Nach dem Seminar hatte Jordy
auch von anderen Teilnehmerinnen Post bekommen. Junko, das
Schneewittchen, schickte ihm ein Foto, das sie zusammen mit ihm
zur Erinnerung aufgenommen hatte, aber ihre Diktion war so
formal, dass er mit einem ebenso formalen Dankesbrief antwortete.
Auch Hiroko, das Mauerblümchen, sandte ein Foto und einen
sophisticated klingenden Studentinnen-Brief, der freilich mit dem
Wunsch nach einem Wiedersehen endete.
Ich wohne ganz in
der Nähe Ihrer Privathochschule. Bitte teilen Sie mir Tag und
Uhrzeit mit, wann Sie dort arbeiten.
Das tat er wunschgemäß, denn
es war ja möglich, dass sie es mit dem Treffen eilig hatte. Bei
Studentinnen von anderen Unis brauchte er sich nicht so
vorsichtig zurückzuhalten wie bei seinen eigenen Schützlingen,
und er war gespannt auf den Tag, an dem Hiroko ihm auf seinem
Heimweg auflauern würde.
Zwei, drei Wochen lang ging er
also mit geschärften Sinnen von der Schule zum Bahnhof, aber es
ereignete sich kein Zwischenfall. Keine Hiroko weit und breit.
Die Regenzeit begann, es wurde feucht und schwül. Dann kam
wieder ein Brief.
Leider passt es
zeitlich nicht. Ich habe selbst Unterricht an diesem Tag und kann
wegen kommender Examina keinen Kurs sausen lassen. Bis
später....
Allzu stark schien ihr Wunsch
nach einem Wiedersehen denn doch nicht gewesen sein. Sie war eben
ein echtes Mauerblümchen, nicht sonderlich hübsch und ein
bisschen tranig; wahrscheinlich konnte sie sich nicht zu mehr
aufraffen als zu einem Brief pro Monat.
Jordy ließ also in der
Wachsamkeit nach, denn nun stand nicht mehr zu erwarten, dass
irgendwo ein junges Mädchen auf ihn wartete. Gedankenversunken
trottete er dem Bahnhof zu.
"Sensei, guten Tag!"
Ein vertrauter Schrei riss ihn
aus der Träumerei. Aus dem Eingang der Konzerthalle, an der sein
Rückweg vorbeiführte, kam Seryna auf ihn zu gesprintet. Welch
ein Zufall! --- Welch ein Zufall?? --- ZUFALL???
"Ich hatte gerade mit
meiner Schwester telefoniert, da habe ich Sie gesehen. So ein
Zufall!" --- So ein Zufall?? --- ZUFALL???
Die Eingangslobby der
Konzerthalle hatte verglaste Wände, moderne Architektur, die
gute Aussicht ermöglicht auf den Weg, der draußen vorbei zum
Bahnhof führt. Kein Ort war geeigneter, um jemanden abzupassen.
Jordy war sicher, dass Seryna wieder etwas ausgeheckt hatte.
"Falls Sie es nicht so
eilig haben, gehen wir doch in ein Café, wie wär's?"
Ja, warum nicht? Insgeheim
bewunderte Jordy Serynas mutigen, geglückten Coup. Er war zwar
entschlossen, bei seinen eigenen Studentinnen nicht von sich aus
aktiv zu werden und auch niemanden in Cafés oder Kinos
einzuladen. Höchstens zu Deutsch-Seminaren. Aber wenn eine
Studentin von sich aus meinte, dass sie damit glücklich würde,
mit ihrem Prof einen Kaffee zu trinken, warum sollte er ihr den
Gefallen nicht tun?
Im Nachhinein bereute er sein
Zögern doch. Er hätte alles klar machen sollen, denn es war der
letzte Schultag des Semesters gewesen. Ab morgen begannen die
Sommerferien, da würde er monatelang keine Seryna mehr sehen,
und ihm auch in den Ferien, zu Hause und privat, nachzustellen,
diese Dreistigkeit traute er ihr wohl zu Recht nicht zu. Jordys
Frau hatte vor, ihn im Sommer ein paar Monate lang allein zu
lassen, um durch Amerika zu touren; da wäre ein handfester Flirt
mit der offenkundig leicht zugänglichen Seryna eine gelungene
Abwechslung gewesen. Aber jetzt war sie weg, hockte in ihrem Zug
und ärgerte sich wahrscheinlich genau wie er über die verpasste
Chance. Dass er so zimperlich agierte, lag nur daran, dass er
Lehrer war und hehre Prinzipien hatte, die freilich noch keiner
ernsthaften Probe ausgesetzt waren. Aber was soll's, seinen
Ärger hatte er schließlich seinem eigenen Zögern
zuzuschreiben.
Vor rund einem Jahr
hatte Jordy zum ersten Mal sein Engelchen geküsst. Es war ein
ebenso regnerischer Tag gewesen wie heute. Die Regenzeit in
diesem Jahr machte ihrem Namen alle Ehre, stimmte ihn aber
doppelt trübsinnig: Engelchen entflogen und Seryna verpasst!
Das Semester war zu
Ende, aber Jordy hatte einmal pro Woche noch im Seminar zu tun.
Eine Doktorandin betreuen, in der Bibliothek recherchieren,
Bürokram erledigen. Dass die Doktorandin aber auch ausgerechnet
heute, da es wie aus Knopflöchern schüttete, seinen Rat
brauchte! Ein gutes Stündchen, dann war die Sache erledigt; er
ging rüber zur Bibliothek.
"Sensei, guten Tag!", schallte es da überfallartig durch die fast
menschenleeren Flure. Kaum zu glauben, aber Seryna stand in einer
Ecke und war am Telefonieren. Der Mensch am andern Ende der
Leitung wird einen gehörigen Schrecken bekommen haben, als sie
plötzlich losbrüllte wie von der Wespe gebissen. Nur noch
wenige Studenten verirrten sich durch die ferienhaften
akademischen Hallen, und ausgerechnet Seryna lief Jordy da über
den Weg! Innerlich freute er sich, sie nun zufällig doch noch
einmal erwischt zu haben, ließ sich aber nichts anmerken, nickte
nur freundlich und ging zur Bibliothek. Falls Serynas tägliche
Modenschau ihm gegolten haben sollte, konnte er davon ausgehen,
dass auch sie nicht damit gerechnet hatte, ihn anzutreffen, denn
heute trug sie Jeans und T-Shirt. Aber er war ziemlich sicher,
dass sie sich die heutige Chance nicht entgehen ließe. Zur Probe
ging er nach einer halben Stunde zurück zum Seminarraum. Wie
erwartet, lungerte sie noch in der Nähe herum und kam gleich auf
ihn zugeschossen.
"Geben Sie heute
Unterricht? Ich habe nicht erwartet, Sie hier zu treffen. Ich
sollte heute noch eine Gesangsstunde haben, aber mein Lehrer ist
einfach nicht gekommen."
"Gesang? Ich
dachte, du bist Klarinettistin?"
"Na ja, singen ist
mehr ein Hobby. Aber ich nehme regelmäßig Stunden, die auch im
Curriculum anerkannt werden. Wie lange bleiben Sie denn noch hier?"
Eigentlich ging sie das
einen feuchten Kehricht an, aber Jordy musste sich jetzt
entscheiden. Wenn er ihr nämlich erzählte, dass ihm ihre
Aufdringlichkeit schwer auf den Keks gehe, könnte er sich ihrer
für immer entledigen. Wenn er ihr aber freundlich antwortete,
bekäme er dafür in den Sommerferien womöglich allerhand Spaß.
Ihre großen Mädchenaugen und ihre wohlgerundete Brust, die sich
unter dem T-Shirt gefällig abzeichnete, nahmen ihm die Wahl ab.
Er machte einen kleinen Test mit ihr:
"Ich habe bis etwa
drei Uhr noch zu tun. Und du bist heute ganz umsonst gekommen?"
"Ja, eigentlich
wollte ich jetzt wieder heimfahren...."
Genau das hatte Jordy
hören wollen. Jetzt würde er nämlich bald sehen, ob sie
wirklich hinter ihm her war oder sich nur einen Gag erlauben
wollte. Sie müsste nämlich jetzt knapp zwei Stunden auf ihn
warten, zu lang für einen Gag, für Verliebte aber nur ein
Augenblick, da es vor den Sommerferien wirklich die
allerallerletzte Chance war. Er wollte eine Stunde lang in der
Bibliothek arbeiten und dann wieder zum Seminarraum gehen. Wenn
sie dann nicht zu sehen wäre, bliebe er wie geplant bis um drei
und klappte dann pünktlich die Buchdeckel zu. Er war gespannt,
ob sie einfach heimginge oder ihm wieder irgendwo auflauerte.
Der Test funktionierte
prächtig. Schon als er nach einer Stunde zum Seminarraum ging,
sah er sie in der Lobby hocken und mit einigen Kommilitonen
schwätzen. Sie war also entschlossen zu warten. Knapp 10 Minuten
später, als er wieder auf dem Weg zur Bibliothek war, saß sie
alleine da.
"Wolltest du nicht
heimgehen?"
"Och, ich habe in
der Mensa was gegessen und dann ein paar Freundinnen
getroffen", antwortete sie ausweichend. Gut, er wollte sie
nicht länger quälen, da sie ganz offenkundig bis um drei Uhr
auf ihn warten wollte.
"Komm mit ins
Lehrerzimmer, da ist die Klimaanlage an. Du hast ja von der Hitze
und Feuchtigkeit ein ganz rotes Gesicht! Ich habe auch die
versprochenen CDs und Kassetten da, die kannst du dir
abholen."
Sie folgte ihm
unverzüglich ins Lehrerzimmer, in dem außer ihnen kein Mensch
war. Jordy machte seine Fotokopien, und Seryna legte gleich die
erste Kassette in ihren Walkman und fing an, Deutsch zu pauken.
So eine Schauspielerin! Diesen unnatürlichen Studieneifer nahm
er ihr einfach nicht ab. Aber heute wollte Jordy es wissen. Jetzt
lud er sie, seine Prinzipien völlig
missachtend, in ein Café. Noch bevor der Eiskaffee kam, fragte
er sie direkt und in ruhigem Ton, als sei es eine
Selbstverständlichkeit:
"Was magst du
eigentlich so an mir? Ich bin doch nichts für junge
Studentinnen."
"Ja, das weiß ich
auch nicht, das kann man ja nicht begründen. So geht es eben,
wenn man in jemanden verliebt ist."
"Weißt du, was
das für mich bedeuten würde, mich mit dir auf eine heimliche
Sache einzulassen?"
"Das habe ich mir
schon lange in allen Einzelheiten ausgemalt. Ich bin da ungemein
geschickt. Ich würde Sie in keiner Weise kompromittieren. Seit
dem Deutsch-Seminar, als ich erfahren habe, dass Sie ein anderes
Mädchen lieben, bin ich total deprimiert."
Sie wollte
offensichtlich rein in eine Affäre mit Jordy, leugnete nichts,
zuckte keinen Augenblick zurück und ging ihm einfach nach,
unaufgefordert und ohne zu fragen wohin, als er vom Café aus
nicht den Weg zum Bahnhof nahm, sondern im Nieselregen langsam zu
dem Schrein am Rande des Parks ging.
"Hier vorne sitzt
der Gesundheitsgott, und dahinten wohnt der Finanzgott",
erzählte er ihr.
"Ja, die kenne ich
auch", nickte sie und warf ein paar Groschen in den
Opferkasten der reich machenden Gottheit. Wenn sie dich erhört,
sind die Groschen besser angelegt als bei jeder Bank.
"Dahinten haust
noch ein dritter Gott, kennst du den auch?"
"Nein, wo denn?"
"Komm, ich zeig
ihn dir. Was für Wünsche der erfüllt, weiß ich nicht, aber du
kannst ihn ja mal testen."
Hinter einem
Nebengebäude gab es einen überdachten Gang, von Lampions
funzelig erleuchtet, der um die Ecke in eine Felsnische führte.
In dieser Grotte residierte der dritte Gott, und dort standen
Jordy und Seryna zu zweit im Dämmerdunkel, allen Blicken
entzogen. Jordy wusste freilich genau, was für Wünsche der
Grottengott erfüllte, wenn man nur das Seine dazu beitrug.
Noch immer erschien ihm
eine Beziehung mit Seryna vollkommen unrealistisch, und was sie
an ihm so attraktiv fand, war ihm erst recht unbegreiflich. Aber
spätestens seit dem ersten Cafébesuch hatte er an ihren Reizen
Gefallen gefunden. Ihre Miniröckchen und elegant bestrumpften
Knie, ihre gute Figur und ihre gefällig geformte Brust lockten
seine Sinne. Das alles sollte er sich entgehen lassen, obwohl er
demnächst als Strohwitwer monatelang alleine hocken würde?
Nein, heute wollte er sie sich holen, die ohnehin willige Seryna.
Er stand einen Schritt
schräg hinter ihr, während sie sich vor dem Grottengott
verneigte und um seinen Beistand flehte, und als sie damit fertig
war und sich zu Jordy umdrehte, nahm er sie einfach in die Arme.
Hatte sie das schon kommen sehen? Sie reagierte keineswegs
überrascht. Oder doch? Fünf, acht, zehn Sekunden stand sie
völlig reglos, wie erstarrt, bevor sie die Umarmung erwiderte,
erst zaghaft, aber dann auf einmal mit einer solchen
Leidenschaft, dass ihm fast die Puste wegblieb. Sie quetschte
Jordy wie eine Ziehharmonika und saugte ihn beim Küssen so
gierig aus, als sei sie am Verdursten gewesen. Bei diesem
Regenwetter verirrte sich kein Mensch in das Heiligtum, und sie
waren derart hitzig ineinander verkrallt, dass es dem Sankt
Grottius die Sprache verschlagen haben muss; er enthielt sich
jedenfalls jeglichen Kommentars. Jordys Hände waren längst
unter Serynas T-Shirt angelangt, aber nur am Rücken, auf der
schweißnassen Haut, denn ihre Vorderseite war wie mit seinem
Bauch verwachsen. Wer weiß, wie lange sie ihn so auspresste,
aber es dämmerte schon, als sie den Ort verließen. Seryna nahm
die selbe Bahn wie Jordy, das bedeutete für sie einen Umweg und
einmal mehr umsteigen, machte ihr aber nichts aus, wenn sie
dafür länger mit ihm zusammen sein konnte. Sagte sie. Sie
schien total verliebt zu sein. Oder tat zumindest so.
Jordy begriff das
Mädchen nicht. Jung und blühend, hübsch und attraktiv, kess
und chic, sie hätte doch unter den Jungs nach Belieben
auswählen können, und nun hing sie am Bauchspeck eines
angealterten, angefalteten, verheirateten Ausländers.
"Jedem Tierchen
sein Pläsierchen", sagte sie nur, als Jordy sich offen
über ihre seltsame Vorliebe wunderte. Dass er verheiratet war,
wusste sie doch hoffentlich? Nicht dass sie sich irgendwelchen
Illusionen hingab.
"Jaja, seit dem
Seminar weiß ich doch Bescheid. Die Kommilitoninnen haben der
Nadine ja alle Würmer aus der Nase gezogen."
"Und dir gleich
weitererzählt?" - "Klar doch."
Dass sie Jordy mochte,
fand sie jedenfalls überhaupt nicht komisch.
"Mir ist vielmehr
schleierhaft, wie Ihre Freundin vom letzten Jahr einfach Schluss
machen konnte."
"Ja, damit ist es
vorbei. Ich habe sie seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen,
die Sache ist leider zu Ende."
"Das ist sicher
schade. Mich könnte es freuen, aber Sie haben sie anscheinend
ziemlich geliebt."
"Ja, das war mein
Fehler. Es war eine allzu einseitige Zuneigung. Ich verliebe mich
so schnell nicht wieder, das bringt nur Kummer."
"Und jetzt bin ich einseitig verliebt, nicht wahr? Aber das bereue ich nicht, und wenn ich nachher noch so viel
Kummer habe. Heute hatte ich gedacht, so ein Mist, bei dem Regen
extra in die Akademie gefahren, und dann kommt der Lehrer einfach
nicht. Aber es hat sich trotzdem gelohnt, dass ich gekommen bin,
das ist ein sagenhafter Glückstag heute! Das hat sich echt
gelohnt...! Und ich hatte schon geglaubt, ich sehe Sie bis zum
Herbst nicht wieder --- wie sollte ich nur die Sommerferien
überstehen?"
"Na, bisher hast
du ja auch ohne mich überlebt. Hör mal, Seryna, sei so gut und
lass das Sie bleiben. Wir sind doch nicht in
der Schule."
"Ach, das ist
Gewohnheit. Was soll ich denn sonst sagen?"
"Lass dir was
einfallen. Ich habe jedenfalls keine Lust, eine Studentin zu
küssen, die dauernd Herr Professor zu mir sagt. Sonst kriegst du
am Ende noch Noten für deine Kusstechniken."
"Ich bin
zuversichtlich, in dem Fach auch ein Oberstufen-Examen
zu bestehen. Aber ich übe auch gern noch ein bisschen. Wann
können wir uns wieder treffen?"