SCHNARCHSACK
3
Aimi
Während Michiko ihn warten ließ und zwischen Sehnsucht und masochistischem Kummergenuss schwankte, dachte Jordy keineswegs daran, Trübsal zu blasen. In seinem Alter hatte er keine Zeit zu verlieren, und wenn Michiko sich zierte, als ob sie eine unberührte Jungfrau sei, dann sollte sie sich eben zieren. In der Zwischenzeit sah sich Jordy nach anderem Zeitvertreib um. Als Schnarchsack musste er doppelt so wach und geschickt sein wie früher, als er noch jünger war und in der Damenwelt recht mühelose Erfolge erzielen konnte.
Eine passable Gelegenheit war die große Party anlässlich des fünfzig- oder hundertjährigen Jubiläums irgendeiner angesehenen Institution in Japans Opernwelt, die im Festsaal eines teuren Hotels veranstaltet wurde. Da können sich die unwahrscheinlichsten Begegnungen zutragen, dachte Jordy, und folgte der Einladung auf Büttenpapier, band sich zum erstenmal im 3.Jahrtausend eine Krawatte um und machte sich auf endlose Reden gefasst, die es zu ertragen gilt, bevor das Orchester zum Sturm auf das kalte Büffet bläst. Mit einem Auge überflog er das gastronomische Angebot, mit dem andern die festlich gekleideten Damen und Herren um ihn herum, um schon einmal vorzusortieren, welchen Leuten er tunlichst aus dem Weg gehen, welchen er für irgendwelche Wohltaten Dank sagen und welche, vor allem aus den weiblichen Reihen, er unbedingt mal angraben sollte. Aber es waren zu viele Leute da, der Saal war ziemlich voll, und von den meisten Gästen sah er nur die schlohweißen oder schütter gewordenen Haare und die Rückenpartien der Smokings und Abendkleider. Auch in Japan ist die Opernwelt total vergreist. Er gab es auf und wollte sich schon seinem Glas Champagner widmen, da erfasste sein Blick am äußersten Rand des Gesichtsfelds zwei Damen, die zu ihm herüberguckten und ganz offenkundig über ihn sprachen, anstatt dem Oldie am Rednerpult Beachtung zu schenken. Jordy tat, als hätte er nichts bemerkt, und als die Sermone endlich ausgestanden waren, besorgte er sich erst mal was zu Beißen, bevor die besten Sachen alle weggefressen sind, und vergaß darüber schlohweiße Smokings und neugierige Damen. Außerdem hatte er eine hübsche Opernsängerin im Visier, deren Mail-Adresse er haben wollte und auch bekam. Dann liefen ihm einige ehemalige Student/inn/en in die Quere, mit denen er ein paar freundliche Worte wechselte. Sie alle waren im Konzertbetrieb etablierte Orchestermitglieder oder Sänger/innen geworden, was ihn ehrlich freute. Eine von ihnen, die Sopranistin Junko, die es in der Opernwelt zu Ruhm und einem Fan-Club mit eigener Website gebracht hatte, fiel ihm glatt um den Hals.
"So lange haben wir uns nicht mehr gesehen !"
Auf ihrer Visitenkarte stand noch ihr alter Familienname Koike. Noch unverheiratet ?
"Ja,
ich warte noch immer, bis der Richtige kommt....!"
Allzu
lange sollte sie nicht mehr warten, sie musste schon über
vierzig sein, hatte sich aber trefflich gehalten und noch genauso
leuchtende Augen wie früher. Nun ja, Sängerinnen sehen fast
immer gut aus, dachte Jordy. Dass sie unter all ihren Verehrern
noch nicht den Richtigen gefunden hatte, war ihm unbegreiflich.
Sicher war sie ziemlich wählerisch....
Kurze Zeit später stand urplötzlich eine andere junge Dame vor ihm und verneigte sich lächelnd und leicht errötend. Jordy raffte sofort, dass sie eine der beiden Ladies war, die ihn vorhin so angestarrt und bewispert hatten. Und jetzt erkannte er sie auch.
"Mein Name ist...."
"....Aimi, Kanda Aimi, nicht wahr ?"
Sie errötete noch heftiger.
"Sie erinnern sich noch an mich ! Und an meinen Namen !" säuselte sie erstaunt.
Einmal in zwei oder drei Jahren kommt es vor, dass in Jordys Kursen eine Studentin auftaucht, die eine ihm unerklärliche Anziehungskraft auf ihn ausübt und die er auch nach vielen Jahren nicht vergessen kann. Eine von dieser Sorte war Aimi gewesen. Als Dozent versuchte Jordy immer, sich nichts anmerken zu lassen, aber er war beinahe sicher, dass Mädchen, die auf ihn eine solche fast übersinnliche Ausstrahlung ausüben, auch deren Wirkung intuitiv erfassen, so sehr er sein Interesse auch zu kaschieren suchte. Dabei war, objektiv betrachtet, nichts sonderlich Attraktives an Aimi zu finden. Die neben ihr stehende Isari, eine bekannte Mezzosopranistin an der Oper in Tokyo und ebenfalls ehemalige Jordy-Schülerin, war dagegen ein saftiges Vollweib, sexy, hübsch und brillant, effektvoll geschminkt, flotte Frisur und reichlich mit Juwelen behängt. Aimi wirkte durch diesen Kontrast noch blasser und unscheinbarer als sonst, aber die Art, wie sie errötend die Augen in ihrem feinen, schmalen Gesicht niederschlug, wenn Jordy sie ansprach, fand er heute wieder hinreißend; Aimi hatte nichts von ihrer Zauberkraft eingebüßt.
"Ich hatte geglaubt, du seiest nach dem Studienabschluss in deine Heimat nach Kyushu zurückgekehrt und ich würde dich nie wieder sehen."
"Ich
habe eine Stelle als Musiklehrerin in Tokyo gefunden und bin hier
geblieben."
"Und
immer noch unverheiratet, eine alte Jungfer wie ich",
mischte sich Isari keck ein. "Kennen Sie nicht einen
geeigneten Mann, den Sie ihr vorstellen könnten ? Oder auch mir
!"
Jordy kannte nur einen eher ungeeigneten Schnarchsack.
"Es
gibt eine Menge Männer, die von weit her gelaufen kämen, wenn
sie ahnten, dass die Musik- und Opernwelt in Tokyo so prachtvolle
ledige Mädels aufzuweisen hat wie euch", grinste Jordy.
Isari war lesbisch, das wusste er, und ihr Interesse an Männern
war nur Party-Schnack, wie man es von ledigen Damen zu erwarten
pflegt. Sie fand nichts dabei, solchen Erwartungen zu
entsprechen. Sie kicherte kokett, und Aimi errötete schon
wieder.
Aimi war das lebendige Abbild einer ledigen
Musiklehrerin. Und auf dem besten Wege zum Prachtexemplar einer
alten Jungfer, in der Tat. Ein rosa Kostüm, eng geschlossen,
dazu weißliche Strümpfe, blasses Gesicht und schwarzes,
fülliges, aber streng gebundenes Haar. Jordy fragte sich
ernstlich, was ihm eigentlich an Aimi so gefiel; das Erröten
alleine kann's ja wohl nicht gewesen sein. Dagegen hatte die
Junko von vorhin wirklich hübsche Augen und ein niedliches
Gesicht, und die Isari hatte Glamour und Humor und stöckelte mit
ihrem aufreizend kreisendem Hinterteil davon, begleitet von Aimi,
die aschenputtelhaft wie eine Krankenschwester oder eben
Musiklehrerin neben ihr herhuschte. Jordy blickte den beiden kurz
nach und wurde dann von Büffet, Getümmel und Smalltalk
absorbiert.
Eine Viertelstunde später ertappte er sich dabei, wie er, einen Augenblick alleine gelassen, unwillkürlich Ausschau hielt nach einem rosa Kostüm. Da drüben stand sie, ebenfalls allein.
"Aimi, weißt du, wie lange es her ist, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben ?"
"Ja, 17 Jahre, nicht wahr ?"
"Ich habe in der Zwischenzeit manchmal an dich gedacht und mich gefragt, wo du jetzt wohl lebst und was du machst."
"Wirklich ? Das ist nett von Ihnen. Ich lebe die ganze Zeit in der Nähe von Tokyo. Aber ich freue mich auch sehr, Sie heute wiedergesehen zu haben."
"Hör mal, Aimi, gib mir doch bitte deine Anschrift und Mail-Adresse, damit du mir nicht wieder entwischst."
"Ich bin ein analoger Mensch", sagte sie mit einem hilflosen Lächeln, "in der Online-Welt werde ich sicher nie heimisch."
"Na ja, analoge Menschen haben auch ihre Vorzüge. Sie eignen sich beispielsweise zum Knuddeln besser als ihre virtuellen Pendants."
Aimi errötete schon wieder.
"Ich habe nicht einmal eine Visitenkarte. Aber ich schreibe Ihnen gerne meine Anschrift auf."
Die Art,
wie sie Jordy ansah, ja, das war genau der Aimi-Blick von
früher, dem er so verfallen war. Ein bisschen traurig, halb
Verzicht und halb Verlangen lag darin. Als Aimi den Zettel fertig
geschrieben hatte und ihm überreichte, ergriff Jordy kurz ihre
Hand. Sie blickte ihn wie fragend an, ohne zu erröten, zog die
Hand aber nicht zurück.
"Aimi,
jetzt kann ich es dir ja sagen. Früher, als du meine Studentin
warst, bin ich ein bisschen verliebt in dich gewesen."
Nun errötete sie doch, durch die blasse Schminke hindurch nahm ihr Gesicht den Fartbton ihres Kostüms an. Sie senkte den Blick und brachte keine Antwort über die Lippen. Wie ein Schulmädchen. Dabei war sie doch Musiklehrerin.
Am Abend bekam Jordy eine e-mail. Von Junko. Verwundert las er:
"Lieber Jordy, was hab ich mich gefreut, dass ich dich heute wiedergesehen habe. Weißt du, dass es schon 17 Jahre her ist, seit du mir beim Ausfüllen der Anträge für ein Deutschland-Stipendium geholfen hast ? Danach hab ich in Stuttgart studiert, bin aber schon längst wieder in Japan. Wie wär's, wenn wir uns mal zu zweit treffen und in aller Ruhe über die vergangene Zeit plaudern würden ? Hast du keine Lust ? Bis bald, deine Junko."
Jordy war
verblüfft, dass der Himmel ihm auf seinen Wunsch hin nicht
allein die Michiko, sondern anscheinend eine ganze Auswahl von
Kandidatinnen präsentieren wollte. Und alle hatten sich 17 Jahre
lang Zeit gelassen und waren noch unverheiratet....
* * *
Mit Junko
war es ganz einfach; sie war eine moderne Frau, die auch über
e-mail verfügte. Und außerdem war sie von selbst auf die
Idee
gekommen, sich mit Jordy zu verabreden. Natürlich nur zum
Plaudern, aber man kann ja nie wissen. Er wollte die
Opernsängerin und ihre Absichten jedenfalls mal testen, es
konnte ja sein, dass sie, wenn der Richtige sich nicht so einfach
finden lässt, auch mit dem Falschen vorlieb nehmen würde.
Auch
von Aimi erhielt er einen netten Antwortbrief, in dem sie seinen
Vorschlag eines Tête-à-tête wohlwollend aufnahm, aber weil sie
nicht über e-mail verfügte und überdies in Kisarazu wohnte,
eine gute Stunde Bahnfahrt von Tokyo entfernt, musste er sich bei
ihr noch in Geduld fassen. Wenn er die freie Auswahl gehabt
hätte, wäre ihm Aimi am liebsten gewesen, aber sie sah noch
immer sehr züchtig und total unerfahren aus und würde sich,
wenn er sie denn herumkriegte, wie Efeu um ihn ranken und
nimmermehr von ihm ablassen, Michiko stand ihm als warnendes
Beispiel vor Augen. Also, um Aimi wäre es als heimliche Geliebte
zu schade, meinte Jordy und ließ die Sache langsam angehen.
Junko hingegen saß schon kurze Zeit später mit ihm beim Dîner und genoss es offenkundig, von einem Mann ausgeführt zu werden, aber weder Jordys liebes Lächeln noch der gute Wein waren imstande, ihre Seriosität und Wachsamkeit einzulullen; sie bestand sogar darauf, ihren Anteil selbst zu bezahlen, um ihm nichts schuldig bleiben zu müssen, aus dem er irgendwelche Ansprüche herleiten könnte.
Wie viele
ledige Damen hatte Jordy in den letzten Monaten eigentlich zum
Essen begleitet ? Er kam sich vor wie ein Miet-Kavalier für
reife Ladies, denn keine einzige machte Anstalten, Jordy
hinterher noch als Dessert oder Betthupferl zum
Mittagsschläfchen zu begleiten. Er war in dieser Zeit total
frustriert und zweifelte, ob er überhaupt Talent zum Umgang mit
alten Jungfern habe. Die jungen Mädchen, die hatte er bisher
alle ohne große Mühen zu Bett gebracht, die waren ja
mehrheitlich sogar von sich aus zu ihm unter die Decke
geschlüpft. Aber diese alten Tanten, die zu einem ollen
Schnarchsack wie Jordy so herrlich passen sollten, die waren echt
spröde und taugten allenfalls dazu, sich an ihnen die Zähne
auszubeißen. Wahrscheinlich waren sie vor allem deswegen bis heute noch
ledig geblieben.
* * *
Also das mit der Hiroko, das ist wieder eine Geschichte, die vor etlichen Jahren angefangen hatte. Nein, nicht vor 17 Jahren, so lange ist es nicht her. Die Hiroko hatte einmal an einem Ferienseminar, an dem auch Jordy unterrichtete, teilgenommen und war dabei nicht weiter aufgefallen, denn sie war Mauerblümchen von Beruf. So ähnlich wie die Aimi und die Michiko auch, nur professioneller. Unauffällig bis zum Ende, und Jordy nahm erstmals Notiz von ihr, als sie zu ihm kam und ein Abschiedsfoto mit ihm knipsen lassen wollte.
Bei Fotos kann man ja...., dachte sie vermutlich, denn sie klammerte sich derart an ihn, als ob sie ungestützt glatt umfallen müsste, und hinterher hatte sie Jordy einen Abzug und zwei nette Briefe geschickt, aber als er auf ihren zaghaften Wunsch nach einem Wiedersehen positiv reagierte, hatte der Mut sie sofort wieder verlassen, typisch Mauerblümchen eben. Und das war's eigentlich gewesen.
Nur, acht Jahre später fand die Geschichte eine unerwartete Fortsetzung. Zufällig begegnete sie Jordy nämlich in einem kleinen Park, eingehängt bei einem gut aussehenden jungen Mann und offensichtlich ganz happy. Sie nickte Jordy freundlich zu und grüßte ihn lächelnd, und ehe Jordy es raffte, woher er diese smarte junge Dame eigentlich kannte, war sie schon an ihm vorübergerauscht. Als es ihm endlich einfiel, staunte er, wie gut sie ausgesehen hatte; was es doch ausmacht, wenn ein Mauerblümchen von einem flotten Mann zum Blühen gebracht wird !
Er schrieb an ihre alte Adresse eine freundliche Karte, dass ihn die unerwartete Begegnung sehr gefreut habe und dass ihm leider erst zu spät eingefallen sei, dass sie es war. Er fragte, was sie denn jetzt so mache und ob sie verheiratet sei, sie habe so glücklich ausgesehen. Es dauerte vier Monate, bis er eine Antwort erhielt.
"Vielen Dank für Ihre nette Nachricht. Es freut mich sehr, dass Sie mich noch nicht vergessen haben. Nein, glücklich verheiratet bin ich leider nicht und kann Ihnen auch nicht zu der fraglichen Zeit am genannten Ort begegnet sein, weil ich ganztags in einem Verlag für medizinische Publikationen arbeite....."
Was, was, was ? Dann war das also doch nicht die Hiroko gewesen ???? Peinlich, peinlich !!!! Dann muss seine Karte ja wie plumpe Anmache ausgesehen haben ! Jordy schrieb sofort eine Antwort, in der er das Missverständnis aufklärte und sich entschuldigte.
Tja,
Jordy, und nun hast du die Namiko, die Michiko, die Junko, die
Aimi und die Hiroko zum Essen ausgeführt und nichts dabei
erreicht als Völlegefühle. Und jetzt hast du keinen Joker mehr
in der Tasche, du alter Schnarchsack.
Doch, sagte Jordy, ich geb's noch nicht auf. Ich bin doch nicht die Michiko; ich denke nicht daran, einfach Trübsal zu blasen, so lange sich am Unterleib noch was regt. Wenn die Kirschblüten wieder vermatschen, fängt eine neue Runde an, bei den knackfrischen Studentinnen hab ich sicher mehr Glück als bei den angewelkten Tantchen. Schließlich sind nicht alle Mädels so zickig wie die Namiko, sondern appetitanregend wie zum Beispiel die Ayame mit ihren großen Augen.
In der Tat, große Mandelaugen und einen perfekten Busen. Wenn Ayame den Seminarraum betrat und ihren Mantel ablegte, benötigte sie in ihren hautengen Jeans und mit hinreißend geformtem Oberkörper keine zwei Sekunden, um Michiko aus Jordys Kopf zu blasen und in ihr verstaubtes Abstellkämmerlein zurückzuspedieren.
Jordy war erstaunlich erfolgreich bei der schönen Ayame. In der Gesangsausbildung natürlich, keine Missverständnisse bitte. Er machte in seinen Kursen keine Studentinnen an, und Ayame vertraute ihm vollkommen. Es dauerte nicht lange, da erschien sie regelmäßig in der Mittagspause in seinem Zimmer, brachte ihre Noten mit und ließ sich die Stücke erläutern, und als Jordy ihr auf ihre Anfrage, wie man sich deutschen Wortschatz dauerhaft aneignen könne, riet, doch mal probehalber auf Deutsch Tagebuch zu führen, tat sie dies mit einer verblüffenden Ausdauer und wurde Stammgast in seinem Zimmer, um ihre Aufzeichnungen, zwei bis drei Sätze pro Tag, korrigieren zu lassen. Aber aus dem, was ihr Tagebuch ihm offenbarte, merkte Jordy, dass Ayame trotz ihrer traumhaften Figur ein vollkommen naives, kindliches Geschöpf war, von Papa und Mama wohl behütet, das an Jungs und Sex auch nicht im Traum zu denken wagte. Ihre Oma und ihre Teddybären, das war ihre rosarote, heile Welt, mit Freundinnen ins Disneyland oder zum Kuchen essen zu gehen oder sich einen neuen Mantel zu kaufen, das waren ihre Glücksmomente. Kein Wunder, dass sie Jordy so erstaunt anschaute mit ihren schönen, großen Augen, wenn er ihr schonend beibrachte, warum sich das Heidenröslein sträubte, als der Knabe es brechen wollte, und was der böse Angler der Forelle mit seiner Rute anzutun gedachte. Und weil er darauf achten musste, das arme Kind nicht zu schockieren, deutete er ihr die Hintergründe dieser Lyrik nur an und war sich nicht einmal ganz sicher, ob Ayame wirklich begriff, um was es in diesen eigentlich nicht ganz jugendfreien Liedern geht, denn sonst heißt es am Ende, er würde Studentinnen, die zu ihm in sein Zimmer kommen, mit anzüglichen Reden behelligen. Wahrscheinlich begriff sie es nicht, denn sie schrieb auch während der Ferien unverdrossen ihr Bonbonkuchen-Tagebuch weiter und wandte sich im Herbst, als Michiko nach Tokyo kam, der "Winterreise" zu. Jordy verzichtete darauf, ihr auch noch dieses Werk voller Schnarchsack-Verzweiflung zu erläutern, denn dann wäre sie vollends verunsichert gewesen und hätte nicht mehr gewusst, was sie sonst noch singen könnte.
Ach so,
vergessen wir nicht die arme Michiko. Sie kam also tatsächlich im
Herbst nach Tokyo, und Jordy lief zweimal an ihr vorbei, ohne sie
zu erkennen. Sie trug nämlich einen Kimono und hatte das Haar
japanisch frisiert. Und das stand ihr überhaupt nicht. Mit dem
hochgebundenen Haar und ihrem breiten Mund sah sie aus wie eine
65jährige Kröte. Als sie Jordy schließlich ansprach, murmelte
er entschuldigend und diplomatisch, er habe sie noch nie im
Kimono gesehen, was ihr Aussehen enorm verändere. Während des
gemeinsamen Mittagessens, nach dem er sie fest entschlossen in
ein Stundenhotel in der Nähe bugsieren wollte, eröffnete sie
ihm, dass sie auf dem Weg zu einer Teezeremonie-Meisterschaft in
Kyoto sei und noch am gleichen Tag weiterreisen müsse; dann
schaute sie auf die Uhr und erwähnte, dass ihr Zug in einer
halben Stunde gehe. Jordy guckte wie ein Schnarchsack, was ihm
nicht sonderlich schwer fiel, und beschloss, in die Ernährung
dieser und anderer störrischer Tanten keinen Yen mehr zu
investieren.
* * *
Also, das
Internet und die e-mails, das ist schon eine geniale Sache und war damals noch ganz neu.
Jordys frühere Freundin Seryna war noch nicht online gewesen,
als er mit ihr liiert gewesen war; was hatte es immer für Mühe
gekostet, sich zu verabreden und sie heimlich in ein Hotel zu
lotsen ! Heutzutage schickst du deiner Tussi eine e-mail direkt
aufs Handy, und noch in der S-Bahn tippt sie dir eine Antwort
ein, und am Abend hast du sie im Bett. Jordy war schon länger
online, die Technik war vorhanden, es fehlte leider nur die
geeignete Tussi. Bevor du erfährst, an wem sich der unbelehrbare
Schnarchsack Jordy jetzt die Pfoten verbrennt und die nächste
Abfuhr kassiert, darf ich dich darauf aufmerksam machen, dass die
Zeit nicht stehen bleibt, sondern zügig weiterläuft. Abgesehen
davon, dass sich Jordys graue Haare emsig vermehrten, machte der
aktuelle Stand der Technik nämlich auch vor analogen Zeitgenossen nicht
Halt. In kurzer Folge flimmerte allerlei Typisches über Jordys
Screen, es war recht amüsant. In alphabetischer Reihenfolge sah
das etwa so aus:
Aimi: | Ich habe mich jetzt dazu durchgerungen, doch noch in die virtuelle neue Welt einzusteigen, kämpfe aber noch mit den Tücken der Technik... |
Ayame: | Mein Tagebuch ist bis auf die letzte Seite vollgeschrieben. Darf ich es Ihnen zum Korrigieren zusenden, weil ich bis zum Beginn des neuen Semesters nicht zur Hochschule kommen kann ? |
Hiroko: | Mir ist gekündigt worden, der Verlag steht kurz vor der Pleite. Ich muss mir etwas Neues suchen, in meinem Alter.... Ob das wohl gut geht ? |
Junko: | Am 3.März singe ich die Micaela in der Oper "Carmen". Ich hinterlege an der Abendkasse für Sie eine Freikarte und würde mich freuen, wenn Sie kommen könnten. Ab Mitte März hätte ich auch Zeit für ein gemeinsames Abendessen... |
Michiko: | Verzeihen Sie die Belästigung, dass ich mich und meine Lebensgefährtin, das Kätzchen Mimi, vorstelle. Mimi ist leider schon etwas älter und derzeit krank.... |
Namiko: | Mir geht es miserabel. Man beutet mich aus. Ich wollte in der Popmusik mit Crossover reüssieren, aber alle sind total gemein zu mir. Am besten werde ich Hostess in einem Nachtclub. |
Seryna: | Ich hab jetzt einen neuen Freund, einen Astrophysiker. Ansonsten geht's mir schlecht, vorgestern hab ich einen Motorradunfall gebaut. Seryna ist heil, aber das Bike liegt im Koma. |
Da sieht
man mal, was ein Pädagoge an einer Musikhochschule in den Ferien
alles zu leisten hat. Frauenschicksale, die zu Herzen gehen.
Verzagte trösten, Labermails beantworten, Mut zusprechen,
Aussprachen korrigieren, plüschige Tagebücher lesen und
unbemannte Primadonnen mästen.... Dabei hatte Jordy all diesen
Tanten seine Mail-Adresse eigentlich nicht dazu gegeben, um als
Seelsorger oder Abendessen-Spendier-Onkel aktiv zu werden.
Junko sah
gut aus für ihr Alter, gab sich jedoch vollkommen als erwachsene
Dame, vermied alle Arten anzüglicher Reden und griff auch dort
nicht nach Jordys Hand, wo es kein Mensch hätte sehen können.
Sie wollte ihr Image als Lady mit Anstand wahren und wäre nur
dann zu einer Liaison mit Jordy bereit gewesen, wenn er ledig,
verwitwet oder geschieden wäre. Vermutlich wollte sie nur mal
wieder von einem Kavalier ausgehalten werden und hatte zu diesem
Zweck wohl eine erkleckliche Anzahl freundlicher und diskreter
Herren auf ihrer Mailing-Liste verzeichnet. Bedauerlicherweise
war auch Jordy für sie nicht der "Richtige".
Mit den anderen älteren Mädchen machte Jordy aber ziemlich kurzen Prozess. Weil sein alter PC in der Zwischenzeit den Weg alles Irdischen gegangen war, wurde mitsamt dem alten Computer auch Namikos neue, gerade erst geänderte Mail-Adresse, von der er noch kein Backup hatte, auf dem städtischen Abladeplatz für Giftmüll entsorgt, und Jordys Bedauern darüber hielt sich in Grenzen.
Aimi hingegen wirkte wie verwandelt, seit sie online war. Mauerblümchen Hiroko und die masochistische Michiko hielten meist still, wenn Jordy sie nicht von sich aus anmailte, aber die blasse Aimi kam langsam in Fahrt. Wahrscheinlich hatte sie ja keinen anderen Mail-Partner als Jordy. Jetzt, wo es gerade Frühling wird und alle Knospen springen und alle Vöglein singen, hätte sie Lust, im Ueno-Park spazieren zu gehen. Das hätte sie nicht schreiben sollen, denn Jordy fiel sofort die distinguierte Junko wieder ein; war er jetzt dazu eingeteilt, frustrierte, aber distanzierte Damen im Ueno-Park Gassi zu führen ? Irgendwie stand ihm der Sinn nicht auf platonische Spaziergänge mit der schüchternen Aimi, obwohl ihr Vorschlag für ihre Verhältnisse geradezu tollkühn anmutete, aber wenn sie dann neben ihm ging, würde sie nur wieder dauernd erröten und vor jeder Berührung zurückzucken, als sei Jordy elektrisch geladen. So tat er, als sei er zu tumb für die richtige Interpretation ihrer Absichten, wechselte das Thema und erklärte ihr, wie man Lammbraten im Backofen zubereitet. Ob sie das interessierte, das wusste er freilich nicht.