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Die letzten Kapriolen
Mit solchen
Gedanken rollte Jordy zurück nach Hause. Noch ein gemeinsames
Wochenende bei ihm, und dann eine lange Trennung. Ob seine
Beziehung mit Sumiko diese Zeit der Trennung überdauern und
unter erheblich schwierigeren Bedingungen fortsetzbar sein würde
? Von ihm aus herzlich gern, aber Sumiko steuerte offensichtlich
schon den Abschied an. Von den tausend Küssen im Brief hatte er
in der vorigen Nacht nur einen Bruchteil erhalten, und am Morgen
kaum noch einen, weil sie sich zum Ausgehen geschminkt hatte und
ihr Lippenstift nicht kussecht war. Jordy schrieb ihr einen
netten Dankesbrief und sandte ihr ein Geschenk.
Am nächsten Abend - sein Brief war noch nicht eingetroffen - erhielt er einen Anruf.
"Eigentlich wäre es mir lieber, am kommenden Wochenende nicht nach Tokyo zu fahren. . ."
"Weißt du, was du mir antust ?! Ich lebe allein für den Augenblick, an dem ich dich zum letzten Mal in die Arme schließen kann. Wenn du einfach absagst, als könnte man das auf später verschieben, weiß ich wahrhaftig nicht, ob ich das überlebe. Wir werden vielleicht nie mehr so zusammen sein können !"
"Ja, ich weiß, ich möchte dich auch noch einmal treffen. Aber wir haben schon drei Wochenenden hintereinander zusammen verbracht, ist das nicht genug ?"
"Du hast also von unserer Freundschaft genug ?"
"So habe ich das nicht gemeint. Ich will nur sagen, ich muss ja auch mal fleißig studieren. Und außerdem. . ."
"Und außerdem ?"
"Außerdem. . . ist bald Eberhards Geburtstag. Er hat mich heute angerufen."
Jordy hatte der
Achterbahn keine größeren Kapriolen mehr zugetraut, da
hämmerte sie ihn noch einmal voll in den Keller. Er wusste
wirklich nicht, wie er das ertragen sollte. Nicht allein, dass
ihm die Vorfreude auf das letzte Treffen geraubt war, nein, viel
schlimmer noch, dass jener miese Kerl der Grund war und dass
Sumiko ihm den Vorzug gab. Es war alles aus. Er hatte verloren
gegen diesen qualmenden Lüstling mit rotem Gesicht, Wabbelbauch
und Körpergeruch. Der sie einfach gevögelt hatte, obwohl sie
sich gesträubt und es ihr weh getan hatte.
'Na schön,' dachte Jordy verbittert, 'wenn sie den vorzieht, dann hat sie keinen anderen verdient. Schade, ich hatte vor diesem Teufelchen wirklich Achtung.'
Er kam zu einer Stunde heim, da nicht mehr zu erwarten stand, dass Sumiko ihn erneut zu erreichen versuchte. Auch dürfte sie inzwischen gemerkt haben, dass bei Jordy niemand zu Hause war oder dranging, auch wenn sie sich die Finger wund wählte. Er war auch am nächsten Tag nicht zu Hause, und für den Abend hatte er eine Konzertkarte und konnte die Wogen in seinem Innern von klassischen Harmonien ein wenig glätten lassen.
Es war ihm ein
unbegreifliches Rätsel, warum er in dieses Girl so rettungslos
verliebt war. Es gibt jede Menge hübschere und attraktivere
Mädchen. Aber Sumiko hatte irgendeine merkwürdige Aura, die
genau Jordys Wellenlänge traf. Für ihn war sie einfach
unwiderstehlich. Seit er sie kennen gelernt hatte, ließen ihn
andere Frauen merkwürdig kalt. Einem Mädchen wie Sumiko hätte
er mühelos ewig treu bleiben können. Und staunte darüber, denn Derartiges war ihm bisher noch nicht widerfahren.
Am
Freitagnachmittag klingelte das Telefon wieder. Jordy wusste
schon, wer es war. Sollte er drangehen ? Wenn sie endgültig
absagte, war er geliefert, dann war wirklich alles aus. Er sollte
es einfach klingeln lassen. Was aber, wenn sie extra anrief, um
zu sagen, dass sie doch kommt ? Konnte er es sich denn leisten,
die letzte, winzige Chance zu verschenken, das einzige Fünkchen
Hoffnung erlöschen zu lassen ? Er war mit Mühe so weit erholt,
dass er sich zutraute, auch eine Absage zu verkraften. Es reichte
ja, den Hörer wieder aufzulegen, anstatt lange zu lamentieren.
Also gut. Er machte sich auf seine Exekution gefasst.
"Ciao, Jordy, bist du jetzt endlich mal zu Hause ?"
"Ciao, Sumiko, wie geht's ? Was willst du denn noch von mir ? Du hast wohl aus Versehen die falsche Nummer gewählt ? MEIN Geburtstag ist schon vorbei..."
"Sei doch nicht so gehässig ! Ich wollte nur. . ."
". . . absagen, ich weiß. Ich bin schon drauf gefasst. Ich möchte dich nur bitten, mich nicht weiter zu quälen. Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen oder zu entschuldigen, du kannst besuchen, wen du willst. Aber es schmerzt mich, wenn du anfängst, lange darüber zu quasseln und zu räsonieren. Mir ist es lieber, wenn du mich einfach in Ruhe lässt; das war's dann, schmerzhaft, aber kurz."
"Was hast du nur ? Soll ich morgen nicht kommen ? Ich habe mich schon drauf gefreut. . ."
"Du schreckliches Biest, was sollte denn da dein Anruf neulich ? Willst du mich denn umbringen ?"
"Ach, das war, weil Eberhard mich vorher angerufen hatte. Er hat mir ein bisschen leid getan. Ich konnte ihm doch nicht sagen, was ich am Wochenende wirklich vorhabe. Ich habe mir Bedenkzeit erbeten, mir was ausgedacht und ihm dann abgesagt."
"Von mir aus kannst du ruhig zu ihm gehen. Ich habe doch nicht das Recht, dich vor die Wahl zu stellen, der oder ich. Da verzichte ich lieber freiwillig, als solche Spielchen mitzumachen. Ich kriege ja bald einen Herzinfarkt bei deinen Capricen."
"Du bist wirklich gemein. Schließlich ist ein bisschen Aufregung ganz gut zur Abhärtung. Also, soll ich kommen oder nicht ?"
"Natürlich sollst du kommen. Wenn du auch nur entfernt ahntest, wie froh du mich machst, würdest du nicht so dämlich fragen. Los, pack deine Sachen, ich hol dich ab."
Ihr letztes
Wochenende, die letzten beiden gemeinsam verbrachten Nächte.
Jordy vergaß seinen Groll, er zeigte Sumiko mit jeder Geste, wie
tief er sie liebte. Er konnte mit ihr auch allenfalls am Telefon
hadern, aber unmöglich dann, wenn er ihre lächelnden, schmalen
Augen auf sich gerichtet sah. Sie wusste auch, dass es bald zu
Ende gehen würde und gab sich rührend zutraulich. Sie vermied
eine Zeit lang jede Erwähnung seines Rivalen und lächelte auch
geduldig, als peinlicherweise ein Anruf aus Amerika von Jordys
Frau sie vorübergehend aus der innigen Zweisamkeit riss.
"Das war sie, nicht wahr ?" war ihre einzige Anmerkung.
In der Nacht gab sie sich so zärtlich hin, dass Jordy in einer anderen Position diesmal ans Ziel gelangte. Das wunderte sie.
"Es hat gar nicht weh getan. Wie hast du das gemacht ?"
"Ich weiß auch nicht. Vielleicht hast du dich verstellt und mich zum Abschied nicht spüren lassen, wie weh ich dir tue ?"
"Nein,
wirklich nicht. Ich bin selbst überrascht. Wenn ich Schmerzen
hätte, dann kannst du sicher sein, dass ich losgeschrien
hätte."
"Kann sein. Es kann aber auch sein, dass Eberhard auch aufgepasst hat. Genaues kann ich dir nicht sagen, ich war schließlich nicht dabei. Bei mir brauchst du dich jedenfalls vor unerwünschten Folgen oder Aids nicht zu ängstigen."
"Was ! Aids !! Da habe ich gar nicht dran gedacht ! Und von Eberhard kenne ich die Vorgeschichte genauso wenig wie von dir ! Du, ich mache noch vor meiner Europareise einen Aids-Test, das lässt mir keine Ruhe. Wenn ich dich jetzt angesteckt habe und du dann deine Frau. . ."
"Ach, Sumichan, die Wahrscheinlichkeit ist doch ziemlich gering, da brauchst du keine schlaflosen Nächte zu haben deswegen."
Am Sonntagnachmittag hatte Jordy kurz in Tokyo zu tun. Sie fuhren zusammen nach Harajuku, und während er seinen Termin wahrnahm, bummelte Sumiko durch Geschäfte und Boutiquen, denn er hatte ihr zum Abschied ein schönes Kleid versprochen. Die Idee war ihm am Wochenende in Sendai gekommen, als sie mit großen Augen in einem Katalog blätterte, den der Postbote gerade gebracht hatte. Jordy kannte ja ihr Taschengeld und war sicher, ihr damit eine Freude zu machen.
Das hellblaue Kleid, das sie sich ausgesucht hatte, war wirklich hübsch und stand ihr ausgezeichnet. Sie strahlte übers ganze Gesicht, zog es zu Hause sofort an und ließ sich den ganzen Abend darin von ihm liebkosen. Kurz nach dem wiederum schmerzlosen Höhepunkt, noch bevor sie einschlief, murmelte sie aber:
"Ach, Jordy, ich bin wie eine Dirne. Ich lasse mich mit Geschenken dazu bewegen, dir zu Willen zu sein. Und du verachtest mich nicht ?"
"Jetzt bist du anscheinend übergeschnappt, was ? Habe ich dir nicht ausdrücklich gesagt, dass dich das Geschenk zu nichts verpflichtet ? Ich wünsche mir nur insgeheim, dass du genügend Feingefühl hast, um nicht in dem neuen Kleid schnurstracks zu deinem Freund zu rennen und ihm um den Hals zu fallen. . ."
"Bitte nicht, Jordy, ich werde ihn nie mehr vor dir erwähnen, das verspreche ich dir. Und um den Hals falle ich ihm schon lange nicht mehr, das weißt du doch !"
So ? Wusste er das ?
"Jedenfalls sind meine Geschenke nichts anderes als mein aufrichtiger Dank für die wunderschöne gemeinsame Zeit mit dir und für das unglaubliche, unbezahlbare Glück, das du mir geschenkt hast. Was hat das denn mit Dirne zu tun ? Ich schenke dir das, weil ich dich schrecklich lieb habe. So einfach ist das."
"Danke, lieber Jordy."
Am Morgen, als
es langsam hell wurde, erwachte sie wie immer in Jordys Armen.
Er hatte auf Kosten des Schlafs jede der schnell verstreichenden
Sekunden genutzt und konnte guten Gewissens behaupten, dass kein
Flecken Haut an ihrem holden Leib ungeküsst geblieben war. Sie
meinte vielleicht, ihm noch etwas schuldig zu sein, und drehte
sich ungebeten in jede erdenkliche Position, aber jetzt tat es
ihr wieder weh. Auch wollte ihm nicht einleuchten, wieso sie auf
einmal Vergnügen fand an den zuvor so ungeliebten Bettszenen.
"Nein, Vergnügen nicht. Aber wenn es nicht weh tut, ist es zumindest nicht unangenehm."
Der nächste, den sie beglücken wird, hat's gut, ging es ihm neidvoll durch den Sinn. Dann wird alles verheilt und richtig eingespielt sein, um sie auf den Geschmack zu bringen.
Kaum aufgewacht, war sie wieder gut aufgelegt, und sie hatten noch viel Spaß miteinander, bis es Zeit zum Aufstehen war. Es war Montag früh, das Brausen des einsetzenden Berufsverkehrs brandete von fern ins Bettzimmer herein.
"Schade, Sumichan, aber das war's wohl. So werden wir wahrscheinlich nie mehr bei einander liegen. Du hast mich so glücklich gemacht wie ich nie zuvor gewesen bin. Ich werde dir für immer dankbar sein und dich nie vergessen", sagte Jordy so leichthin wie möglich, um sich die Traurigkeit nicht anmerken zu lassen. Nur keine feierlichen Abschiedsreden !
Keine Antwort
von Sumiko. War sie schon wieder eingeschlafen ? Dann hörte
er's. Sie schluchzte. Ihre Tränentröpfchen perlten ihm über
die Hand, ihr zarter weißer Körper bebte, immer heftiger, bis
sie richtig losweinte wie ein kleines Kind. Jordy schloss sie
fest in die Arme, wie damals an der Bahnhofssperre, als er sie
erstmals trösten musste - was heißt "damals"... !
Sechs Wochen waren es gerade erst her ! Er konnte nicht
verhindern, dass ihm auch die Tränen kamen. Nicht wegen des
Abschieds, sondern aus Rührung. Sie hatte ihn also doch so lieb,
dass ihr beim Lebwohl die Tränen flossen. Er hatte ihr Herz
gewonnen, das ihm viel wertvoller war als ihr junger Körper. Er
hatte das süße Engelchen tatsächlich ganz besessen. Ihre
Tränen waren ihr kostbarstes Abschiedsgeschenk, und er
bedauerte, dass er sie nicht aufbewahren konnte wie wirkliche
Perlen. Er wünschte sich nur, dass auch sie wenigstens einen
Bruchteil seines Glücks und seiner Freude gefunden hatte.