SCHNARCHSACK

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abendhimmel


Michiko

Im Himmel dauert die Bearbeitungszeit für diese Art von Wünschen derzeit genau fünf Wochen. Dann traf ein Brief ein; es mag um den Valentinstag Mitte Februar herum gewesen sein. Absenderin: Michiko Kawaguchi aus Matsumoto. Das liegt tief in den winterlich verschneiten Bergen in Zentraljapan und erinnerte Jordy, ebenso wie der Name, der auf dem Kuvert prangte, an eine weit zurückliegende Geschichte. Neugierig machte er den Umschlag auf. Zuerst fiel ihm ein frankiertes Rückantwortkuvert in die Hand, und dann das Schreiben in zierlicher Frauenhandschrift.

Der Frühling ist nahe, wie geht es Ihnen ? Bitte verzeihen Sie mir, dass ich Ihnen so einfach schreibe. Sicher haben Sie mich schon längst vergessen. Ich hatte Ihnen vor langer Zeit einmal große Unannehmlichkeiten bereitet und bitte dafür heute nochmals um Verzeihung.

In letzter Zeit habe ich mancherlei Dinge in meinem Umfeld geordnet, bin zweimal umgezogen und habe dabei stets meinen wertvollsten Schatz, die einst von Ihnen erhaltenen Briefe, sorgsam gehütet. Nun denke ich, was wird daraus, wenn ich einmal nicht mehr sein werde ? Ob man mir den Gefallen tut, sie mit mir zusammen zu verbrennen, wenn ich es in mein Testament schreibe ? Oder soll ich sie lieber vernichten, so lange ich noch am Leben bin ? Aber ich bringe es nicht fertig, sie fortzuwerfen.

Im Zusammenhang mit meiner Arbeit stieß ich kürzlich auf ein Verzeichnis der Lehrkräfte an der Staatlichen Musikhochschule und sah zu meiner Überraschung, dass Sie auch jetzt noch dort tätig sind. Mein Herz machte einen Sprung vor Freude, dass Sie noch da und gesund sind. Sicher haben Sie mancherlei Freuden erlebt in den vergangenen Jahren. Aus Ihrem einstmals jungen und hübschen (?) "Michilein", wie Sie mich gerufen hatten, ist inzwischen eine unansehnliche Tante mittleren Alters geworden, denn es ist nun bald 20 Jahre her, seit wir uns kennen gelernt hatten. Verzeihen Sie mir bitte diese unnötige Sentimentalität, aber es sind alte Erinnerungen, die für mich wertvoll sind.

Also, ich weiß nicht, was ich mit Ihren früheren Briefen tun soll. Gewiss werden Sie ärgerlich denken: 'Was will die jetzt bloß ?', aber mir liegt das ständig am Herzen. Es hat mich immer getröstet, dass es früher jemanden gegeben hat, der mich geliebt hatte, und ich danke Ihnen sehr dafür. Verzeihen Sie mir bitte, dass ich Sie mit einer großen Bitte unendlich belästige, aber ich wünsche mir inständigst, dass Sie mir ein kurzes Wörtlein auf das beigefügte Briefpapier schreiben und es mir in dem Rückkuvert zusenden. Aber auch, wenn Sie es einfach wegwerfen, werde ich Ihnen nicht grollen. Verzeihen Sie bitte diesen egoistischen Wunsch, aber in all diesen langen Jahren ist die Erinnerung an Sie niemals erloschen. Als meine Eltern von der Sache mit Ihnen erfuhren, hatten sie mich heftig geschlagen, aber verglichen mit der Unannehmlichkeit, die ich Ihnen seinerzeit bereitet hatte, sind meine Schmerzen sicher bedeutungslos gewesen. Ich bitte von Herzen um Vergebung. Und erneut auch dafür, dass ich Ihnen solch einen dummen Brief zu schreiben wage.

Ich wünsche Ihnen von Herzen alles Gute. Bitte bleiben Sie gesund und glücklich,

Michiko Kawaguchi


Vor bald zwanzig Jahren, lang ist es her. . . . . . Genau genommen war es vor 17 Jahren, da hatte Jordy einmal eine Gruppe Japaner auf Europareise als Dolmetscher begleitet, und nach einigen Reisetagen war diese Michiko, eine etwas melancholisch wirkende Einzelgängerin unter den Teilnehmern, irgendwie an ihm hängen geblieben und hatte ihn schließlich nachts in seinem Hotelzimmer aufgesucht. Jordy war damals auch noch ziemlich jung gewesen und hatte noch wenig Erfahrung mit Japanerinnen. Da Michiko ihm ziemlich sensibel vorkam, wollte er sie als Gentleman behandeln und nicht gleich über sie herfallen, als sie in seinem Bett lag, denn bei jungfräulichen Mädchen weiß man nie, wie sie die erste Begegnung verkraften. Jordys Ideal waren eher solche Typen, die mit 15 oder 16 auf dem Gymnasium mal irgendeinen Klassenkameraden drangelassen und auch danach nicht die Lust an Männern verloren hatten. Mit solchen lassen sich die flottesten Kissenschlachten veranstalten, die machen alles mit und haben ihren Spaß dabei. Michiko legte aber keinen Wert auf Jordys taktvolle Zurückhaltung, obwohl sie wusste, dass er schon damals verheiratet war.

"Wenn Sie es sind, mit dem ich meine erste Erfahrung habe, werde ich es mein Lebtag nicht bereuen", hatte sie ihm ins Ohr geflüstert, und einer solchen Einladung pflegte sich Jordy nicht zu verschließen. Außerdem war sie alt genug, um zu wissen, auf was sie sich gefasst machen muss, wenn sie nachts im Hotel bei einzelreisenden Herren unter die Decke schlüpft.


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Matsumoto, die Stadt, aus der sie kam und in der sie in einer Amtsstube arbeitete, liegt freilich weit weg von Tokyo, aber nach der Rückkehr von ihrer Europareise besuchte Michiko einmal im Monat ihren Bruder, der in Tokyo studierte, um sein Zimmer zu putzen und seine Wäsche zu waschen, wie es sich für eine Japanerin so gehört. Und
vor ihrer Rückfahrt traf sie sich mit Jordy. Das ging drei Jahre lang gut; einmal konnten sie sogar eine dreitägige Reise zusammen machen, aber dann liefen sie eines Tages just beim Verlassen eines Stundenhotels geradewegs einem Kollegen von Jordy über den Weg, und der staunte nicht schlecht über die Neuigkeiten, die er anderntags an der Schule ausposaunen konnte. Es kostete Jordy einige Mühe, die Sache auf kleiner Flamme zu halten und dann unter den Teppich zu kehren. Ganz geheim blieb es zwar nicht, aber ein Skandal wurde auch nicht daraus, weil Michiko keine Studentin der Musikhochschule war.
Allerdings hatte Jordy damals gerade ein anderes Mädchen kennen gelernt, das genauso zärtlich, aber wesentlich hübscher war als Michiko und außerdem in Tokyo wohnte. Er hatte zwar nicht vor, Michiko, die ohnedies nicht oft nach Tokyo kam, einen Korb zu geben, bauschte den Vorfall und seine Folgen aber trotzdem ein wenig auf und deutete an, dass ihrer Beziehung eine geraume Abkühlungszeit gut täte. Michiko fügte sich gehorsam, schrieb nur noch selten und dann gar nicht mehr, und weil ihr Bruder nach dem Ende seines Studiums Tokyo verließ, hatte sie auch keinen Grund mehr, nach Tokyo zu fahren. Dass ihre Eltern von ihrer Affäre mit Jordy erfahren und sie verprügelt hatten, das war Jordy allerdings vollkommen neu. Und schleierhaft, denn in Matsumoto war er nie gewesen. Wahrscheinlich hatte Michiko, die damals bei ihren Eltern lebte, seine Briefe, ihr Tagebuch oder sonst irgendwas Kompromittierendes offen herumliegen lassen. Als er von Michiko nichts mehr hörte, glaubte er, sie habe ihren fernen Freund in Tokyo vergessen, in Matsumoto einen neuen Liebhaber abgeschossen, geheiratet und sei jetzt Ehefrau und Mutter von fünf frechen Kindern, die Matsumoto-Dialekt brabbeln und sabbeln.

Jordy verfasste einen netten Antwortbrief.

"Dein Brief klingt traurig", schrieb er ihr, und "in meinem Herzen ist ein kleines Kämmerlein, in dem das "Michilein" von früher still, aber wohl behütet wohnt."

Sie musste jetzt knapp über 40 sein, hatte als Absender aber ihren Mädchennamen angegeben; demnach war sie noch ledig und wohnte vermutlich alleine. So konnte er ihr offen schreiben, dass er sie durchaus nicht vergessen habe und ihre Telefonnnummer erfahren wolle, um sie mal anrufen zu können. Und -aber das dachte er nur bei sich- wenn sie bei Gelegenheit mal wieder nach Tokyo käme, würde er ihr schon zeigen, dass seine Liebe noch nicht eingerostet war, vorausgesetzt, sie folgte ihm so willig wie früher in ein Hotelzimmer.

Michiko war eine jener höchst altmodischen Frauen vom Lande, wie es sie nur in Japan gibt: Überhöflich und unterwürfig, und außerdem mochte sie es, von Männern ein bisschen hart angefasst oder herumkommandiert zu werden. Wenn sie hingegen Kummer hatte, biss sie sich lieber die Zunge ab als es dem Partner zu offenbaren oder sich gar zu beklagen; sie gefiel sich darin, still vor sich hinzuleiden und sich manchmal eins zu heulen oder in der Pose der versetzten Madame Butterfly zu schmachten. Allenfalls in Andeutungen wie in ihrem Brief sprach sie solche Dinge an und gab sich glücklich und hingerissen, wenn sie dafür ein Fitzel Mitgefühl bekam.

Jordy kannte sie genug und wusste, dass ihr nächster Brief wochenlang auf sich warten lassen würde; selbstquälerisch würde sie den fertig geschriebenen Brief so lange liegen lassen, bis sie es nicht länger erträgt, nur um zu zeigen, dass sie Jordy keine weiteren "Unannehmlichkeiten" bereiten wolle. Solche Menschen sind zwar treu bis in den Tod, aber trotzdem schwer zu kriegen, weil sie an ihrem Leiden mehr Gefallen finden als an einem baldigen Wiedersehen. Jordy hatte allerdings wenig Lust, geduldig auf ihren Antwortbrief zu warten, denn er war neugierig auf sie und wollte sie möglichst bald mal wieder treffen. Nach der frustrierenden Namiko-Episode war ein so gefügiges, anhängliches und ergebenes Wesen gerade das Richtige für ihn. Allein die Aussicht darauf, ihn wiederzusehen und nach zig Jahren mal wieder von ihm umarmt zu werden, dürfte Michiko nach seiner Einschätzung an den Rand der Seligkeit bringen. Fraglich war nur, ob sie der Seligkeit nicht ihre Leiden vorzog.

Obwohl er eigentlich darauf gefasst gewesen war, überraschte es Jordy, wie richtig er mit seiner Prognose gelegen hatte. Die Post, die er einen Monat später bekam, enthielt zwei Briefe. Der erste war eine Danksagung für seine Antwort und bestand aus wenig mehr als Höflichkeitsfloskeln und erneuten Bitten um Verzeihung für das dreiste Ansinnen aus dem letzten Brief, extrem typisch Michiko. Keine Emotionen, keine Telefonnummer. Also, Höflichkeit ist ja ganz schön, kann aber auch die Funktion einer Gummiwand übernehmen. Wenn Jordy mal mit Michiko Tacheles reden und sie auffordern würde, ihre dämliche Unterwürfigkeit zu unterlassen, die ihm auf den Geist ging, dann würde er damit, anstatt Klartext zu erhalten, nur noch heftigere Kaskaden von Bitten um Verzeihung für ihre missglückte Diktion auslösen. Also ließ er Michiko gewähren, und machte genervt den zweiten Brief auf. Na also, da rückte sie doch noch mit der Sprache heraus.

Ich wollte diesen Brief eigentlich lieber nicht absenden, habe es mir dann aber doch anders überlegt. Ich würde Sie gerne, und sei es nur für wenige Minuten, wiedersehen, oder wäre das zu viel verlangt ? Es ist noch dreister als meine vorige Bitte, aber ich bin wohl eigensinniger geworden als früher. Falls wir ein Treffen verabreden und Sie mich nicht wahrnehmen sollten, auch wenn ich direkt vor Ihnen stehe, werden Sie wohl einfach weitergehen. Schließlich mag ich mich sogar selber nicht ansehen. Da werden Sie mich erst recht übersehen, da Sie mich als junges Mädchen in Erinnerung haben. Na ja, früher bin ich auch keine Schönheit gewesen, aber jung zu sein, das allein ist schon viel wert. Das merkt man aber leider erst später. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch; das soll nicht heißen, dass ich mein Alter nicht akzeptiere. Nur habe ich mich nicht sonderlich gut gehalten. Wenn es Ihnen passen sollte, teilen Sie mir bitte Ort und Zeit für ein Treffen mit, aber nur, falls es Ihnen wirklich nichts ausmacht. Andernfalls ignorieren Sie bitte mein dummes Geschwätz....


Na also. Auch die Telefonnummer stand da, ebenso ein Zeitraum, in dem sie für die Fahrt nach Tokyo einen Tag Urlaub nehmen könnte.

"Nur für wenige Minuten", das bedeutete in Michikos Ausdrucksweise, dass sie am selben Abend wieder nach Matsumoto zurückfahren wollte. Das kam Jordy höchst gelegen. Er stellte sich vor, wie sie jetzt aussehen könnte. Knapp über vierzig, da konnte sie kaum verschrumpelt und gehumpelt daherkommen, trotz ihres Understatements. Wahrscheinlich hatte sie ein paar Falten gekriegt und ein paar Kilos zugenommen, vielleicht hatte sie ja auch eine Brille, Goldzähne und ein paar erste graue Haare, aber er stellte es sich ganz interessant vor, mal die Küsse einer Frau im Hausfrauenalter zu kosten, und freute sich auf das Wiedersehen. Schließlich war er selbst ein Schnarchsack deutlich über fünfzig geworden und konnte nicht verlangen, bis an sein Lebensende mit Teenies und Twens versorgt zu werden.

Er befürchtete nur, dass Michiko, trotz ihrer -auf ihre spezielle Weise- sehnsuchtsvollen Episteln, womöglich weiser und gesetzter geworden sein könnte als früher oder ihren strengen Eltern zuliebe auf eine Wiederholung der einstigen Dummheiten verzichten könnte, aber in diesem Fall würde er sie wohl einfach in ein geeignetes Hotel reinschieben und ihren ohnehin schwachen Willen ignorieren. Dass sie ihm dafür hinterher böse wäre, stand nicht zu erwarten, denn sie hatte schon üblere Streiche von ihm widerspruchslos geduldet. Auf jener Europareise vor 17 Jahren hatte Jordy, der nicht gerne alleine schlief, wenn hübsche Mädchen in der Nähe waren, es nämlich nach einem kleinen Streit mit Michiko geschafft, für die kommende Nacht, in der Michiko schmollte und ihn garantiert nicht aufsuchen würde, ein anderes Jungfräulein aus der Reisegruppe in sein Bett zu lotsen. Da kannte er freilich Michiko noch nicht gut und hatte nicht im Traum damit gerechnet, dass sie am andern Morgen schon in aller Frühe wie eine Leibgardistin stundenlang vor seiner verschlossenen Zimmertüre stehen würde, um ihn, sobald er herauskam, um Verzeihung zu bitten. Obwohl sie das Kieksen und Juchzen von Jordys Gespielin, die mit ihm zusammen unter der Morgendusche stand, und womöglich auch davor noch andere Geräusche mit angehört und Jordys Erbleichen genau gesehen hatte, als er mit dem anderen Mädel an der Hand aus dem Zimmer kam und fast mit Michiko, die wie angewachsen vor der Türe stand, zusammengestoßen wäre, war sie nach nur vier Stunden mit verheultem Gesicht zu ihm gekommen und hatte ihn angefleht, ihr zu verzeihen und sie nicht zu verstoßen wegen des unhöflichen Wortwechsels am Vorabend und der ungebührlichen Störung am Morgen.

So war Michikos Charakter, und es stand eigentlich nicht zu erwarten, dass er sich in der Zwischenzeit grundlegend verändert hätte. Ihm schoss kurz durch den Kopf, wie wohl ihre Story, wenn eine talentierte Schriftstellerin sie aus Michikos Sicht schilderte, aussehen würde, und welche Schurkenrolle ihm, dem fühllosen Don Juan, da auf den Leib geschrieben würde, aber dann sagte er sich, dass andere Frauen ähnliche Erlebnisse ganz anders wegstecken oder gar elegant und instinktiv manches Unliebsame vermeiden würden, und dass ein Gutteil des Leides, das Frauen in ihrer Beziehung mit Männern erfahren, ihrem eigenen, schwachen Charakter zuzuschreiben sei. Aus ihren Briefen schloss Jordy jedenfalls, dass sie nach den langen Jahren der Trennung nun eher noch weichgekochter und unterwürfiger geworden war; für ein wenig Mitgefühl und Zuneigung würde sie sicherlich alles mit sich machen lassen. Er hoffte nur, dass nicht schon wieder irgendwelche Bekannten in der Gegend herumliefen, wenn er mit Michiko ein Stundenhotel betrat oder verließ.

* * *

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Eine geschlagene Stunde lang wartete Jordy am vereinbarten Treffpunkt, aber von Michiko war nichts zu sehen. Er musterte alle älteren Mädchen bis hin zu ziemlich tatterig und gebückt einherschleichenden Mütterchen, aber keine sah Michiko auch nur entfernt ähnlich. Jordy gab noch eine Viertelstunde zu, aber dann stand es außer Frage, dass er von Michiko versetzt worden war. Eigentlich war das ein Ding der Unmöglichkeit; Namiko würde so etwas spielend fertig bringen, aber Michiko, die selbst um das Treffen gebeten hatte, war alles andere als eine Frau mit Allüren, die über die Chuzpe verfügt, einen Mann zu einem Rendezvous zu bestellen und dann da stehen zu lassen. Bevor er vollends aufgab, begann Jordy, sicherheitshalber auch die etwas weitere Umgebung abzusuchen, und als er, keine 100 Meter weiter, um eine Ecke bog, stand Michiko da, mit großen Augen und verzweifeltem Gesicht.

'So ein Dusseltier', dachte er, anstatt sich zu freuen. Haarklein hatte er ihr aufgeschrieben und sogar eine Skizze gemalt, wo er sie treffen wollte, und sie hatte das nicht gerafft. In Amerika ist sogar ein Buch darüber erschienen, dass und warum Frauen keine Stadtpläne lesen können, und Michiko war leider wie eine lebende Bestätigung dieses idiotischen Vorurteils.

Sie hatte sich kaum verändert. Ihre Haare waren frisch gewaschen und frisch gefärbt, natürlich nicht bananengelb oder himbeerrot, sondern schwarz; sogar ihre Frisur war fast die gleiche wie früher. Ihre großen Augen wirkten etwas übernächtigt, und ihr großer Mund sah durch den ebenso ungeschickt wie damals aufgetragenen Lippenstift wie absichtlich vergrößert aus. Da sie keine Kinder zur Welt gebracht hatte und sich mit keinem schlecht gelaunten und gestressten Ehemann abplagen musste, wirkte sie noch recht mädchenhaft und hatte sich weit besser gehalten als Jordy nach ihrem brieflichen Selbstporträt zu hoffen gewagt hatte. Nur ihr Gesichtsausdruck trug den Schatten einer Depression, obwohl sie sich ein Lächeln abrang, als sie sich dafür entschuldigte, an der falschen Stelle gewartet zu haben. Wenn Jordy sie nicht zufällig entdeckt hätte, wäre sie wahrscheinlich bis zum Abend da stehen geblieben und hätte auf Godot gewartet.

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Beim gemeinsamen Mittagessen fand sie allmählich auch ihre Sprache wieder, redete aber mit so leiser Stimme, dass Jordy mehr ahnte als hörte, wovon sie sprach. Er merkte aber, dass sie zwei Themen vermied: Ihre frühere Affäre mit Jordy und Erläuterungen, auf welche Weise ihre Eltern ihr Geheimnis entdeckt hatten. Beim Gang durch die Menschenmenge beim Kirschblütenfest drängte sie sich an Jordy und fasste endlich seine Hand, aber bis sie einen stillen Winkel für die lang entbehrten Küsse gefunden hatten, war die schwache Frühlingssonne kurz vorm Untergehen.

"Findest du es nicht kindisch, wie Pennäler im hintersten Winkel des Parks zu stehen und zu knutschen, dauernd auf der Hut vor Passanten ? Komm, wir gehen woanders hin, wo man ungestört ist und es bequemer hat", raunte Jordy ihr ins Ohr, aber Michiko schüttelte wortlos den Kopf.

"Krahkrah, kraaaaahahahahaaa", mokierten sich zwei dicke Krähen in dem hohen Parkbaum über den kindsköpfigen Schnarchsack mit seiner tranigen Tussi da unten. Anders als geplant zog Jordy sie aber nicht einfach in eines der unweit gelegenen Love-Hotels, denn er empfand eine Art Mitleid mit der stumm in seine Arme gekuschelten Michiko und begriff, dass es ihr nicht schmeckte, gleich beim ersten Treffen nach so vielen Jahren wieder mit ihm herumzuvögeln. Sie wollte den Anschein vermeiden, ihr sei es bei diesem Treffen in Wahrheit um ein Schäferstündchen gegangen. Dabei war es im Prinzip egal, welchen Anschein sie sich geben wollte, Jordy schätzte sie deshalb weder höher noch niedriger ein; trotz der 17jährigen Pause kannte er sie schließlich lange genug. Aber er hatte heute seinen gutmütigen Tag und lud sie statt in ein Bett in ein Café ein, denn er glaubte, dass sie nichts Grundsätzliches gegen Sex mit ihm einzuwenden hätte. Fortan würde sie sicher wieder öfter nach Tokyo kommen, und bei der nächsten Gelegenheit würde er sie schon noch kriegen.

Auf dem Rückweg war es dunkel. Wo die Kirschbäume stehen, war Beleuchtung und festlicher Rummel, da wurde das Blütenfest gefeiert, gesoffen und gesungen, aber abseits zwischen den Azaleen stehen auch Bänke, dunkel und menschenleer. Nur ist es zur Kirschblütenzeit am Abend noch empfindlich kühl; wäre es wärmer gewesen, hätte Michiko vor lauter Scharmutzieren womöglich den letzten Zug nach Matsumoto verpasst. Jordy konnte seit langer Zeit zum ersten Mal wieder einer Frau mit seiner kalten Hand unter den Rock und in die Bluse greifen, und Michiko leistete nirgendwo Widerstand, sondern genoss tief atmend die Zärtlichkeiten, weigerte sich jedoch nach wie vor beharrlich, mit ihm "woandershin" zu gehen. Sie beteuerte mehrfach, dass sie alleine ganz glücklich sei und Männer ihr eher zur Last fielen.

"Mein Leben ist eine Abfolge von Lästigkeiten und Sichdareinschicken", sagte sie resigniert.

"Beim nächsten Mal will ich wieder mit dir schlafen", meinte Jordy, "und wenn es dir lästig ist, musst du dich halt dareinschicken."

Da musste sogar Michiko lachen. Aber eine Antwort darauf gab sie ihm nicht.

* * *

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Das neue Schuljahr beginnt wie jedes Jahr, sobald die Kirschblüten zu braunem Matsch zerklumpt die Gullis zu verstopfen beginnen. Und Jordy schlurfte wie jedes Jahr in seinem Paukertrott zur Musikhochschule. Auf dem Weg vom Bahnhof aus fiel ihm seit langem mal wieder die Namiko ein, aber diese Capricen-Tussi hatte ihr Studium ja längst beendet. Außerdem hatte er sie schon längst abgeschrieben und keine Gedanken mehr an sie verschwendet. Per e-mail hatte sie ihm mal mitgeteilt, dass sie vorhabe, nach Italien zu reisen, und er hatte darauf nur knapp geantwortet. Umso erstaunter war er, als er beim Betreten des Campus Namiko gleich beim Tor stehen und mit einem Typ quatschen sah. Ihr wacher Männersammelblick hatte natürlich Jordy ebenfalls sofort registriert, und als er in ihre Nähe kam, drehte sie sich zu ihm um und rief:

"Oh, Herr Professor, wie geht's ?"

"Guten Tag, ganz gut, und dir ?"

"Danke, danke, und ich bin auch...."


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Aber Jordy blieb nicht stehen, sondern ging einfach weiter und tat so, als hätte er nicht gehört, dass sie ihm irgendetwas sagen wollte. Sie hatte wieder eine neue Haartönung, diesmal marone mit hellmelierten Strähnen, unglaublich lang, weiß der Hugo, wie sie das in nur zwei Monaten hingekriegt hatte, und trug hautenge Jeans zu halbdurchsichtigem Top. Ihr hübsches Gesicht wirkte auf Jordy heute aber reichlich ordinär, wie immer dick geschminkt und Kaugummi kauend. Wenn sie ihm was zu sagen hatte, sollte sie ihm doch eine Mail schicken.

'Heute hab ich sie wahrscheinlich wirklich zum letzten Mal gesehen', sagte Jordy sich ohne Bedauern.

Im Lehrerzimmer angekommen, lag da ein dicker Brief für ihn, von Michiko aus Matsumoto. Sieben Briefbögen, eng beschrieben in Michikos zierlicher Handschrift.

'Da hab ich Lektüre für längere Bahnfahrten', grinste er und steckte den Papierpacken ein. Er kam erst später dazu, ihn zu lesen, aber dann las er ihn drei- oder viermal, denn was da stand, das hatte er nicht erwartet. Lassen wir mal alle die michikohaften Höflichkeitsfloskeln und Bitten um Verzeihung für dies und jenes weg, dann blieb in etwa die folgende Nachricht übrig:

Ich bin schwermütiger geworden ? Das war mir nicht bewusst. Allerdings liegt mir tatsächlich nicht viel am Leben. Ich würde es nicht stark bedauern, wenn es in Kürze zu Ende ginge. Alte Erinnerungen sind auch mir lieb, wenn sie angenehmer Art sind, aber in unserem Fall gibt es auch mancherlei, an das ich nicht gerne denke, denn damit sind traurige und schmerzliche Gefühle verbunden. Ich hatte zwar seinerzeit gesagt, ich würde es nie bereuen, wenn Sie mein erster Partner sind, und was wir dann gemacht hatten, das habe ich auch nicht bereut, aber nach jeder Trennung waren die Abschiede und die Zeiten, in denen wir nicht zusammen sein konnten, für mich fast unerträglich. Sogar der Briefwechsel war mir eine Last, denn ich musste es immer vermeiden, Sie mit Vorhaltungen zu behelligen, denn selbst wenn Sie es mir verziehen hätten, so hätte ich mich darum doch selber gehasst.

Ein Besuch in Tokyo . . . . es ist Zeit . . . . tschüs, bis zum nächsten Mal . . . . und wieder zurückgefahren. Auch wenn ich mich im Zug ausgeheult hatte, fiel es mir auf dem Heimweg und im Elternhaus schwer, ein gleichgültiges Gesicht aufzusetzen, und das hat mich Kraft gekostet. Und dann dieser Anruf . . . . ---- Abkühlungszeit  !

Ich hätte vielleicht nach etwa einem Jahr wieder anrufen sollen, aber Sie hatten mir doch gesagt: 'Wenn ich dich oder meine Frau mit unserer Beziehung traurig mache, dann ist es besser Schluss zu machen', erinnern Sie sich ? Ich war schon lange traurig, nein, todtraurig gewesen, aber ich habe es Ihnen nicht gezeigt, denn Schluss zu machen, das wäre noch viel schlimmer gewesen. Jedenfalls dachte ich bei diesem Anruf sofort, ah, jetzt hat er also doch Schluss gemacht mit mir !

Ich war danach wochenlang völlig am Boden zerstört, und wollen Sie wissen, wie es dann weiterging ? Ich habe aufgehört mit dem Chorsingen, habe mein Elternhaus verlassen und mir ein eigenes Appartement gesucht. In meiner Trostlosigkeit habe ich mich mit einigen Männern eingelassen und wieder getrennt und mich dabei selber gehasst.

Wenn es zur Welt gekommen wäre, das Mädchen, das ich vor seiner Geburt abgetrieben habe, wäre es jetzt im Grundschulalter. Der Mann, mit dem ich damals zusammen war, hatte noch eine andere Freundin, und als ich ihm sagte, dass ich ein Kind von ihm erwarte, sagte er nur, das sei ja allerhand, und ließ sich nie mehr bei mir blicken. Deshalb bin ich in die Frauenklinik gegangen, was hätte ich denn sonst tun sollen ? Es folgten Wochen und Monate, an die ich nicht mehr denken möchte, und ob ich auch dem Chor wieder beitrat und Teezeremonie lernte, ich war bei allem nur mit halbem Herzen dabei.

Ich beneide Sie um die Fähigkeit, aus allem das Beste zu machen und das Leben zu genießen. Ich wollte die ganze Zeit nur für mein Kind beten, das ich getötet habe, und kann mir bis heute selbst nicht verzeihen. Vielleicht hätte ich in meinen späten 20-er oder auch noch in den 30-er Lebensjahren noch einmal eine schöne Liebschaft finden können, habe mir aber keine Mühe gegeben, denn das Recht auf ein glückliches Leben habe ich verwirkt.

Na ja, man kann nicht immerzu nur trauern. Natürlich habe auch ich ein paar Freuden gehabt. Auch denke ich jetzt nicht mehr so stark an mein Kind wie früher. Herzlos, nicht wahr ? Aber ob es mit uns je wieder so wird wie früher, dass ich Ihre Briefe mit Sehnsucht erwarte und, wenn ich Sie treffen möchte, mich umgehend in den Zug nach Tokyo setze ? Das halte ich eher für unwahrscheinlich. Einmal im Jahr könnte ich vielleicht kommen, aber nach diesem Brief werden Sie sowieso nichts mehr mit mir zu schaffen haben wollen. Und da schon wieder an eine Fahrt nach Tokyo und an ein erneutes Treffen, womöglich in einem Hotelbett, denken . . . . - ausgeschlossen !


Jordy atmete tief durch. Michiko hatte sich also doch arg verändert in den vergangenen 17 Jahren ! Oder sie hatte vielmehr ihre Traurigkeit damals so gut verborgen, dass Jordy geglaubt hatte, ihr machten die widrigen Umstände in ihrer Beziehung nur wenig aus. Er war halt ein echter Schnarchsack, ein leichtlebiger Hedonist, der tatsächlich aus allem das Beste -für sich- zu machen verstand und seinen Anteil an der Verantwortung für Michikos verkorkstes Leben nicht wahr haben wollte. So wie der Mann, der sich bei Michiko nie mehr blicken ließ, als sie schwanger wurde, zog Jordy nach seiner ersten Betroffenheit doch allerhöchstens eine einzige Lehre: Nie wieder Jungfrauen deflorieren !

Immerhin wusste er jetzt, warum sie nicht mit ihm schlafen wollte; das konnte er ihr nachfühlen. Aber warum sie nach all dem Kummer, den ihr die Liaison mit Jordy gebracht hatte, wieder Kontakt zu ihm gesucht hatte und zu ihm nach Tokyo gekommen war, das war ihm ein unerklärliches Rätsel. Und das schrieb er ihr auch.

* * *

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"Ich bedaure ganz außerordentlich, was ich Ihnen vorgestern geschrieben hatte. Ach, dass man einmal geäußerte Worte nicht ungesagt machen kann ! Was werden Sie nun von mir halten ? Ich bin vollkommen zerknirscht und verspreche Ihnen, wenn Sie mir nur diese Dummheit verzeihen möchten, Ihnen keine weiteren Scherereien zu machen und eine Frau ganz nach Ihren Wünschen zu sein !"

Ohne Jordys Antwort abzuwarten, hatte Michiko dieses Schreiben ihrem letzten Brief gleich hinterhergejagt. Sie hat sich also doch nicht verändert, konstatierte er mit Befriedigung. Da hatte er sie also, wo er sie haben wollte, und das ohne eigenes Zutun. In ihrer masochistischen Art hatte sie sich ihm freiwillig unterworfen. Ohne Gewissensbisse über das, was er ihr angetan hatte, bedauerte Jordy, dass sie im fernen Matsumoto wohnte und werktags berufstätig war. Sonst hätte er sie gleich in ein Hotel beordert und ihr gezeigt, wem sie gehört und dass das Leben auch einige wonnige Seiten hat. Wenn sie schon ihre erste Liebe nicht vergessen konnte, dann sollte sie sich auch nicht so lange zieren. Da siehst du mal wieder, was Männer doch für garstige Egoisten, unverbesserliche Machos und unterleibsgesteuerte Sexmaschinen sind !


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Einige Tage später las er das Folgende:

Ich wollte mein Leben eigentlich abschließen, aber Ihr unverhofft freundlicher Antwortbrief hatte mir Mut gemacht. Wenn ich denn sterben sollte, könnte ich doch zum Ende auch noch einmal denjenigen treffen, den ich niemals vergessen kann, dachte ich mir. Es ist schließlich nicht zu ändern, dass Sie in jeder Hinsicht für mich der erste Mann gewesen sind. Sie werden sicherlich darüber lachen, aber vorher hatte ich noch nie ein Verhältnis mit einem Mann. Verliebtheit und körperliche Liebe, aber auch die schmerzliche Qual, verraten und verlassen worden zu sein, all das habe ich in der Beziehung mit Ihnen erfahren. Deshalb wollte ich Sie noch einmal treffen und bin nach Tokyo gekommen. Bei der Blütenschau mit Ihnen habe ich aber alle meine Pläne umgeworfen und neuen Lebensmut gefasst. Als Sie mich umarmt haben, war ich wie erlöst; endlich war ich wieder da, worauf ich fast 20 Jahre lang gewartet habe. Es ist doch sicher kein Verbrechen, mich einmal nur von Ihnen in die Arme schließen zu lassen. Und noch eines: Sie sind wirklich ein toller Mann, viel attraktiver noch als früher. Da werden Sie leicht ein paar junge Mädchen finden, jünger und hübscher als ich. Aber lassen Sie es mich bitte nicht wissen. Ich bin noch immer wie früher, total eifersüchtig. Ich möchte Sie nur darum bitten, dennoch ab und zu ein klein wenig Zeit für Ihre "alte Tante" in Matsumoto zu haben.


Das war beinahe so etwas wie ein Liebesbrief, von einer alten Tante an einen alten Schnarchsack, und Jordy hätte sich zu einer solchen Anhänglichkeit gratulieren können, aber merkwürdigerweise ärgerte er sich beinahe darüber. Michikos Art, sich zugleich zu unterwerfen und zu verweigern, ihm hübsche Mädchen zu wünschen und zugleich darauf eifersüchtig zu sein, das war ihm zu affektiert. Er war als typischer Mann eben schlicht strukturiert, und zwischen "ja" und "nein" gab es für ihn nicht allzu viel Spielraum. Entweder liebte sie ihn noch, dann sollte sie es ihm gefälligst auch zeigen und sich ihm schleunigst an den Hals werfen, oder sie wollte ihn auf Distanz halten, aber dann sollte sie von ihren versteckten Vorwürfen und Eifersüchteleien ablassen. Das schrieb er ihr in einem etwas enragierten Brief, den er erst einmal eine gute Weile liegen ließ, denn sie hatte ihm ja geschrieben, dass sie nicht mehr wie früher voller Sehnsucht auf seine Briefe warten würde.

Bis ihre Antwort eintraf, flossen etliche hunderttausend Tonnen Chemikalien den Rhein hinab.

 

iso

  

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