Ehret die Frauen !   Sie flechten und weben
Himmlische Dornen ins männliche Leben....

 

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Provenzalischer  Rotwein  

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Wie heftiger Regen prasselte es vom Fenster her und trieb Jordy noch vor dem Schrillen des Weckers aus dem Bett, obwohl er nur wenige Stunden geschlafen hatte. Die Frühlingssonne am makellos blauen Himmel machte den Eiszapfen am Dachkendel offenbar mächtig zu schaffen, und der gestern erst auf den verharschten Firn gefallene Neuschnee reflektierte das Morgenlicht, das hell durchs Zimmer flutete. Doch nicht allein Morgenhelle und tropfend tauendes Eis waren es, die ihn um seinen kurzen Schlaf brachten: Seit dem Vorabend steckte ihm ein Dorn im Herzen, und er wusste nicht, ob und wie er ihn je wieder herausbekäme.

Tief im stillen japanischen Winterbergwald, am Rande des Tama-Nationalparks, in einer Gemarkung namens Tsukumi, wo die asphaltierte Straße während der Wintermonate in einer mächtigen Schneewehe endet, duckt sich ein grauer, unscheinbarer Betonkasten an den Hang, das Schullandheim der Nanigashira-Universität. Alljährlich finden sich dort gut hundert Student/inn/en verschiedener Universitäten ein, die ihrem Studienfach Deutsch so unrettbar verfallen sind, dass sie eigens Geld dafür ausgeben, um auch in den Ferien noch unterrichtet zu werden. Der Enthusiasmus der Lehrer ist nicht minder bewundernswert, denn für ein schmales Taschengeld opfern sie ihre Freizeit, unterrichten und betreuen die Studiker rund um die Uhr. Fünf Tage lang gibt es aus dieser Studienfestung kaum ein Entrinnen, denn ringsum ist nichts als verschneiter Wald und weiße Wildnis: Bis zum nächsten Ort sind es knapp 20 Kilometer.

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Die Studenten sind in kleinen, an Jugendherbergen erinnernden Stübchen untergebracht, die jeweils drei oder vier Doppelstockbetten enthalten. Die Profs haben es etwas komfortabler, auf den Mattenboden passen nur zwei bis drei Futon-Betten. Aus dem Deckenberg neben Jordy tönten regelmäßige Schnarchlaute: Auch Andy kroch selten vor drei Uhr morgens unter die Decke.

Das Thema des Seminars lautete in diesem Jahr "Jugend und Liebe", eine Devise, die unter der Studentenschaft leicht zu empirischen Experimenten animieren könnte, denn die knapp 20 männlichen Studiosi hätten bei Bedarf aus einer gut vierfachen Anzahl von Teilnehmerinnen auswählen können. Auch die Klasse, die Jordy am Vortag unterrichtet hatte, war eine reine Mädchenklasse, und weil es sich für ein Ferien-Seminar gehört, etwas Originelleres zu bieten als den alltäglichen Gähn-Unterricht, hatte er das Thema mit Beispielen aus der klassischen Musik garniert, was von Studentenseite gemeinhin mit mehr Wohlwollen aufgenommen wird als Übungen zum korrekten Gebrauch des Konjunktivs.

Nach dem Abendessen stehen noch Diskussion, Filme oder Sprachspiele auf der Tagesordnung, bevor ab 21 Uhr die Pflicht endgültig vorbei und Nachtruhe angesagt ist. Das bedeutet freilich nicht, dass irgend jemand um 9 ins Bett ginge. In einem leeren Seminarraum warten niedrige Tischlein auf dem Mattenboden, beladen mit Obst, Knusperlis und Getränken, und es dauert nicht allzu lang, bis sich das Zimmer in einen zum Bersten vollen Gaudeamus-Raum verwandelt, dessen Plauderbrandung noch bis weit nach Mitternacht durch die dünnen Wände schallt. Andy, der alte Playboy, saß meist mittendrin in dieser internationalen klassenlosen Gesellschaft aus Profs und Gaststudenten, Anfängern und Doktorandinnen, Hiwis und Tutoren, Schweizern und Yokohamanerinnen, und erlegte reihenweise junge Studentinnenherzen, aber in Anbetracht des diesjährigen Themas hatte es seine Frau offenbar für klüger gehalten, als Kollegin mit teilzunehmen.

Gegen Mitternacht mag es gewesen sein, da tippte jemand Jordy von hinten auf die Schulter: Eine Studentin aus der Klasse vom Morgenunterricht ließ sich neben ihm nieder, ihr leeres Glas in der Hand.

"Ich trinke sehr gern Wein", grinste sie schalkhaft, denn sie hatte wohl bemerkt, dass Jordy die letzte Flasche hütete wie der Lindwurm den Nibelungenhort. Vielleicht war ja der Wein daran schuld, dass sie so frisch drauflos plauderte, als seien sie alte Bekannte. Sie erzählte ihm, dass sie Musikpädagogik, Klavier und Gesang studiere und von seinem musikalischen Beitrag im Morgenunterricht angenehm überrascht worden sei.

'Daher rührt also ihr besonderes Interesse, mit dem sie sich heute Morgen so eifrig am Unterricht beteiligt hat', dachte Jordy und ahnte schon, worauf sie hinauswollte, denn er war Dozent am Konservatorium in Tokyo. Und in der Tat, seine Ahnung trog nicht:

"Jordy, ich würde gern am Konservatorium in Tokyo Gesang weiterstudieren und eine professionelle Sängerin werden, das ist mein Traum !" schwärmte sie, und während Jordy lehrerhaft nichtssagend murmelte "ja, ja, wenn du nach Tokyo kommst, werd ich dich gern betreuen", dachte er bei sich: 'Nanu, was ist denn in die Kleine gefahren, dass sie mich so einfach anduzt, einen Prof und Ausländer, doppelt so alt wie sie !'

Nicht dass er ihr das übel genommen hätte, aber in Japan war eigentlich noch immer das "Gestatten Sie bitte, Herr Professor..." üblich, auch nach zwei Gläschen Wein. Sumiko hieß sie, studierte in Sendai, war 22 Jahre jung und hatte zwei seltsam asymmetrische Grübchen. Ihre unbekümmerte Zutraulichkeit war jedoch so charmant, dass Jordy beim Plaudern die Zeit nicht lang wurde, während sie mit ihrem langen schwarzen Haar, ihren lustigen Grübchen und schalkblitzenden schmalen Augen neben ihm saß. Vom Rotwein beflügelt, sagte er, dass er sie ganz reizend finde, und ohne auf japanische Art verschämt den Blick zu senken, lachte sie nur kurz und sagte dann in der Musikersprache Italienisch "oh, grazie !"

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Da traf Jordys Blick zufällig auf Andys dunkle Augen, der ihn von schräg gegenüber fixierte, wo er das Gespräch gewiss mitbekommen hatte. Jordy hatte ihn in eine anregende Konversation vertieft gewähnt, weil seine Frau schon zu Bett gegangen war, aber ihn schien die muntere Sumiko beträchtlich zu interessieren. Andy, der alte Nimmersatt, wollte Jordy anscheinend nicht einmal einen kleinen Flirt gönnen....

Eine andere Studentin machte Anstalten, sich zu Sumiko zu setzen.

"Reiko, du Quälgeist, verschwinde !" warf Sumiko ihr an den Kopf, und lachend machte sich die andere davon.

"Das ist meine beste Freundin", erklärte Sumiko lächelnd, aber nach inniger Freundschaft hatte das eben nicht gerade geklungen.

"Ja, jedesmal wenn sie mich im Bad trifft, ärgert sie mich, dieses Biest. Sonst ist sie wirklich ganz nett, aber im Bad neckt sie mich immer: 'Sumiko, bist du wirklich eine Frau ? Du hast ja gar keine Brüste, du könntest glatt ins Männerbad gehen !' Oder sie hänselt mich: 'Sumichan, du musst dranschreiben, wo bei dir vorne und wo hinten ist !' Und dann zwickt sie mich in die Brust und lacht sich kaputt, nur weil sie einen dickeren Busen hat als ich. Aber das ist eine freche Übertreibung. Ich bin zwar nicht üppig gebaut, aber doch ganz weiblich geformt, meinst du nicht auch ?"

Sie warf sich in die Brust und reckte Jordy ihren zarten Busen entgegen. Reiko hatte zweifellos übertrieben.

"Soll ich mich etwa handgreiflich vergewissern ?" frotzelte er.

"Du willst doch nicht etwa auch noch sagen, bei mir sei überhaupt nichts zu sehen ?"

"Ach, so jung wie du bist, da mach dir mal keine Sorgen. Wenn du einen Freund findest, der mit deiner Brust zärtlicher umgeht als die Reiko, kann da noch viel draus werden; außerdem bist du einfach zierlicher gewachsen."

"Aber ich will Sängerin werden, in einem schönen Kleid auf der Bühne stehen. So wie die Opernsängerinnen in Europa. Die haben alle stattliche Dekolletés. Ein bisschen mehr könnte schon drin sein, findest du nicht ?"

In ihrer reizenden Unschuld erzählte sie, ohne rot zu werden, im noch immer vollen Freizeit-Raum von ihrer Mädchenbrust und schien sich auch nicht daran zu stören, dass die ringsumher Sitzenden vergnügt grinsten und Andy etwas näher rückte und seine Öhrchen wie ein Wachhund voll auf Empfang stellte.

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Das erste, was Jordy heute beim Erwachen in den Sinn kam, war Sumikos heiteres Gesicht, und er war froh, dass das Seminar noch nicht zu Ende war und er ihr unbekümmertes Lachen noch öfter erleben konnte. Er hatte immer viel Spaß mit lustigen Flirts, und selten hatte ihm ein Mädchen bisher so charmant zu antworten gewusst. Als sie ihm nach dem Frühstück in einer Gruppe schwatzender Studentinnen auf der Treppe entgegenkam, zwinkerte er ihr zu und sagte:

"Ciao, bella !"

"Ciao, bello !" kam es umgehend zurück.

"Wer hat dir das denn beigebracht ?"

"Andy natürlich, der ist doch aus dem Tessin und spricht fließend Italienisch. Der hat auch ein paar Bemerkungen gemacht über unser Gespräch gestern Abend !"

Lachend wirbelte sie vorüber, ihren Freundinnen nach. Es war also doch nicht der Wein gewesen, der sie gestern abend so aufgedreht hatte. Sie war augenscheinlich ein Naturtalent mit angeborenem Champagner-Prickeln. Nicht dass sie eine auffallende Schönheit gewesen wäre. Hübsch war sie sicherlich, aber ihr spezielles Kennzeichen war der funkelnde Charme, der aus ihren schmalen, leicht schräg gestellten Augen sprühte und aus ihren kecken Grübchen lachte.

Der letzte Unterrichtstag endete mit einer großen Abschlussparty. Da spendieren die Organisatoren ein so üppiges Festbuffet, dass sich die Tische biegen, als kleine Geste der Abbitte für vier Tage Schullandheim-Kost, und die Studenten stellen in eigener Regie ein gewaltiges Programm für den bunten Abend auf die Beine, ohne Zweifel der Höhepunkt des Seminars. Während die Studiosi noch Kostüme bastelten, Sketches probten und Rollen auswendig lernten, richteten die Profs im Bibliotheksraum die Köstlichkeiten für das Buffet her. Der Bibliotheksraum war dafür einzigartig geeignet: Er war erstens der größte Saal im Hause, und zweitens war er vollkommen leer, bis auf ein altes Klavier und ein sehr schmales Regal an der Wand, auf welchem der Gesamtbestand von 41 leibhaftigen Büchern ruhte. Einige Lehrer verteilten die Pappteller auf die Tische, andere das Sushi, Salate, Käse, Säfte und Plastikbesteck. Jordy war auf der Terrasse damit beschäftigt, die Bierflaschen aus den Schneewehen zu polken, in denen sie kaltgestellt waren, und anschließend musste der Wein hereingeholt und entkorkt werden. Mit dem primitiven Drill ploppte er ungerührt Korken um Korken raus wie ein gelernter Sommelier und hatte nach den ersten 30 Flaschen schon ein knappes Drittel der Arbeit hinter sich, als zwischen den zuschauenden und mithelfenden Studenten auf einmal Sumiko auftauchte, ihm eine Weile zusah und dann fragte, welchen Wein er ihr empfehlen könne. Hm, da haben wir italienischen Frascati, französischen Bordeaux, spanischen Rioja, Mosel-Ruwer-Saar-Riesling und provenzalischen Landwein.

"Sumiko, wenn du heute eine lange Nacht vor dir hast und morgen trotzdem einen klaren Kopf haben willst, solltest du den Côtes de Provence anpeilen", riet er ihr, "der ist leicht und ehrlich. Aber komm, schnapp dir 'nen Becher, wir machen in dem Trubel einfach mal eine kleine Weinprobe !"

Mit ihrem schalkhaften Lächeln schnupperte und schlürfte sie an allen Rebsäften, die er entploppte und dann in ihren Plastikpokal träufelte.

"Du, jetzt reicht's aber ! Ich habe bei der Party noch einen Auftritt vor mir und darf nicht beschwipst sein. Aber du hast Recht, der Landwein ist am besten." Sie schien wirklich eine große Weinfreundin zu sein.

"Einen Auftritt ? Du willst wohl gar Arien singen ?"

"Warte's schön ab, Jordy, du wirst es noch früh genug erleben !" zwitscherte sie lachend und sauste davon.

Sie würde sicher nachher was singen. Jordy wollte sich mal anhören, wie gut sie war. In die Akademie in Tokyo kommen keine Amateure rein. Er hatte am Nachmittag, nach dem letzten Unterricht, zufällig gesehen, wie sie mit einer Kommilitonin, die das arg verstimmte Klavier traktierte, etwas einstudierte.

"Zum Wohl ! Prosit ! Kanpai !"

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Der Sturm aufs kalte Buffet hatte begonnen, die Gläser klirrten. In Nippon ist es Brauch, dass jeder dem anderen einschenkt, und dauernd kamen nette Jungs und Mädels herbei, um mit Jordy anzustoßen; er konnte gar nicht so schnell trinken wie nachgegossen wurde. Natürlich kam auch Sumiko mit ihrem Plastikbecher in der Hand.

"Zum Wohl ! Ich trinke nur den empfohlenen Landwein. Aber ich darf noch nicht viel trinken. Erst nach meinem Auftritt. Ich proste dir zu, aber das ist vorläufig der letzte Schluck !"

"Standhaft, standhaft. Und der Rest im Becher ?"

"Gestern Abend habe ich dir den Wein weggetrunken, da gebe ich dir's jetzt zurück. Du trinkst es doch für mich mit aus, gelt ?"

Sie drückte Jordy ihren Plastikkelch in die Hand und schwirrte davon.

'Also, Ideen haben diese Kids !' seufzte er grinsend.

Der bunte Abend war lustig wie immer. Die Studenten zogen ihre Lehrer durch den Kakao, die Profs blödelten wie Primaner, Chöre sangen, Instrumente klangen, jeder war bei irgend einer Nummer mit dabei. Dann trat Sumiko auf. Jordy traute seinen Augen nicht. In ein elegantes Abendkleid gewandet, ihr langes, schwarzes Haar kunstvoll aufgewunden und mit Bändern geziert, mit Augentusche, dezentem Rouge, Lippenstift und zaghaftem Dekolleté als Primadonna verkleidet, trat sie vor die angeheitert lärmende Rasselbande und sang zwei Schumann-Lieder. Sicher nicht vollkommen perfekt, aber ihr Charme bezauberte das Publikum.

"Brava, brava, da capo !" johlte es durch den Beifallssturm, aber Zugaben waren nicht einstudiert, und das Programm ging weiter.

Jordy hatte gar nicht bemerkt, dass Sumiko schon voriges Jahr beim gleichen Seminar mit dabei gewesen war. Da war sie ihm nicht aufgefallen, und gesungen hatte sie auch nicht. Sie sah nicht attraktiver aus als andere Studentinnen auch und entfaltete ihre Vorzüge erst im persönlichen Gespräch, aber dann war es beinahe unmöglich, nicht von ihr eingenommen zu werden.


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Sumiko, die nun zum zweiten Mal teilnahm, wusste schon, was für eine Party am Ende steigt. So hatte sie eigens ihre Bühnenrobe mit eingepackt. Auch in Jeans und ohne Lippenstift hatte sie Jordy gut gefallen; er hatte sich auf Anhieb gut mit ihr verstanden und sich beim Plaudern mit ihr nie gelangweilt. Aber schon wenn er mittelmäßige Mädchen auf der Bühne stehen sah und singen hörte, war sein Herz oft in Feuergefahr. War ihm Sumiko bisher nur sympathisch gewesen, so schwante ihm nun, dass er womöglich dem Seminar-Thema auf den Leim gegangen war, obwohl er sich wahrhaftig nicht mehr der Jugend zurechnen konnte. Er mochte es sich kaum eingestehen, aber an diesem Abend wäre es ihm am liebsten gewesen, diese kleine Primadonna möglichst lange in seiner Nähe zu haben. Das war freilich nicht einfach, es sei denn, sie käme von selbst her. Als Prof konnte man zwar ein bisschen flirten, aber nicht den Studentinnen nachlaufen. Und als verheirateter Mann mittleren Alters hatte er ohnehin kein Recht, bei jungen Mädels auf Eroberungszug zu gehen. Fatal wäre es auch, ihre natürliche Zutraulichkeit und Sympathie falsch zu verstehen und sie womöglich durch Aufdringlichkeit zu verprellen. Sie hatte sicher noch mehr und interessantere Freunde und dachte nicht gerade die ganze Zeit nur an Jordy. Außerdem äugte Andy immer wieder herüber, denn für delikate Angelegenheiten hatte er eine feine Antenne und war überdies der Ansicht, dass alles, was über reine Sympathie hinausging, vor allem ihm zustehe.

Sumiko huschte hierhin und dorthin und sonnte sich in ihrem frischen Ruhm als Bühnen-Starlet. Jordy hockte mit seinen zwei Rotweinbechern unter den Studenten und nahm zerstreut an der Konversation teil. Wenn irgend jemand allzu intensiv auf ihn einquasselte, wechselte er mit einer Ausrede den Platz. Er musste auch immer darauf achten, dass mindestens ein Sitz neben ihm frei blieb, für den Fall, dass es Sumiko einfallen sollte, sich bei ihm niederzulassen. Reiko stand allein an der Wandseite, offensichtlich gerade gelangweilt. Jordy schob sich neben sie und wechselte mit ihr ein paar Worte in der Hoffnung, dass sich auch Sumiko zu den beiden Personen gesellen könnte, mit denen sie sich angefreundet hatte, aber sie war in einer anderen Ecke mit einem ganzen Schwarm von Leuten ins Gespräch vertieft, und Reiko ließ Jordy ein auffälliges Desinteresse spüren. Dass sie, genau wie er, auf eine andere, bestimmte Person wartete, erfuhr Jordy erst später.

Nach dem Ende des Abendprogramms ging im Bibliotheksraum das Licht bis auf die Notbeleuchtung aus, und eiszapfenerschütternder Disco-Sound verscheuchte alle, denen ihr Trommelfell lieb war. Im dimmen Licht verrenkten sich die ersten Pärchen, und eine erkleckliche Anzahl unbemannter Studentinnen auch solo, da die meisten der ohnehin zu wenigen Jungs wahre Tanzmuffel waren. Sumiko hatte Jordy aus den Augen verloren, weil drei Mädels ihn mit sanfter Gewalt in die Dunkelkammer zerrten, aber dann nichts Besseres mit ihm anzufangen wussten als vor seiner Nase wilde Veitstänze zu vollführen, als seien sie von der Tarantel gebissen oder bei einem Voodoo-Meister in die Lehre gegangen. Ihm war schleierhaft, weshalb sie dafür männliche Partner benötigten.

Weit nach Mitternacht war es, im Freizeit-Raum, als Jordy zu Vorträgen über die geplante Curriculum-Reform gähnte, die ihm ein japanischer Kollege ins auf Durchzug gestellte Ohr blies, während vor ihm drei Jungs Karten kloppten; da hörte er das bekannte "ciao, ciao !" hinter sich, und da stand sie wieder mit ihrem Schalk-Gesicht und hielt ihm ihren leeren Becher vor die Nase.

"Nur wenn du Wein suchst, kommst du zu mir, was ?"

"Aber sicher, für wen sonst hütest du die letzte Flasche ?"

"Du bist aber gut im Raten ! Leider weiß ich keinen anderen Trick, um dich mal zu mir herzuzaubern."

"Du hättest ja auch zu mir kommen können. Wenn du Wein mitbringst, hätte ich dich gewiss nicht abgewiesen."

"Du glaubst doch nicht, dass ich dir den Wein auch noch hinterhertrage ?"

"Das würde ich als ein Zeichen wahrer Freundschaft ansehen ! --- Und, wie war ich bei der Party ?"

"Entzückend !"

Das Wort kannte sie nicht, das hatte ihr anscheinend noch niemand gesagt.

"Warte, warte, das muss ich mir aufschreiben. Buchstabier mal !"

"Das brauchst du dir nicht aufzuschreiben, das wirst du noch oft von mir hören. Es passt hervorragend zu dir !"

"So ? Morgen ist das Seminar zu Ende. Oder vielmehr heute, denn die Nacht ist ja schon halb vorbei. Wie willst du mir das dann oft sagen ? Außerdem weiß ich gar nicht, was 'entzückend' bedeutet. Wehe dir, wenn du mich anpflaumst !"

Sie lief, ihr Wörterbuch zu holen. Und als sie die Bedeutung nachgeschlagen hatte, sah sie Jordy einen Augenblick wortlos an aus ihren schmalen Augen. Nur ihre Grübchen lächelten. Was mochte in ihrem Kopf vorgehen ?

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Sie wechselte das Thema und erzählte von Sendai, ihren Lehrern und ihrer Musikausbildung. Wahrscheinlich hielt sie Jordy für einen Musik-Experten. Reiko kam und sagte:

"Sumichan, ich geh jetzt ins Bad, ich bin müde. Kommst du nicht auch ?"

"Das täte dir so passen ! Ich gehe erst, wenn du mit Baden fertig bist. Du willst nur wieder meinen weiblichen Stolz kränken. Zwick dich doch in die eigene Brust !"

"Du hast wohl interessantere Gesellschaft, was ? Na, dann vergnüg dich mal schön !" Sie zog ab, mit angedeuteten Schmollwinkeln im grinsenden Gesicht.

"Sie scheint eifersüchtig zu sein, wenn du mit Deutschen zusammenhockst."

"Nein, das glaube ich nicht, die mag japanische Männer, Deutsche interessieren sie wenig. Sie sagt, mit Deutschen ist die Unterhaltung schwierig, und feine Zwischentöne kommen nicht rüber. Und außerdem, dir kann ich es ja sagen, hat sie schon länger eine heimliche Liaison mit einem deiner jungen japanischen Kollegen. Die ist nicht eifersüchtig, sondern braucht nur Anerkennung, wie gut sie gebaut ist."

"Gut gebaut ? Kunststück, in ihrem Alter !"

"Nein, sie ist wirklich gut drauf. Schau mal, sie hat lange Beine, und ich ? Sie ist schlank und smart, und ich ? Sie hat einen Busen wie ein Model, und ich ?"

"Na, nun übertreib mal nicht ! Du hast wohl einen Komplex ? Du bist doch wahrhaftig nicht zu klein geraten, und pummelig bist du auch nicht. Und deine Brust, na ja, die kann ich leider nicht näher beurteilen. . . Aber eines hast du ihr mit Sicherheit voraus."

" ? ? ? "

"Du bist entzückend."

Jetzt schien es ihr zu gefallen.

"Entzückend, entzückend", zwitscherte sie, "ich glaube, das werde ich nicht mehr vergessen. Und es wird mich immer an dich erinnern, wenn ich es irgendwo höre."

"Das ist auch das einzige Andenken, das ich dir mitgeben kann, wenn du nach Sendai zurückfährst, Sumiko."

Jordy hätte mit ihr die ganze Nacht durchplaudern können. Ihr aber fielen die weinschweren Lider allmählich zu, denn das Morgengrauen konnte nicht mehr allzu fern sein. Einige Studenten machten die Nacht bis zum Morgen durch, und auch Jordy hatte schon manches Mal, wenn ihm ein nettes Mädel Gesellschaft leistete, in Tsukumi die Sonne aufgehen sehen und das Bett unberührt gelassen. Nachdem sich Sumiko aber verabschiedet hatte, ging er auch ins Bad; kurze Zeit später traf Andy dort ein.

"Na, machst du nicht durch bis zum Morgen ?"

"Nee, Andy, es reicht, ich bin todmüde. Mich haben sie in die Disco geschleppt, das schlaucht."

"Jaja, Disco ist nichts für Leute in unserem Alter. Aber beim Flirten scheinst du es mit den jungen Burschen allemal aufnehmen zu wollen."

"Tja, ich muss in diesem Jahr doch deinen Part miterledigen, scheint mir."

"Welch rührende Fürsorge !"

Wer weiß, aus welchem Winkel er Jordy beobachtet hatte. Dieser hatte, seit Sumiko zu ihm gekommen war, alles andere um sich herum vergessen. Nach ihrem Weggang hätte er nicht weiter dahocken und mit irgendwelchen Langweilern labern können. Lieber legte er sich ins Bett und träumte von ihr. Er sah ihr Gesicht vor sich, in dem er eine neue Attraktion entdeckt hatte: Die beiden oberen, beim Lachen naseweis hervorlugenden Mittelzähnchen, die zusammen mit den Grübchen diesem süßen Mädchengesicht den letzten Schliff gaben. Er stellte sich vor, wie herrlich es sein müsste, diesen Mund zu küssen, das lange Haar zu streicheln --- und das Geheimnis ihrer jungen Brust zu erkunden, auf die sie ihn mit beträchtlichem Eifer neugierig gemacht hatte.

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