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Die Fahrt ist zu Ende
Da lag doch
tatsächlich wieder ein Briefchen auf dem Tisch, als Jordy leer
und müde nach Hause kam.
Lieber Jordy,
Vielen Dank für die schönen Tage ! Ich habe schöne Erfahrungen mit Dir ! Das ist ein kleines Geschenk. Das gefällt Dir, hoffe ich ! Mit freundlichen Grüßen Deine Sumiko |
Wirklich
"seine" Sumiko ? Schön wär's gewesen. Sogar mit
solchen klitzekleinen Gunstbeweisen geizte sie doch sonst immer.
Wollte sie ihn trösten mit einem netten handgefertigten Geschenk
?
Ach, Jordy
hatte dieses Engelchen nie so innig geliebt und so schmerzlich
vermisst wie heute ! Dem Brief, den er ihr sofort
hinterherschicke, legte er ein Gedicht bei, das ihm auf der
Rückfahrt nach Hause wie von selbst aus dem Herzen geflossen kam
--- und entsprechend amateurhaft klang:
ZUM ABSCHIED |
Ein Engelchen hatte sich zu mir verirrt, |
Es kam unversehens ins Haus geflogen. |
Mich hat seine Schönheit zu sehr verwirrt, |
Sonst hätt' ich die Riegel schnell zugezogen. |
Wohl mehr aus Neugierde blieb es kurz da, |
Um mit mir zu kosen, zu schlafen, zu scherzen. |
Ich wusste vor Freude kaum, wie mir geschah: |
Ein Feuerwerk zündete es mir im Herzen. |
Es lag neben mir, die Haut weiß und rein, |
Bewundernd schlief ich nicht eine Sekunde. |
So zauberhaft können nur Engelchen sein ! |
Ich herzt' es beglückt bis zur Morgenstunde. |
Doch Engelchen kommen nicht, wenn man sie ruft, |
Sie kommen und gehen, ganz wie sie wollen: |
Bald schwirrte es auf und davon durch die Luft --- |
Ich hätt' ihm sein Federkleid fortnehmen sollen. |
Ich wünschte, dass ich es einmal noch seh', |
Entzückend, so wie es bei mir gesessen ! |
Mein herzliebstes Engelchen, leb wohl, ade ! |
Ich werde dich nie und nimmer vergessen ! |
War die Achterbahn damit ausgerollt ? Noch einige Anrufe hin und her, dann musste Jordy packen für eine Reise, auf die er sich nicht freuen konnte. Ein allerletzter Anruf vor dem Boarding.
". . . und nach der Rückkehr rufe ich dich wieder an, Sumichan !"
"Das ist nett, aber irgendwo müssen wir doch mal einen Punkt machen, meinst du nicht ?"
"Was, darf ich dich nicht mal mehr anrufen ?"
"Jordy, wir wollen Freunde bleiben. Aber so wie bis jetzt kann es nicht ewig weitergehen. Es war zwar wirklich schön, aber da capo mag ich nicht."
Nun ja, er war
schon drauf gefasst gewesen seit ihrem ICH HASSE DICH. Sie hatte sicherlich
Recht, ihre seltsame Beziehung hatte ohnehin keine Zukunft.
"Hab mir's gelobt, sie lieb zu haben in der richtigen
Weise..." ging ihm ein Vers aus dem
"Rosenkavalier" durch den Kopf, und er wusste, dass die
"richtige Weise" ein Verzichten sein
musste, ihr zuliebe. Aber es brannte und schmerzte, es war fürchterlich, das
Erwachen aus einem paradiesischen Traum, die graue Leere des
Alltags vor Augen. Jordy hätte gerne gewusst, wie sie das
fertigbrachte, ihm dermaßen die Sinne zu verwirren. Im
Mittelalter hatte man Mädchen wie sie als Hexen verbrannt.
'Sumiko, lehr
mich deine geheime Kunst, und wenn ich sie beherrsche, weiß ich
schon, an wem ich mein Können erproben werde !' dachte er, denn
er war einfach süchtig nach der Droge Sumiko, die ihm ein nie
zuvor gekanntes Glücksgefühl bereitete, und hatte akute
Entzugserscheinungen. Und gelbe Eifersucht, denn sie plante, in
wenigen Wochen wieder zu einem Deutsch-Seminar zu gehen; Jordy
hatte das Programm gesehen und wusste, wen sie da als Lehrer
wiedersehen würde. Fünf Tage unter einem Dach mit ihrem
rothäutigen Aschenbecher. Er musste es verdrängen, ignorieren,
vergessen. Auf ihn warteten Bella Italia, Rotwein und Belcanto...
Jordy konnte
nicht anders, er musste Sumiko andauernd Briefe und Karten
schreiben. In Malta kaufte er ihr ein wunderschönes Geschmeide
aus Silber, handgeschmiedet in zierlichen Arabesken, und sandte
es ihr nach der Rückkehr.
Ihr Aids-Test war negativ ausgefallen. Ihre Europa-Reise stand bevor. Er erbot sich, sie zum Flugplatz zu fahren. Sie lehnte ab. Sie hatte einen Onkel in Tsuchiura, nicht weit vom Flughafen, der würde sie hinfahren. Aber sie war einverstanden, Jordy vorher kurz zu treffen, ein paar Stunden zu Kaffee und Kuchen. Die Freundin, mit der sie nach Europa fahren wollte, hatte abgesagt und konnte nicht mitkommen. Sumiko musste ganz allein fahren, ihre erste Reise nach Europa. Jordy hatte ihr aus seinem Bekanntenkreis ein älteres Ehepaar in Wien vermittelt, in dessen Gästezimmer sie vorübergehend wohnen konnte, und einen seiner Studenten, der an der Musikakademie in Wien studierte und ihr dort weiterhelfen würde.
Jordy holte sie am Bahnhof ab, wie einst. Sumiko hatte sich nicht verändert, sie strahlte und sprühte, entzückend wie immer. Ihre wundervollen Augen, ihre lustigen Grübchen. . .
Er war überglücklich, dankbar für die paar Stunden. Sie saß wieder in seinem Zimmer, aber sittsam am Tisch. Sie vermied die traute Couch, hüpfte ihm nicht auf den Schoß. Sie verschloss ihm wieder ihren Mund und wandte das Gesicht ab.
"Sumichan, bist du versteinert ? Hast du dein Herz in Beton eingegossen, oder magst du mich gar nicht mehr ? Willst du schon wieder Mauern errichten, die wir gerade mühsam abgetragen haben ?"
"Jordy, wir wollten doch Freunde sein. Freunde, keine Geliebten. Ist das nicht auch schön ?"
"Es wäre dann toll, wenn wir vorher Fremde gewesen wären. Aber für jemanden, der dich geliebt hat und noch immer lieb hat, ist es unerträglich."
Zum Glück war sie nicht allzu standhaft, aber traurig stimmte es ihn, dass sie zwar ihren Widerstand aufgab, aber nicht ein einziges Mal von sich aus aktiv wurde wie früher.
Er fuhr sie
nach Tsuchiura, als es dunkel wurde, brachte sie zur Wohnung
ihres Onkels, schloss sie innig in die Arme und küsste sie zum
Abschied. Es war der allerletzte Kuss, Jordy wusste es. Sie rief
ihn auch noch vom Flughafen an und schickte ihm ebenfalls einige
nette Karten und Briefe, aber es waren Plaudereien ohne jene
unterschwellige erotische Spannung, die ihrer früheren
Korrespondenz zu eigen war.
". . . und bin Ihnen von Herzen dankbar, dass Sie sich im vergangenen Jahr freundlichst meiner Tochter angenommen und sich auf alle erdenkliche Weise um sie bemüht haben. Bitte seien Sie ihr auch künftig gleichermaßen gewogen. Als Ausdruck meiner Dankbarkeit anbei eine geringe Gabe, die Sie bitte gütigst annehmen möchten. . ." |
Die reinste
Satire ! Jordy musste beinahe laut auflachen, während seine Frau
es selbstverständlich so auffasste, wie es gemeint war, nämlich
als Dank wohlerzogener Leute dafür, dass Jordy einer Studentin
in Österreich Hilfe und Quartier vermittelt hatte.
'Ja gern, Herr
Vater, um Ihr geschätztes Fräulein Tochter werde ich mich auch
künftig mit engagierter Hingabe auf gleiche Weise wie bisher
kümmern, da machen Sie sich nur keine Sorgen ! Vorausgesetzt
allerdings, dass selbige auch fürderhin meine Fürsorge nicht zu
verschmähen gedenkt. . . !'
Im Februar fand
eine Sitzung zur Vorbereitung des Frühlings-Seminars in Tsukumi
statt. Mit im Team war ein Pädagoge namens Eberhard. An dem Tag
lernte Jordy ihn kennen. Ihm hatte vor dem Treffen gebangt, er
wollte den Kerl nicht sehen. Sollte er dem womöglich die Hand
geben, wenn er käme und sich vorstellte ?
Sumiko hatte Jordy am Telefon gesagt, Eberhard habe sie schon aufgefordert, wieder teilzunehmen, aber in diesem Jahr mochte sie nicht. Ihr war wohl bei dem Gedanken, fünf Tage lang mit Jordy und Eberhard gleichzeitig zusammen zu sein, ein wenig mulmig zumute geworden.
"Du kannst ruhig hingehen, ich sage dann ab und lasse dich mit ihm allein."
"Jordy, du verstehst mich falsch. Ich bin mit dir jetzt 'nur noch' befreundet, aber nicht, weil ich wieder mit Eberhard zusammen sein will. Mit dem bin ich schon seit langem nur noch befreundet. Seit dem Seminar im Sommer habe ich ihn nicht mehr getroffen. Ich kann mir, seit ich dich kennen gelernt habe, überhaupt nicht mehr vorstellen, wie ich ihn je küssen konnte."
"Und auch, wie du mich küssen konntest, nicht wahr ?"
"Nein, du warst mir sehr lieb. Wirklich. Aber ich habe immer Skrupel gehabt, mit einem verheirateten Mann zu gehen, und bin deshalb froh, dass unsere Beziehung jetzt auf Freundschafts-Niveau ist. Ich habe, ehrlich gesagt, Angst gehabt vor deiner Leidenschaft. Das war doch Murks, dass wir zusammen im Bett waren, meinst du nicht ?"
Das nannte sie MURKS ! Jordy hatte in diese Affäre sein ganzes Herz, seine ganze Seele gelegt, gelitten und gebangt, und noch kein Mädchen so innig ins Herz geschlossen wie diese Sumiko, und ihr Resümé war schlichtweg "Murks" ?! Sie ahnte nicht einmal entfernt, was er für sie empfand, sonst hätte sie ihm diesen Tort nicht angetan.
Immerhin
berichtete sie, dass sie Eberhard zwar von Jordy erzählt habe
und er Jordys Namen kennen dürfte, aber von der Achterbahn wisse
er nichts. Na gut, mochte er Jordy eben für einen Stoffel
ansehen, aber der wollte Eberhard einfach ignorieren und sich
darum drücken, ihm die Hand zu geben. Einen Talisman hatte er in
der Tasche, der ihm Kraft gab, mit dem Kerl in einem Raum zu
sitzen: Ein netter Valentinstag-Brief von Sumiko war gerade
eingetroffen, und eine Aufmerksamkeit aus Schokolade lag mit
drin.
In Japan ist es
Brauch, dass Mädchen am Valentinstag demjenigen, den sie von
Herzen mögen, Schokolade schicken. Womöglich hatte sie dem
Burschen ja auch Schokolade geschickt ? Aber egal; Hauptsache,
Jordy hatte was von ihr bekommen. Und diesen Eberhard sah er sich
nur verstohlen an, ging ihm aber geschickt aus dem Weg und
wunderte sich über Sumikos schlechten Geschmack. Da musste sie
damals ja sehr, sehr einsam und liebesbedürftig gewesen sein !
Auch während der fünf Tage des Seminars war Eberhards rotes Gesicht Luft für Jordy; Eberhard schien es zu bemerken und die Antipathie zu erwidern. Das war Jordy sehr willkommen und viel angenehmer, als wenn Eberhard ihn irgendwo abgepasst und zur Rede gestellt hätte. Er konnte ihm ja schlecht sagen, was er gegen ihn hatte, ohne sein Engelchen zu kompromittieren.
Sumiko schrieb
regelmäßig Briefe und schickte ihm auch Programme von ihren
Konzerten, aber keine Fotos mehr und erst recht keine zärtlichen
Worte. Die Freundschaft mit ihr war für Jordy noch immer so
schmerzlich, dass er schon drei Abschiedsbriefe verfasst hatte,
um endgültig Schluss zu machen und sie endlich vergessen zu
können. Aber er warf die Briefe jedesmal fort.
"Treffen wir uns wieder einmal in Tokyo", hatte sie ein einziges Mal geschrieben, aber weil er nicht darauf einging, nannte sie keinen konkreten Termin. Jordy hätte sie zwar liebend gern wiedergesehen, aber sie nicht herzen und küssen zu können war ihm einfach unerträglich. Er konnte nur warten, bis die Zeit die schmerzende Wunde heilte.
Sumiko bereitete sich auf ein Studium in Deutschland vor; sie hatte ein Stipendium für ein Gesangsstudium in Berlin bekommen. Dort würde sie garantiert einen Freund finden, denn es war ausgeschlossen, dass so ein entzückendes Engelchen unerkannt bleibt. Dann würde Jordy sie, noch früh genug, endgültig und auf immer verlieren.
Wie aber
könnte er weiterleben ohne dieses zauberhafte Mädchen mit
seinen schimmernd schwarzen Haaren, die ihm duftig übers Gesicht
geflossen sind, ohne ihr schalkhaftes Lächeln, das mühelos die
versteinerte Schale seines Herzens gesprengt hatte, ohne ihre
blitzenden, leicht schräg gestellten Augen, die ihn vollkommen
in ihren Bann geschlagen hatten, ohne ihre zarte Mädchenbrust,
ihre blendend weiße Haut und ihr rosiges Juwel, tausendfach
liebkost und angebetet mit all seinen Sinnen ?
Viele Jahre
sind vergangen, und lange noch quälte ihn der Kummer. Bei jedem
ihrer nunmehr belanglosen Briefe entbrannte in Jordy aufs Neue
die Erinnerung an den allerersten Kuss und an Sumikos
Abschiedstränen am letzten Morgen, die Erinnerung an ein
Engelchen, das sich zufällig zu ihm verirrt, sein graues Leben
mit Farbe erfüllt und mit einer Kaskade von paradiesischem
Glück durcheinandergewirbelt hatte.