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Der erste Looping
Auf dem
Bahnsteig einer U-Bahn-Station traf Jordy Sumiko wieder. In
Gedanken versunken saß sie auf einem der Plastiksitze,
hellbeiges Sommerkleid mit Blümchenmuster, ihr Haar wieder
allerliebst zu einem schwarz schimmernden Kunstwerk aufgebunden.
Es war ein trüber, regnerischer Spätnachmittag, und sie sah ein
wenig verloren aus, mit ihrer großen Reisetasche neben sich,
alleine auf dem Bahnsteig-Sitz, während die Leute mit nassen
Schirmen an ihr vorüberhasteten. Sie sah Jordy erst, als er vor
ihr stand.
"Guten Tag, Frau Morita !"
"Guten Tag, Jordy ! Sag bitte nicht Frau Morita zu mir, das klingt so fremd und kalt ! Alle nennen mich Sumiko oder Sumichan, das ist viel schöner. --- Wie geht's dir ?"
Ihr Gesicht begann sich aufzuhellen. Trotzdem wirkte sie nicht so sprühend wie in Tsukumi.
"Du siehst müde aus, Sumiko. War die Party so anstrengend ? Gab's etwa keinen Wein ?"
"Partys sind immer anstrengend, und gestern habe ich viel Gesang geübt. Nach dem Unterricht bin ich jedes Mal ein bisschen müde."
Sie setzten sich in ein Café, weil es für das Abendessen noch zu früh war. Einmal im Monat kam sie nach Tokyo, um bei einer bekannten Sängerin Gesangsstunden zu nehmen. Sicher hatte sie reiche Eltern.
"Nein, nein, gar nicht. Ein bisschen Geld verdiene ich mir auch selbst. Ich gebe Nachhilfestunden in Englisch. Das bringt mir ein zusätzliches Taschengeld."
Ein wahres
Multitalent, diese Sumiko aus Sendai ! Jordy wollte sie heute
verwöhnen, aber leider hatte sie am frühen Nachmittag bei der
Party schon viel gegessen; immerhin schienen ihr Stil und
Atmosphäre des Restaurants zu gefallen. Und der gute Rotwein.
Sie plauderte über ihre Familie, über die Eltern, die sich oft
streiten, über ihren jüngeren Bruder, der ein rechter
Taugenichts sein musste, und über die Tante, mit der sie sich am
besten verstand. Diese Tante wohnte in Tokyo, und bei ihr
übernachtete sie, wenn sie zum Gesangunterricht herkam. Dann
erzählte sie von ihrer Uni, ihren Lehrern, ihren Freunden und
vom Tsukumi-Seminar, aber Jordy hörte nicht allzu konzentriert
zu, sondern weidete sich an ihrem hübschen Gesicht, das er an
diesem Abend ganz für sich alleine hatte und das tausenderlei
Attraktionen enthielt, eine faszinierender als die andere. Aber
heute blitzte ihr seltsamerweise kein Schalk aus den Augen; sie
wirkte noch immer matt und bemüht, auch wenn sie scherzte und
lachte. Jordy war ein wenig enttäuscht, denn er hatte gehofft,
das Wiedersehen würde ihr mehr Freude bereiten.
Als das Menü beim Dessert und die Konversation wieder bei Reiko angelangt war, die sie immer im Bad geärgert hatte, war es schon Zeit zu gehen, damit sie den letzten Expresszug nach Sendai nicht verpasste. Auf dem Weg zum Bahnhof kam sie von Reiko schnell auf ihr Lieblingsthema, ihre doch allzu zierlich geratene Brust, und Jordy wunderte sich, weshalb sie wieder und wieder bei ihm dieses Thema ansprach, als ob er ein Schönheitschirurg wäre. Mit Nachdruck empfahl er ihr, sich einen Freund anzulachen, auf dass ihre Hormone stimuliert würden. Im Geiste ergänzte er, sein Alter und seine Frau nobel ignorierend, dass dafür schwerlich irgend jemand geeigneter sei als er.
"Nein, das finde ich nicht, Jordy. Das mit dem Freund gefällt mir nicht", erwiderte sie mit seltsamer Entschiedenheit, während sie schnellen Schrittes durch die langen U-Bahn-Passagen zum Bahnhof hasteten.
"Du müsstest es erst mal probieren, bevor du so rundweg ablehnst. Das ist auch für deine Lebenserfahrung als Künstlerin wichtig."
Abrupt blieb sie stehen, wie angenagelt, und durchbohrte ihn mit Augen, die er bei ihr noch nicht gesehen hatte. Hatte er was Falsches gesagt ? War er dabei, ihr den schönen Abend zu verderben ? Hatte der Wein sie heute auf ein tristes Adagio gestimmt an Stelle ihres üblichen Allegro con brio ?
"Ich habe es gemacht...", brachte sie kaum hörbar hervor und setzte sich langsam wieder in Bewegung. Jordy traute seinen Ohren nicht und musste nachfragen, obwohl er eigentlich sofort kapiert hatte, was sie meinte.
"Was ? Was hast du gemacht ?"
"Was Mann
und Frau miteinander machen, im Bett. Vor zwei Wochen. Es ist
meine erste Erfahrung" , sagte sie leise, die Augen
niedergeschlagen, ohne ihn anzusehen.
Jordy war wie vom Donner gerührt. Es fehlte nicht viel, und ihm wäre schwarz geworden vor den Augen. Wie benommen stolperte er wortlos neben ihr her, während sie niedergeschlagen erzählte, dass sie seit etwa einem Jahr mit einem gewissen Eberhard, geschieden, 42, Deutschlehrer in Tokyo, liiert sei; nach ihren Lektionen in Tokyo warte er auf sie, und dann gehen sie zusammen in den Shinjuku-Park, um sich ein paar Stündchen zu herzen. Am 28. Mai, als sie zuletzt in Tokyo war, habe er sie, ihre Schwäche für süffigen Wein ausnutzend, in seine Wohnung eingeladen und dann geschickt die Zeit verzögert, bis es für ihren letzten Zug zu spät war. Zu ihrer Tante konnte sie nicht gehen, ohne ihr zu offenbaren, weshalb sie noch immer in Tokyo saß und nicht im Zug nach Sendai. So musste sie bei ihm übernachten, und das habe er einfach ausgenutzt.
Jordy war noch immer wie betäubt. In ihm brodelte und kochte eine Mixtur aus extremen Aufwallungen. Mitleid und Wut, Neid und Verliebtheit trugen so heftige Kämpfe aus in seiner Brust, dass es ihn schwer fiel, ruhigen Schrittes weiter zu gehen. Mal gewann überwältigendes Mitleid mit dem Mädchen, das so bedrückt neben ihm ging, die Oberhand, mal wilde Wut auf den Kerl, der ihr die strahlende Heiterkeit geraubt hatte; dann wieder brannte ihm der Neid auf den Burschen, der dieses süße Mädchen nicht nur geküsst, sondern auch im Bett umarmt hatte, fast ein Loch in die Seele. Endlich gewann das Mitleid die Oberhand, denn was mit Sumiko passierte, war ihm mittlerweile alles andere als gleichgültig. Es dauerte aber noch eine geraume Weile, bis er sich so weit einkriegte, dass er ihr antworten konnte.
"Sei nicht so traurig, Sumichan, früher oder später machen alle Mädchen diese Erfahrung. Es ist vielleicht beim ersten Mal nicht so schön, aber später wirst du sicher auch Freude daran haben. Wenn du ihn doch lieb hast, solltest du dir die Sache nicht so zu Herzen nehmen, ertrag es ihm zuliebe", brachte er schließlich hervor.
"Ich weiß nicht, ob ich ihn lieb habe."
"? ! ? ! ?"
Sie sagte, sie habe nicht im Traum gedacht, dass er ihr das antun würde, aber er habe nicht erst lange nach ihrer Einwilligung gefragt. Und sie habe sich nicht recht wehren können, denn wenn sie sich tagsüber küssen lässt und im Park mit ihm schmust, könne sie nicht auf einmal nein sagen, nachdem er sie eigens zum Wein eingeladen und ein Abendessen für sie aufgetischt hatte.
"Und weh
getan hat's . . ."
Schon versagte
ihr die Stimme, die Worte gingen in Schluchzen über, und Tränen
kullerten aus ihren sonst so lustigen Augen. Sie waren an der
Sperre angelangt. Jordy konnte das Kind nicht weinen sehen und
schloss sie einfach fest in die Arme, strich ihr übers Haar und
fand Worte des Trostes, die Mädchentränen bei ihm wohl
instinktiv auslösten und auf die er bei klarem Verstand niemals
gekommen wäre. Dabei hätte er selbst jede Menge Trost nötig
gehabt. Er wusste genau, dass er jetzt nicht mehr loskam von
diesem Mädchen, das schluchzend in seinen Armen lag und sich
jede Zärtlichkeit widerstandslos gefallen ließ.
Es war höchste Zeit, bis zur Abfahrt des letzten Zuges blieben nur noch wenige Minuten. Sie machte sich los.
"Danke, Jordy, für den wunderschönen Abend. Und danke auch, dass du mich so nett getröstet hast. Es geht schon wieder, ich muss fahren. Treffen wir uns irgendwann mal wieder ! Tschüs, und vielen, vielen Dank !"
Dann entschwand
sie winkend und sogar ein bisschen lächelnd auf der Rolltreppe
zum Bahnsteig.
Das war ein
Absturz aus beträchtlicher Höhe in eine verdammt tiefe
Schlucht, dieser erste Kobolz der Achterbahn ! Die ersten
Kapriolen sind stets die wildesten, und diese war wahrhaft
herzbrecherisch. Benommen fuhr Jordy nach Hause. Sein Herz war
wie durch die Mangel gedreht, die Seele steckte ihm wie ein
Knoten im Hals, und sein Puls trommelte ein wildes Staccato. Was
für ein Herz musste dieser Eberhard haben, sich über so ein
unerfahrenes Mädel gegen ihren Willen herzumachen und ihr etwas
anzutun, worüber sie zwei Wochen später noch bitterlich weint !
Wahrscheinlich war sie nur neugierig, vielleicht auch ein
bisschen einsam gewesen und hatte sich nach etwas Zärtlichkeit
gesehnt; das soll ja in bei Mädchen in Sumikos Alter nicht
selten vorkommen. Und sicher war sie mit einem oder zwei
Stündchen Parkbank pro Monat ganz zufrieden und glücklich
gewesen, ohne es auf intimere Fortsetzungen abgesehen zu haben.
Jordy wusste kaum, wie er nach Hause gekommen war; unaufhörlich wälzte sich diese Geschichte durch seinen Kopf und ließ keinen Raum für andere Gedanken; er lag die ganze Nacht über wach und grübelte über der Sache.
Dass Sumiko einen Freund hatte, war, nüchtern betrachtet, keine Überraschung, bei ihrem Charme und ihrer Zutraulichkeit. Aber diese Kombination von Vorzügen, die sie auszeichneten, war so selten und erfreulich, dass kein Mensch mit Verstand und Herz es fertig bringen konnte, dieses Kind zu betrüben. Gewiss, es ist wohl jedes Mannes Ziel, mit einem hübschen Mädchen zu schlafen, wobei er auch schon mal das letzte Zögern, das letzte gewisperte Nein überhört, und das ist auch nicht unbedingt falsch, wenn sie schon so weit gegangen ist, zu ihm ins Bett zu steigen. Bei Sumiko lag der Fall aber anders; sie hatte sich ja keineswegs freiwillig in Eberhards Bett begeben, sondern war einem gerissenen Trick auf den Leim gegangen, falls man ihrer Version glauben durfte. Sie hatte sicher darauf vertraut, dass der Kerl ihre Notlage nicht ausnutzen werde, und seine Küsse als echte Zuneigung angesehen. Ihre unbefangene Offenheit und ihre Reinheit, gerade das war es, was den größten Teil ihres Charmes ausmachte. So konnte kein Mädchen sein, das es darauf angelegt hatte, sich mit einem Lehrer ins Bett zu legen, und dass sie seine Zudringlichkeit nicht goutierte, das hätte der Bursche eigentlich merken sollen, aber ihm war wohl eine flotte Nummer wichtiger gewesen als Sumikos Gefühle. Sicher, auch Sumiko würde drüber wegkommen, es war ja keine große Katastrophe und kein Heiratshindernis heutzutage, was ihr da zugestoßen war, aber doch eine Wunde im Herzen, und manche Mädchen leiden mehr und länger daran als an einem Rippenbruch. Nach Jordys Ansicht hätte Sumiko allerdings einen liebevolleren Freund verdient, für den sie ihre Schmerzen gern ertrug, und keinen solchen Egomanen, der die Befriedigung seiner Triebe mit Liebe verwechselte. Jordy machte sich Vorwürfe, dass er nicht eher auf ein Treffen gedrängt hatte und sie damit vielleicht vor der Intrige des 28. Mai bewahrt und ihr die Tränen erspart hätte. Aber sie hatte sicher auf seinen letzten Brief eigens so spät geantwortet, weil sie im Mai schon mit Eberhard verabredet war, und der hatte sie wie immer nach dem Unterricht erwartet.
Jordy stellte
sich vor, Sumiko würde aus irgendwelchen Gründen die Nacht bei
ihm verbringen. Er war sicher, dass er sie nicht angerührt
hätte, wenn sie neben ihm gelegen, aber "bitte tu's
nicht" gesagt hätte. Dieses Mädchen könnte er nie im
Leben traurig machen. Und damit war er wieder zu dem Ergebnis
gekommen, zu dem er am liebsten kam: Für Sumiko gab es keinen
geeigneteren Liebsten als ihn, da war er ziemlich sicher.
Eigentlich war
ihre flüchtige Liaison jedoch hiermit zu Ende, denn sie hatte
einen festen Freund, mit dem sie nicht nur Händchen hielt,
sondern auch geschlafen hatte. Was blieb ihm da als der Rückzug,
ein bisschen Liebeskummer und ein paar nette Erinnerungen an die
sprühmuntere Sumiko vom Tsukumi-Seminar ?
Zweifellos hätte er sich damit abfinden können, aber ein Wort von ihr klang ihm noch im Ohr.
"Ich weiß nicht, ob ich ihn lieb habe", hatte sie gesagt. Und Jordy erlaubte sich, es kühn als "ich habe von dem Kerl genug" zu interpretieren.
Ihre Tränen brannten in seinem Herzen, und weil er ohnehin nicht schlafen konnte, schrieb er ihr in der Nacht einen langen, liebevollen Trostbrief.
Da hing Jordy nun drin, in einer merkwürdigen Geschichte, die über ihn hereingebrochen war wie eine Naturkatastrophe, gefesselt von zwei Grübchen und schelmisch blitzenden Augen, die er im Vorjahr noch glatt übersehen hatte, und böte, wenn Außenstehende etwas davon ahnten, mit seinen mehr als 40 Jahren eine arg lächerliche Figur. Doch selbst wenn er Sumiko für sich gewinnen könnte, was hätte er von einer solchen Beziehung ohne Zukunft ?
Aber für
solche Überlegungen war momentan kein Raum. Die Achterbahn
donnerte weiter, mit ungebrochen rasantem Schwung. Er konnte sich
nur gut festhalten und sich ansonsten seinem Schicksal anheim
stellen. Zum Aussteigen war es zu spät.