PRELUDE
Andante maestoso
Anfänge haben einen besonderen Reiz.
Nicht alle natürlich. Für den Anfang einer starken Erkältung mochte sich Jordy nicht sonderlich begeistern. Aber erfreuliche Begebenheiten haben es an sich, meist auch recht nette Anfänge parat zu halten. Es dauert freilich bisweilen einige Zeit, bevor man einen Anfang als solchen wahrnimmt; als Kind hatte Jordy die schönsten Anfänge noch glatt versäumt. Statt den richtigen Augenblick am Weihnachts-Vorabend genüsslich auszukosten, wenn die Türe aufgeht und sich im Halbdunkel das feierliche Kerzenflackern des Weihnachtsbaums mit Düften aus Tannenharz und geschmolzenem Stearin, aus Zimtgebäck und Zitrusaroma zu jener geheimnisvollen Aura vermengt, die ein simples Wohnzimmer in einen Tempel verwandelt, schielen Kinder nur auf die Geschenke unter dem Baum und können den Augenblick kaum erwarten, in dem der Tempel nach dem lästigen Absingen des einschlägigen Lied-Repertoires wieder zum Wohnzimmer wird und die Süßigkeiten und Geschenke zum Plündern freigegeben werden.
Mit den Jahren war Jordy aber zum Kenner geworden. Er wusste mittlerweile, dass der Anpfiff der erhabenste Moment eines Fußball-Endspiels ist, der Augenblick, in dem alle Vorfreude, alle Spannung kulminiert: Das Gekicke danach unterscheidet sich nur selten von einem alltäglichen Punktspiel. Man könnte auch nach dem Anpfiff einfach abschalten und das Ergebnis den Spätnachrichten entnehmen. Nur bestehen die Dinge leider nicht allein aus prickelnden Anfängen, oder, anders gesagt, wenn einem Anfang nichts weiter folgte, dann wäre der Anfang auch kein Anfang. Also schaut man sich das Spiel, so sehr es die hochgesteckten Erwartungen auch enttäuscht, bis zu seinem trüben Ende an; umso gewisser festigt sich die Erkenntnis, dass der Anfang eben doch das Highlight war, aus dem der wahre Genießer seinen Lustgewinn zieht.
So rühmte sich Jordy einer mittlerweile derart verfeinerten Kennerschaft, dass er spannende Anfänge, sobald ihre Umrisse erkennbar waren, keineswegs sich selbst überließ, sondern gerne eigenhändig inszenierend eingriff, um sie kunstvoll in die Länge zu ziehen. Wenn man nämlich meint, den Mechanismus eines Anfangs durchschaut zu haben, gelingt es oft auch, ihn in Stufen zu gliedern und aus einem einzigen Anfang eine ganze Serie von kleinen Anfängen zu machen, jeden einzelnen davon neu zu gestalten und neu zu goutieren. Das Lustvollste an gelungenen Anfängen ist jedoch jener Rest von Unwägbarkeit, jene Unbekannte in der Gleichung, von der allein es letztlich abhängt, ob die Gleichung jemals aufgeht.
Besonders ergiebige, für Inszenierungen dankbare Anfänge sind netten Flirts zu eigen. Jordy war als Dozent an zwei Musikhochschulen beruflich von zahllosen Musikerinnen umgeben, die zu seinem Leidwesen freilich zu außerschulischen Abenteuern für ihre Lehrkräfte tabu sind. Außerdem musste er sich ehrlichkeitshalber zur Generation ihrer Väter zählen, so dass ihm aus dem Umgang mit den Jahr für Jahr neuen und immer aufs Neue reizvollen Schönheiten eher Frust als Lust erwuchs. Wenn bisweilen ein bildhübsches Gesicht auftauchte, erfreute er sich an der Ästhetik des Anblicks, ließ sich aber sein Interesse nicht anmerken. Indirekt hörte er wohl mitunter, dass sich einige Mädels durchaus den Kopf darüber zerbrachen, wie alt er sein könnte und ob er womöglich noch ledig sei, da er keinen Ehering trug, aber das ist eben Studentinnen-Bafel, das Pendant zu den anzüglichen Reden, die Studenten an technischen Hochschulen über eine attraktive Dozentin führen würden.
Als Liebhaber gelungener Anfänge war Jordy freilich stets auf Empfang und horchte das Weltall ab auf Signale, die auf einen neuen Beginn hindeuten mochten. Als beispielsweise die kleine Suzuki, die ihn mit einem koketten Augenaufschlag auf dem Campus zu grüßen pflegte und dann errötend weghuschte, beim schriftlichen Examen mit Bleistift hauchdünn auf den Rand des Testbogens notierte, dass der Dozent Jordy ihr SEHR sympathisch sei, löste das bei ihm gleich einen "Anfangs"-Alarm und Gedankenspiele aus, wie der mögliche Weg zum Besteigen einer brandneuen Suzuki möglichst windungsreich zu gestalten sei. Wie so oft aber erwies sich das Signal als Fehlalarm, und dem zaghaften Ansatz folgte keine inszenierbare Fortsetzung, denn diese Suzuki hatte leider nicht genug PS, um schwungvoll mit Jordy in Fahrt zu kommen.