Venezuela 4

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Leider gibt es oben auf dem Plateau des Roraima weder einen Supermarkt noch einen McDonald's. Erstaunlicherweise bekommt man da nicht einmal Ersatz für leergesoffene Cola-Flaschen in der 2-Liter Familienbottel, die sonst in keiner Urwaldhütte fehlt. Vermutlich importiert Venezuela für jeden exportierten Liter Erdöl zehn Liter Cola. Also, wenn der Venezolaner in eine solche Not gerät, dass er Wasser trinken muss, eventuell mit Milch- und Kakaopulver zu einem heißen Powerdrink aufgepeppt, dann gilt es, den Heimweg anzutreten.

Auch heute ist uns der Morgenhimmel hold, der einstündige Spaziergang bis zum Abstieg in die weit unter uns wartende Savanne führt uns noch einmal alle Wunder der Tepuy-Welt vor Augen.

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Nein, kein Polarlicht, so kalt war's auch wieder nicht !


Vor dem Abstieg noch eine kleine Rast, das Gepäck wird noch einmal festgezurrt, und dann geht's wieder die Geröllhalde hinab, und wenn du meinst, bergrunter sei einfacher und bequemer als bergauf, dann zeigt das nur, dass du ein entsetzliches Greenhorn bist. Zumindest die knackenden Kniegelenke, Fußgelenke und Waden sind jedenfalls anderer Meinung, denn bei jedem Schritt drücken Körpergewicht und Rucksack auf deine Knorpel, und wer bisher noch ohne Bandscheibenschaden durchs Leben hüpft, kann ihn sich am Roraima kostengünstig besorgen. Du siehst, das ist nichts für uns Methusaleme, und wenn wir so flott zu Tal gejauchzt wären wie die jungen Spunde um uns herum, könntest du den Frank jetzt im Hospital von Caracas besuchen. Also schön artig Bein vor Bein gesetzt, so kommen wir auch runter, und als wir das Camp am Fuß des Plateaus erreichten, war es gerade Zeit fürs Mittagessen und den ersten Nachmittagsschauer.

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... und hinter der Biegung wieder unter den Wasserfällen durch


Und als es zu jucken begann, entsannen wir uns unsrer lieben, beinahe vergessenen Fans aus der Savanne, der treuen und anhänglichen Puripuri, die unsere Rückkehr freudig begrüßten.

"Hier ist nicht gut sein", sprach Moses, und da wir den Weg schon kannten, ließen wir unsere Indígenos, die wie immer alle Abfälle ordentlich einsammelten und das Geschirr spülten, zurück und marschierten tapfer weiter, um noch vor Einbruch der Dunkelheit das nächste Camp zu erreichen und die beiden Flüsse zu bewältigen. Zur Kühlung heißgelaufener Füße eignen sich diese Furten vorzüglich, und wir ließen Schuhe und Socken an, denn erstens ist das Camp schon in Sicht, und zweitens sind die neuen, in Carúpano erworbenen Treter nach einer Woche Roraima bereits am Ende ihrer Lebenserwartung, es reicht, wenn sie noch bis Sta. Elena halten.

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Hier geht's durch: Furt des Rio Tek


Das Camp liegt keineswegs an einer Landstraße, und über einen Heliport verfügt es auch nicht, und trotzdem gibt es in einer Hütte am Rand Bier zu kaufen. Und natürlich Cola. Man sieht, die Zivilisation ist nah. Um ein paar Greenbacks zu kassieren, schleppen demnach irgendwelche hier ansässige Pemón-Jungs dieses Gesöff bis in diese Einöde, und die leeren Büchsen und Botteln hinterher hoffentlich auch wieder zurück, denn wir befinden uns noch immer in einem Nationalpark. Ja, und die ausgedörrten Gringos zahlen ohne Murren den Preis für das teuerste Bier Lateinamerikas, so funktionieren Angebot und Nachfrage und der Monopolkapitalismus.

Noch einen Tag... Ein letzter Blick auf den Roraima und den benachbarten Kukenan, der sich fotogen mit einem Wolkenröckchen geschmückt hat, und dann humpeln wir zurück durch die heiße Puripuri-Savanne. Das letzte Stück ist das längste, und heute morgen sind wir nämlich mit einem gewaltigen Muskelkater aufgewacht. Obwohl es kaum noch irgendwo steil ist und auch keine Flussdurchquerung mehr ansteht, kommt mir jeder Hüppel wie ein Gebirge vor, ich quäle die ächzenden Gelenke rauf und die verkrampften Muskeln runter.

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Guck 'en an, den Kukenan !


Das pausenlose Plaudern von Laurent, dem polyglotten Franzosen, der es sich heute in den Kopf gesetzt hatte, uns Nachzüglern seine Solidarität zu beweisen, entertaint uns bis zum frühen Nachmittag, und als er in Sichtweite des Zieles endlich von uns abließ, meinte Ka: "Wenn ich nur gewusst hätte, wo der Knopf ist, dann hätte ich dieses Laberradio längst ausgeschaltet."

Sie ist total kaputt und hat keine Energie mehr, um sich mit jemandem zu unterhalten. Dabei läuft sie seit gestern gepäcklos durch die Gegend, denn einem unserer Indígeno-Begleiter war seine halbleere Kiepe offenbar zu leicht gewesen; wortlos hatte er sich Kas Rucksack noch obendrauf geschnürt. Diese Indígenos, unsere Begleiter vom Volk der Pemón, sind echt wackere Jungs. Sie sprechen nicht viel Spanisch, aber sie traben wie gedopt über Stock und Stein, bergauf und bergab, mit gut der doppelten oder vielfachen Last, die wir schultern. Sie bauen unsere Zelte auf und wieder ab, bereiten unser Essen, spülen hinterher die Töpfe aus und sammeln die Abfälle ein, und wenn du sie fragst, wie oft sie diese knochenbrechende Roraima-Tour schon gemacht haben, für die man Ka auch um alles Gold der Welt kein zweites Mal gewinnen könnte, sagt der erste ungerührt "na ja, so sechzehn Mal", und sein Kumpel hält dagegen: "Du bist ja noch jung, ich war schon 84mal da oben, und der älteste von uns, der momentan wegen gegipstem Fuß nicht mitkommen konnte, der hat das schon über 300mal gemacht, der steigt auch mit verbundenen Augen auf den Roraima". Kein Wunder, dass er sich da die Knochen bricht, denke ich mir, bewundere aber diese zähen Burschen, die sich mit diesem Trip ihren Lebensunterhalt verdienen, weil täglich Leute aus aller Welt herkommen, um die Tepuyes zu beglotzen.

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Pemón-Mädel


Die erste bewohnte Hütte am Rand von Paraitepuy, wo man von weitem schon die Toyotas warten sieht. Just als wir mit letzter Kraft vorbeischleichen, geht die Tür auf, und ein Kind mit Gefäßen zum Wasserschöpfen in der Hand kommt heraus. Bei unserem Anblick bleibt das Mädel wortlos stehen und guckt uns nach. An Gringos, die entweder munter vorbeihüpfen (auf dem Hinweg) oder schlapp vorbeikrauchen (auf dem Rückweg), müsste sie eigentlich gewöhnt sein. Was mag sie sich bei ihrem verwunderten Blick gedacht haben?

Das kalte Bier, mit dem wir Nachzügler zur heißesten Tageszeit empfangen wurden, war eine Wohltat. Alle sind gezeichnet von der Strapaze, schwarzbraun wie die Haselnuss, mit zerschlissenen Latschen und braunschlammig gezeichneten Hosen, nur die Indígenos sehen aus wie immer, als ob sie nur mal ein wenig spazieren gegangen wären. Ein Gruppenfoto noch, und dann rauschen wir zurück zu Eric, der uns mit einem weiteren Bier und einem süffisanten Lächeln empfängt. Schließlich weiß er schon, in welcher Verfassung seine Schützlinge von der Tour zurückkommen, und offeriert großzügig seine einzige Dusche, obwohl er weiß, dass das Bad anschließend reif ist für eine Renovierung.

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Alle Elfe .... plus drei Pemón-Boys


Am Abend trifft sich die ganze Bafelbande in einem Überlandbus Richtung Caracas. Nach meinen peruanischen Erfahrungen war ich zunächst strikt gegen eine nächtliche Busfahrt, aber da es keinen Direktflug nach Puerto Ordaz, unserem nächsten Ziel, gab, nahm ich die vermeintliche Tortur in Kauf. Was staunten wir aber, als da ein voll klimatisiertes Hightech-Modell anrauschte, so eine Art Space Shuttle mit Liegesitzen, Bordtoilette und Crew-Abteil. Obwohl wir am späten Nachmittag alle auf eigene Faust durch Sta. Elena gezogen waren, um Essbares einzukaufen, kam jeder, ohne Ausnahme, mit einem Pizza-Pappkarton zum Busterminal getrottet, es ist zum Quieken. Da siehst du mal, wie schmal das Angebot der Gastronomie von Sta. Elena ist. Oder wie pizzasüchtig die Online-Jugend der Welt ist.

Auf der neu gebauten Chaussee schnurrte der futuristische Nachtbus fast geräuschlos dahin, es war wie eine Fahrt auf der nächtlichen Autobahn zwischen Oberhausen und Bremen, und wenn die Klimaanlage nicht auf minus 5 Grad Celsius eingestellt gewesen wäre und Laurent nicht darauf bestanden hätte, zu zeigen, wie schlecht er singen und Gitarre spielen konnte, hätte uns der kräftige Schluck aus Moses' herumgereichter Rumbottel nach all den Strapazen in selige Träume sinken lassen. Aber immer wenn die Augen trotz arktischer Temperaturen und Laurents dissonanter Dudelei am Zufallen waren, machte der Bus Halt, und ein martialisch bewehrter Zeitgenosse in olivgrünem Anzug enterte den Fahrgastraum und wollte unsere Pässe sehen. Welcher ihm am besten gefiel, verriet er nicht, aber er tat jedenfalls so, als könne er die Schriftzeichen in Kas Dokument alle entziffern. Um halb fünf in der Frühe waren wir im Bus-Terminal von Puerto Ordaz. Andere aus der Roraima-Gruppe waren schon vorher ausgestiegen, etliche fuhren noch weiter, in Puerto Ordaz waren wir beide mal wieder alleine.

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Hightech-Bus? Nein, Turbinenhalle des Kraftwerks von Puerto Ordaz


Als aufmerksamer Leser erinnerst du dich sicher daran, dass wir schon einmal um halb fünf in Puerto Ordaz gewesen sind, das war allerdings nachmittags und nicht so früh am Morgen, dass sogar die Hähne noch pennen. Puerto Ordaz ist der zivilisierte Stadtteil von Ciudad Guayana, dem künstlich aus dem Boden gestampften Industriezentrum von Venezuela. In San Félix, wo die Räuber hausen, stehen die qualmigen Schlote der Aluminiumfabriken, und in Puerto Ordaz steht das Kraftwerk an dem großen Staudamm des Rio Caroní, kurz vor dessen Mündung in den Orinoco. Jetzt denkst du wohl, wir hätten uns für ein paar Tage Puerto Ordaz entschieden, weil wir als Großstadtmenschen den Duft der Industrie nicht entbehren mögen, aber wenn du ahntest, wie viel es da auch außerhalb des Kraftwerks zu sehen gibt, dann würdest du deine Lästerzunge zügeln.

Ab 6 Uhr darf ich den Manager der Posada Ananda, in der wir residieren werden, behelligen, hatte man uns gesagt. Anderthalb Stunden bleiben uns, um im Wartesaal Gepäck zu rödeln und Gymnastik zu treiben. Du kannst dir nämlich nicht vorstellen, wie tief uns der Roraima noch in den Knochen steckt. Der Muskelkater ist dergestalt, dass wir steif wie SONY-Roboter umhertapern, allein der Schritt vom Bordstein runter auf die Fahrbahn ist eine Folter. Um fünf nach 6 humpele ich in Richtung öffentlicher Fernsprecher, da steht auf einmal ein blonder Mensch mit rundlichem Bäuchel und blaugrauen Augen vor mir und fragt auf Deutsch: "Seid ihr das?"

Mann, natürlich sind wir das, wer denn sonst? Aber Respekt, Respekt dem Frühaufsteher Peter, der mit seiner Lebensgefährtin Elfi seine kleine, unscheinbare Posada in einem Wohnviertel der Stadt managt. Also, wenn du einmal auf die Bahn gerätst, die mit Volker in Carúpano anfängt, kommst du nicht mehr raus aus der Germanenstafette. Ka ist es ganz recht, denn erstens kann sie kein Spanisch und zweitens misstraut sie der Hygiene in einheimischen Etablissements, aber ich hätte ganz gern in Venezuela auch mal einen weiteren Venezolaner außer José und Beatriz kennen gelernt. Das Zimmer ist aber piccobello, da kannst du vom Fußboden essen wie in einer Pension im Schwarzwald, und wie Peter und Elfi ihre Gäste umtütteln, das hat schon echt familiäre Züge. Erst gibt's einen Tee mit hausgebackenen Plätzchen, dann ein kerniges Frühstück, und dazu das Angebot, uns jederzeit wohin auch immer zu chauffieren, ist ja fantastisch. Im Garten ist ein kleiner Privatzoo, denn Peter kauft auf dem Markt alle angebotenen, von Wilderern eingefangenen Vögel auf, füttert sie in großen Volieren durch, bis ihre gestutzten Federn wieder gewachsen sind, fährt sie dann in die Wildnis und lässt sie flattern.

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Alle Viecher lieben Ka: Auch diese Ara heißt Coco


Mit unserem kläglichen Gehumpel in dem Einkaufszentrum von Puerto Ordaz, in das uns Peter am Nachmittag nach unserer laaaaangen Siesta gefahren hatte, will ich dich nicht langweilen, aber eine Piña Colada und ein Daiquirí in der klimatisierten, modernen Zivilisation, das tut echt gut nach sechs Tagen Roraima. Gut, dass die Rolltreppen funktionieren, denn jede Stufe ist eine Tortur, Mann, so einen Muskelkater hab ich noch nicht erlebt! Wahrscheinlich hältst du uns für beduppt, wenn ich dir verrate, dass wir von der Stadtmitte aus zu Fuß zurückgewandert sind, eine knappe Stunde Gehumpel bis in die Vororte, aber wenn du wehe Muskeln nicht in Bewegung hältst, werden sie ganz steif. Außerdem stand am Ende der Folter Kas ersehnter Besuch im Jai Alai, dem besten Restaurant der Stadt. Und am nächsten Abend prassten wir noch einmal, im zweitbesten Lokal des Ortes, das sich originell "El bigote del abuelo" nennt (Großvaters Schnurrbart). Aber davor haben wir uns erst mal im berühmten Park La llovizna erholt. Der ist auch in irgendeinem Gewässer angelegt worden, du gehst da praktisch von Inselchen zu Inselchen über Brückchen um Brückchen, und ringsumher rauscht und gluckert und quakt und plitschert es, und wenn der Lärm deutlich anschwillt, dann stehst du vor dem -wie kann es auch anders sein in Venezuela- Wasserfall, dem der Park seinen Namen verdankt. La llovizna bedeutet nämlich "Gischt", und wenn du dich in Venezuela bisher so dabbisch angestellt hast, dass du noch nirgendwo nass geworden bist, dann lass dich mal von der Llovizna begischten, denn bei der Hitze des heutigen Tages ist so eine Abkühlung genau richtig.

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Schon wieder eine Brause, mit Gischtbogen!


Das finden auch viele Venezolaner, die sich auf einem Mäuerchen in Gischtweite der Kaskade zu Picknick und Pause niedergelassen haben. Nicht lange dauerte es, da kam auch eine Hochzeitsgesellschaft, und die Braut, nicht faul, turnte im weißen Hochzeitskleid über die Wiese und durch den Gischt, und ihr Bräutigam hatte alle Mühe, sein Schätzlein einzufangen und festzuhalten. Beinahe wäre er selber vom Mäuerchen in das Sprudelwasser gepurzelt, weil die Holde nach dem obligatorischen Foto gleich wieder lossprintete, ohne zu bemerken, dass ihr Angetrauter voll auf ihrer Schleppe stand. Na ja, so ein Brautkleid wird in katholischen Ländern so bald nicht wieder gebraucht, es reicht, wenn es einen Tag lang hält und halbwegs weiß bleibt. Und außerdem kommt es auf den Inhalt an, nicht wahr?

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Gut festhalten und schaun, wo du hintrittst !


Weil du so neugierig bist und immer noch wissen willst, wie wir in die Turbinenhalle des Kraftwerks am Caroní-Staudamm geraten sind, verrate ich dir, dass sich darin auch das Ecomuseo befindet, eine moderne Dokumentation des ökologischen Bewusstseins der Stadtväter von Puerto Ordaz. Als Preis für ihre Einwilligung in das Staudamm-Projekt sind auf Kosten der Elektrizitätsgesellschaft die beiden erstklassig gepflegten, kostenlos zugänglichen endlos weiten Parks Cachamay und La llovizna entstanden, und im klimatisierten Untergeschoss des Museums war eine Orchideenausstellung der Gesellschaft der Orchideenzüchter vom Unterlauf des Orinoco zu sehen. Mit der Eintrittskarte und einer obligatorischen Unterschrift besiegelst du automatisch die Mitgliedschaft -selbstverständlich ehrenhalber- in diesem Verein und bekommst ein hübsches T-Shirt mit dem orchideischen Club-Logo. Wahrscheinlich sind wir mit der gleichen Unterschrift, ohne es zu wissen, auch der Hugo-Chávez-Partei beigetreten. Einen Gutschein für hundert Liter Erdöl bekamen wir allerdings nicht. Ich hätte ihn sonst gerne bei Aral in Oberhausen eingelöst.

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Als Herr Löfling lebte, waren die Bäume noch klein


Noch älter als Staudamm und Wasserparks ist ein anderer, nicht weniger weitläufiger Park mit dem seltsamen Namen Loefling. Weiß der Geier, wie ein Südamerikaner diesen Germanennamen ausspricht. Jedenfalls hat einer unserer Vorfahren, den es nach Venezuela verschlagen hatte, dort so ähnlich wie unser Gastgeber Peter den Markt der lebenden Tiere leergekauft und alle Viecher, vom Leguan bis zum Jaguar, vom Piraña bis zu Aras und Loritos (Sittichen), nicht etwa freigelassen, sondern in seinem Loefling-Privatzoo eingekerkert. Die Nachkommen (nicht des alten Löfling, sondern der Tiere, du Trollo!) sind dort heute noch zu besichtigen.

Und wenn du noch einen Tag frei hast, dann fährt dich Peter ins Freibad. Eine weitere Wohltat der Staudamm-Elektro-Gesellschaft. Die haben Straßen angelegt, damit die Puerto Ordaceros am Wochenende zum Stausee gelangen und sich im mineralroten Wasser des gestauten Rio Caroní suhlen können. Dass ein paar Straßenkids einfach ein Seil über die Zufahrt spannen, da, wo der Asphalt zu Ende ist, und von jedem Autofahrer illegal Wegzoll kassieren, ärgert den Recht und Gesetz liebenden Teutonen-Peter maßlos, obwohl ihn die verlangten 1000 Bs (0,50 Euro) kaum schmerzen dürften. Aber er schmeißt den Kids nur ein paar Münzen in den Staub und schreit, hinter ihm käme ein Streifenwagen der Polizei, woraufhin das Seil runterfällt und die Schlawiner wie die Heinzelmännchen im Gebüsch untertauchen.

"Wenn du dir von denen gefallen lässt, dass sie dir auf der Nase rumtanzen, dann lernen die nie im Leben, dass man sein Geld durch Arbeit verdienen sollte", meint er grimmig, aber seine pädagogischen Bemühungen dürften wohl eher fruchtlos bleiben. Wenn man sieht, wie sich die Arbeitslosen plagen, indem sie Gullydeckel, Leuchtröhren aus Straßenlaternen und sogar Kupferkabel metertief aus dem Erdreich klauen, um das Zeug zu verscherbeln, dann kriegt man einen richtigen Respekt vor der harten Arbeit, die viele Leute hier leisten.

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Bad Caroní


Also ehrlich, wenn alle Städte Venezuelas so sauber und freundlich wären wie Puerto Ordaz, hätten wir uns auf Caracas mehr gefreut. Aber Beatriz hatte die Hauptstadt als "hässlich, brutal" geschildert und Volker uns ausdrücklich vor dem Betreten gewarnt, und die Roraima-Genossen hatten jede Menge Mord- und Überfallgeschichten auf Lager. Nur Moses hatte gegrinst und seinen Cowboy-Hut hochgeschoben. "Caracas? Nicht schlimmer als Medellín...", meinte er. Eine Empfehlung war das vermutlich nicht.

Es fing jedenfalls gleich abenteuerlich an. In der Dunkelheit des späten Abends in Maiquetía gelandet, vertrauten wir uns der offiziellsten -und teuersten- Taxifirma an, um sicher ins vorgebuchte Hotel in der Stadtmitte zu gelangen. Was da vorfuhr, war ein gepanzerter Geländewagen, und eine zerbrechliche SEHR alte Dame, die ihre Cousine besuchen wollte, ließen wir mit einsteigen. Gut, dass die Fahrt ins Zentrum zu einem Fixpreis erhältlich ist, denn besagte Lady mit der Wisperstimme wusste nur sehr ungefähr, wo ihre Cousine logierte, und bis du in Caracas eine Kirche mit China-Restaurant nebenan und einer Wäscherei gegenüber, von der aus die Señora den Weg kannte, gefunden hast, vergeht eine gute Stunde Suchens. Schließlich ist überall da, wo Mafias, Camorras und Drogenbosse herumballern, an Kirchen meist kein Mangel. Und als wir das Hotel in Anaúco, einem heruntergekommenen Komplex von Hochhäusern aus den 70er Jahren, betraten, wusste die Dame am Empfang nichts von unserer Vorbuchung. Aber Zimmer hatte sie immerhin noch frei.

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Caracas


Die Stadt liegt in einem fruchtbaren, aber nicht sonderlich geräumigen Tal, das die Kolonisatoren von einem dort ansässigen Volksstamm geerbt hatten, weil nämlich nach der ersten, heftigen Begegnung der Indígenos mit den Konquistadoren keine Erben der etwas störenden Ureinwohner mehr übrig waren, die auf das Land Anspruch erheben konnten. Du kennst das ja, in America hat diese Methode eine lange Tradition. Weil aber der städtische Betonbrei sich wie unser Universum ständig ausdehnt, zieht sich die venezolanische Kapitale grotesk in die Länge. Und die Slums, die man hier "ranchos" nennt, kriechen die umliegenden Hänge hinauf. Kein Geld, keine Wasserleitung, aber schöne Aussicht.

Wir logieren am Parque Central, was aber kein Park ist, sondern die erwähnte Gruppe von Hochhäusern, den höchsten von Südamerika, aber schau nicht so genau hin, denn einige der Türme, die aussehen, als seien sie noch im Bau, sind bereits halb verrottet, die Kräne sind verrostet und die Untergeschosse mit den eingeworfenen Fensterscheiben dienen schon seit einem Vierteljahrhundert den Tauben, Katzen und Fledermäusen als Luxuswohnungen.

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Moderne Ruine in Caracas


Leider sind wir in Caracas auf keinen weiteren Grusel gestoßen. Die U-Bahn ist pünktlich, modern und billig, und mit Verbundfahrschein wie in Oberhausen kannst du mit dem städtischen Bus ins Grüne rollen, etwa nach El Hatillo, dem kleinen, hübschen und stillen Kolonialstil-Ausflugsort der Caraqueños. Da ist es wirklich nett und idyllisch, und wenn du die 5 Gassen des kleinen Ortes in einer Viertelstunde sechsmal durchwandert hast und die Speisekarten der Pizzerias und die Preislisten der Kitscherias auswendig kannst, dann betrittst du das Haus HANNSI, die Hauptattraktion von El Hatillo. Das ist der größte Souvenir-Supermarkt, den ich je gesehen habe. Ein ganzes Stadtviertel hat der Laden sich unter den Nagel gerissen, aber was immer du in Venezuela bisher vergeblich gesucht hast, ein komplettes Ruderboot oder eine ausgestopfte Vogelspinne, hier ist einfach ALLES zu haben. Im Amazonas-Gebiet Indianerschmuck zu kaufen vergessen? In ganz Venezuela noch keine Ansichtskarte, noch kein schönes T-Shirt entdeckt? Kein Problem, kriegste alles beim HANNSI. Selbst wenn du zum Beispiel irgendwo in Bayern eine Kapelle aufmachen und deinen Kreuzweg bestücken willst, wirste hier ebenfalls fündig, kannst dir per UPS den lebensgroßen Gekreuzigten nach Oberbayern oder meinetwegen einen ausgestopften Puma bis nach Tibet liefern lassen und mit Kreditkarte bezahlen.

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Bunt getünchte Kolonialstil-Häuser in El Hatillo


Du vergisst bei all dem Luxus fast, dass du in Venezuela bist, wirst aber an der Bushaltestelle für die Rückfahrt schnell wieder daran erinnert, wenn du nach einer halben Stunde vergeblichen Wartens den verwitterten Fahrplan mit dem Hinweis, dass der letzte Bus nach Caracas schon um 13:30 Uhr davongefahren sei, entdeckst. Da wir bisher noch nicht ausgeraubt, skalpiert und gekidnappt worden sind, vertrauen wir uns einem weißhaarigen Herrn an, der ein deutlich als solches markiertes Taxi chauffiert und uns zu genau dem Preis, den das funktionierende Taxameter anzeigt, nach Caracas zurückspediert. Wo sind sie alle, die Räuber und Wegelagerer?

Gleich neben unserem Hotel befindet sich das Museum für Gegenwartskunst, und vor dessen verschlossenen Eingang trafen wir die ersten und einzigen anderen Touristen, die sich nach Caracas getraut haben. Sie waren genauso unbedarft wie wir und glaubten, dass so ein Museum auch ab und zu aufmacht, aber da es sich praktisch im Untergeschoss des Ratten- und Fledermausturmes befand, das Gitter angerostet und die Scheiben der Eingangstür vom Staub eines Vierteljahrhunderts nahezu blind waren, dürfte die im Innern gehütete Gegenwartskunst bei einer eventuellen Wiedereröffnung durchaus schon zu den Klassikern gezählt werden.

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Parolen der 68er: CHE lebt !


Was es in dieser Gegend an Kunst zu sehen gibt, würde ich mal nicht gerade Gegenwartskunst nennen. Das kennst du auch von damals, als in Bochum an der Ruhruniversität ähnliche Dreifaltigkeiten auf alle weißen Wände gesprayt waren, das muss so in den Hohohochiminh-Jahren gewesen sein. Nur dass hier immer der gute Simón mit von der Partie ist....

Na schön, dann verfressen wir halt unsere letzten Bolívares, und sogar abends auf dem Rückweg vom Restaurant durch dämmrige Gassen zum Hotel hat uns keiner behelligt, aber das mag auch daran liegen, dass wir nach 2 Wochen Canaima und Roraima nicht mehr so aussehen, als ob es bei uns etwas zu holen gäbe.

Ein letztes Abenteuer erwartete uns da, wo wir es am wenigsten erwartet hätten. Ich meine jetzt nicht den Herrn González von der US-Immigration, an den wir schon wieder gerieten und der sich, jetzt halt dich fest, grinsend noch an uns erinnerte, sondern den graumelierten Gentleman in der Uniform der Continental Airlines am Airport in Houston, der uns nach Tokyo eincheckte. Als der meinen Pass in die Finger bekam, sagte er auf einmal laut und vernehmlich: "Ei guude, Herr Eschershaamer, Sie sinn also aach en eschte Frankforder, ei ehrlisch, die Welt is doch en klaaner Gickelstall!" Mer kam des so vor, als hätt mer aaner en Bembel voll Ebbelwoi iwwer de Deetz gegosse.

Irgendwie weiß ich auch nicht, was ich heut den ganzen Tag mit Oberhausen am Hut gehabt habe. Na ja, nimm mir's nicht krumm, wie das Leben halt so spielt....

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Ranchos am Rand von Caracas

 

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