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Die Fahrt beginnt

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Jordy stand am Zugang zur Achterbahn. Dort, wo man einsteigt in den Wagen, der langsam an Höhe gewinnend zum Scheitelpunkt gezogen wird, dich dann aber mit donnerndem Karacho in tiefste Abgründe schleudert, in extreme Höhen katapultiert und durch die gewagtesten Loopings quirlt, und du bist ihm vollkommen
ausgeliefert, kannst weder bremsen noch die Fahrtrichtung ändern oder aussteigen, sondern musst mit Herzflattern, jagendem Puls und hechelndem Atem alle Schlenker mitfahren, bis die wilde Hatz über die letzten, niedrigen Hüppel bollert und dann allmählich ausrollt.

Sich auf so etwas einzulassen, mag ein Spaß für Gymnasiasten oder Studenten sein; allein der Gedanke daran kam Jordy schon abwegig vor. Schließlich hatte er die 40 schon überschritten und war als Dozent an der Akademie und verheirateter Mann längst etabliert. Na gut, man hört auch von 90-Jährigen, die Bungee springen. Das beweist aber lediglich, dass die Anzahl der begangenen Torheiten umso größer wird, je länger ein Leben dauert. Lass die Achterbahn fahren, die dort bereit steht, Jordy, und besinn dich auf dein Métier ! Das Seminarthema war schließlich rein wissenschaftlich gemeint. . . .


Die Abschlussbesprechung mit Preisverleihung für besonders engagierte Studenten war vorbei, Betten abziehen, Sachen packen, Mittagessen und Rückreise. Abschiednehmen ist immer traurig, und Sumiko war schließlich nur eine von vielen Studentinnen. Jordy würde sie ohnehin nie mehr wiedersehen, denn sie wohnte und studierte in Sendai, 460 km von Tokyo entfernt, und fuhr daher in der Gegenrichtung nach Hause. Bei Tageslicht erschien ihm seine gestrige Verliebtheit reichlich kindisch; je schneller er Sumiko vergäße, desto leichter würde ihm der Sinn werden.

"Jordy, komm, ein Abschiedsfoto zur Erinnerung !"

Mit der Kamera in der Hand kam Sumiko angeflitzt, noch im Seminarraum. Kaum erblickte er ihr strahlendes Gesicht, merkte er schon, dass alle guten Vorsätze wie weggeblasen waren. Ehe er sich's versah, hatte sie ihm den Arm um den Hals geschlungen, und an seiner Wange spürte er ihr Köpfchen. Er konnte nicht anders, er schloss sie in die Arme, als ob ein Lebewohl nach langer, gemeinsam verlebter Zeit bevorstände.

"Ciao, ciao, mach's gut, viel Glück. . . !"

Es war besser, es kurz zu machen. Aber Jordy schaffte es nicht. Sie hatte anscheinend Zauberkräfte, diese kleine Sumiko. So ein Hexlein.

Auf halbem Weg machte er kehrt und ging den Studenten entgegen, die gepäckbeladen aus dem Landheim quollen. Er merkte es kaum, dass ihm jemand aus Jux einen Schneeball ins Kreuz warf. In der Eingangshalle stand sie, als hätte sie ihn telepathisch zurückbeordert und da erwartet. Mochte Reiko auch neben ihr stehen und Andy scheel gucken, Jordy ging geradewegs auf sie zu, nahm sie in die Arme und spürte, dass auch sie ihn fest umschlang.


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Im Zug fielen ihm die Augen zu, nach zwei fast völlig durchwachten Nächten. Auf dem Heimweg fühlte er sich so leer, als hätte er irgendwelche wesentlichen Bestandteile seiner selbst in Tsukumi gelassen.

Sechs Tage währte dieser seltsame Zustand, abgemildert und verkürzt durch emsiges Schlaf-Nachholen und die Vorbereitung seines bevorstehenden Umzugs. Dann kam, schnell und unverhofft, ein Brief aus Sendai:

 

Lieber Jordy,

Wie geht es Dir ? Es geht mir sehr gut. Aber wir haben kaltes Wetter in Sendai und müssen auf die Kirschblüten noch warten. Während des Seminars konnte ich schöne Erinnerungen bekommen. Und Du? Der Wein, den ich (und Du auch ?!) bei der Party getrunken habe, hat sehr gut geschmeckt ! Ich kann den Wein nicht vergessen. Jetzt spiele ich fleißig Klavier, weil ich die Möglichkeit habe, auf der Bühne der Stadthalle in Sendai Klavier zu spielen, am 1. Mai. Ich liebe beides, Gesang und Klavier ! Das ist mein Problem ! Ende April will ich nach Tokyo kommen, denn ich habe einen Gesangsunterricht. So muss ich auch Gesang sehr fleißig üben ! Übrigens, ich lege ein Foto aus Tsukumi Dir bei. Das ist ein bisschen gefährlich. Nächstes Mal machen wir ein schöneres Photo !

Mit freundlichen Grüßen

Sumiko

 

Ihr Deutsch war genauso reizend wie sie selbst. Jordy sah sich das Foto lange an. "Gefährlich" war es sicher nicht, aber ihren Eltern oder Lehrern konnte sie es wohl nicht zeigen. So innig umschlungen mit einem ausländischen Lehrer. Ansonsten war er ganz einverstanden; "nächstes Mal", das klang gut, und ein noch schöneres Foto mit Sumiko...? Aber gerne ! Allerdings nicht in Tsukumi, denn Sumiko hatte ihr Studium abgeschlossen, und blieb sie auch im Magisterkurs noch zwei Jahre an der Uni, so wurden doch Doktoranden und angehende Magister zum Seminar in den Winterbergen von Tsukumi nicht zugelassen.

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Da wartete sie noch immer, die Achterbahn. "Steig ein, steig ein !"

Ach was, Blödsinn ! Ein netter Antwortbrief, und das wird es dann gewesen sein. Aber Jordy konnte es sich nicht verkneifen, der entzückenden Sängerin einen Heine-Vers beizulegen, von Schumann vertont, den sie sicher kannte und der gut auf sie passte:

 

blume

Du bist wie eine Blume,
So hold und schön und rein;
Ich schau dich an, und Wehmut
Schleicht mir ins Herz hinein.

d

Mir ist, als ob ich die Hände
Aufs Haupt dir legen sollt,
Betend, dass Gott dich erhalte
So rein und schön und hold.

 

Und wieder kam eine Antwort von ihr, nur wenig später. Ein Riesenfoto lag dem Brief bei, Sumiko im Postkartenformat, Fujicolor mattglanz, im Kimono, sorgsam frisiert, dezent geschminkt, ein rotes Schleifchen im schimmernden Haar und ein Strauß Plastikblumen auf dem Schoß: Sumiko im Look der Uni-Abschlussfeier, vom Fotografen auf die Platte gebannt. Und dem Profi war gelungen, was Amateure nie schaffen: Er hatte einen Teil ihres Charmes mit eingefangen, der jederzeit aus ihren leicht schräg gestellten Augen und ihren schelmischen Grübchen hervorblitzte.

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Auf die Rückseite hatte sie wie ein kleines Mädchen mit Buntstift einen blühenden Kirschbaum gemalt und dazu geschrieben:

Lieber Jordy,

Vielen Dank für Deinen schönen Brief. Ich habe mich sehr darüber gefreut. Ich glaube, dass ich nicht so hold und schön und rein bin wie das Lied. Aber in Zukunft möchte ich eine Frau wie im Lied werden.

Ich liebe "Myrten" von Schumann, und 'Du bist wie eine Blume' ist natürlich auch mein Lieblingslied. Ich will Gesang mit Passion und Fleiß studieren. Treffen wir uns später am Konservatorium !! hoffe ich. Ich will Dir einen Brief wieder schreiben.

Frühlingsgrüße mit Kirschblüten

Sumiko

 

In ein Stück Japanpapier gefaltet, lag eine getrocknete Kirschblüte aus ihrer Heimat bei. Ferner eine Freikarte für ihr Klavierkonzert in der Stadthalle von Sendai am 1. Mai.

Jordy hätte ihr gern gesagt, dass ihm ihr Brief eine beträchtliche Freude bereitet hatte. Aber es war besser, nicht zu feurig zu sein, das schickt sich nicht für einen Prof. Er ließ die sofort geschriebene, fertige Antwort noch ein paar Tage liegen und steckte sie erst zehn Tage später in den Briefkasten. Länger konnte er nicht warten, denn verliebt wie er war, fieberte er längst ihrer Antwort entgegen. Immerhin schien auch sie seine Briefe zu goutieren.

Jordys eigenes Leben verlief seit seinem Eintritt ins Berufsleben in so geordneten Bahnen, dass Urlaubsreisen beinahe die einzigen Ereignisse von Bedeutung waren. Aber auf eine 22-jährige Studentin kommen nahezu wöchentlich Entscheidungen zu, die ihr Leben verändern können. Soll sie sich um ein Weiterstudium am Konservatorium bemühen, ein Auslandsstudium anpeilen oder auf Stellensuche gehen ? Wird sie bei einem Konzert gescoutet und für das Sinfonieorchester von Sendai engagiert ? Oder von einem Typ mit schnellem Auto und großer Klappe angebaggert ? Jordy musste das Eisen schmieden, so lange es heiß war, obwohl er, objektiv besehen, noch weniger Anrecht auf ein Mädchen wie Sumiko hatte als jeder ledige Typ, egal ob mit oder ohne Auto, Bagger und Klappe. Aber für solche Überlegungen war Jordy derzeit nicht zu sprechen. Mitten im Semester konnte er freilich auch nicht nach Sendai fahren und sich Sumikos Konzert anhören. Seine Frau würde sich zu Recht fragen, ob er am Ausrasten sei. Bis Sendai fährt der Superexpress 3 Stunden, und das Rückfahrt-Ticket kostet rund 125 Euro.

Mit Vergnügen stellte Jordy sich vor, dass Sumiko die Freikarte womöglich in der Absicht mitgeschickt haben könnte, von ihm wieder eine Antwort zu bekommen und den Briefwechsel nicht abreißen zu lassen. Sicher rechnete sie nicht ernsthaft damit, dass er nach Sendai fahren würde, aber selbst ein Mensch, der keinerlei Interesse an ihr hätte, müsste sich, sofern er halbwegs wohlerzogen ist, zumindest für Foto und Einladung bedanken. Die Frage war nur, wie tief ihre Sympathie war. Und wie lange sie anhalten würde.

Jordy tat es ihr gleich, legte ebenfalls ein Foto bei und deutete an, dass er im Mai Geburtstag habe. Das dürfte ausreichen, meinte er, um ihre baldige Antwort sicherzustellen.

In der Tat, es wirkte. Es kam eine nette Geburtstagskarte, in ein Päckchen gelegt, aus dem ihm eine Kassette entgegenpurzelte. Auf der Karte stand:

 

Lieber Jordy,

ALLES GUTE ZUM GEBURTSTAG

im wunderschönen Monat Mai !

Vielen Dank für Deinen schönen Brief und das Foto. Du warst schön. Ich habe mit Lächeln den Brief gelesen. Ich schicke Dir ein kleines Geschenk --- eine Kassette. Im November habe ich beim Studentenkonzert gesungen. Ich habe 4 Lieder aus 'Myrten' gesungen, aber leider nicht 'Du bist wie eine Blume'. Ich hoffe, Du wirst nicht krank davon, wenn Du die Kassette hörst !

Alles Gute,

Sumiko herz

Neben die Unterschrift hatte sie ein pfenniggroßes, rosarotes Herz geklebt. Das war eine Überraschung ! Dass er ihr sympathisch war, wusste Jordy durchaus, aber dass er ein rosarotes Studentinnenherzchen gerührt hätte, das kam ihm eher unglaublich vor. Wie sollte er das denn verstehen ? Sie will doch nicht etwa.....?

In diesem Jahr könnte es, dachte er erfreut, wahrhaftig ein wunderschöner Monat Mai werden. Auch die weiteren Aussichten standen auf heiter: Der Umzug war bewerkstelligt, und seine Frau packte die Koffer; ab Mitte Mai musste sie, bis in den Herbst hinein, in Amerika tätig sein. Dann wäre Jordy Strohwitwer und müsste zusehen, dass ihm die Zeit nicht lang würde. Ein treffliches Gegenmittel wusste er sich schon, er musste es nur geschickt an Land ziehen.

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Knapp zwei Wochen schaffte er es diesmal, die Antwort liegen zu lassen, um seriös zu wirken und Sumiko ein bisschen auf die Folter zu spannen, dann ging die Post ab, ein richtiges Paket mit Lehrmaterial für Sänger, das er übrig hatte und das sie vielleicht gut gebrauchen konnte. So spielte er ihr wieder einen Grund zu, bald zu antworten. Und er fragte diesmal an, ob sie wieder mal nach Tokyo komme und Lust auf ein Wiedersehen habe. Er würde sie zu einem Abendessen und gutem Wein in ein schickes Restaurant einladen. Als Strohwitwer besaß er ja nun reichhaltige Möglichkeiten !

Doch jetzt imitierte sie anscheinend seine Verzögerungstaktik. Der Mai wurde ihm arg lang, denn von Sumiko kam kein Lebenszeichen. Es war Juni, als der ersehnte Brief im Kasten lag:

Lieber Jordy,

Der frische Sommerwind kommt nach Sendai. Wie geht es Dir ? Es geht mir sehr gut. Vielen + vielen Dank für Deinen schönen Brief und die 3 Kassetten und den Text. Ich habe leider noch nicht alle Kassetten gehört, aber ich will sehr fleißig Deutsch und deutsche Aussprache lernen. Ich bin schon am 28. Mai zum Unterricht nach Tokyo gekommen. Am 18./19. Juni komme ich wieder nach Tokyo. Am 18. habe ich Gesangunterricht und am nächsten Tag geben wir für die Lehrerin eine Party, denn im letzten Jahr hat sie einen Kultur-Orden erhalten. Ich will natürlich zur Party gehen und ich möchte ihr viel Glück wünschen.

Hast Du Zeit am 18. oder 19. ? Mein Unterricht ist ungefähr um 17:30 fertig, und danach bin ich frei. Am 18. Abend will ich bei einer Freundin übernachten. Am 19. ist die Party um 14:30 fertig. Wenn Du Zeit hast, bitte rufe mich an oder schreib mir !!

Mit lieben Grüßen

Sumiko

P.S. Meine Telefonnummer ist..... Übrigens will ich im Oktober Wien besuchen. Was ich in Wien mache ? Das ist Quiz bis zu unserem Treffen ! Aber nur 2 Wochen will ich in Wien bleiben.

 

Ohne es selbst zu merken, war Jordy eingestiegen in die startbereite Achterbahn. Und mit dem Erhalt dieses Briefes, in dem Sumiko in sein Angebot eines Wiedersehens einwilligte, war die Bahn losgefahren und tuckerte nun langsam, aber unaufhaltsam aufwärts, ohne Bremse, ohne Möglichkeit, noch auszusteigen, und er hatte keine Vorstellung davon, welche Höhen, Tiefen und Kapriolen ihn nun erwarteten. Aber selbst wenn er es im Voraus geahnt hätte, wäre er wohl trotzdem eingestiegen, und wenn es eine zweite Fahrt gäbe, wäre er wohl töricht genug, gleich wieder einzusteigen.

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Die lange Verzögerung ihrer Antwort erklärte er sich damit, dass sie wohl abgewartet habe, bis sich ein passender Termin für ihr Treffen ergäbe; den wirklichen, tieferen Grund erfuhr er erst später.

 

WEITER GEHT'S ABSPRINGEN !