SCHNARCHSACK
1
Namiko
Wenn ein Stern erlischt, nimmt er zuvor all seine Energien zusammen und bläst sich auf zu einem Roten Riesen, bevor er ausgebrannt in sich zusammenfällt und als grauer Schatten durchs All torkelt. Ja, ein ausgebrannter grauer Schatten, der ziellos durchs Dasein torkelt, das war Jordy, nachdem seine letzte Freundin ihn verlassen hatte. Kurz vor dem Ende hatte er sich noch zu einer erotischen Supernova aufgeblasen und gleichzeitig mit einer jungen Sängerin und Ballerina ein kurzes Techtelmechtel gehabt, aber nicht geahnt, dass dieses sexuelle Feuerwerk seinem Roten Riesen als Abschiedsgeschenk gegolten hatte. Doch - geahnt hatte er es schon, nur wahr haben wollte er es nicht. Aber dann waren ihm seine beiden Betthupferl fast gleichzeitig abhanden gekommen, und Jordy, der soeben noch nach Herzenslust zwischen üppig und schlank wählen konnte, guckte nun den jungen Girls hinterher, die sich bei ihrem flotten Typ einhängten und dann zu zweit zur Parkbank oder ins Hotelzimmer strebten, strich sich durch die ergrauten Strähnen und seufzte; ohne Freundin war Jordy ein oller Schnarchsack, nichts weiter.
Ihm war es ein Rätsel, wie andere Männer über 50 damit fertig wurden, aus dem Rennen zu sein und von der Weiblichkeit höchstens noch als netter Onkel betrachtet zu werden. Er hatte bisher gehofft, mit dem Alter käme auch die Weisheit, aber bei ihm war damit Fehlanzeige; entweder muss man bis 88 warten oder sich die Weisheit irgendwo besorgen. Wo, das wusste Jordy freilich nicht. Ohne Weisheit, aber dafür mit ein paar leckeren Mädchen, das wäre ihm lieber gewesen als weise und allein. Aber so, wie es jetzt stand, weder Weisheit noch Mädchen, das war für Jordy ein harter Brocken.
Diese Erkenntnis schlug ihm aufs Gemüt. Das Ergebnis: Eine Leichenbittermiene und noch grauere Haare. So kam es ihm jedenfalls vor, aber das kann auch damit zusammenhängen, dass er einfach Tag für Tag älter wurde, während er frustriert all den Röckchen hinterherguckte, die auf ihn zu und dann an ihm vorübertänzelten, ohne dass jemand Kurs auf ihn nehmen und dem Missstand, an dem Jordy litt, Abhilfe schaffen wollte. Im Innern besaß er eine Art Hitparade, auf der mal die Mari, mal die Rieko, dann wieder die Ami, die Satoko, die Yuko oder die Akiko und wie sie alle hießen, an erster Stelle standen; ein kecker Mädchenblick genügte, um eine der vielen jungen Kandidatinnen seiner Favoritenliste umgehend auf einen der vorderen Plätze zu katapultieren, aber dann blieb es bei kecken Blicken, denn Jordy konnte als Prof am Staatlichen Konservatorium bei seinen Studentinnen nicht den Don Giovanni inszenieren. Außerdem waren seine grauen Schnarchsack-Haare inzwischen wirklich nicht mehr zu übersehen.
Aber das soll jetzt kein Diskurs über die Vorzüge und Nachteile des mädchenlosen Alterns an der Seite einer gediegenen Ehefrau werden, mit der Jordy vor einigen Jahren Silberhochzeit gefeiert hatte, also mehr als ein Vierteljahrhundert liiert war. Deshalb beenden wir lieber umgehend die grauhaarigen Reflexionen und bringen Bewegung in die Geschichte, sonst drehst du ihm den Saft schon nach der ersten Seite wieder ab.
Vielleicht
lag es ja auch daran, dass sie stark blondiert war. Manchmal traf
Jordy Studentinnen, die er früher einmal unterrichtet hatte,
erst nach mehreren Semestern wieder, und damals, da hatten sie
noch schwarze Haare gehabt, aber jetzt sind sie alle erblondet
wie nach einer Wasserstoffexplosion, da muss man schon zweimal
hinschauen. Jordy war allerdings sicher, dass ihm diese
gutaussehende Kunstblondine noch nie untergekommen war. Ratlos
erwiderte er den Gruß und trottete weiter. Als er im
Lehrerzimmer ankam, hatte er die blonde Japanerin schon
vergessen. Aber nicht lange. Keine Minute war vergangen, da stand
sie nämlich im Raum und fragte die Assistentin nach den Prints
für die Italienisch-Klasse. Damit hatte Jordy nichts zu tun, er
unterrichtete Deklamation. Aber er gewahrte durchaus, dass es die
blonde Schönheit von vorhin war. Und wusste nun auch, warum sie
hinter ihm hergetrappst gekommen war, in Richtung Lehrerzimmer,
als werde sie von grauen Haaren magnetisch angezogen. Du musst
nämlich wissen, dass Jordy zu der Sorte Männer gehört, die
sich für nahezu unwiderstehlich halten und davon überzeugt
sind, ein Mädchen verzehre sich in glühender Sehnsucht, wenn es
nur zufällig hinter ihm in der gleichen Richtung läuft wie er.
Typisch Schnarchsack eben, wenn du so willst.
"Wer war denn das ?" fragte er, als die Studentin wieder draußen war, die Assistentin, die alles Wissen über sämtliche Leute in, an und im weiteren Umkreis der Hochschule enzyklopädisch gebündelt im Kopf hortete.
"Eine Gesangsstudentin, Frau Terasaki", kam es umgehend zurück. Die weiß tatsächlich alles, diese Assistentin. Solche Leute sind gefährlich, denn prompt kam die unvermeidliche Gegenfrage: "Warum fragen Sie ?"
Irgendwie muss die Enzyklopädie ja auch ergänzt und aktualisiert werden. Jordy hatte dafür zwar Verständnis, wollte aber mit Infos, die einen Input lohnten, nicht dienen.
"Bei Blonden frage ich immer mal vorsichtshalber. Ich habe schon manch eine nicht mehr wiedererkannt, die früher dunkelhaarig war."
"Hahahahahaaaa, geht mir auch so, das ist aber auch eine wirklich blödsinnige Mode, diese Haarfärberei heutzutage !"
Dabei färbt sie selber wie verrückt, diese Heuchlerin, allerdings nicht blond, sondern um ihre grauen Haare zu übertünchen, und glaubt, keiner würde es merken.
Nicht dass Jordy sich wirklich für Blondierte interessiert hätte, er stand auf Schwarzhaarige. Er hatte sich aber das Gesicht, als die Blondine die Prints durchblätterte, schnell noch einmal angesehen. Ja, wirklich hübsch, und unbekannt, das stand fest. Und dann war sie weg, und Jordy vergaß sie ein zweites Mal.
"Gehen Sie jetzt nach Hause ? Gut, dass ich jemanden finde, mit dem ich bis zum Bahnhof gehen kann. Allein zu gehen ist so langweilig."
Dass das die dümmste Ausrede seit dem Fall von Jericho war, bemerkte sogar Jordy mit Verwunderung.
"Und dafür bin ich dir gut genug ?"
"Aber sicher, warum denn nicht ?"
Es ist ausgeschlossen, dass jemand so rammdösig ist, vor dem Lehrerzimmer auf Gesellschaft für den Heimweg zu warten. Das liegt nämlich am Ende eines ziemlich tristen Flurs, auf dem sonst nur noch das Aufnahmestudio mit einem verschrumpelten, alten Techniker drin sowie ein kleiner Hörsaal liegt, der aber verlassen und dunkel war. Eher kommt hier ein Pferd des Weges als gesellige Kommilitoninnen. Und dass im Lehrerzimmer außer Jordy nur die enzyklopädische Assistentin weilte, konnte der blonden Frau Terasaki nicht entgangen sein. Aber er hatte keine Ahnung, was sie von ihm wollte, und wieso sie ihm ausgerechnet an einem trüben Tag wie heute, bei dem man nicht mal "aus heiterem Himmel" sagen kann, aufgelauert hatte.
"Sag mal, hast du etwa mal bei mir Unterricht gehabt ?" rutschte es ihm heraus, denn von dem hübschen, sorgfältigst geschminkten Mädel mit modischen Stiefeln und schickem weißen Mantel, das sich ihm vergnügt anschloss, als wären sie alte Bekannte, wusste er nur den Nachnamen, und den hatte er vor zehn Minuten zum ersten Mal gehört.
"Nö, deutsche Deklamation ist mir zu schwer", gestand sie fröhlich, als sei das der Witz des Monats. "Aber ich kenne Sie trotzdem."
"Aber ich kenne dich nicht", bedauerte Jordy aufrichtig, denn je mehr er sie ansah, desto besser gefiel sie ihm, trotz gefärbter Haare. Sogar die Augenbrauen hatte sie blondiert.
"Ich heiße Namiko und studiere Gesang im 8. Semester. Gefällt Ihnen Japan ? Was ist Ihr Hobby ? Trinken Sie gern Cocktails ?"
Gleich fragt sie dich noch nach deiner Schuhgröße und bevorzugter Zahnpasta, ging es Jordy durch den Sinn. Namiko drängte sich eng an ihn, während sie ihn auf dem Weg durch den Park mit ihren Fragen löcherte, und Jordy fühlte sich inspiriert und gab launige Antworten, die mit der Wahrheit zwar nicht allzu viel zu tun hatten, aber so plaudert es sich lockerer. Dass sie ihn kannte, überraschte ihn nicht, denn sie hat eine Menge Kommilitonen, die in seinen Kursen sitzen und sicherlich über ihn tratschen, da kriegt auch Namiko allerhand mit. Über sie erfuhr er nur, dass sie bei ihren Eltern wohnt, gern ins Kino geht und Wein und Cocktails mag. Wollte sie von ihm ins Kino oder in eine Cocktail-Bar eingeladen werden ?
Als sie am
Bahnhof ankamen, nahm er sie schließlich doch nicht ins nächste
Café mit, obwohl er einen Moment mit dem Gedanken gespielt
hatte. Sie wäre gewiss mitgekommen, aber er kannte sie noch zu
wenig und wusste nicht, ob sie es nicht anderntags an der
Hochschule herumerzählen würde. Es gibt Dinge, die Jordy lieber
nicht in die lebende Enzyklopädie aufgenommen sähe. Und wenn
Namikos Interesse an ihm weiter als bis zum Bahnhof reichen
sollte, würde er sie sicher bald wiedersehen. Eines hatte sie
immerhin erreicht: Diesmal vergaß er sie nicht gleich wieder.
* * *
"Mensch, Jordy", fiel ihm nämlich siedend heiß ein, "du hast heute einen gewaltigen Anfänger-Schnitzer gemacht !"
Er konnte es sich nur mit Namikos plötzlicher Überrumpelung erklären, dass er sie hatte laufen lassen, ohne ihre Adresse oder Handy-Nummer im Portefeuille zu haben. Schließlich saß sie nicht in seinem Unterricht, und falls sie ihn, nachdem er sie nicht mal in ein Café eingeladen hatte, als langweiligen alten Schnarchsack abschreiben sollte, dann musste er ihr Recht geben und konnte gleich aufhören mit seinen Gedächtnis-Übungen, um sich wenigstens ihren Namen einzuprägen. Außerdem drängte die Zeit, denn wer im November mit einem Mädel aus dem 8.Semester anbandeln will, der muss sich ranhalten; im März gibt's die Abschlusszeugnisse, und Namiko wird dann in neuen Revieren graumelierten Herren hinterherrennen, davon gibt es ja reichlich.
Zwei unterrichtsfreie Tage und ein Wochenende lagen vor Jordy; erst danach ging er wieder zur Musikhochschule und hielt Ausschau nach Namiko. Seine leise Hoffnung, dass sie ihn irgendwo erwarten könnte, erfüllte sich natürlich nicht. Er sprach die italienische Kollegin unverfänglich auf die Studentin Terasaki an, denn die hatte ja nach den Prints für die Italienisch-Kurse gefragt, und er könnte so erfahren, in welchem Kurs sie saß.
"Ach die, meinen Sie die blondierte Sopranistin, die immer so knappe Miniröcke trägt ?"
Ja, wahrscheinlich meinte er die. Dass sie knappe Miniröcke trägt, wusste er nicht, denn als er ihr begegnet war, hatte sie einen langen Mantel angehabt. Knappe Minis, das schien aber gut zu ihr zu passen; er hätte sich ihre Miniröcke gerne mal näher angesehen. Das sagte er der Kollegin allerdings nicht.
"Die ist ein bisschen komisch, nicht wahr ? Und zum Studieren taugt sie auch nicht. Zum Glück habe ich sie in diesem Jahr nicht im Unterricht", ergänzte die Italienerin.
Wie bitte,
nicht
im Unterricht ? Und die Sache mit
den Prints ? Sollte das nur ein Trick gewesen sein, um hinter
Jordy ins Lehrerzimmer zu schlüpfen ? Die scheint wirklich ein
bisschen komisch zu sein, aber was die italienische Gelehrte
einer jungen Studentin als Makel ankreidet, könnte sich
außerhalb der akademischen Mauern für Jordy von Vorteil
erweisen. Fleißig, bebrillt, eine Figur wie ein Christstollen
und gekleidet wie ein Postsack, das sind die
Lieblingsstudentinnen von Professorinnen. Ein bisschen komisch
und nicht allzu klug, dafür aber ziemlich hübsch und mit kessen
Miniröckchen, das waren Jordys Lieblingsstudentinnen. Seine
Laune stieg wieder deutlich an. Jetzt würde alles ganz leicht
gehen; er hatte drei Aufgaben zu lösen, wie der Prinz im
Märchen, um die schöne Prinzessin zu kriegen:
Punkt 1 - er musste wieder mit ihr Kontakt aufnehmen,
Punkt 2 - er musste mit ihr ein Treffen verabreden, und
Punkt 3 - sie dann wohin mitnehmen, um in Ruhe ihre Vorzüge zu
studieren.
So einfach, wie er sich das vorgestellt hatte, sind die heutigen Mädchen freilich nicht zu knacken. Schon die erste dieser drei Aufgaben erwies sich als kniffeliger als er gedacht hatte. Er sah Namiko nämlich nirgends. Und auch genau eine Woche später, als er hoffte, dass sie zur gleichen Zeit am gleichen Ort wieder auftauchen könnte, war keine Spur von ihr zu sehen.
Jordy
hatte sich eigentlich vorgenommen, auf keinen Fall von sich aus
aktiv zu werden, aber dafür war es mittlerweile zu spät, denn
Namiko hatte ihn schon ordentlich heiß gemacht. Außerdem hatte
er sie nur so kurz erlebt, dass er schon jetzt Mühe hatte, sich
an ihr hübsches Gesicht zu erinnern. Je länger sie ihn schmoren
ließ, desto bohrender starrte er jede der zahlreichen
blondierten Musikerinnen auf dem weiten Campus an, aber keine sah
nach Namiko aus, die in seiner Erinnerung immer lieblicher wurde.
Dass er sie nirgendwo erwischte, fand er nicht bedauerlich,
sondern schlicht ärgerlich. Und zwar einerseits, weil Männer,
egal wie alt, gediegen, erfahren, ernsthaft, gelehrt, erfolgreich
und etabliert sie auch sein mögen, von so einer kaum erwachsen
gewordenen Göre durch ein einziges Lächeln kinderleicht aus der
Fasson gebracht werden können, und andrerseits ärgerte ihn
seine eigene Blödheit. Wenn er es geschickter angefangen hätte,
könnte er womöglich heute schon mit ihr im Bett liegen. Ihre
Aktion der vergangenen Woche war vermutlich spontan erfolgt,
nachdem sie ihm auf der Treppe begegnet war, eine Art Test, ob
mit ihm was laufen könnte, und aus ihrer Sicht war mit ihm
eindeutig nichts gelaufen. So ein Schnarchsack ! Und jetzt
blieben, nach Abzug der Winterferien, nur noch drei Wochen bis
zum Semesterende. Jordy hatte die Wahl: Trübsal blasen und
abwarten, oder doch von sich aus aktiv werden. Seinen
Studentinnen stellte Jordy aus Prinzip nicht nach, aber auf
Namiko, so überredete er den Pädagogen in sich, fand das
Prinzip keine Anwendung, denn sie hatte ja nie in seinen Kursen
gesessen.
Also los, Jordy, sagte er sich, leg dich ins Zeug ! Man muss die
Mädchen nieten, so lange sie heiß sind, sagt so treffend der
Volksmund, oder zumindest der Mund des Männervolks.
Er rief also seine Ex-Freundin Seryna an, die zwar leider nicht mehr mit ihm schlief, aber noch Kontakt hielt. Und vertrauen konnte er ihr auch. Sie sollte ihm aus dem Studentenverzeichnis, das den Lehrern nicht zugänglich ist, Anschrift und Telefonnummer ihrer Kommilitonin raussuchen. Jordy konnte zwar nicht gut bei Namiko zuhause anklingeln, aber Seryna würde den Eltern schon unter irgendeinem Vorwand Namikos Handy-Nummer abluchsen.
Wenigstens das klappte wie am Schnürchen. Am Abend hatte Jordy schon Namikos Adresse, es fehlte nur noch die Handy-Nummer. Seryna erklärte sich zwar bereit, für Jordy mal da anzurufen, aber sehr gern tat sie das nicht und schob die unangenehme Aufgabe unerledigt vor sich her. Anscheinend hatte sie nicht gerafft, wie dringlich die Angelegenheit war. Also schrieb Jordy selbst einen Brief an Namiko, stopfte ihn, um ihr bei ihren Eltern keine Unannehmlichkeiten zu bereiten, in ein Geschäftskuvert der Nationalen Vereinigung der Sangeskünstler und schrieb darin unter anderem seine mail-Adresse auf. Am Montag dürfte sie den Brief bekommen; Jordy war gespannt, wie sie reagieren würde.
Just an
diesem Montag begegnete ihm Namiko in der Schule, aber sie war
mit einer Kommilitonin zusammen. Da konnte er nichts
Persönliches bei ihr anbringen. Sie lächelte ihn aber an und
rief ihm laut zu, sie würde ihn gerne demnächst wieder einmal
treffen. Da hatte sie seinen Brief natürlich noch nicht gekriegt
und keine Ahnung, was zuhause auf sie wartete.
Die Aktion war jedenfalls ein Erfolg: Schon am Abend erhielt er
ihre Antwort, als e-mail.
"Habe mich riesig über Ihren Brief gefreut. Es war wirklich gut, dass ich mich getraut habe, Sie anzusprechen. Ich möchte Sie bald wiedersehen. . ."
Die erste der drei Aufgaben war hiermit gelöst. Gratuliere, Jordy ! Jetzt galt es noch, ein Treffen zu vereinbaren und sie dann in irgendein Bett zu lotsen. Das waren die Aufgaben Nr.2 und Nr.3.
'Kleinigkeit',
dachte Jordy.
Jordy war recht guter Dinge. Am Mittwoch würde er sie wiedersehen, das stand fest. Und schon wieder kam eine Nachricht von Namiko, und Jordy, trotz seines Alters kein bisschen weiser geworden, zweifelte nicht daran, dass sein neuer Schwarm dem nahen Rendezvous freudig zustimmte. Gut gelaunt überflog er den Text.
"Am Mittwoch fällt der Gesangsunterricht wegen der Generalprobe für die Opernaufführung aus. Ich mag nicht extra wegen Ihnen zur Hochschule fahren. Tschüs !"
Pardauz, da saß Jordy wieder auf dem Boden der Tatsachen. Schnarchsack, alter Schnarchsack ! Hätte sie geschrieben, sie gehe zwar an dem Tag nicht zur Uni, wolle ihn aber trotzdem bald treffen, da hätte er Grund gehabt, sich zu freuen. Aber jetzt blätterte sein Euphorie-Lack ab, und ihr "riesig gefreut" sah nur noch wie eine abgedroschene Höflichkeitsfloskel aus. Und, schlimmer noch: Damit war die letzte Chance im alten Jahr vertan; die Jahresendferien begannen, und bis zum 10. Januar herrschte an der Hochschule akademische Stille.
Enttäuscht schwor sich Jordy, die Sache eine Weile abkühlen zu lassen und auf Distanz zu Namiko zu gehen, denn sonst bekäme er noch Stress-Symptome durch die Wechselbäder seiner Gefühle. Außerdem könnte sein Schweigen sie vielleicht auch zu neuen Avancen verleiten. Sich wie ein Primaner in die Hand eines halbwüchsigen Mädchens zu geben, war Jordy halb unheimlich und halb peinlich. Er wollte lieber Herr seiner Launen und Gefühle bleiben. Aber mit Mädchen läuft es einfach nie wie geplant; wer da raus will, muss ins Kloster gehen oder Jurist werden.
Aber schau an --- wie erhofft ergriff Namiko nun die Initiative, die Jordy vernachlässigte.
"Treffen wir uns doch mal zu einer Jahresend-Party zu zweit !" lockte sie in ihrer nächsten Nachricht.
Das war's, frohlockte Jordy, Punkt 2 kann also demnächst doch noch abgehakt werden ! Er machte gleich einen Vorschlag; ein nettes Lokal mit Wein und Cocktails kannte er, dahin hatte er schon einmal ein Mädel eingeladen, und das war anschließend mit ihm direkt in ein Hotelbett marschiert. Wenn das mal kein gutes Omen war....!
* * *
Freitags
unterrichtete Jordy in einem anderen Stadtteil an einer privaten
Musikhochschule. Auch hier endeten in der gleichen Woche alle
Kurse, und als Jordy die Studenten des allerletzten Kurses
entlassen hatte und den Hörsaal verließ, glaubte er Gespenster
zu sehen: Im Flur an der Wand lehnte Namiko, lächelte ihn an und
genoss seine Verblüffung.
"Das war eine gelungene Überraschung, was ?"
Namiko
hatte Lust und Zeit, den Abend gemeinsam mit Jordy zu verbringen,
aber damit hatte er ein riesiges Problem: Ihm blieb nur eine
halbe Stunde Zeit bis zu seiner nächsten Verabredung --- mit
seiner Frau, die heute Geburtstag hatte und ihn unweit der
Akademie zum gemeinsamen Geburtstagsdîner erwartete. Er musste
Namiko also elegant loswerden, obwohl er von ihrem unverhofften
Erscheinen begeistert war und den Abend wesentlich lieber mit ihr
verbracht hätte. Sie merkte schnell, dass sie ihm heute nicht
sonderlich gelegen kam, und ahnte wohl instinktiv, was los war;
unvermittelt fragte sie:
"Sie sind verheiratet, nicht wahr ?"
Jordy nickte wie ein ertappter Ladendieb.
"Ich auch", fügte sie seelenruhig hinzu.
"Na, das ist ja schön, dann können wir ja zusammen gehen und jedem, der es hören will, erzählen, dass wir verheiratet sind", grinste Jordy. Sie hatte nämlich anscheinend nicht einmal einen Freund, was ihm ziemlich unfassbar schien. So ein bildhübsches Girl, dem würden in Mexico oder Italien ganze Rudel von Männern hinterherjappen.
"Wie ist es mit dem Treffen, das ich dir vorgeschlagen hatte ?"
"Ich habe am folgenden Tag ein Konzert...", sagte sie ausweichend, aber NEIN sagte sie nicht. Als sie auseinander gingen, hatte Jordy das Gefühl, ihr schon viel näher gekommen zu sein, und am Abend las er eine sehr nette e-mail von ihr, in der sie schrieb, dass sie sich nun täglich auf Mails von einem gewissen J freue, er solle mal raten, wer das ist.
"Jack oder Jim oder John ? Woher soll ich wissen, wie dein Ehemann heißt ?" pflaumte er sie in der Antwort an, aber es störte ihn, dass sie, bei all ihrer Zutraulichkeit, zu dem geplanten Treffen noch immer weder "ja" noch "nein" sagte.
"Ich werde am Sonntag nicht kommen", mailte sie ihm schließlich. "Es ist zwar nicht so, dass ich mich Ihren Terminen nicht anpassen könnte, aber unsere Beziehung ist nicht fair. Sie richten sich nach Ihrer Frau, und ich ? Soll ich mich etwa nach Ihnen richten ? Ich fühle mich ignoriert, mein Stolz ist verletzt. Nur wer ganz für mich da ist, dem gebe ich auch alles."
Damit hatte Jordy nicht gerechnet. So stolz hatte sie nicht ausgesehen, als sie sich ihm auf dem Weg zum Bahnhof frech angeschlossen hatte. Sie hatte leicht zugänglich gewirkt, und an solche Mädels war Jordy gewöhnt, denn wer ihn auf dem Schulweg abpasst und einen solchen Oldie wie ihn anmacht, der ist normalerweise auch darauf gefasst, dass der grauhaarige Onkel daheim auch eine grauhaarige Tante sitzen hat und nur unter bestimmten Bedingungen zu kriegen ist. Allerdings meinte Jordy aus ihren Worten auch herauslesen zu können, dass sie es in der Tat nicht nur auf ein gemeinsames Abendessen abgesehen hatte und gerade deswegen so vergrätzt war. Vielleicht war es ja auch nur eine dieser Allüren, die hübsche Mädchen oft im Repertoire haben, um mit ihren Reizen zu kokettieren, ihren Wert heraufzusetzen und den Partner ein bisschen zappeln zu lassen.
Jedenfalls zappelte Jordy, wider Willen. Er hatte die Aufgabe Nr.2 schon erledigt geglaubt, und jetzt war sogar das Dîner geplatzt ! Er wählte die überzeugendsten Worte, die ihm einfielen, zeigte sich verständnisvoll und einfühlsam und schmeichelte dem Mädchen, so gut er konnte. Mit humorvollen Wendungen suchte er ihre Sympathie, mit gewissen Andeutungen ihre Neugier zu wecken. Das musste sich doch wieder einrenken lassen ! Ihm war immerhin klar geworden, dass Namiko nicht so pflegeleicht war wie seine bisherigen Patientinnen und dass zu ihrer Behandlung kein Viagra, sondern Samthandschuhe verschrieben waren.
Namiko
blieb indes standhaft. Sie deutete an, dass sie am Tag des
geplanten Treffens alle ihre Vorhaben abgesagt und den ganzen Tag
geheult habe.
Wie das ? Das mochte Jordy ihr nicht abnehmen, das
war eine Pose. Schließlich hatten sie sich, alles
zusammengerechnet, nicht länger als höchstens eine gute Stunde
lang gesehen. Sie konnte sich unmöglich verliebt und ernsthaft
vorgehabt haben, mit so einem Schnarchsack zu gehen ! Jordy
begriff das Mädchen immer weniger, sie war ihm ein echtes
Rätsel, so etwas hatte er noch bei keiner erlebt. Wie kann man
nur aus einer harmlosen Einladung zum Abendessen so eine
Tragödie machen ? Oder war sie damals, als sie ihn vor dem
Hörsaal der Privathochschule verblüfft hatte, etwa bereit
gewesen, mit ihm von da aus direkt ins Bett zu gehen ?
Es dauerte
ziemlich lange, bis Jordy kapierte, dass er Namiko an jenem Abend
einen doppelten Schock versetzt hatte. Voller Vorfreude hatte sie
vermutlich eine ganze Stunde lang auf ihn gewartet und geglaubt,
dass sie gleich nach dieser hübschen Weihnachtsüberraschung mit
Jordy einen netten Abend verbringen könnte. Dass er an diesem
Abend, obwohl sie sich so viel Mühe gegeben hatte, keine Zeit
für sie gehabt hatte, war die erste Enttäuschung gewesen.
Versuchsweise,
wenn auch schon ohne Hoffnung auf eine Zusage, schlug Jordy noch
einmal ein Treffen vor, und Namiko . . . . . - - - willigte ein !
War das ihr Ernst, oder wollte sie ihn nochmal richtig vor den
Kopf stoßen mit einer Absage im letzten Augenblick ? Jordy
wusste nicht, ob er sich freuen oder ärgern sollte; der
Weihnachtstag war ihm ziemlich verdorben, obwohl sie doch
zugesagt hatte, aber er traute ihr nicht mehr und wusste, dass
von dem Treffen alles abhing; wenn auch das noch platzte, würde
er Namiko sausen lassen, und sie wäre gewiss keineswegs betrübt
darüber, so einen verzofften Schnarchsack abgehängt zu haben.
* * *
Was dann
folgte, entsprach seinen Befürchtungen, es gab keine
Überraschungen mehr. Namiko stellte ihren Briefstil wieder von
freundschaftlicher auf formelle Diktion um, wozu sich die
japanische Sprache vorzüglich eignet:
"Ich fürchte, ich bin nicht in der Lage, Ihnen ein Zusammensein angenehm zu gestalten", lautete die Ouvertüre, und als Jordy sich noch fragte, woher sie eigentlich wissen will, welche Arten von Zusammensein ihm angenehm waren, kam die Absage, auf die er schon gefasst war:
"Zur Zeit bin ich leider nicht in der richtigen Verfassung, um mit Ihnen eine nette Zeit zu verbringen. Würden Sie bitte die Güte haben und mir nachsehen, dass ich eine Weile alleine gelassen werden möchte. Wenn ich meine innere Ruhe wieder gefunden habe, verspreche ich Ihnen, wieder von mir hören zu lassen."
Jordy machte sich keine Illusionen. Er wusste, da war nichts mehr zu holen. Punkte 2 und 3 mussten unerledigt bleiben. Und was das Versprechen betraf, wieder von sich hören zu lassen, da würde in einer Woche "Ein glückliches Neues Jahr !" in seiner Mailbox liegen, und das wird's dann gewesen sein.
Ein paar Tage wartete er geduldig ab, dann schrieb er ihr eine kurze, freundliche Nachricht, obwohl sie eigentlich in Ruhe gelassen werden wollte. Aber bei Mädchen weiß man ja nie.
Die Reaktion war erstaunlich. Eine vor guter Laune sprühende Antwort traf umgehend ein, die mit den Worten endete: ".......und ich hatte schon befürchtet, dass Sie mir böse sind und nie wieder schreiben würden !"
Das Hoch zu Jahresanfang hielt tagelang an, Jordy wusste nicht, wie ihm geschah. Als der Unterricht wieder anfing, lief Namiko ihm auf dem Campus mehrfach über den Weg, strahlte ihn an und ließ sich gern zum Essen einladen. Dass er seinen Punkt Nr.2 doch noch erledigen würde, hätte Jordy sich nicht träumen lassen. Girls ticken einfach völlig anders als Männer.
Nach der Vorspeise und ein paar Takten Small talk, als der Rotwein zu wirken begann, setzte Namiko, die ihr Haar im neuen Jahr frisch blondiert und kurz getrimmt hatte, zu einem Monolog an und packte aus.
"Bis letztes Jahr war ich an der Musikhochschule Außenseiterin. Die Mädchen in meiner Klasse, aber auch manche Jungs, waren so gehässig zu mir. Ich sei nur an die Hochschule gelangt, weil ich ein Verhältnis mit einem Professor hätte, ich sei leicht zu kriegen, ansonsten aber eigensüchtig und launisch. . . . Dabei bin ich nur verletzlich. Ja, ich hatte auch schon mal ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann, aber das hat mir nur Kummer gebracht und mich tief verletzt. Nie wieder ! Dann habe ich zwar ein paar gute Freundinnen gefunden, aber kürzlich ist mein letzter fester Freund gestorben, vor einem knappen Jahr, der war schon ziemlich alt. Mir ist es vollkommen egal, wie alt ein Mann ist, wenn ich mich gut mit ihm verstehe. Und wenn er nicht verheiratet ist. Und da bin ich dann völlig ausgeflippt, hab die Schule geschwänzt und mich richtig gehen lassen. Hier gejobbt, da rumgemacht, alles mögliche ausprobiert. Erst jetzt bin ich so weit, dass ich mich langsam wieder einkriege. Gestern war das Abschlusskonzert, aber das hab ich auch in den Sand gesetzt. Früher hab ich gut gesungen, aber jetzt klappt nichts mehr. Mein Abschlusszeugnis kriege ich zwar, aber gut ist es nicht. In den Theoriefächern bin ich sowieso nicht gut, und jetzt floppt auch noch das Singen, ich werde nach dem Studienabschluss wahrscheinlich wieder genauso rummachen wie letztes Jahr."
Jordy, der
ihr Gesicht dabei angeschaut hatte, glaubte ihr kein Wort. Er war
kein Teenie mehr und fiel auf ihre Flunkereien nicht herein.
Wollte sie sich interessant machen ?
Nur damit, dass ihr an verheirateten Männern nichts lag, schien es ihr Ernst zu sein, was Jordy bedauerte. Er tat, als nehme er großen Anteil an ihren Geschichten, redete ihr Mut zu und versuchte sie zu trösten, als sie sich in Erinnerung an ihren verblichenen Grufti Tränen aus ihren stark geschminkten Augen tupfte oder zumindest so tat. Wahrscheinlich machte ihr auch der Wein zu schaffen, denn auf dem Weg zurück zum Bahnhof sang sie auf der Straße so laut italienische Opernarien, dass sich die heimwärts strebenden Geschäftsleute in ihren schwarzen Anzügen indigniert nach dieser aufgedrehten Blondine umsahen.
"Danke für das schöne Essen. Treffen wir uns bald mal wieder !" las Jordy am gleichen Abend noch auf seinem Bildschirm und machte auch gleich einen Vorschlag für ein neues Rendezvous, aber auf Namikos Antwort wartet er noch heute. Auch auf ein, zwei weitere Mails erhielt er keinerlei Reaktion mehr, und als er ihr, zwei Wochen später, am allerletzten Unterrichtstag zufällig auf dem Campus begegnete, sagte sie ihm, dass sie sterben wolle. Jordy bewunderte ihren Ideenreichtum.
"Ich bin von einem Mann belogen und betrogen worden. Natürlich meine ich nicht Sie. Es war ein anderer Mann, mit dem ich mich schon ziemlich gut verstanden hatte. Das kann ich nicht ertragen, ich habe es satt !"
Sie wandte sich ab und tat, als kämpfte sie mit ihren Tränen. Jordy war ganz froh, dass er ihr, während sie sich mit anderen Typen befasste, nicht mehr als nur ein einziges Abendessen spendiert hatte.
"Ist ja außerordentlich bedauerlich", sagte Jordy. Dabei erstaunte es ihn, dass er es in Wahrheit überhaupt nicht bedauerlich fand. Wenn eine Affäre zu Ende gegangen war, hatte er bisher immer beträchtlich gelitten, aber diesmal war er geradezu erleichtert, dieser zickigen Schönen, die ihre Haare wieder frisch umgefärbt hatte, diesmal weinrotrosa, nicht länger ausgeliefert zu sein.
"Du solltest nicht ausschließlich auf Äußerlichkeiten setzen. Damit lockst du nur Männer an, denen Äußerlichkeiten genügen. Dein Gesicht ist eigentlich hübsch genug, auch ohne es mit fingerdicker Schminke zu übertünchen. Und schwarzglänzende Haare würden ausgezeichnet zu deinen schönen Augen passen. Wenn du, anstatt dich so wild aufzumotzen, auf eine ausgeglichenere Grundströmung in deinem Charakter achten und den Umgang mit Männern nicht so übereilt, sondern mit Bedacht angehen lassen würdest, könntest du aus einer Menge vertrauenswürdiger Partner auswählen. Ich bin deine Capricen jedenfalls ziemlich müde, und da ich ohnehin nur als zahlender Dinner-Onkel für dich in Frage komme, gehe ich lieber mit Mädchen, die vielleicht weniger hübsch, dafür aber zuverlässig und charmant sind. Gegen solche kommst du nicht an."
Wenn
Namiko sich willig mit ihm ins Bett gelegt hätte, dann hätte
Jordy ihr wohl manche Schwäche nachgesehen, sie als Gentleman
behandelt und verwöhnt und sich an ihrer Schönheit delektiert.
Aber Mädchen, die sich ihrer Schönheit allzu bewusst sind, sie
als Waffe einsetzen, um Männer mit Allüren zu nerven, sich nach
Lust und Laune mal aushalten, mal die Verabredung platzen zu
lassen, die auf Anfragen nicht mal antworten, in ihren Mails
heiße Küsse versprechen, aber dann allenfalls Kusshände werfen
und im Restaurant nicht mal den Mantel ablegen, die entsprachen
nicht gerade Jordys Ideal. Die Italienisch-Professorin hatte doch
Recht gehabt, diese Namiko war wirklich ein bisschen komisch, zu
komisch auch für Jordys Geschmack.
Jordy entfernte sich in die andere Richtung und wünschte sich von Herzen, lieber einmal eine zuverlässigere Frau, am besten in leicht fortgeschrittenem Alter, kennen zu lernen, die eher zu ihm passen würde, anhänglicher sein und nach Zärtlichkeiten dürsten sollte.