte in einem dunklen Kostüm, das sie in eine
perfekte Lady verwandelte, im Opernhaus als Platzanweiserin und
lächelte Jordy jedesmal an, wenn er ihr dort begegnete, während
das kurzsichtige Brillchen sich nirgendwo auf dem
Campus blicken ließ, Jordy sah sie nur im Unterricht, und im nächsten Jahr gar
nicht mehr, während Miss Belcanto ihn aus der ersten Reihe im
Deklakurs für die Oberstufe anstrahlte. Jetzt rate mal, welche der beiden Jordys Favoritin war....
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Sayuri Miss Belcanto |
Sayuri Brillchen |
"Heute
war ich im Prince Hotel zum Dinner, da staunst du, was ? Mit einem
Geschäftsmann, der mir sehr gut gefällt. Gut eine Million
Jahreseinkommen, er hat drei Rennpferde. Allein für seine Pferde
gibt er monatlich siebentausend Dollars aus, das finde ich cool. Er
arbeitet als Broker an der Börse. Ich glaube, der ist besser als
der Arzt, findest du nicht ?"
Aha, Namikos Badewannen-Liveticker war wieder online. Ein Blick auf das
angebliche Jahresverdienst, kein Wunder, dass der unküssbare
Zahnfleischdoktor da den Kürzeren zieht bei Namiko und der
Börsianer ihr besser gefällt, da braucht sie doch Jordys Rat
nicht ! Er riet ihr nur, seine Zahlen und sein Zahnfleisch gut zu überprüfen, bevor
sie mit ihm anbandelt, es gab schon viele "Millionäre", auch solche mit künstlichem Gebiss, die
sich mit einem teuren Dinner flotte Mädels ins Bett gelotst haben
und danach ebenso schnell verschwunden waren wie ihre imaginären Millionen.
Aber wenn Namiko große Geldscheine wittert, setzt ihr Verstand schnell
aus. Ihr würde Jordy um keinen Preis Einblick in seine Finanzen gewähren, obwohl sie
sich schon öfter mehr oder minder direkt nach seinen
Vermögensverhältnissen erkundigt hatte.
Interessiert dich alles nicht ? Du willst lieber wissen, wie es mit der Sayuri
weitergeht ? Welche Sayuri ? Es gibt schließlich in Jordys Umkreis zwei davon, und beide heißen mit Nachnamen Endo.
Also, die hübsche Sayuri strahlte im gesamten darauffolgenden
Studienjahr mit ihrem japanischen
Dauerberufslächeln auf den Lippen gleichmäßig vor sich
hin wie der Reaktor Fukushima 1 und mutete ansonsten an, als berge
sie im Busen eine Silikonseele. Wahrscheinlich sind
deswegen die japanischen Jungs so hingerissen von ihr. Immer das
gleiche urjapanische Grinsen, zu jeder Tages- und Nachtzeit; sie
sieht
auch immer fotogen aus, kichert je nach Bedarf mal kindlicher, mal
weltlicher, aber sonstige Attraktionen suchte Jordy bei ihr vergebens.
Model aus der Retorte, dachte er, und zweifelte gar, ob es sich nicht
womöglich um ein virtuelles Wesen handle, einen
batteriegetriebenen Grinsroboter oder einen Avatar der
Gesangskunst.
Um herauszufinden, dass sich hinter dem Brillchen der anderen, unauffälligen Sayuri ein
Wunderwesen versteckte, benötigte Jordy gut fünf Monate, dann
fühlte er, dass dieses Mädchen eine Aura besaß, die ihn
langsam, aber sicher in ihren Bann zog wie ein ferner, aber starker
Strudel.
Dass sie immer sehr chic gekleidet war und sich ihr
Haar nicht so abenteuerlich färbte wie viele andere, hatte Jordy schon früher
bemerkt, aber nach den Sommerferien erkannte er hinter den dick gerahmten Brillengläsern ein überaus liebliches Gesicht, das ihm mit Geschmack und Intelligenz
auf seine Fragen
antwortete.
Dass dieses interessante Wesen im Folgejahr in keiner
seiner Klassen auftauchte, enttäuschte ihn ein wenig, denn auf dem
Campus war Sayuri, im Gegensatz zu ihrer Plastikkollegin, nahezu
unsichtbar. Es konnte aber sein, dass die beiden gleichnamigen
Studentinnen sich abgesprochen hatten, unterschiedliche Kurse zu
belegen, um nicht immer alle beide aufzuschrecken, wenn der Name Endo
Sayuri aufgerufen wurde.
Er versuchte einmal, sie zu googeln, aber googel mal eine Endo Sayuri,
davon gibt es Hunderte. Enkelkinder und Schauspielerinnen, Hebammen und
Coiffeur-Azubis, Wahrsagerinnen und Busenmodels, Quizmasterinnen und Stadträtinnen, Stylistinnen und Sportskanonen bevölkern die social networks und unzählige
websites, und alle heißen Endo Sayuri; das singende Brillchen war
zu unscheinbar, um sich so einfach aus dem Internet fischen zu lassen.
Ein einziges Mal hatte er sie mittags in einer Gruppe von
Kommilitoninnen getroffen, die in einer Sitzecke am Palavern war. Da
Sayuri ihm schüchtern zugewinkt hatte, war er näher getreten und hatte
gesagt:
"Alle deine Kommilitoninnen sind auch in diesem Jahr wieder bei mir, aber dich vermisse ich..."
"Im nächsten Jahr komme ich bestimmt wieder !" hatte sie gelächelt,
und dieses Lächeln war sehr charmant und schmeckte auch nicht nach Silikon.
* * *
Tatsächlich erschien sie im darauffolgenden Jahr in seinem
Lied-Interpretationskurs. Er erkannte sie erst nicht,
als sie beim ersten Unterricht nahe dem Fenster ganz alleine in der
ersten Reihe saß. Er ließ die Namensliste herumgehen, und
als er dann einen Blick darauf warf, las er "Endo Sayuri" an erster
Stelle - die unbekannte Schöne in der ersten Reihe war Sayuri...
ja,
wo hatte sie denn ihre Brille gelassen ? Aus der unscheinbaren Knospe
vor zwei Jahren war eine prachtvoll aufgeblühte Orchidee geworden, anders kann man es nicht beschreiben. Auch die Haare
hatte sie
getönt, aber nicht zu hell, war diskret geschminkt und so chic
gekleidet wie immer. Und jeder Blick, jede kluge Antwort in dem
Interpretationskurs machte Jordy täglich sayurisüchtiger.
Sie war eine wirkliche, wenn auch stille Schönheit, das hatte Jordy trotz Brille
schon vor zwei Jahren richtig erkannt. Und hatte eine Aura, die Jordy
beinahe
umwarf. Es gibt ja so eine Art Anziehungskraft, die noch unerforscht
ist, aber auf irgendeinen sechsten oder siebten Sinn wirkt. Jordy war von dem
Mädchen hingerissen, ließ es sich aber nicht anmerken, denn
als Prof wollte er neutral sein und alle Studiker gleich behandeln. Er
fürchtete aber, dass Sayuri es doch ihrerseits, mit ihrem eigenen
sechsten oder siebten Sinn, spüren könnte. Sie war im Unterricht immer
hellwach, immer vorbereitet, dachte immer mit. Nur zwei andere
Studentinnen in der großen Klasse konnten es
leistungsmäßig mit ihr aufnehmen. Manchmal fragte sich
Jordy, ob sie wirklich so fleißig war oder sich vor ihm besonders
anstrengte, aber sie bot ihm keinen einzigen Anhaltspunkt für
irgendwelche Vermutungen. Sayuri gab sich als normale, wenn auch
emsige und motivierte Studentin.
Trotzdem gab es Momente, die Jordy stutzig machten. Einmal wartete sie nach dem Unterricht noch am Aufzug, als Jordy vorbeikam.
"Sie nehmen die Treppe ?" fragte sie, als sie ihn erblickte. "Dann gehe
ich mit Ihnen zu Fuß, runter ist es ja leichter als rauf."
Immer eine Stufe hinter ihm, wie es sich in Japan gehört,
klapperte sie die Stufen vom 3.Stock bis ins Erdgeschoss zusammen mit Jordy
runter und erzählte dabei auf seine Frage, wohin sie für ihr
pädagogisches Praktikum gehen werde, dass sie aus Niigata stamme
und dort an ihrem früheren Gymnasium hospitieren werde.
Unterwegs nestelte sie ein Schoko-Candy, so eine Art Mon Chéri,
aus ihrer Handtasche und reichte es Jordy mit ihrem entzückenden
Lächeln.
"Das hat vorhin die Gesangsprofessorin verteilt, ich gebe Ihnen gerne eins davon ab."
Ein andermal fragte er während des Unterrichts, was das wohl zu bedeuten habe, wenn es in einem
Mozart-Lied heißt "...er führte mich in ein Gesträuch, ich wollt' ihn fliehn und folgt' ihm gleich...".
Wen er auch fragte, die Studentinnen drucksten und zierten sich, keine
traute sich zu antworten. Bis er Sayuri drannahm; ohne
zu zögern oder zu erröten sah sie Jordy an und antwortete mit fester Stimme: "Der Bursche
will halt mit dem Mädel ein bisschen knutschen."
So sanft und zurückhaltend sie auch aussehen mochte, sie macht
keinen Bogen um den heißen Brei und sagt schlicht und ergreifend,
was Sache ist. Hundert Punkte für Sayuri.
Sie hatte noch einen Kurs belegt, deutsche Musikgeschichte der Neuzeit,
der auch für Musiker anderer Fachrichtungen offen ist. Dort
saß sie stets neben einem blassen Pianisten, mit dem Jordy sie
auch nach dem Unterricht ein- oder zweimal zusammenstehen sah.
So verliebt, dass er dabei Eifersucht verspürt hätte, war
Jordy nicht; es wird halt ihr Klavierbegleiter sein, dachte er sich, das ist
bei Gesangsstudenten das Natürlichste auf der Welt.
Auch dass sie im Abschlussexamen auf den Rand des Bogens für Jordy
am Ende ein "herzlichen Dank für ein Jahr interessanten
Unterricht" schrieb, ist in Japan nicht ungewöhnlich, etwa alle zwei bis drei
Jahre findet sich bei den Studenten mal so ein Zusatz auf dem
Prüfungsbogen.
Mehr gibt es über Sayuri nicht zu erzählen. Nach dem Examen
in diesem Studienjahr, ihrem letzten an der Musikakademie,
verschwand sie aus dem Klassenzimmer, und Jordy meinte mit großem
Bedauern, es sei ein Abschied für immer von einer bemerkenswert
charmanten, gut aussehenden Studentin, die ihm sehr gefallen hatte.
Sowas kommt halt immer wieder vor. Im neuen akademischen Jahr kommen
wieder neue Gesichter, wieder neue, interessante Typen. Aber dieser
wortlose Abschied von Sayuri schmerzte ihn doch ein wenig mehr, als er
sich eingestehen wollte.
Von Impek kam fast zeitgleich eine mail.
"Wir möchten Sie zu unserer Abschlussparty einladen, haben Sie Lust zu kommen ?"
Ein paar Tage später lag in seinem Seminarraum für ihn ein hübscher
Umschlag mit einer formellen Einladungskarte und einer Antwortkarte, auf
der er nur "nehme teil" oder "nehme nicht teil" anzukreuzen
brauchte.
Was diese Klasse an ihm gefressen hatte, war ihm ein
Rätsel. Aber nach zwei Jordy-Partys gehörte er für diese
Absolventen wohl irgendwie mit dazu. Phantom der Oper oder Faktotum des
Liedgesangs. Na schön, er kreuzte "nehme teil" an und überreichte das
Couvert der netten Party-Managerin Impek, als er sie zufällig auf dem Gang erwischte. Die
Kommilitoninnen neben ihr machten erstaunte Gesichter.
"Ein Liebesbrief für Impek", scherzte Jordy, und die kleine Silberblick-Eri seufzte:
"Ich würde auch gern einen Liebesbrief von Ihnen bekommen....!"
Jordy musste wirklich lachen. Babyface Eri könnte glatt als seine Enkelin durchgehen.
* * *
Die Abschlussparty fand im schnieken Imperial Hotel statt. Jordy sah
sich verstohlen um, ob nicht womöglich Namiko mit irgendeinem
angegrauten Krawattenträger mit Zahnfleischbluten im Restaurant
säße, aber von ihr war gerade eine neue Badewannen-message
eingetroffen.
"In meinem Alter sind Liebesaffären mit den größten
Schwierigkeiten verbunden. War gestern wieder mit dem Arzt im Hilton
essen, er gab sich sehr charmant und großzügig, aber er
weigert sich einfach, seine Zähne behandeln zu lassen. Und sowas
will ein Arzt sein ! Der Börsenzocker mit seinen Rennpferden
ist mir da doch irgendwie sympathischer, ach, wie soll ich mich
entscheiden ?"
Da ist guter Rat teuer, und Jordy kannte sich mit der Psyche von Frauen
wie Namiko nur wenig aus; er wusste nur, dass die liebliche Sayuri, die
er im Festsaal in einem wunderschönen gelben Seidenkleid
erspähte, in ihrer stillen, freundlichen Art ihm hundertfach
wertvoller und attraktiver erschien als die Glamour-Schönheit
Namiko. Jetzt, da Sayuri keine Studentin mehr war, ging er zu ihr und
sagte schlicht und direkt:
"Im Lauf des Abends möchte ich unbedingt mit der hübschesten
jungen Dame des Jahrgangs ein gemeinsames Foto machen, du darfst nicht
fortlaufen."
"Sie meinen doch nicht etwa mich ?" fragte sie mit ungekünstelter Überraschung.
"Ja, wen denn sonst ? Du bist doch wirklich die Königin des
Abends", gab er grinsend zurück, aber das war kein
Charmeurkompliment, er meinte es wirklich so, denn auch die zierliche
und hübsche Impek, seine Nummer zwei, reichte nicht an
dieses dunkelhaarige Dornröschen Sayuri heran.
Er konnte sein Foto machen, Sayuri lehnte ihren Kopf an seine Schulter,
und als er das Foto zuhause auf seinem Screen vergrößert vor
sich sah, freute er sich über das ausgezeichnet gelungene, tolle
Souvenir. Es war das einzige Foto, das er von ihr hatte.
Am Ende des Festes stürmten auch die anderen zu Jordy. Er war noch
immer Deklaprof, der alle Studenten gleich behandelte, und machte auch
mit den männlichen Kindsköpfen und plastikgrinsenden Ladies
Fotos. Dabei sah er aus seinem Augenwinkel, wie ein Mädel
im gelben Kleid langsam alleine zum Ausgang ging, sich dort noch einmal
kurz umdrehte, und dann, während Jordy gerade einer anderen
Kommilitonin
als Senioren-Fotomodel diente, einfach fortging, ganz alleine. Als
Jordy mit allen Honneurs zu
Ende war und das Hotel verließ, hielt er Ausschau nach gelben
Seidenkleidern, die unter den dicken Märzmänteln hervorlugen
mochten, aber weder unterwegs noch am Bahnhof fand er irgend
jemanden, der auch nur entfernt nach Sayuri aussah.
"Das war's wohl. Adieu, schöne Sayuri", murmelte er etwas traurig vor sich hin.
Dumpf erinnerte er sich auf dem Heimweg an Impeks letzte Worte zum
Abschied: "Im Sommer machen wir noch eine Party mit Ihnen, alle haben
große Lust, nochmal zu feiern...."
Eine muntere Rasselbande, diese Klasse. Aber nach dem Studienabschluss
würden sie sich wohl in alle Winde zerstreuen, die einen
in den Magisterkurs, andere würden irgendwo
Musiklehrer, wieder andere ins Ausland gehen, heiraten, Privatstunden
geben oder ihre alten Eltern behüten. Diesmal nahm Jordy
diese Aussage erst recht als Partybafel, und selbst wenn sich
tatsächlich noch ein paar Leute zu einer Feier einfinden
würden, die Chancen, dass Sayuri, und zwar die richtige der beiden
Sayuris, daran teilnehmen würde, schätzte Jordy nicht sehr
hoch ein. Wahrscheinlich gehörte sie doch nicht mit zur Party-Clique.
"Den
Arzt habe ich abserviert. Ihm gesagt, dass es aus ist. Kommunikation
ist schließlich wichtig zwischen zwei Partnern. Wenn sich jemand
nicht richtig um mich kümmern mag und nur seine tägliche Siebenuhrfünfzigmail schickt, mache ich Schluss. Jetzt
fühle ich mich deutlich besser, ein Stress weniger. Und außerdem ermöglicht jeder Abschied
einen neuen Anfang."
Namikos
neueste Erkenntnisse aus der Badewanne. War angesichts der
Kontostände der beiden Konkurrenten eigentlich keine allzu
große Überraschung.
* * *
Nein, keine Angst, ich will dich nicht unnötig auf die Folter
spannen, du willst also wissen, wie es mit den beiden Sayuris und
Konsorten weiterging ? Dabei sind doch Namikos Aventüren viel
vergnüglicher, stell dir nur einmal vor, wie viel weniger Jordy
ohne sie zu lachen hätte. Aber der Wunsch des Kunden ist dem Autor
Befehl.
Also, ob die Sommerparty stattfand oder nicht ? Natürlich fand sie
statt. In einem italienischen Restaurant in der Nähe der Akademie.
Impek warnte Jordy vorher, es seien nur noch sieben Teilnehmer/innen
diesmal. Jordy fand es ganz toll, dass Impek, die schließlich ins
ferne Nagoya, ihre Heimat, zurückgekehrt war, trotzdem noch so
eine Feier arrangiert hatte. Dafür kamen nur die paar Tage in
Betracht, in denen sie aus anderen Gründen gerade in Tokyo zu tun
hatte. Sie würde so lange bei Babyface Eri wohnen, teilte sie mit.
"Herr Professor !" tönte es hinter Jordy auf der Rolltreppe am
Bahnhof, an dem er ausgestiegen war und gerade dem Treffpunkt
zustrebte. Er drehte sich um. Hinter ihm stand und lächelte die
hübsche Impek, ein Rollköfferchen an der Hand.
"Bist du eben erst aus Nagoya gekommen ?" staunte Jordy. Impek nickte lächelnd.
"Leider kommen jetzt nur drei weitere Teilnehmer", sagte sie bedauernd. "Und eine muss früher fortgehen, andere kommen erst später. Es ging leider nicht anders...."
Es waren keine Teilnehmer, die vor dem Eingang des Restaurants
warteten, sondern ausschließlich Teilnehmerinnen.
Eine davon war
Sayuri. Die richtige Sayuri.
Jordy strahlte sie an: "Dass du zum ersten
Mal mit dabei bist, ist eine freudige Überraschung !"
Sayuri strahlte zurück. "Ich muss aber in einer Dreiviertelstunde schon wieder gehen."
"Umso netter, dass du trotzdem gekommen bist."
Jordy war ganz aus dem Häuschen. Insgeheim hatte er ja gehofft,
dass Sayuri auch käme, aber für sehr wahrscheinlich hatte er
das nicht gehalten. Es wäre genauso gut möglich gewesen, dass sie längst
wieder zuhause in Niigata war.
"Nein, ich bin in Tokyo geblieben. Ich jobbe tagsüber in einem
Büro, und abends singe ich in einer Bar in Ginza", erzählte
sie nach dem Anstoßen mit dem Rotweinglas. Sie hatte sich neben
Jordy gesetzt, weil sie bald wieder fortmusste, und ihre Knie an Jordys
Beine gepresst. Die anderen bemerkten es nicht, war ja unter dem Tisch, aber Jordy merkte es und wunderte
sich. Sayuri war ihm im Unterricht immer sehr lieb, aber in
distinguierter Noblesse auf Distanz bedacht vorgekommen; sie mutete
nicht gerade leicht zugänglich an, und dass sie von
sich aus Beinkontakt suchte, hätte er ihr nicht zugetraut. Aber er
hatte ihr auch nicht zugetraut, sich zu einem Klassentreffen in
ein Weinrestaurant herabzulassen. Und jetzt war sie da, saß neben
ihm und lächelte ihn herzig an.
Jordy plauderte natürlich auch mit den anderen und gewahrte die
verwunderten Blicke von den Nachbartischen, an denen junge
Geschäftsleute lärmten. Es war ihnen anzusehen, dass sie
sich fragten, wie so ein verschnarchter ungebügelt verknitterter ausländischer Opapa es geschafft
haben könnte, sich von einem Schwarm blutjunger Japanerinnen
dermaßen fröhlich garnieren zu lassen. Am fröhlichsten war Sayuri.
Sie schien richtig happy zu sein über das Wiedersehen.
Allerdings raffte Jordy nicht, was der Zweck ihres Verbleibs in Tokyo sein
könnte, denn nach dem Abschluss des Studiums einfach nur ohne besonderes Ziel dazubleiben
und zu jobben, um die Miete bezahlen zu können, das schien ihm
nicht allzu sinnreich zu sein. Vielleicht bereitete sie sich auf die
Prüfung für den Magisterkurs vor ?
"Nein, das Studium ist für mich vorbei. Aber ich singe halt gerne,
und das kann ich nicht bei uns in der Provinz, sondern nur in Tokyo,
abends in der Bar."
Jordy war nicht ganz überzeugt, aber die dreiviertel Stunde war
schon beinahe vorbei, Sayuri schmiegte sich an ihn fürs gemeinsame
Foto. Nein, eine ganze Serie von Fotos. Jordy drückte sie so sehr,
dass sie besser keines dieser Fotos ihren Eltern zeigen sollte.
Da er davon überzeugt war, dass dies die allerletzte Party mit
dieser
netten Sängerbande sein würde, verteilte er, als Sayuri sich
zum Gehen fertig machte, seine Visitenkarten und ein paar Kleinigkeiten
als Andenken an alle. Konnte ja sein, dass eine später mal was
Deutsches singen musste und Dekla-Stunden brauchte. Sayuri sagte
spontan: "Oh, da steht ja Ihre
mail-Adresse drauf. Ich werde Ihnen garantiert eine mail schicken, darf
ich ?"
Was hatte Sayuri eigentlich dermaßen auftauen lassen ? Dass sie
seit langem Jordys Favoritin war, hatte sie offenbar weder geahnt noch bemerkt. Jordy hatte als Pädagoge
also einen guten Job geleistet. Zur ersten Party war sie gar nicht erst
gekommen, die zweite hatte sie abgesagt; er wusste jetzt immerhin, dass es nicht
die andere, die Plastik-Sayuri, gewesen war. Aber jetzt war sie gekommen, obwohl sie
gleich wieder fort musste, und obwohl das ein guter Grund gewesen wäre, auch heute nicht mitzufeiern. Kann es sein, dass ihr bei der Uni-Abschlussfeier sein Wort von der "hübschesten jungen Dame des Jahrgangs" und der "Königin des
Abends" ein Jordy-high verpasst hatte ?
Als alter Schnarchsack kann man doch mit solchen
süßholzhaltigen Reden junge Mädels eigentlich eher in eine panische Flucht des Entsetzens schlagen....
Wohin sie am Abend noch gehen musste, willst du wissen ? Jobben. In die Bar. Sie sang
dort keine Schlager, sondern Schubert und Schumann, wie sie es an der
Akademie gelernt hatte. Es muss eine seltsame Bar sein. Jordy schlug
vor, dass alle im Anschluss an das Dîner auf einen Cocktail in die Bar
nach Ginza gingen, aber dazu hatten die anderen Mädels keine Lust.
Jordy insistierte nicht, er wollte sich kein übertriebenes
Interesse an Sayuri anmerken lassen.
Kaum war sie fort, erschien eine andere, Jordys Nummer vier, stopfte sich
schnell die Reste von Pasta und Pizza rein, denn in einer halben Stunde
wollten noch zwei Jungs kommen, aber woanders noch was essen. Daher zogen alle in
einen Biergarten in der Nähe, wo sich die endlich erschienenen beiden
Jungs Fritten, Lammspieße und Würstel in den hungrigen
Rachen schoben, aber Jordy hörte dem allgemeinen Bierbafel nicht
sehr konzentriert zu, sondern dachte an Sayuri. Er stellte sich vor,
dass sie jetzt wohl aus ihrem Handköfferchen ihr Abendkleid
gezogen und angelegt hatte und in der verräucherten Bar vor den
whiskeyschlürfenden Pärchen Die Lotosblume hauchte. Und je
detaillierter er sich die Situation vorstellte, desto unwohler wurde
ihm dabei.
Wieso, willst du wissen ? Streng doch mal deinen eigenen Schädel an
! Immer bloß lesen, was dir hier vorgekaut wird, so eine passive Haltung
macht dick und führt unweigerlich zu vorzeitiger Verkalkung, Parkinson und Alzheimer.
Siehst du,
jetzt merkst du es endlich auch, war ja gar nicht so schwer. Jordy
hatte schon öfter die Erfahrung gemacht, dass Denken zwar der
geistigen Hygiene dienen mag, aber nicht immer nur hocherfreuliche
Ergebnisse zeitigt.
Nur um deine Gedankengänge
zu bestätigen, erzähle ich dir deshalb, dass sich bei Jordy
nun auf einmal alles wie Puzzleteile
zueinander fügte, was ihm bisher nicht so recht hatte einleuchten
wollen. Wenn ein Mädel gerne singt, dann ist ihr Ideal gewiss
nicht unbedingt das Jobben in einer Bar in Ginza. Es musste eine
stärkere Motivation für Sayuri geben, in Tokyo zu
bleiben und sich mit Jobben über Wasser zu halten. Und die wollte
sie Jordy offenkundig nicht verraten. 'Ich singe halt gern' ist ja
nun wirklich bloß eine dürftige Ausrede.
Jetzt stellte sich Jordy also konkret vor, wie sie da in der Bar Mein Herz ist schwer trällerte, und sogleich ertönte in seiner Fantasie
nicht nur Sayuris Gezwitscher, sondern auch die Klavierbegleitung, und als
er das imaginäre Spotlight auf den Pianisten richtete, der da im
Dämmerdunkel hinter ihr klimperte, tauchte vor seinem geistigem
Auge der Klavierstudent Okumura auf, der früher immer neben Sayuri gesessen und
bisweilen auch bei ihr gestanden hatte. Jordy fürchtete, das
Fallen des Groschens sei für die musikalische Sängerschar, die um ihn
saß, hörbar gewesen, so stark schepperte es nämlich
in seinem Hirnkasten. Schließlich müssen sich Pianist und
Sängerin auch tagsüber öfter zusammensetzen und ihr
Repertoire einüben. Mit anderen Worten, der Okumura, davon war
Jordy überzeugt, war Sayuris Herzbube, und ihm zuliebe war sie in
Tokyo geblieben. Womöglich wohnten sie sogar zusammen, und Sayuri
war durchaus nicht so distanziert und nobel und unerfahren, wie sie
sich an der Akademie gegeben hatte. Dazu passte auch ihr Satz aus dem
Unterricht vor einem halben Jahr, den sie, ohne mit der künstlichen Wimper zu
zucken, von sich gegeben hatte: "Der Bursche
will halt mit dem Mädel ein bisschen knutschen."
Fragt sich bloß, warum sie sich dann am Party-Abend so emsig
mit Jordy befasst hatte. Jordy, sei vorsichtig, vielleicht will sie ihrem
Okumura bloß erzählen, wie sich ihr Deklaprof in sie
verknallt habe, und die beiden lachen sich dann tot über den
Schnarchsack Jordy.
Handfeste Belege für seine Vermutungen hatte Jordy keine.
Vielleicht hatte sie ja auch einfach keine Lust, nach Niigata zu gehen und
Musiklehrerin an einer Mittelschule zu werden. Oder sie hatte Krumpel mit der
Verwandtschaft. Und der Barpianist war vielleicht auch ein
bierbäuchiger glatziger Alter mit Zahnfleischentzündung, aber
ohne Millionen auf dem Konto, und Sayuri ganz alleine in Tokyo, total
liebesbedürftig, wer weiß.
Jordy beschloss, abzuwarten, ob sie ihm eine e-mail senden würde
und was drin steht. Was hätte er auch sonst tun können, von
Sayuri hatte er nur ein einziges Foto, sonst gar nichts.
"Der Pferdekrösus ruft
dauernd an und schickt auch viele mails. Ich finde ihn wirklich
attraktiv, und zu alt ist er auch nicht, so um die fünfzig. Aber
er hat anscheinend eine
ganze Menge Mädels, mit denen er genauso rummacht. Der ist mit
größter Vorsicht zu genießen, meinst du nicht auch ?"
Nein, das war nicht die erhoffte
Nachricht von Sayuri. Das hast du clever durchschaut,
da siehst du mal, dass Mitdenken bei einiger Übung gar nicht so schwer ist.
Das war also die neueste Badewasser-Depesche. Jordy riet Namiko, sich
anzustrengen und dem Kerl ordentlich Lust auf sie zu machen. Zumindest
ein Batzen Kleingeld ließe sich mit etwas Geschick sicherlich
herausholen, auch wenn man kein Pferd war.
"Guten Abend ! Es hat mich sehr
glücklich gemacht, Sie nach längerer Zeit wiederzusehen. Und
herzlichen Dank für das schöne Geschenk. Ich war so froh
darüber, dass ich zuhause gleich ein Foto davon gemacht habe. Bei
der nächsten Party werde ich auf jeden Fall mit dabei sein !" las
Jordy am nächsten Abend auf dem Screen. "Von Endo Sayuri" stand in
der Betreffzeile. Und das Foto war mit beigefügt.
Jordy antwortete zwar postwendend, aber eingedenk seiner Pianisten-Überlegungen im Hinterkopf nicht allzu enthusiastisch:
"Ich habe mich gefragt, ob du nach
zwei Gläsern Rotwein überhaupt richtig singen
konntest in der Bar. Es wäre aber ganz lustig, dir noch vor der nächsten
Party irgendwo mal zufällig zu begegnen, wenn du doch ohnehin in
Tokyo bist...."
Außerdem schickte Jordy ihr eine Kopie des schönen Fotos, das er mit ihr auf der Abschlussfeier gemacht hatte.
Sie ließ einige Tage verstreichen, bevor sie ihm antwortete, aber es klang ganz lieb.
"Guten Morgen ! Ich bin noch
rechtzeitig eingetroffen und habe, nachdem ich Sie getroffen hatte,
viel fröhlicher und besser als je zuvor gesungen. Danke für
das schöne Foto mit Ihnen von der Abschlussfeier. Es
zählt jetzt zu meinen größten Schätzen. Ich
würde Sie auch gerne bald
wiedersehen und mich mit Ihnen unterhalten. Wenn Sie ein wenig
Zeit für mich hätten und so gütig wären, mich zu
einem Treffen einzuladen..."
Jordy fragte sich, ob das nun
tatsächlich dazu gedacht sei, um sich mit ihrem Boyfriend
über ihren ollen Pauker lustig zu machen. Eigentlich traute er
Sayuri so etwas nicht zu. Sie war schon vorher sehr lieb gewesen, als
sie ihn die Treppe hinunter begleitete und ihm ein Schoko-Candy
zusteckte. Sie war von freundlicher Natur und eigentlich nicht von der
Sorte, sich über andere zu mokieren oder üble Streiche zu
spielen. Jordy hätte das schon längst gemerkt, so viel
Menschenkenntnis traute er sich zu. Falls aber wörtlich
gemeint war, was sie ihm da geschrieben hatte, dann dürfte die
vermutete Liaison mit dem pianistischen Okumura wohl doch nicht allzu
eng sein.
Japanische Männer tun sich
oft sehr schwer, ihr Herz zu öffnen. Und vor selbständigen, gleichberechtigten Frauen
haben sie meist einen gewaltigen Bammel. Sobald sie sich so ein rätselhaftes
Wesen als Ehegattin eingefangen haben, ist die Hierarchie klar, hier
der Gebieter, da die Kochwaschputzfrau und Kindermama. Am liebsten
lassen sie sich so eine Untergebene durch einen Vermittler in der
Verwandtschaft präsentieren, das erspart die lästige
Investition in Gefühlsduseleien. Sich selbst so eine launische
Sphinx
gefügig zu machen, herrje, da muss Mann sich ja tausenderlei
Gedanken machen, sich als Kavalier aufspielen, sich überlegen, was
ihr gefällt und eine Freude macht, sich von der besten Seite
zeigen, dauernd mails schicken oder anrufen, einen Haufen Geld für
Geschenke und Dîners ausgeben, zärtlich und romantisch sein,
sich täglich waschen und Zähne putzen oder gar zum
Zahnarzt gehen... Wenn es
also Wege gibt, sich solche Scherereien
und überflüssigen Pipapo zu ersparen, dann wählt Mann die
doch, ist ja sonnenklar.
Jordy konnte sich vorstellen, dass
Okumura so ein Typ war. Blass und ernst, dem Unterricht blieb er nach
zwei Monaten vollkommen fern, er konzentrierte sich wohl auf seine
pianistische Karriere, was sollte ihm da die europäische Musikgeschichte ?
Angenommen, dass Sayuri aus dem fernen Niigata wirklich unter ihren
Kommilitoninnen aus Tokyo, Nagoya oder Kyoto ein wenig isoliert war,
hielt sie sich womöglich
aus Einsamkeit an ihren Mann am Klavier, und dem fiel nur ein, sie als
Gesangspartnerin in die Bar zu schleppen und trällern zu lassen.
Womöglich war ihm überhaupt nicht bewusst, was für ein
Juwel, was für eine Märchenprinzessin die Sayuri in Wirklichkeit
war, oder er
scheute vielleicht die Mühe, die es machen würde, wenn er sie an sich
heranließe. Eine fahrlässige Liaison mit all ihren Kapriolen
könnte am Ende gar seine Karriere gefährden....
Und nun fuhr Sayuri mit ihrer
Sehnsucht nach ein wenig Zuneigung und Zärtlichkeit womöglich
auf
den furchigen Jordy ab, der sie so aufrichtig anschwärmte.
Bloß würde sich dieser auch durch noch so intensives
Küssen nicht in einen Märchenprinzen verwandeln lassen. Wobei das mit dem Küssen natürlich nur rein hypothetischer Natur war.
Ja, so könnte es sein; das
war die Version, die sich Jordy nun zusammenreimte und die ihm auch am
besten in den Kram passen würde. Man biegt sich ja gerne die
Realität in Richtung Wunschtraum zurecht.
"Wenn du Lust hast, treffen wir
uns im September nach den Sommerferien, da ist das Schulfest an der
Akademie. Dort können wir uns anhören, wie deine
Nachfolger/innen singen und hinterher gemeinsam was essen gehen.
Und wenn du am Abend singen musst, kommst du bestimmt rechtzeitig
hin..." schrieb er ihr, und recht schnell kam die Antwort:
"Das ist riesig lieb von Ihnen,
ich freue mich auf den September. Bin sooo glücklich, dass Sie
mich zum Schulfest mitnehmen wollen !"
Nein, das konnte keine Lüge
sein. Jordy wollte sehr lieb zu Sayuri sein und erkunden, wie stark
ihre Sehnsucht nach Zärtlichkeit war. Oder ob er sich
getäuscht hatte.
Namiko war neuerdings anscheinend
enger mit ihrem
Pferdehalter befasst, denn auf eine Anfrage von Jordy, der mit
leichter Verwunderung konstatierte, dass die submarinen Nachrichten auf
einmal
ausblieben, erwiderte sie nur kühl, sie habe für leere
Plaudereien
keine Zeit. Ausgerechnet sie schrieb ihm so etwas. Er nahm es mit
Humor,
denn die Funkstille in Namikos Rundfunk
konnte Jordy durchaus verkraften, zumal das Unifest und die
Begegnung
mit Sayuri nahte. Er fragte bei Sayuri, die sich zu seinem Bedauern
ebenso still verhielt, an, ob sie die Lust auf ein Treffen verloren
habe oder verhindert sei.
"Nein, im Gegenteil, ich freue mich sehr auf das Wiedersehen !" kam die
Antwort recht prompt. Wenigstens etwas. Jordy dachte aber, dass es ihr
vielleicht unangenehm sein könnte, wenn sie auf dem Schulfest in
Jordys Begleitung von etlichen Bekannten und denjenigen Studienkollegen
erblickt würde, die im Magisterkurs verblieben waren, und stellte
ihr daher frei, erst nach dem Fest zu einem gemeinsamen Abendessen zu
kommen. Diese Variante war ihr offenbar hochwillkommen, denn sie
stimmte sofort zu. Für den hoffnungsfreudigen Oldie Jordy sah es beinahe so aus, als wolle sie die
Zweisamkeit mit ihm dem Schulfest vorziehen, und falls sich
seine Erwartung bestätigte, würde er mit ihr nach dem Essen
einen Spaziergang durch den dämmrigen Park machen, um ihre
Absichten auszutesten...
Wie immer ging es hoch her auf dem Schulfest; als Lehrkörper hatte
Jordy zwei Konzertveranstaltungen zu beaufsichtigen. Das ist nur eine
Formsache, aber irgendwer muss ja verantwortlich sein, falls Betrunkene im schuleigenen Saal
randalieren, Konzertflügel zu Bruch gehen oder Joints herumgehen,
was allerdings bei den braven japanischen Musikstudenten völlig
ausgeschlossen ist. Aber in dem Festgetümmel traf er fast alle seine Studis aus der
Impek-Party-Klasse.
"Hallo, wie geht's, was macht ihr denn jetzt so ?"
Sayuri war natürlich nicht mit dabei, denn sie schminkte sich vermutlich jetzt gerade daheim oder saß schon in der Bahn auf dem Weg zum Treffpunkt.
"Richten Sie Sayuri schöne
Grüße von uns aus, wenn Sie sie nachher treffen", sagte Chika, eine der Kommilitoninnen, mit unergründlichem Gesichtsausdruck.
Jordy zuckte zusammen. Er hatte geglaubt, dass außer Sayuri und ihm niemand davon etwas ahnte.
"Ja klar, danke. Ich werde es ausrichten", brachte er heraus. Wenn es
also so stand, dass Sayuri ihre Freundinnen, nicht anders als Namiko
Jordy, über ihre Sponsoren-Treffen auf dem Laufenden hielt, kann
man nur sagen, dass sie durchaus auf der Hut war und
ihren Exkommilitoninnen nicht nur alles über den Zustand von
Jordys Gebiss, sondern auch jeden
Annäherungsversuch haarklein berichten würde. Den
Parkspaziergang konnte er daher schon mal von
der to-do-Liste streichen. Er musste den Umstand, dass die heutigen
Kids ständig
alles und jedes über social networks miteinander beplappern, in
seine Rechnung mit einbeziehen.
Sayuri kam pünktlich, wartete sogar schon, als Jordy drei Minuten
vor der vereinbarten Zeit erschien. Dezent geschminkt, mal wieder mit Brille, was ihre Attraktivität jedoch nicht beeinträchtigte. Sie gab sich sehr liebenswürdig,
plauderte charmant, lobte das Essen und genoss den Abend, aber zu zweit sitzt man im Restaurant natürlich nicht nebeneinander, sondern en face; kein Beinkontakt, nur
Augenkontakt, und mochte Sayuri auch für Jordy mehr Blicke übrig
haben als für das Carpaccio, was er der interessanten
Furchenlandschaft seines Keith-Richard-Gesichts zuschrieb, blieb es
doch bei belangloser Plauderei. Sayuri
erwähnte, dass sie den Trubel mit Menschenmassen auf Schulfesten nicht
sonderlich möge und dass Chika, von der Jordy ihr auftragsgemäß die Grüße
ausrichtete, ihre beste Freundin sei. Anschließend brachte er sie brav zum Bahnhof und beide fuhren, jeder in seine Richtung, nach Hause.
Es kam noch eine nette Danksagung von Sayuri, die sogar den Wunsch
enthielt, sich bald wieder zu treffen, aber weil er damit rechnen musste, dass Derartiges
sofort über Chika in der gesamten Studentenschaft bekannt
würde, wollte Jordy mit neuerlichen Treffen äußerst sparsam sein und ging
daher nicht näher darauf ein. Ob dies der Grund dafür war,
dass Sayuri ihm nach ein, zwei Mails nicht mehr antwortete, konnte er
nicht wissen.