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Die geheime Pforte
Das Wohnungputzen war vorbei, der Wein stand kalt, die Zimmer waren mit Blumen geschmückt, ein gutes Abendessen weitgehend vorbereitet, die Betten frisch bezogen. Jordy war gebadet, gefönt und rasiert, fühlte aber nicht die geringste Müdigkeit. Es war beinahe wie Heiligabend, nur mit dem Unterschied, dass es draußen mindestens 35 Grad waren, eine drückende Schwüle. Durchaus nicht zu früh war er am Bahnhof, nur fünf Minuten vor der vereinbarten Zeit. Jordy hasste es, lange zu warten. Er stellte sich so, dass Sumiko ihn nicht sofort sehen konnte, wenn sie durch die Sperre kam. Er wollte ihr Gesicht sehen, wenn sie sich suchend umblickte.
Unter den Leuten, die dem Zug aus Sendai entquollen, war jedoch keine Sumiko. Der nächste kam 20 Minuten später. Also doch warten, in dieser Sauna-Hitze ! Eine Bekannte kam zufällig daher und machte große Augen, als sie Jordy sah.
"Wollen Sie mit dem Superexpress verreisen, Herr Kelling ?"
"Nein, nein, ich hole nur jemanden ab."
"Ach, einen Freund ?"
"Ja, sicher."
Aus dem nächsten Zug aus Sendai stiegen etliche junge Mädchen, eine schaute sich auch suchend um, eine andere fiel einem wartenden Typ um den Hals, nur von Sumiko ---- keine Spur. Was war denn nun los ? Wenn was dazwischen gekommen ist ? Anrufen konnte man bei Jordy erst ab nächster Woche, aber Sumiko hätte sicher wieder ein Telegramm geschickt. Er war ziemlich ratlos, ging aber zum Telefon und rief in Sendai an.
"Hallo, hier Sumiko. . ."
Ihm blieb die Spucke weg. Er wollte gerade seinem Herzen Luft machen, da hörte er, wie sie monoton weitersprach:
". . .wesenheit eine Nachricht hinterlassen, sobald der Piepton ertönt."
Ach so, ihr Anrufbeantworter. Also war sie zumindest nicht zu Hause. Einen Zug wollte er noch abwarten, denn es kamen drei Züge aus Sendai pro Stunde. In der Wartezeit kaufte er ein bisschen Kuchen ein, denn zum Mittagessen war es zu spät, zum Abendessen aber noch zu früh.
Als der Zug
eintraf, war Sumiko die erste, die durch die Sperre gerannt kam.
Bei der Hitze ! Sie musste ein mächtig schlechtes Gewissen
haben. Sie blieb nur kurz stehen, schaute sich um, sah Jordy
nicht und rannte in Panik los. Wohin ? Er hatte Mühe, sie
einzuholen, an der Schulter zu erwischen und zum Stehen zu
bringen.
"Sumiko !
Wohin so eilig ?"
"Jordy ! - - - Ach, verzeih mir bitte, es tut mir furchtbar leid ! Gerade als ich gehen wollte, hat meine Mutter bei mir angerufen, die wohnt nicht in meinem Haus. Meine Eltern wohnen auf dem Land, ich habe eine eigene Wohnung nahe der Uni. Und da habe ich den Zug verpasst, denn ich konnte ihr ja nicht sagen, dass ich jetzt nach Tokyo fahre. In der Eile bin ich dann in den nächstbesten Zug nach Tokyo gestiegen und habe nicht gemerkt, dass der öfter hält und unterwegs vom nachfolgenden Zug überholt wird. Ich habe mich totgeärgert, dass ich in der Eile nicht genauer aufgepasst habe. . ."
"Nun hol erst mal Luft, Mädchen ! Ist ja gut, alles vergessen und vergeben. Ich freue mich sehr, dass du gekommen bist. Jetzt fahren wir zu mir, trinken gemütlich Kaffee und genießen unser zweites Wiedersehen..."
Ein bisschen außer Atem war sie zwar, aber ihre Augen strahlten wieder, beinahe so wie beim Seminar, getrübt nur von Hast und Hitze. Wieder trug sie ein langes, weites Sommerkleid, das ihre kindliche Unschuld betonte, auch wenn diese, streng genommen, inzwischen perdü war.
"Du hast ja deinen Stil, nicht wahr ? Im Seminar hast du immer Jeans und dicke Pullis getragen, aber sommerliches Outfit passt noch besser zu dir."
"Hast du's bemerkt ? Solche Kleider trage ich furchtbar gern, wenn es heiß ist. So ein bisschen altmodische Sachen stehen mir, findest du nicht ?"
Na ja, weil sie so jung und charmant war. Weniger zauberhafte Mädchen würden darin schnell tantenhaft wirken. Wie beim ersten Treffen hatte sie sich dezent geschminkt und Ohrgeschmeide angelegt. Ihr Gesicht war wie stets ein Juwel, die blitzenden, angeschrägten Augen und der lebhafte, grübchenumspielte Mund. Jordy wandte kaum ein Auge von ihr, während sie durch ein Sommergewitter zu seiner Wohnung rumpelten. Das letzte Stück fuhren sie im Auto, da wurde Sumiko wenigstens nicht nass mit ihrem riesigen Gepäck.
"Du willst wohl zwei Wochen lang bei mir bleiben, mit deiner schweren Tasche ? Das finde ich großartig. . ."
"Du hast anscheinend keinerlei Erfahrung mit Frauen", gab sie schlagfertig zurück. "Was Männer in eine Hosentasche bekommen, dafür benötigt eine Frau einen halben Koffer. Und wenn ich auswärts übernachte, brauche ich allerhand, aber das geht dich nichts an, das ist Frauensache."
Sie schien
wieder ganz geheilt zu sein, die kleine Sumiko.
Kaum war die
Wohnungstür hinter ihnen zu, sagte Jordy:
"Sumichan, ich habe eine Überraschung für dich. Mach mal die Augen zu."
Das tat sie zwar, senkte aber zugleich ihr Köpfchen, als ob sie es ahnte, dass er ihren ersten Kuss auf diese Weise ergaunern wollte. Er war felsenfest davon überzeugt, dass sie, ebenso wie er, nur auf diesen Augenblick gewartet hatte, und war nun platt vor Staunen, dass sie die Lippen fest zusammenpresste und ihr Gesicht abwandte. Sie machte sich los, schnappte sich ihre Tasche und enteilte mit den Worten "hier geht's wohl lang ?" stracks in Richtung Wohnzimmer.
Jordys Träume
zerklirrten in hunderttausend Scherben. Die Achterbahn, die eben
noch in großer Höhe allenfalls über ein paar Unebenheiten
geglitten war, machte eine jähe Schussfahrt in den nächsten
kühlen Talgrund.
Mit Sumiko wird
das Gespräch nie langweilig. Sie anzuschauen war ohnehin ein
Vergnügen, dem keine Zeit zu lang wird. Irgend etwas aber
lastete in der Luft; die erotische Spannung, die beim Flachsen
und Flirten auf dem Seminar jederzeit knisterte, wollte sich
heute überhaupt nicht einstellen. Offenkundig war sie nach
seiner verfrühten und verfehlten Attacke argwöhnisch auf der
Hut; er konnte es ihr nicht verdenken. Sie kam weder auf Eberhard
zu sprechen noch auf ihr Lieblingsthema Reiko, die sie im Bad in
den Busen gezwickt hatte. Es war fast so, als sei eine
schwatzhafte Tante zu Besuch, wobei man verstohlen auf die Uhr
schaut und hofft, dass sie bald wieder geht. Natürlich wollte
Jordy Sumiko nicht schnell wieder loswerden, aber die Zeit, die
völlig anders ablief als erhofft, wurde ihm unerwartet lang. Er
fühlte sich ihr ferner denn je, zurückversetzt in die Zeit, als
er sie beim Seminar kennen gelernt hatte. Der Faden, der sie
immer enger umsponnen hatte, schien gerissen, das Geplauder war
ganz unverbindlich. Ihre Eltern und Jordys Frau hätten ohne
weiteres mit am Tisch sitzen können.
Er musste ziemlich mühsam wieder von vorn beginnen. Hilfreich waren der Wein beim Abendessen und die Sympathie, die sie ihm noch immer entgegenbrachte. Gewiss war, dass Sumiko sehr gefühlsbetont zu agieren pflegte, eine echte Frau eben, das hatten ihre Briefe gezeigt. Wenn es ihm gelänge, die richtige Stimmung zu schaffen, würde sie Jordy wohl wieder in die Arme fliegen. Aber "Stimmung schaffen", das sagt sich so leicht, im Einmannbetrieb ist es verdammt schwer, wenn man kein gelernter Animateur ist.
Gegen halb zehn, die zweite Flasche Rotwein war schon leer und Jessye Norman sang Strauss-Lieder, lag ihr Kopf an Jordys Brust und sein Arm um ihre Schulter. Sie hatte die Augen halb geschlossen, schläfrig von Wein und Essen, und gab sich der Musik hin, die zu ihren Lieblingswerken zählte. Er strich sacht über ihr schimmerndes, langes Haar und drückte sie fester an sich, trotz der Hitze; sie ließ es widerstandslos geschehen. War das die richtige Stimmung, der rechte Moment ... ?
Sie erstarrte, steif wie ein Holzbrett, presste die Lippen erneut zusammen und wandte sich ab. Woran hakte es nur ? Es war Jordy völlig rätselhaft. Von ihrem Kerl pflegte sie sich im Shinjuku-Park doch stundenlang ablutschen zu lassen, und außerdem hatte sie schließlich schon ganz andere Sachen hinter sich als nur harmlose Küsschen. In ihm wuchs der Verdacht, dass sie auf irgend etwas wartete, das den Bann löste, aber er hatte nicht die leiseste Ahnung, was das sein könnte.
Sie hatte ihre
Noten mitgebracht, und sie arbeiteten ein, zwei Stunden
miteinander, damit sie das Gefühl bekam, nicht nur zum Spaß
hergekommen zu sein, sondern auch für ihr Studium was davon zu
haben, aber dann war die Konzentration dahin und die dritte
Flasche Wein beinahe leer. Sie vertrug Alkohol zum Glück gut und
verlor auch nicht die Kontrolle über sich, was Jordy sehr
angenehm war, denn er hatte nicht vor, das Mädchen bezischt zu
machen, an ihr rumzufummeln und sich anderntags anhören zu
müssen, er hätte ihr Vertrauen missbraucht. Nein, ihre Küsse
wollte er, wenn überhaupt, nur als echtes Geschenk, das sie ihm
von Herzen geben sollte. Aber danach sah es einfach nicht aus.
Sie hüpfte zum Plattenregal und fischte sich eine Jazz-CD raus.
"Die mag ich, kann ich die einlegen ?"
Natürlich
konnte sie. Jordy war in Gedanken vollauf damit beschäftigt,
Strategien zu ersinnen, wie er ihren Abwehrwall knacken konnte,
hinter dem, er spürte es förmlich, eine Belohnung auf ihn
wartete. Es war zwar nett, wie sie sich auf der Couch gleich
wieder so eng anschmiegte, wie er es sich nur wünschen konnte,
aber er merkte sehr wohl, dass sie sich vor Kuss-Attacken zu
hüten suchte. Wer konnte ihm nur sagen, wo er den
Sesam-öffne-dich finden könnte? Sie hätte ihm ja mal einen
Tipp geben können, lauschte aber nur selig dem virtuosen
Pianisten, ließ sich lächelnd streicheln und mit den Händen
liebkosen, aber mehr nicht. Gegen ein Uhr früh scheiterte Jordys
dritter Versuch, denn ihre süße Hingabe hatte erneut seine
Instinkte getrogen. Mit dem Kopf durch die Wand, diese tumbe
männliche Art verfing bei ihr nicht. Da hätte er noch
stundenlang anrennen und sich dabei höchstens den Schädel
zerbröseln können. Er musste die geheime Pforte auftun, aber
wie und wo ?
"So ist's."
"Ich kann's einfach nicht glauben. Sag's nochmal."
"Ich mag es nicht."
"Ist das dein Ernst, dein letztes Wort ?"
"Ja, ich mag's nicht."
Was konnte er da tun ? Er hatte ihr versprochen, nichts zu tun, was sie nicht mag, und er wollte sich dran halten. Dass sie allerdings so früh die Schranken runterlassen würde, das hätte er nicht für möglich gehalten.
Ergeben stand er auf und holte das Bettzeug raus.
"Sumiko, hier schläfst du, im großen Schlafzimmer. Du bist ja todmüde. Eigentlich ist hier durchaus Platz für zwei."
"Danke, das ist lieb von dir. Ich bin wirklich müde. Aber du hast doch gesagt, du hast mehrere Zimmer. Wenn du hier schlafen willst, nehme ich ein anderes."
Deutlicher kann
man's nicht sagen. Aber logisch, wenn sie nicht mal ein Küsschen
für ihn hatte, wollte sie ihn erst recht nicht nachts im selben
Raum haben. Sie befolgte also klug, was er ihr vor wenigen Tagen
als Kommentar zu der Eberhard-Geschichte selber geraten hatte,
nämlich in bestimmten Situationen standhaft NEIN zu sagen, auch wenn ihr
der Partner leid tun mochte. Jordy wünschte, sie wäre am 28.
Mai so unzugänglich gewesen ! Jetzt erprobte sie ihre neue
Festigkeit an ihm und achtete gut darauf, nicht wieder in eine
unliebsame Lage zu geraten ! Er fühlte sich echt ungerecht
behandelt. Dem Burschen, den sie nicht sonderlich mochte, hatte
sie alles, aber auch alles gegeben, und bei Jordy spielte sie die
eiserne Jungfrau. Aber gut, er wollte nicht weiter drängen,
schließlich freute es ihn auch, dass sie eben nicht billig zu
haben war; so würde er sie trotz ihres einmaligen Fehlers mit
Achtung und Zuneigung im Gedächtnis behalten können.
Jordy fügte
sich also ihrem Wunsch und packte sein Bettzeug in einen anderen
Raum.
"Jordy, ich gehe jetzt ins Bad. Aber geh bitte inzwischen nicht ins Bett, sondern warte noch, bis ich wiederkomme, ja ? Ich möchte dich noch was fragen."
Was wollte sie denn jetzt noch ? Warum fragte sie nicht gleich ? Eine Frauen-Allüre ? Wenn man das wüsste ! Jordy kam sich richtig hilflos vor. Als er seine erste sexuelle Erfahrung hatte, war sie noch nicht auf der Welt. Als er heiratete, strampelte sie noch in Windeln. Ihre Mutter war genauso alt wie Jordy, und ihr Vater nur gerade mal drei Jahre älter. Und doch hatte dieses Teufelchen die Macht, ihm schlaflose Nächte zu bereiten, sein Herz gewaltig durch die Mangel zu drehen oder ihn in drogenhafte Rauschzustände zu versetzen, ganz wie es ihr beliebte. Und ihr beliebte in letzter Zeit allerhand, er war schwer geschlaucht.
Im Pyjama stand sie eine Ewigkeit später vor ihm und fönte sich die gewaschenen Haare. Ihr gerötetes Gesicht war allerliebst. Aus dem CD-Spieler, den er ihr neben das Bett gestellt hatte, tönten sanft die Nocturnes von Fauré; nur ein Nachttischlämpchen verbreitete gelbes Dämmerlicht.
"Na, was willst du mich denn fragen ?"
"Ach so, ich wollte dich was fragen ? Ich hab's ganz vergessen. Ich glaube, ich wollte nur noch einen Gesprächspartner haben, wenn ich aus dem Bad komme."
"Willst du jetzt noch lange Gespräche führen ?"
"Na ja, zumindest aber 'gute Nacht' sagen. In welchem Zimmer schläfst du denn ?"
Jordy zeigte es ihr, damit sie sich vergewissern konnte, dass der Abstand groß genug war.
"Sag mal, wohnst du ganz allein hier mit deinen vielen Zimmern ?"
Da fiel ihm schlagartig ein, dass sie zwar über Wein und Gesang, Bach und Bartók, Liebe, Lust und Leid gesprochen hatten, dass sie ihm ihre Freunde und Verwandten, bis hin zu ihrem lüsternen Verführer, ausführlich vorgestellt hatte, von Jordy aber so gut wie nichts wusste. Nicht dass er ihr verheimlichen wollte, wie alt er war und dass er eine liebe Frau hatte, aber Sumiko war --- eine Ausnahme von japanischen Bräuchen --- so diskret, dass sie ihn nie etwas Privates gefragt hatte, und Jordy kannte interessantere Gesprächsthemen als über sich selbst zu labern. Nun hatte sie gewiss allemal das Recht, dass er ihr reinen Wein einschenkte, zumal es noch nicht zu spät war und sie ungeküsst, unberührt und mit gutem Gewissen morgen zurückreisen konnte, falls es sie enttäuschen sollte, dass Jordy ein biederer Ehemann war.
"Nein, Sumiko, ich gehöre zu der Spezies der Stinosaurier. Du weißt nicht, was das bedeutet ? Das sind die altmodischen Stinos, die Stinknormalen, die seit Jahren verheiratet sind, einen mittelguten Job haben, einen gebrauchten Mittelklassewagen fahren und Couchgarnitur und Lebensversicherung besitzen. Nur ist meine Frau gerade für einige Monate in Amerika und kommt erst im Herbst zurück. Das ist alles."
"Ach so."
Sie nahm es ohne sichtbare Regung auf, ihre Antwort klang neutral, weder erstaunt noch enttäuscht. Nachdem Jordy dreimal bei ihr abgeblitzt und ihr nicht einen Schritt näher gekommen war den ganzen langen, sehnlichst herbeigewünschten Abend, war die Entscheidung ohnehin schon gefallen; da konnte die Tatsache, dass er verheiratet war, auch nicht mehr viel verderben.
"Also, gute Nacht, Sumiko, jetzt gehe ich ins Bad."
"Kannst du so lieb sein, danach nochmal zu mir zu kommen ? Geh nicht gleich in dein Zimmer, ich warte hier auf dich. Ich studiere noch ein bisschen weiter, bis du kommst. Und wenn ich dann schon schlafen sollte, stör dich nicht dran, ich tu nur so, als würde ich schlafen. Du musst unbedingt kommen, ja ?"
Jordy stand
unter der Dusche und putzte sich die Zähne. Erst beim Abtrocknen
bemerkte er, dass er ganz vergessen hatte, sich einzuseifen und
zu waschen. Es erging ihm wie dem Gretchen am Spinnrad:
"Mein armer Kopf ist mir verrückt, mein armer Sinn ist mir
zerstückt..." Was führte Sumiko denn nun schon wieder im
Schilde ? Wenn er zu ihr ginge, hieße es nur wieder "ach
so, hatte ich gesagt, du sollst kommen ? Na dann also, gute
Nacht" --- oder so ähnlich.
Die Achterbahn
rumpelte durch einen tiefen und düsteren Keller. Und Jordy
rumpelte mit ebenso düsteren Gefühlen mit. Dabei war das süße
Kind doch gekommen, übernachtete in seiner Wohnung und würde
morgen wieder frisch vor ihm rumtänzeln und ihr Charme-Feuerwerk
versprühen ! Ach, er war keinen Deut besser als dieser Eberhard;
der war wenigstens geschieden, und nicht verheiratet ! Der
einzige Unterschied war, dass für Jordy ihr NEIN heilig war. Aber er
hatte sich halt vorgestellt, sich heute nach Herzenslust an
diesem prachtvollen Mädchen sattzuküssen und sie bis zum Morgen
in den Armen zu halten. Dafür hätte er auch auf Sex verzichtet,
das war ihm dieses Mädel durchaus wert.
Nun aber war alles so prosaisch ausgegangen; jetzt, da er sie sich eigens ins Haus geholt hatte, konnte er, in seinem Arbeitszimmer zwischen Bücherschrank und Computertisch gezwängt, nur von ihr träumen, allein im Bett, während das holde Kind, zwei Wände entfernt, in seinem Schlafzimmer ruhte. Am besten, er ließe sie da liegen und zeigte ihr, dass er ein bisschen enttäuscht und nicht gewillt war, ständig nach ihrer Pfeife zu tanzen. Vielleicht würde sie das ja zu neuen Aktivitäten animieren....?
Ach, alle Vorsätze waren nichtig. Als Jordy aus dem Bad trat, war er noch fest entschlossen, sie nicht mehr aufzusuchen. Aber dann, rechts sein dunkles, wenig anheimelndes Arbeitszimmer, und links der Weg zu ihrem Bett, von wo gedämpfter Lichtschein schimmerte... Sie hatte wirklich magische Kräfte. Er musste einfach hin zu ihr. Allein die Vorstellung, dass sie da wach lag und auf ihn wartete...
Natürlich
lag
sie nicht wach, und von warten auf Jordy keine Spur. Sie war
schlicht eingeschlafen. Noch immer klimperten die Nocturnes, und
im Schlaf hielt sie weiter ihre Noten fest. Ein Anblick zum laut
Auflachen. Von wegen "ich tu nur so, als würde ich
schlafen" ! Sie schlief so fest, dass es wohl beträchtliche
Mühe kosten würde, sie wach zu kriegen. Aber sollte er das
überhaupt ? Lass sie doch schlafen ! Nachher wäre sie noch
sauer, wenn er sie aufweckte. Er setzte sich zu ihr und
betrachtete ihr schlafendes Gesicht. Ihr Mund war leicht
geöffnet, die rosigen, jetzt ungeschminkten Lippen waren so
taufrisch und jugendlich voll, dass er mit einer riesigen
Versuchung kämpfen musste. Aber gerade jetzt musste er unbedingt
widerstehen und ihr dankbar sein dafür, dass sie seine
mehrfachen, gescheiterten Versuche nicht mit dem Vorwurf
quittiert hatte, er würde sein Versprechen nicht halten. Das
rechnete er ihr hoch an und verzichtete darauf, sie im wehrlosen
Schlaf zu küssen. Stattdessen weidete er sich am Anblick
ihrer weißen Zähnchen, die offenbar noch munter waren
und
neugierig in die Welt guckten, und ihres schwarzen Haares, das
aufgelöst über das Kissen floss und ihr süßes
Gesichtchen
umrahmte.
Jordy wusste
nicht, wie lange er sie so betrachtet hatte. Da aber die Uhr halb
drei anzeigte und die Musik zu Ende war, musste er sich
entschließen. Sollte er sie aufwecken oder schlafen gehen ? Er
strich ihr übers Haar, noch unschlüssig; er streichelte ihre
zarten Wangen, die lockenden Lippen, die geschlossenen Lider. Da regte sie sich; die
schmalen Augen öffneten sich einen winzigen Spalt, mehr nicht,
aber dann kam Bewegung in das Mädchen: Sie richtete ihren
Oberkörper halb auf, reckte einen Arm nach Jordy aus, zog ihn
fest an sich und küsste ihn, als hätte sie ihr ganzes Leben
nur auf diesen Augenblick gewartet.