Da es im
Herbst früh dunkelt, brauchten sie keine übermäßige Angst zu
haben, von Bekannten ertappt zu werden, wenn sie nach den
Vorlesungen einen Gang in stille Winkel des weiten Parks
unternahmen. Der Park grenzte an ausgedehnte Tempelgärten und
Friedhofsareale, und die Seelen der verstorbenen Tokioter wurden
verschwiegene Zeugen ihrer Küsse. Im erlöschenden Abendlicht,
als sie sich wieder einmal auf einem Grabstein miteinander
befassten und Jordys Hände mit Eifer unter Serynas Rock die
Schenkel auf und ab glitten, damit sie nicht von Schnaken
zerstochen wurden, packte sie wieder eine neue Masche aus ihrem
Repertoire: Sie rutschte vor Jordy auf die Knie, nestelte ihm an
der Hose rum und fingerte sich ihren Franz heraus, um ihre lang
entbehrte Lutschpartie mit ihm zu treiben.
Solche
Szenen, hatte Jordy fest geglaubt, existierten allenfalls als
fantasievolle Eingebungen von Drehbuchautoren. Aber es gibt
tatsächlich Mädels, die aus eigenem Antrieb im Park ihrem Typ
an den Hosenschlitz gehen und im Dämmerdunkel den verblüfften,
ungewaschenen Franz absuckeln.
Jordy
wusste nicht, wieso, aber ein völlig unerwartetes Gefühl
überkam ihn auf einmal. Voller Rührung streichelte er dem kaum
ausgewachsenen Kind, das da vor ihm kniete und schleckte, mit
aufrichtiger Zärtlichkeit übers lange Haar und drückte sie
dann fest an sich. Wie oft hatte sie doch vor oder nach den
Proben für die Oper am Theaterausgang auf Jordy gewartet und ihm
mal ein Getränk, mal eine Tüte Sandwiches mitgebracht, damit er
in den Pausen was zu beißen hatte. Mal war sie mit zwei
Portionen Eiskrem zum Rendezvous erschienen, mal hatte sie ihn
mit einer Gratiskarte für zwei Personen ins Kino gelotst und und
bei jeder Tränendrüsenszene geheult wie ein Schlosshund. Dann
war sie mit einer Tüte Tomaten gekommen, weil Jordy beiläufig
erwähnt hatte, er müsse noch Tomaten besorgen, und ein andermal
hatte sie ein schickes T-Shirt für ihn gekauft. Das gute Kind
hatte wahrhaftig das Herz auf dem rechten Fleck und ihn auch wirklich lieb und konnte eben nichts dafür, dass
ihm Sumikos Charme, Noblesse und Klugheit, und seiner Frau
Urteilskraft, Geschmack und Lebenserfahrung abgingen. Seryna
zeigte ihm ihre Zuneigung auf ihre Art, die ganz im Stil der Zeit
war, und er wäre ein garstiger Egoist gewesen, wenn er daran
gedacht hätte, sie langsam abzuservieren, nachdem er ihren Leib
und ihre Liebe zu satter Befriedigung weidlich ausgekostet hatte.
So begann
er zwar, ihr gutes Herz zu mögen, aber er trug von sich aus
nichts dazu bei, die Beziehung zu vertiefen, sondern hoffte, dass
sie von selbst endlich einen tollen Typ finden und von Jordy die
Nase voll bekäme und nicht nur den Mund, doch je teilnahmsloser
Jordy wurde, desto heftiger glühte ihre Leidenschaft, mit der
sie ihn instinktiv festhalten und an sich ketten wollte. Ein- bis
zweimal pro Monat händigte sie ihm einen Liebesbrief aus, der so
oder ähnlich lautete:
Wie schön, dass wir uns öfter sehen
können als ich gehofft hatte! Ich weiß, wie gut Du zu
mir bist und danke Dir, dass Du mich so lieb verwöhnst.
Ach, Seryna ist so rettungslos in Dich verliebt, dass es
beinahe weh tut. Wenn ich allein bin, stelle ich mir Dein
liebes Gesicht vor. Mir wird jetzt immer mehr bewusst ,
dass ich Dich weit mehr als doppelt so lieb habe wie
früher. Ständig denke ich daran, dass ich mir dieses
Glück gut bewahren muss. Ich danke Dir aufrichtig; ich
bin dankbar dafür, dass es Dich gibt, und stolz darauf,
dass ich einem so wundervollen Mann begegnet bin.
Deine
Seryna
|
Die Tage
wurden kürzer, es dunkelte immer früher. Höchstens ein- bis
zweimal pro Monat konnten sie sich für einige Stunden im
Hotelzimmer miteinander vergnügen. Dennoch verstand es Seryna,
ihren Durst auf Zärtlichkeiten zu stillen. Jordy konnte schon
beinahe sicher sein, dass sie ihm auf dem Heimweg in irgendeiner
Ecke auflauerte und ihn dann in Richtung Friedhof zog. Ohnehin
ist der November der richtige Monat für Friedhofsbesuche. Dort
war es still und unter alten Bäumen dämmrig genug für Seryna,
um pietätvoll ihren Franz an die frische Luft zu lupfen,
während Jordy ihr derweil unter Rock und Pullover herumfingerte
und trotz der Dunkelheit Wege fand, der hocherfreuten Mushi einen
Besuch abzustatten. Es fehlte nur, dass Seryna sich in der
Finsternis an einem Grabstein festhielte und ihm ihr rundes
Hinterteil zudrehte, damit er sie a tergo durchziehen konnte,
aber dafür war sie zu abergläubisch: Die Verstorbenen hätten
ihr das krumm nehmen und ihr als Gespenster über den Weg laufen
können. Beim Auseinandergehen nach einem der spätherbstlichen
Grabbesuche drückte sie Jordy einen Brief in die Hand, in dem
sie schrieb:
Wie geht's Franz? Seryna möchte ihn
treffen, aber Mushi will ihn auch wiedersehen. Wenn ich
sehnsuchtsvoll die Fotos von Dir betrachte, sagt Mushi zu
mir unter Tränen: 'Seryna, wann kann ich meinen
geliebten Franz wiedersehen?' Dann redet Seryna ihr
freundlich zu: "Wart nur ein bisschen, am Sonntag
bringt Jordy ihn für dich mit! |
Die
Nachricht, dass Jordy beim nächsten Ferien-Seminar wieder als
Lehrkraft mitmachen würde, quittierte sie mit einem solchen
Freudengeheul, dass die Grabsteine wackelten und Katzen und
Krähen in Panik davonstoben.
"Da
gehe ich todsicher hin, auch wenn ich da mit meinem Deutsch
wieder in die Bredouille geraten und ausgelacht werden sollte wie
letztes Jahr. Schließlich gehe ich da aus anderen Gründen hin.
Fünf Tage lang mit dir unter einem Dach, so eine Gelegenheit
kommt so bald nicht wieder!"
Zu dumm
nur, dass Serynas Eifer im Fach Deutsch nur spärliche Früchte
zu zeitigen schien. Es war Jordy nicht nur unangenehm, wenn sich
seine Studenten bei dem Seminar mit allzu dürftigen Kenntnissen
blamierten, sondern er hatte auch die Sorge, ob Seryna geschickt
genug war, mit ihrer Anhänglichkeit kein Aufsehen zu erregen.
Dass ihm
Sumiko kürzlich telefonisch mitgeteilt hatte, auch sie würde
gern wieder an dem Seminar teilnehmen, das erzählte er Seryna
lieber nicht, zumal Sumikos Kommen noch gar nicht feststand.
Sicher war nur, dass ihr finsterer Verführer Eberhard wieder mit
dabei sein würde. Das wäre ein Ding, wie es auch Molière nicht
besser zu einer Komödie hätte aufschürzen können, wenn Sumiko
und Seryna, Eberhard und Jordy gleichzeitig beim Seminar
aufkreuzen würden! Alle Fäden, die da zusammenliefen, kannte
nur Jordy; die anderen kannten nur wenig mehr als ihren eigenen
Part. So könnte es zu dramatischen Szenen kommen, wenn etwa
Sumiko sich arglos zu Jordy setzen und aus alter Freundschaft zu
plaudern begänne. Dann müsste sie gewärtigen, dass ein
eifersüchtiger Eberhard sie von Jordy abzudrängen suchte und
eine neidische Seryna ihr zornig ins Gesicht spränge. Wenn Jordy
Sumiko nicht von Herzen lieb gehabt hätte, dann hätte er das
Spektakel gern schüren und lustvoll genießen wollen. So ein
hübsches Dramolett sollte am besten für den bunten Abend
inszeniert werden, das wäre eine Gaudi! Und um die Verwirrung
perfekt zu machen, sollte man als Statisten zu Camouflage-Zwecken
noch den Ishii, der wie ein Schatten an Seryna haftet, und die
Nadine, die allgemein Jordy zugeordnet wurde, mit hinzubitten....
Aber das
hebe ich mir auf fürs nächste Mal, das gibt eine Story für
sich. Nur hätte sie wohl, anders als bei Molière, kein
Happy-End. Jordy liebte seine Sumiko, und Seryna liebte ihn.
Sumiko liebte keinen, und niemand mag den Eberhard. Kurzum, es
fehlt ein Pärchen, das sich am Ende kriegt, sonst wäre es ein
Märchen, nur gibt's das leider nicht.
Auch in
Nippon beginnt es im Dezember zu weihnachten. In jedem Geschäft,
das man betritt, vom Pfandverleiher bis zum Sargschreiner, wird
man von penetrantem Jingle-bells-Gedudel in die Flucht getrieben.
Sogar die Kinder in den Wohnstuben der
Reihenhaus-Vorstadtsiedlungen klimpern beim täglichen
Klavierunterricht nichts anderes mehr als diesen schalen Ohrwurm.
Vornehmlich dort, wo es nach Umsatz riecht, in Kaufhäusern,
Spielhallen oder Rotlicht-Revieren, wird man pausenlos von
Jingles angebellt, der japanischen Jahresendprofit-Hymne.
Auch
Neujahr ist längst durchkommerzialisiert. Hatten früher alle
Geschäfte drei Tage lang geschlossen, damit auch die
Angestellten den Schrein oder Tempel besuchen konnten, klingeln
heute vielfach schon am heiligen Neujahrstag die Supermarkt- und
Kaufhaus-Kassen. Nix mehr Zen, nur noch Yen.
Seryna
brachte die Vorweihnachtszeit Kummer, bedeutete sie doch
franzlose Ferienzeit. Aber damit nicht genug; in irgendeiner
Lotterie hatte sie zwei Freikarten für eine Christmas-Gala-Fête
im Disneyland gewonnen und träumte davon, Jordy dahin zu
schleppen. Ihm schauderte allein bei dem Gedanken daran; nie
wurde ihm ihr Altersunterschied schmerzhafter bewusst. In ihrem
kindlichen Gemüt konnte sich Seryna überhaupt nicht vorstellen,
dass irgendjemand von McDisneys Plastikwelt nicht total
begeistert sein könnte.
"Nur
für horrende Summen sind die Karten für diese Feier auf dem
Schwarzmarkt zu kriegen!", schwärmte sie, aber es half
nichts, Jordy konnte -und wollte- sie nicht in ihre Traumfabrik
begleiten. Ihr einziger Trost war, dass Sumiré ihr gut 200 Euro
für die Karten angeboten hatte. Und so ging Sumiré mit ihrem
Hiroshi zur Gala, und Seryna blieb daheim und schluchzte vor Neid
und Leid.
Trotzdem
überreichte sie Jordy ein Geschenk zum Nikolaustag, in duftend
parfümiertes Geschenkpapier gewickelt: Eine Musikkassette. Noch
war er halb gerührt von ihrer lieben Aufmerksamkeit, da
sträubten sich ihm schon die Nackenhaare vor Entsetzen
angesichts des Inhaltsverzeichnisses: Weihnachtskitsch aus aller
Welt, Tannenbells und Jinglebaum, verschmalzt von einer Art
Mantovani-Band, genau wie es aus allen Supermärkten dröhnte.
Ach, Seryna hatte nicht die Bohne von gutem Geschmack und merkte
nicht einmal, wie wenig sie zueinander passten. Das
Vierteljahrhundert, das zwischen ihnen lag, schon wieder
knirschte es Jordy durch die Seele.
Beim
letzten Treffen vor den Ferien hatte sie ihm wieder etwas
mitgebracht. Zwischen den Grabsteinen packte sie strahlend ein
größeres Päckchen aus ihrer Tasche und überreichte es ihm mit
liebevollem Lächeln. Zum Vorschein kam ein sehr hübscher
Pullover in Jordys Lieblingsfarbe, wirklich ein wunderbares
Geschenk, über das sich jeder Freund und jeder Verlobte riesig
freuen würde. Allerlei Etiketten baumelten dran: 100 % wool,
made in China etc.
"Alles
100 % made by Seryna. Habe ich für dich gestrickt. Eigentlich
wollte den mein Vater haben, aber natürlich ist er für dich.
Schau, ich habe sogar innen ein passendes Etikett eingenäht, und
oben im Kragen auch, damit du keine Schwierigkeiten kriegst, es
zu Hause zu erklären. Du kannst sagen, du hättest den Pulli im
Kaufhaus X oder im Kaufhaus Y gekauft, ich habe auch die
entsprechenden Tragetaschen besorgt und mitgebracht, damit alles
richtig zusammenpasst und keinen Verdacht erregt."
Seryna
strahlte vor Stolz auf ihre Raffinesse. Wenn sie solche
Ingeniosität nur in der Schule entfalten würde! Jordy hätte
sich gerne gefreut über diese wundervolle Liebesgabe, aber sie
schien vollkommen zu ignorieren, dass er niemals ihr alleiniger
Herzbube werden konnte.
"Seryna,
herzlichen Dank, du bist wirklich allzu gut zu mir. Ich freue
mich wirklich sehr über das schöne Geschenk. Es wäre nur
gewiss schöner, wenn ich dein richtiger Freund wäre. Dann
würde deine unglaubliche Liebe garantiert besser belohnt, denn
kein Mann kann von solcher Hingabe ungerührt bleiben. Aber für
mich ist deine Liebe zu gut. Dein schönes Geschenk freut mich
zwar sehr, aber ich möchte nicht unnötig mit solcher Raffinesse
meine Frau verhöhnen. Es genügt doch schon, dass ich sie mit
dir hintergehe, da will ich ihr nicht noch allerlei raffinierte
Lügen zusätzlich auftischen. Weil du dir so viel Mühe damit
gegeben hast, nehme ich dein Geschenk diesmal dankend an, möchte
dich aber bitten, mir künftig nichts zu schenken außer deiner
Liebe; die allein ist schon mehr als genug für jemanden wie
mich."
Da
tropften schon wieder heiße Tränen auf den Marmorstein der
Gruft der Familie Kikuchi. Es tat Jordy wirklich leid, dem
Mädchen als Dank für eine Leidenschaft, wie er sie bisher
niemals erfahren hatte, weiteres Herzeleid zufügen zu müssen,
aber er musste ihr abgewöhnen, ihn ständig mit Gaben und
Geschenken zu überhäufen.
Auch damit
war Serynas Kummer noch nicht am Ende. Es gibt im Reiche des Yen
nämlich noch einen Weihnachtsbrauch, der vermutlich nicht auf
die Bibel zurückgeht. Zu Weihnachten, so schreiben es alle
Jugend- und Modemagazine vor, sollen sich junge Paare beweisen,
wie lieb sie sich haben. Der Knabe, der seine Angebetete ohnehin
gemäß den Vorschriften des Manuals das ganze Jahr über
ausgehalten, sie mit Papas Schlitten von der Boutique zum Café
und vom Shopping Centre zum Gourmet-Restaurant chauffiert und
alle Kosten berappt hat, muss sie an Heiligabend zu Hummer und
Kaviar einladen, zur Freude der Gastronomen, die gemeinsam mit
den Hotel-Unternehmern diese Broschüren mit "Tipps für
Verliebte" nicht ganz uneigennützig austüfteln. Und
Nippons fantasielose Jugend hält sich folgsam an das
Nachwuchskonsumenten-Manual dieser Profitgeier, bis ein
veritabler neuer Brauch draus wird.
Aber damit
ist der Advent noch nicht vorbei. Auch das Mädchen hat nämlich
Weihnachtspflichten, die an den Kassen weitere Bells zum Jingeln
bringen: Gerührt von der Großzügigkeit ihres Romeo darf Julia
sich in der anschließenden Nacht nicht verweigern, wenn er sie
in ein piekfeines Hotel zur gemeinsamen Übernachtung lädt, und
wenn er zu schüchtern ist oder es gar verschusselt, hat sie ihn
diskret darauf hinzuweisen, dass dem Heiligabend noch eine Stille
Nacht folgen sollte. Und falls dieser Weihnachtsbrauch im
folgenden Herbst gar Ergebnisse wie etwa die Geburt eines
Christkindleins zeitigen sollte, dann profitieren auch die
Vermieter von Umstandsbrautkleidern und die Betreiber der
Hochzeitspaläste noch davon. Ein weiterer Konsument wird
erwartet und ein Schritt gegen Japans drohende Vergreisung getan.
Es hat also alles einen tieferen Sinn.
Solche
Sitten waren ganz nach Serynas Geschmack. Sie hätte viel darum
gegeben, mit Jordy diese spezielle Art von Christmette zu
zelebrieren. Zwar hätte sie ihm nicht gerade eine makellose
Tugend zu offerieren gehabt, wie es das Manual, wenn man genau
hinsieht, vorschreibt, aber was hätte sie vor ihren Freundinnen
damit prahlen können, wenn sie andeutete, Heiligabend bis
Heiligmorgen zusammen mit ihrem Nikolaus verbracht zu haben!
Doch dafür hätte sie sich schleunigst einen geeigneteren Santa
Franz suchen müssen; Jordy konnte sie zu Weihnachten nur für
knappe zwei Stündchen ausführen, und das Hotel, das sie da
erwischt hatten, war eine schäbige, triste Absteige, die wenig
nach Merry Christmas roch. Ihrem Franz musste Seryna auch gleich
noch Prost Silvester und Happy Neujahr wünschen, denn die
Neujahrsferien waren ausgebrochen; es musste für sie ein völlig
neues, ungewohntes Gefühl sein, sich auf den Wiederbeginn des
Unterrichts zu freuen.
Auch ein
nettes Weihnachtsmärchen hatte sie auf Lager, im Stil der
japanischen Kids. Von ihrer besten Freundin Tokiko erzählte sie,
die im Vorjahr bei der Weihnachtsfeier nach Manual von ihrem
Freund, einem Marokkaner, von hinten genommen worden war, wobei
er sich, absichtlich oder im Eifer des Gefechts, in die falsche
Öffnung verirrt hatte, und das will nämlich erst gelernt sein.
Tokiko konnte sich am andern Tag, trotz leerer Bahn, nicht
hinsetzen, so sehr habe ihr Hinterteil geschmerzt.
Beim
Abschied bedankte sich Jordy artig für ein halbes Jahr
hingebungsvoller Liebe.
"Was
sagst du denn da?", fauchte Seryna ihn an, "ich habe mich zu bedanken! Ich bin
so glücklich und dankbar, dass wir heute nicht nur kurz im Café
gesessen haben, sondern dass du sogar mit mir geschlafen hast.
Ich bitte dich ganz herzlich darum, mich auch im neuen Jahr nicht
zu vergessen und zu verschmähen."
Also
verschmähen würde er Seryna und ihren jugendlichen Mädchenkörper
sicherlich nicht, der sich anscheinend nach nichts anderem
sehnte, als von Jordy tüchtig gevögelt zu werden. Und ihre
Berichte aus dem Alltag ihrer Kumpaninnen waren für Jordy viel
interessanter, als sie auch nur entfernt ahnte. Seryna schien
sich nämlich in einer Art von Wettbewerb mit Schwester und
Freundinnen zu befinden, wer im Bett die spannendsten Abenteuer
erlebte.
Bis zum
Wiedersehen im Januar würde die Zeit recht zäh und träge
fließen, meinte sie traurig. Und die hundertste Nummer hatten
sie im alten Jahr auch nicht mehr geschafft.
"Na
gut, dann mach ich sie dir zu deinem Geburtstag im Januar, das
ist doch auch was, oder?"
Da
strahlte sie wieder, diese verdrehte Liesel mit ihrer
rätselhaften Schwäche für so einen verschnarchten Typen wie
Jordy. Wie konnte sie einem alternden Geilhansel mit Vorliebe
für kurze Röcke und handliche Rundungen nur so idiotisch
verfallen sein? Aber Jordy wusste ja, dass sie keinerlei guten
Geschmack hatte.
Wenn
Seryna drei Wünsche frei hätte, dann wäre Jordy jetzt ledig,
20 Jahre jünger und unrettbar in sie verknallt. Manchmal ist es
ganz gut, dass sowas nur im Märchen oder in Goethes 'Faust'
vorkommt. Zu ihrem Leidwesen war da sogar der Grottengott
machtlos und auch kein Weihnachtsmann erschienen, um ihre
Wünsche zu erfüllen. Stattdessen litt sie an
Entzugserscheinungen und an Gewissensbissen, denn die
Pullover-Affäre hatte ihr deutlich vor Augen geführt, dass
Jordy schon anderweitig vergeben war. Sumiko hatte leider aus
solcher Einsicht die richtige Konsequenz gezogen. Auch Seryna zog
Konsequenzen, wenn auch auf ihre eigene Art:
"Ich
habe mir einen Pager angeschafft. Da kannst du mich immer
erreichen, ohne bei mir zu Hause anrufen zu müssen."
Damals
standen PCs erst auf wenigen Büro-Schreibtischen, das Internet
war gerade erst erfunden. In dieser Jungsteinzeit der
Kommunikation waren Pager die neuste Errungenschaft. Die Idee kam
natürlich von Sumiré, ihrer abgebrühten kleinen Schwester.
Deren Hiroshi rief nämlich nur zu offiziellen Anlässen gesittet
bei ihr zu Hause an, aber wenn er sie mal wieder orgeln wollte,
verabredeten sich die beiden über ihre Pager. Also, das ist so
eine Art von Taschenwecker mit eigener Rufnummer, den man
antelefonieren und dann einen Zahlencode eingeben kann, eine
primitive Vorläufervariante der SMS-Botschaften. Dann klingelt
(oder wahlweise) vibriert das Ding in der Tasche, und auf dem
kleinen Monitor erscheint die Message, die mit dem Zahlencode
eingegeben worden ist. Wenn ihr Vibrator loswubbelt, eilt das
Mädchen mit harmloser Miene aufs Klo, zieht das Ding aus der
Tasche und liest: "Morgen Treffen -- 17 Uhr -- am üblichen
Ort -- Ende."
Noch
lieber hätte Seryna natürlich ein Handy gehabt. Aber das
Zeitalter, als die Kinder mit sowas auf die Welt
kamen und das Smarty wie BH und Lippenstift zur Grundausstattung aller japanischen Mädchen
zählte, begann leider erst drei Jahre
später. Heutzutage hat wirklich jedes Girl so ein Ding 24
Stunden lang am Ohr kleben und brabbelt ununterbrochen rein oder
klimpert mit den Fingern wie besessen auf der Tastatur rum, aber
damals war das noch ein Luxus, der horrende Gebühren kostete,
die Seryna von ihrem Taschengeld hätte abknapsen müssen. So
begnügte sie sich mit dem billigen Pager, von dem ihre Mutter,
anders als bei einem Handy, nichts mitbekam. Damals (und heute)
standen (und stehen) alle Mütter, die nicht mit den neusten
Kommunikationstechniken ihrer Kids vertraut sind, schwer auf dem
Schlauch.
Ihren
Vibrator hatte Seryna mit Eifer vorprogrammiert, sogar an Franz
hatte sie gedacht. Und das funktionierte. Jordy hatte in Tokyo zu
tun und wusste, dass sie um halb eins Orchesterprobe hatte.
Ungefähr zur gleichen Zeit wie sie war auch er fertig. Er ging
ins Telefonhäuschen, tippte probehalber ein paar Codezahlen ein
und fuhr dann zum Bahnhof XY. Wie bestellt wartete Seryna da
schon auf dem Bahnsteig und fiel ihm strahlend um den Hals.
"Die
Anschaffung hat sich schon gelohnt!", jubelte sie, obwohl
sie nur ein Viertelstündchen zusammen im Café sitzen konnten.
Am liebsten wäre es ihr gewesen, wenn Jordy sich auch so ein
Spielzeug zugelegt hätte, damit er auch ihre Antwort empfangen
könnte, aber er hatte nicht die geringste Lust, lauter Zeugs vor
seiner Frau verstecken zu müssen; Serynas Episteln waren schon
genug. Und dann würde es morgens loswubbern mit "Guten
Morgen, Jordy", mittags mit "ich liebe dich", und
abends mit "gute Nacht, Franz". Er konnte sich das
schon lebhaft ausmalen. So ein Trödel kam ihm jedenfalls nicht
in die Tasche, das stand für ihn fest.
Im Januar
lagen noch zwei Wochen Unterricht vor den Examina und
Semesterferien. Seryna trug ihr rosa Schleifchen im Haar, das
ihrem Deutschlehrer signalisierte, dass sie ihn nach den
Vorlesungen auf dem Friedhof erwartete. Ein trauerschwarzes Band
bedeutete, dass sie wegen irgendwelcher Orchesterproben nicht zum
Franzschlecken kommen konnte. Am Eingang zu den Grabstätten flog
sie Jordy um den Hals und steuerte, ihn wie immer eng
umschlingend, die Grabstätte der Familie Kikuchi an, wo nur
wenige Hunde Gassi gehen, dichte Hecken Sichtschutz bieten und
ein leicht abwischbares Mäuerchen aus weißem Marmor in der
richtigen Höhe zum Sitzen lädt. Als der Weg eine Biegung
machte, stießen sie fast mit einem entgegenkommenden, ebenso eng
umschlungenen Pärchen zusammen, und durch den dicken
Wintermantel hindurch spürte Jordy, wie Seryna zusammenzuckte.
"G-g-guten
T-tag", stammelte sie, als die andern nickend und grinsend
an ihnen vorbeigingen. Noch waren sie nicht außer Sicht, da
sagte Seryna, bleich und mit weit aufgerissenen Augen:
"Das
Mädchen ist aus der Kompositionsklasse im Magisterkurs. Die
kennt mich gut. Ich muss sie vergattern, dass sie nichts
ausplaudert von uns. So ein Mist! Heute Abend noch rufe ich sie
an und drohe ihr mit Mord und Totschlag, falls sie sich
unterstehen sollte, mir mein Glück zu vermasseln!"
Es gab
offenbar noch mehr Leute, die den Friedhof nicht in der Absicht
aufsuchten, Blümchen zu gießen. Seryna musste sich wohl bald
nach anderen diskreten Örtlichkeiten umsehen, zumal die Tage
allmählich wieder länger wurden. Selbst ihr Vergnügen,
wenigstens in der Bahn an Jordy zu hängen wie ein Klammerbeutel,
fand unversehens ein Ende.
"Das
Mädchen, das eben zugestiegen ist, wohnt ganz in meiner
Nähe", zischelte sie Jordy ins Ohr und rückte von ihm ab.
Er verabschiedete sich höflich und stieg aus. Und zur nächsten
Türe wieder ein.
So hatte
Seryna ihre liebe Not. Auf offener Straße mit Jordy Händchen
halten war riskant, der Friedhof unsicher, die Bahn gefährlich,
und anrufen bei ihm zu Hause konnte sie auch nicht. Jordy
tröstete sie ab und zu mit einer Botschaft auf ihren Pager, und
damit sie nicht vor Trübsal verging, funkte er sie gelegentlich
auch zu flüchtigen Treffen. Aber abfinden mochte sie sich mit
dieser unbefriedigenden Lage nicht. Not macht erfinderisch, und
Seryna, die ohnehin in delikaten Dingen einen erstaunlichen
Einfallsreichtum an den Tag legte, frohlockte eines Tages:
"Ich
habe eine Methode herausgefunden, wie ich dir auf deine
Pager-Botschaften antworten kann, ohne dass ich bei dir anzurufen
brauche. Da staunst du, was?"
Da staunte
Jordy in der Tat. Wie sollte das denn funktionieren?
Eltern und
Ehegatt/inn/en, aufgepasst! Da existiert ein Telefon-Service,
bei dem man eine Nachricht auf Band spricht und für 8 Stunden
speichern lässt, die jemand anders dann abhören kann. Man muss
mit dem Empfänger nur eine Code-Zahl vereinbaren, die den Zugang
ermöglicht, damit Unbefugte nicht mithören können. Jordy
funkte beispielsweise in Serynas Pager: "Mittwoch 14 Uhr,
Zeit für Treffen. Bitte um Antwort."
Zwei oder
drei Stunden später wählte er das codierte Tonband an und
hörte sie beschwingt zwitschern: "Prima, ich freue mich
schon. Ich halte mir den Nachmittag frei. Gib mir an dem Tag per
Pager die genaue Zeit und den Ort an und grüß mir den Franz von
seiner Mushi! Tschühühüs, ich liebe dich!"
Diese neue
Kommunikationsmethode hatte sie übrigens von Aichan erfahren,
einem typischen Exemplar dieser japanischen Unschuldslämmer mit
arglosem Lächeln auf ihren runden Kindergesichtern, die
unscheinbar und brav im Unterricht hocken, es aber faustdick
hinter den Löffeln haben. Um ihren strengen Herrn Papa
auszutricksen, der hinter jeder Erwähnung eines männlichen
Namens aus dem Munde seiner Tochter eine heimliche Affäre
witterte, musste Aichan alle Register weiblicher Tarn- und
Camouflagekunst ziehen, und trotzdem wäre es beinahe
herausgekommen, dass sie im vorigen Winter nicht, wie zu Hause
verkündet, mit Kommilitoninnen zum Skilaufen, sondern mit ihrem
Schatz zu zweit nach Hokkaido gefahren war. Seryna hatte sie
damals geistesgegenwärtig gerettet, alle ihre Ausreden
bestätigt und den argwöhnischen Vater beruhigt. Seitdem war
Aichan eine ihrer engsten Verbündeten. Womöglich fing ihr
Freund jetzt an, emsig Deutsch zu büffeln, weil Seryna Aichan
vorschwärmte, wie prächtig sich ein
Schullandheim-Deutschseminar dazu eignete, --- nein, nicht
Sprachkenntnisse zu mehren, sondern --- fern aller elterlichen
Aufsicht und unter einem unangreifbaren Vorwand tagelang dem
Liebsten in den Armen zu liegen.
"Na,
Herr Dekan, wie bin ich?", grinste Jordy stillvergnügt vor
sich hin, "schon wieder zwei Studenten für das Lehrfach
Deutsch motiviert!"