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Eine seltsame Botschaft
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Die Zeit steht. Man altert still, in zeitloser Reglosigkeit. Wie langsam erstarrende Lava kommt der Lebensfluss allmählich zum Stillstand, wenn man beruflich und privat seinen Platz im Leben gefunden hat. Anfangs mag man sich noch in der Illusion wiegen, man sei beschäftigt, von Bedeutung und habe Tag für Tag ein erfülltes Leben, aber all die dringenden Geschäfte, die wichtigen Telefonate, die eiligen Termine, sie sind im Grunde belanglos und drehen die Welt und das Leben nicht voran, sondern ersticken es unter Alltags-Schutt. Die Versuche, durch verwegene Reiseabenteuer zeitweilig auszusteigen und die verkrustende Starre aufzubrechen, bewirken nur vorübergehend Bewegung, so, als drehte man die Zeiger einer stehen gebliebenen Uhr mit der Hand weiter. Aber sie steht, die Uhr.


Es war sicher mehr ein Versehen, dass sich im vorigen Jahr ein veritables Engelchen in Jordys leerstehendes Herz, Haus und Bett verirrt und seine Lebensuhr gehörig in Schwung gebracht hatte, bevor es sich eines Besseren besann und wieder davonschwirrte, ihn nach einem Wirbelsturm von Glückseligkeit süchtig und mit schweren Entzugserscheinungen zurücklassend. Und mit der festen Überzeugung, dass dies, bei seinem Alter, das letzte himmlische Abenteuer gewesen sei, denn ein derartiges Ereignis blitzt wahrhaftig nicht öfter durch ein menschliches Leben als der Halleysche Komet.
Unter Entzug ist man freilich für Ersatzdrogen besonders empfänglich, und falls dann ein Wesen den Weg kreuzen sollte, das auch nur entfernt engelhaft anmutet, unterliegt der Verstand leider allzu leicht den Trieben. Und dann bleibt nur, die Sache wenigstens so zu gestalten, dass es niemanden kränkt, möglichst wenig Schaden anrichtet und das Risiko minimiert. Deswegen hatte Jordy Prinzipien. Hegte er den Verdacht, dass irgendwer darauf aus sei, ihn zur Scheidung und in eine neue, feste Liaison zu treiben, ließ er sich auf eine Tändelei gar nicht erst ein. Männer sind halt echte Ehemuffel. Auch Raucherinnen blieben ungeküsst, seine Studentinnen an der Akademie baggerte er nicht an, und professionelle Damen oder solche, die, auch unprofessionell, für bares Entgelt zur Betreuung bereit sind, ließen ihn gleichfalls kalt. Nicht dass er geizig gewesen wäre; er hatte jedoch seinen Stolz: Eine Partnerin sollte schon alle Sünden ihm zuliebe begehen.
Nun ja, bei Jordys Alter war das alles Theorie; schließlich rennen die Girls nicht in Scharen Männern hinterher, die so alt sind wie ihre Väter. Aber als Hochschul-Dozent hatte er eben immerzu Mädchen um die 20 vor der Nase, keck und kokett, und kannte sich in seiner eigenen Altersklasse weniger aus. Die Welt ist nun mal so ungerecht, dass nur die Lehrer Jahr um Jahr eins älter werden, während die Studentinnen immer gleich jung sind; da konnte er sich noch so charmant geben, Jeans und T-Shirts anlegen, die grauen Schläfen waren unübersehbar, die ersten Furchen im Gesicht ebenfalls, und den Bauch ständig einzuziehen fiel ihm auf Dauer auch immer schwerer. Er hätte seine Tage wesentlich ruhiger verleben können, wenn junge Mädchen ihm gleichgültiger gewesen wären, doch was ihm an Ehrgeiz, Karrieresucht und Machtstreben fehlte, saß ihm von Natur aus eben als Libido im Leibe und plagte seine Nackenmuskeln, weil er sich einfach nach jedem wippenden Rock umdrehen musste.

Seit sich sein entlaufener Schwarm Sumiko auf den fernen Planeten "Freundschaft" zurückgezogen hatte, waren Herbst und Winter ziemlich kalt und düster vorübergezogen. In der Neujahrsnacht zog Jordy die triste Bilanz, dass er künftig wohl aus anderen Quellen sein Quantum an Lebensfreude beziehen müsse, denn Engelchen flattern nicht ständig umher und rufen "hasch mich !" Allenfalls eine Schimäre wie jene spinnerte deutsche Kollegin mit dem Umfang einer 200jährigen Eiche und dem Gehirn eines Maikäfers schlich ihm seit über zehn Jahren ebenso beharrlich wie erfolglos nach und ließ auch dann nicht von anzüglichen Briefen, Rendezvous-Offerten und unverhofften Besuchen ab, als er statt abweisender nunmehr gar keine Antworten mehr gab, ihre Ergüsse ungeöffnet zurückspedierte und diese irre Tussi aus Naumburg gar nicht mehr zur Türe reinließ, wenn sie wieder mal davorstand. Frauen ohne Stolz --- lieber würde Jordy Mönch und entsagte der Liebe auf ewig. So wählerisch, immerhin, war er noch.

Das einzige Ereignis von Bedeutung an seinem traurigen Jahresende gehört eher in die Kategorie "Kalauer und Knallbonbons". Es war so idiotisch, dass er nicht mal herzhaft darüber lachen konnte.
Einmal pro Woche unterrichtete er an einer kleineren, privaten Hochschule. An der Musik-Akademie, seinem Hauptarbeitsplatz, hatten die Winterferien längst begonnen, da büffelten die Privatschüler noch emsig weiter. Am letzten Schultag des scheidenden Jahres meldete sich am Ende des Unterrichts eine Studentin.
"Sie kennen doch die Seryna Murakami, nicht wahr?"
"Ja natürlich, das ist eine meiner Studentinnen an der Akademie."
"Ich treffe sie oft, denn wir jobben zusammen. Neulich haben wir zufällig festgestellt, dass wir denselben Deutschlehrer haben. Sie hat von Ihnen total geschwärmt und lässt Ihnen 'Ich liebe dich' ausrichten."
"Du willst mich wohl verkohlen."
"Nein, wirklich, im Ernst."
Die anderen Studentinnen in der männerlosen Klasse giggelten und kicherten.
"Wunderbar, dass ich bei Frauen so beliebt bin. Aber sowas, das sollen mir meine Verehrerinnen schon selber sagen", gab Jordy scherzhaft zurück. Sah man ihm seinen Liebeskummer schon an, dass diese Gören sich über ihn lustig machten?
Ach ja, die Seryna Murakami. Das war die Studentin, die regelmäßig zu spät zum Unterricht erschien und für Fremdsprachen, gelinde gesagt, nur mäßig begabt war. Sie studierte im 4.Semester Musik, im Fach Klarinette, und hockte im allerleichtesten Kurs, beliebt bei den Instrumentalisten, die danach den Ärger mit der deutschen Grammatik hinter sich haben. Und da saß sie immer mit einem gedrungenen, nur unwesentlich sprachkundigeren, angehenden Pianisten unzertrennlich zusammen und quasselte ausgiebig mit ihm. Wenn Jordy sie drannahm, guckte sie ihn aus ziemlich großen, dunklen Augen an und gab lächelnd, mit selbstsicher-fester Stimme, eine garantiert falsche Antwort.
Sie war keineswegs unattraktiv, aber nach seinem Abenteuer im vergangenen Jahr schaute Jordy nur nach Gesichtern und Persönlichkeiten, die ihn an Sumiko erinnerten. Trotz der riesigen Auswahl an feschen und frischen, hübschen und charmanten Mädchen in seinen Klassen konstatierte er mit Bedauern, dass Sumiko einmalig war. Alle die Beautys vor seinen Augen ließen ihn merkwürdig kalt, keine reichte an sein Ideal heran, obwohl sie gewiss alle ihre Qualitäten hatten.


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Und jetzt hatte sich so ein Küken wie die Seryna anscheinend in den Kopf gesetzt, Jordy aufs Ärmchen zu nehmen. Na schön, er war im Grunde ein gutmütiger Mensch, der nicht zu der Sorte Lehrer gehörte, die diesen Kindsköpfen jeden Unsinn im Zeugnis heimzahlte. Wer einem Prof einen Streich spielen will oder sich mit sonstigen Hintergedanken plagt, hat es im konfuzianisch geprägten Ostasien ohnehin ziemlich schwer, denn die Barriere zwischen Profs und Studikern ist dort deutlich höher als im Westen, und die übliche Anrede "Sensei (Herr Professor)" stellt auch der wildeste Anarchist nicht in Frage. Und an die Anschriften und Telefonnummern ihrer Profs kommen die Studenten nur auf schriftlichen, begründeten Antrag heran, es sei denn, sie fragen den Betreffenden persönlich. Um auch während der Ferien mit Doktoranden in Kontakt zu bleiben, Hausarbeiten zu betreuen, Stipendiaten zu beraten oder beim Ausfüllen deutscher Formulare usw. zu helfen, gibt man dem einen oder anderen Schüler schon mal seine Adresse. Und manchmal auch dann, wenn jemand nach dem Unterricht kommt und sagt:
"Ich möchte Ihnen eine Glückwunschkarte zu Neujahr schreiben. Darf ich Ihre Anschrift bekommen?"
Jordy hatte sich bei dieser Frage nichts gedacht, denn das taten jedes Jahr zwei bis drei Student/inn/en. Solche, die einfach nett waren, solche, die für irgendwelche Hilfen dankbar waren, auch solche, die sich davon eine bessere Note versprachen --- und solche wie die Seryna Murakami.

Aus der verschwommenen Masse der Studenten gewann nur diese eine allmählich Konturen: Die Klarinettistin Seryna Murakami, denn sie wusste aufzufallen. Was bis dahin in ihrem Kopf vor sich gegangen war, konnte Jordy nicht wissen. Aber bald rückte sie aus einer der hinteren Reihen nach vorn und ließ ihn kaum je aus den Augen. Die Blicke aus ihren großen, schwarzen Kulleraugen spürte er förmlich im Rücken, wenn er etwas an die Tafel schrieb. Auch ihre Modenschau war beeindruckend. Sie schaute nämlich nicht nur, sondern verstand es auch, einen attraktiven Blickfang abzugeben. Studentenhafte Jeans und Labber-T-Shirts sah Jordy bei ihr höchstens einmal im Monat, meist an Regentagen. Ansonsten trug sie feschen Fummel am Leib, im Winter vorwiegend in Schwarz, im Sommer bevorzugt in Weiß, und dazu sehenswerte Ausschnitte und kesse Röckchen, mit denen sie ihre Weiblichkeit herausfordernd zu betonen schien. Besser beurteilen konnte ihre Reize gewiss ihr ständiger Begleiter und Quasselpartner Ishii, dessen gutmütiges Gesicht immer gequält grinste, wenn Jordy ihn mitten in der anregenden Konversation mit Seryna drannahm und er die Antwort schuldig bleiben musste.

'Da ist die dran schuld', sagte sein verlegener Blick, den er abwechselnd auf Seryna und auf Jordy richtete. Ansonsten machte er nicht den Eindruck, als habe er eine Antenne für Serynas Darbietungen, und Jordy fragte sich, ob sie mit ihrer Modenschau wohl wirklich die Sinne dieses Phlegmatikers zu stimulieren vermochte. Er zweifelte aber nicht im Geringsten daran, dass sie es auf ihren klettenhaft anhänglichen Begleiter Ishii abgesehen hatte.

Eine andere Macke war ihre Art, Jordy zu grüßen. Sie hatte nicht die angedeutete Verneigung drauf, mit der andere Studenten ihren Profs auf dem Campus höflich aus dem Weg gingen, sondern rief mit durchtönender Stimme "Sensei, guten Tag!", und das nicht nur bei Begegnungen der ersten, sondern auch der zweiten und dritten Art. Da schrillte auf einmal ihr "Sensei, guten Tag!" aus einer fernen Ecke quer über die von Tonfetzen der übenden Musikstudenten erfüllte Eingangshalle oder quoll aus der halboffenen Tür vom Ende eines langen Flurs, alle Pauken und Trompeten glatt übertönend. Sie schien Jordy in jedem Winkel geradezu aufzulauern, nur um ihm ihren Walkürenschrei wie einen blanken Tomahawk nachzuschleudern. Aber was war da Schlimmes daran? Studenten sind auch Individuen und haben an ihren lockeren Sparren ebenso schwer zu tragen wie ihre Profs. Die stimmgewaltige Klarinettistin war eben eine kecke Biene, ein bisschen aufgedreht, aber das kann bei angehenden Bühnenkünstlern sicher nichts schaden. Wenn sie damit glücklich wird, ihm eine Neujahrskarte zu schreiben, dachte Jordy, dann soll sie es tun. Er gab ihr seine Anschrift und bewunderte ihre wohlgeformten Beine, als sie in ihrem chiquen Minirock neben ihm stand und die Schriftzeichen in ihr Notizbuch malte.

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Bis zu der seltsamen Botschaft von ihrer Freundin an der Privathochschule war Jordy diese Seryna nur als originelle, leicht angetörnte Studentin aufgefallen. Im Unterricht hatte er sie auch schon mal gekappelt, wenn sie sich wieder einmal grandios im Gestrüpp der vertrackten deutschen Syntax verheddert hatte, und sie war ihm, stets auf japanisch, immer kess lächelnd, kein Widerwort schuldig geblieben, weshalb sie ihm durchaus sympathischer war als andere, die nur den Kopf senken und entmutigt verstummen. Aber könnte das der Grund dafür sein, dass sie ihm etwas heimzahlen wollte? Plante diese grelle Quasselstrippe womöglich, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken? Das wäre schon ein Witz. Aber nicht sonderlich zum Lachen.
Jordy fragte sich, ob es womöglich ein Fehler gewesen war, ihr seine Anschrift zu geben, denn allzu gelegen kam ihm diese Geschichte nicht. Kurz nach seiner Affäre mit Sumiko reizten ihn andere Mädchen noch immer wenig, und Seryna war so ziemlich das Gegenteil von Sumiko. Vorlaut und sexy, chic und auffällig, und ihr Studium schien mehr ein Vorwand für irgendwelche außerwissenschaftlichen Ziele zu sein. Sie hatte es allerdings geschafft, ihn neugierig zu machen, was hinter der Botschaft ihrer Freundin steckte. Aber was sollte er auf so eine Mädchenschwärmerei schon geben? Jordy trug der Studentin, die ihm Serynas frohe Botschaft verkündigt hatte, keine Antwort auf. Er fasste es als Ulk auf, den er nicht übel nahm. "Ich liebe dich", das war doch wesentlich besser als "Sie hängen mir schwer zum Hals raus"!
Die Neujahrskarte kam, und weil Jordy ein höflicher Mensch war, schrieb er auch eine formelle Antwort, wie an alle Studenten, die ihm Neujahrsgrüße sandten. Er war ein wenig gespannt, was für ein Gesicht Seryna im Unterricht nach den Winterferien machen würde, denn er war sich nicht sicher, ob Seryna ihre Freundin mit ihrer Botschaft beauftragt oder ob diese von sich aus getratscht hatte. So wartete er amüsiert ab, ob und was Seryna sich als nächstes einfallen ließe.
Sie kullerte mit ihren Augen wie immer, bequackelte den leidgeprüften Ishii und starrte Jordy an, als ob er mit Ketchup bekleckert vor der Klasse stände. Aber nach dem Unterricht kam sie, zusammen mit ihrem Ishii, hinter ihm hergestöckelt und fragte ihn vorwurfsvoll: "Warum sind Sie so kühl zu mir?"
Ishii stand neben ihr und grinste wie ein Honigkuchenpferd. Trieben die ein abgekartetes Spiel? Wollten sich die beiden über Jordy lustig machen?
"Wie kommst du denn auf die Idee, ich sei kühl zu dir? Ich bin für alle Studenten gleichermaßen ansprechbar und habe nicht vor, irgend jemanden zu bevorzugen oder zu benachteiligen. Wenn du Fragen hast, kannst du jederzeit ins Lehrerzimmer kommen", sagte Jordy in lehrerhaftem Ton. Seryna deutete Schmollwinkel an, bedankte sich höflich und zog dann mit ihrem grienenden Kumpan davon.
Was sollte Jordy von dieser verdrehten Liesel halten? Was meinte sie nur mit "kühl"? Demnach war ihre Botschaft doch gezielt lanciert gewesen. Und sie hatte wohl gar auf eine Antwort oder eine sonstige Reaktion gehofft. Sie erwartete doch wohl nicht ernstlich, dass ihr Prof ihr jetzt heimlich Briefchen senden oder ihr gar um den Hals fallen würde. Jordy hatte wenig Lust, sich von diesen Kids auf irgendeine Leimrute locken zu lassen, und außerdem hatte Seryna doch ihren trägen Ishii, der ihr folgte wie ein Dackel an der Leine.
Das Ganze war Jordy suspekt. Er beschloss, in Ruhe abzuwarten, was Seryna noch alles aushecken oder ob sie die Flinte ins Korn werfen würde. Es war undenkbar, dass er von sich aus aktiv würde, um sich gegen all seine Prinzipien an eine seiner Studentinnen heranzumachen, zumal so eine Type wie die Seryna nicht gerade sein Ideal war. Und außerdem......wohnte noch immer Sumiko in seinem Herzen.

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Pflichtgemäß verkündete Jordy in allen Klassen, dass in den Semesterferien ein tolles Deutsch-Seminar stattfinde. Studenten finden es üblicherweise gar nicht toll, auch in den Ferien noch deutsche Vokabeln pauken zu müssen. Ganz anders Seryna. Sie riss Augen, Mund und Ohren auf und wollte als erstes wissen, ob Jordy auch an dem Seminar teilnehme. Ja, natürlich. Und dann, ob auch Studentinnen mit Deutschkenntnissen wie den ihren zugelassen würden. Nun ja, abgewiesen wird niemand, der guten Willens ist.
"Da gehe ich hin, auf jeden Fall, das steht schon fest!"
Und zwei Tage später, als wieder einmal aus einer unerwarteten Richtung ihr "Sensei, guten Tag!" über den Campus gellte, kam sie gelaufen und sprudelte hervor:
"Ich habe mich angemeldet, und meine Freundin aus der Privathochschule kommt auch mit!"
Und dein Freund Ishii auch, nehme ich an?"
"Nein, der hat keine Lust. Dem reicht schon der Deutschunterricht an der Akademie."
"Und dir nicht?"
"Ich glaube, bei so einem Seminar gibt's nicht nur Unterricht, sondern auch viel Spaß. Das ist sicher so eine Art Skiurlaub, nur ohne Skier."
Die hat Humor! Um ihr Deutsch zu verbessern, kam sie nicht zu dem Seminar, das stand fest. Obwohl sie es durchaus gebrauchen könnte. Na schön, ein Bienchen wie die Seryna ist auf Seminaren immer willkommen, da würde es sicher lustig werden. Und falls sie vorhaben sollte, Jordy dort auf die Pelle zu rücken, würde sie sich wundern, denn er wollte in diesem Jahr in Damenbegleitung dort aufkreuzen. Bei ihm war nämlich eine junge Schweizerin zu Gast, die gerne so ein Studentenseminar miterleben wollte.


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"Sensei, guten Tag!", schrillte es durch die weite Bahnhofshalle, als sich die Züge leerten und die Studenten zu den Bussen trabten, die sie zum Schullandheim in abgeschiedene Winterwald-Idylle bringen sollten. Seryna kam angeflitzt, aber schon am ersten Tag merkte sie, die doch sonst immer ihren Ishii Gassi führte, dass diesmal Jordy eine Frau im Schlepptau hatte. Nicht nur sie, sondern auch andere Studentinnen von der Akademie platzten fast vor Neugier.
"Ist das seine Frau?"
"Keine Ahnung."
"Ist der nicht mit einer Japanerin verheiratet?"
"Vielleicht seine Schwester?"
"Aber das soll doch eine Schweizerin sein, hab ich gehört."
"Oder eine andere Lehrerin, die was mit ihm hat?"
"Meinst du?"
"Könnte doch sein, und dann ist so ein Seminar eine gute Gelegenheit."
"Nee, vor allen Leuten, das glaub ich nicht."
"Sicher eine Kollegin, mit der er mal zusammengearbeitet hat."
"Ist doch normal, wenn die Lehrer so zusammenhocken. Wahrscheinlich kennen die sich noch vom letzten Seminar."
Jordy tat so, als hörte er nichts von dem endlosen Gewisper, und Nadine konnte kein Japanisch. Am zweiten Abend, im Plauderzimmer, war endlich die Neugier größer als die Lücken in den Deutschkenntnissen, und Nadine amüsierte sich bei dem Verhör, dem sie unterzogen wurde, antwortete aber, um die Chose spannender zu machen, immer nur mit nein auf jede der Vermutungen, ohne mit der --- allzu banalen --- Wahrheit rauszurücken, dass sie eine ganz normale alte Bekannte von Jordy war.
Seryna hielt sich sehr zurück und beteiligte sich nicht am munteren Ratequiz. Für sie war der Fall ganz eindeutig. Dass auf dem Seminar eine Frau derart auffällig an Jordy hängen würde, das hatte sie nicht erwartet, aber die gute Nadine kannte nun mal niemanden außer Jordy. Was hätte sie sonst tun sollen, als sich an ihn zu halten? Seryna passte einen Augenblick ab, als Nadine von allen Seiten ausgequetscht wurde, und setzte sich zu Jordy. Und da sie sich eingehend nach seinem Liebesleben erkundigte, sagte er ihr, obwohl sie das eigentlich nichts anging, dass er sich nach einem süßen Engelchen sehne, das ihm kürzlich entflogen sei.
Da ihre Freundin aus der Privathochschule mit dabei saß, ließ Seryna sich nicht anmerken, wie sie seine Story aufnahm. Sie guckte nur mit ihren großen Augen und sagte "ach so, ja ja, wie traurig". Aber für den Rest des Abends, als Jordy längst in einer anderen Ecke hockte und sich mit Rotwein bezischte, sah er sie stumm dasitzen und mit melancholischem Gesicht riesengroße Löcher in die Luft starren, ohne an der Konversation teilzunehmen oder mit den anderen zu lachen.
'So eine raffinierte Schauspielerin!', dachte Jordy, 'sie will mir anscheinend das Stück vom armen verliebten Aschenputtel vorspielen, das von seinem Märchenprinzen wegen einer fremden Prinzessin versetzt worden ist!' Er amüsierte sich über ihre Darbietung. War es nicht nett, dass sie ihm auf dem Seminar sogar Privatvorstellungen gab? Und sie schauspielerte durchaus gekonnt. Am andern Tag juxte sie zwar wieder, aber immer, wenn ihr Blick an Jordys Augen hängen blieb, setzte sie blitzschnell ihre Trauermaske auf. Sie ging ihm zwar nicht aus dem Weg, suchte aber für die restliche Dauer des Seminars keinen engeren Kontakt mehr, obwohl Nadine inzwischen erste Bekanntschaften geschlossen hatte und sich allmählich von Jordy emanzipierte. Nur am letzten Tag sagte sie ihm noch einmal, er behandle sie wahrlich kühl, aber was sie zu dieser Einschätzung bewegte, mochte sie nicht verraten. Für Jordy war sie eine seiner Studentinnen wie alle anderen, denen er zwar gern mit Rat und Tat beistand, aber aus Prinzip auch beim Seminar nicht flirtete. Dafür standen ihm aus anderen Unis die zutrauliche Fuyuko, die kusswütige Keiko, die schneewittchenhafte Schönheit Junko und das Mauerblümchen Hiroko ausgiebig zur Verfügung. Womöglich hatte Seryna das ja aus ihrer Schmollecke mit Neid und Missvergnügen registriert.


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Das neue Semester begann, und Jordy glaubte schon, Seryna und ihre Avancen erfolgreich abgeschüttelt zu haben, doch sie tauchte unerwartet in zwei Kursen auf, obwohl sie für ihr Curriculum diese Scheine gar nicht brauchte. Zur Konversation hatte sie auch wieder ihren Ishii mitgebracht. Jordy fragte sich freilich bald, ob ihr Interesse wirklich der Grammatik galt. Immerhin arbeitete sie eifrig mit, um sich vor den Kommilitonen nicht allzu sehr zu blamieren. Auch den schlappen Ishii hatte sie bald überrundet, aber noch immer hatte sie allerhand Probleme mit den Tücken der deutschen Sprache. Es wurmte sie, wenn sich die Klasse vor Lachen bog und sie nicht mitbekam, warum.
"Trinkst du eine Tasse Tee?" -- "Ja, gern." -- "Mit Milch oder mit Zitrone?" -- "Mit Zitrone, bitte."
"Und was nimmst du?" -- "Ich möchte eine Tasse Kaffee." -- "Mit Essig oder Öl?"
Gleich wieherten alle laut los, die genug Deutsch kapierten, und Seryna fragte den ahnungslosen Ishii, worüber denn nun wieder gelacht werde. Dann kam sie dran.
"Wie gefällt dir die Tasche von Herrn Ishii?"
Da guckte sie Jordy entrüstet an und fragte auf Japanisch zurück: "Ob ich mit dem Ishii gehe? Das wollen Sie ernstlich von mir wissen?"
Wieder prustete die Klasse los, Seryna hatte es wirklich nicht leicht. Ob sie mit dem Ishii ging, das interessierte Jordy nicht sonderlich, so wenig passten die beiden zusammen. Dieser einfältige Pianist würde noch verlegen grinsen, wenn sie seine Frau wäre und vor seinen Augen dem Bett eines Liebhabers entstiege. Der war schwerlich im Stande, die quirlige Seryna mit ihren kurzen Röckchen zu bändigen.

An einem regnerischen Tag kam Seryna Jordy auf dem Weg von der Akademie zum Bahnhof entgegen. Nach dem obligatorischen "Sensei, guten Tag!" zog sie ein Kuvert aus der Tasche und überreichte es ihm.
"Da ist ein Foto drin vom Deutsch-Seminar. Es ist das einzige Bild, auf dem wir zusammen drauf sind."
"Danke, das ist aber nett von dir."
In dem Kuvert war aber nicht nur ein Foto drin, sondern auch ein Seryna-Brief, der mit den Worten endete:

.... Seit dem Seminar kann ich nicht mehr von Herzen lachen, weil Sie ein anderes Mädchen lieb haben. Vergessen Sie das nicht!

Sapperlipopette, da krichste die Tür net zu...! Wollte ihm diese ulkige Seryna allen Ernstes die Komödie von der verliebten Jungfrau vorspielen, die nach ihrem Pauker schmachtet? Und meint wohl gar, er nähme ihr diesen Unsinn geradewegs ab und ließe sich von dem Haserl am Naserl herumführen? Dat wär mang ne janz starke Toback, woll.
Sie hatte also die Flinte noch nicht ins Korn geworfen. Erwartete sie gar eine Antwort von ihrem Prof? Offensichtlich ja, denn anderntags starrte sie ihn im Unterricht mit noch größeren Augen an denn je. Und nachdem sie keine Reaktion von ihm bemerkte, setzte sie in den folgenden Deutschstunden wieder ihre Trauermaske auf. Sie blickte Jordy nicht mehr an, sondern starrte ins Leere oder vergrub ihr Gesicht in die auf dem Tisch verschränkten Arme, aber wenn sie drankam, merkte Jordy, dass sie keineswegs träumte, sondern konzentriert dem Unterricht folgte. Aufs Neue bewunderte er ihre schauspielerische Leistung. Zwei Wochen lang hielt sie ihre Komödie durch.
'Na gut', dachte er, 'ich will ihr das Spiel erleichtern.' Auf einen schmucklosen Zettel schrieb er auf Japanisch:
"Danke sehr für Foto und Brief. Es tut mir leid, dass meine vergangene Affäre nicht nur mich, sondern auch dich betrübt. Die Zeit wird's sicher heilen."
Am Ende des Unterrichts, in dem Durcheinander, als alle Studenten aufstanden und ihren Krempel zusammenpackten, bückte Jordy sich, als hebe er etwas zu Boden Gefallenes auf und gab Seryna das Papier.
"Dir ist was runtergefallen..."
Mit großen, erstaunten Augen nahm sie den gefalteten Zettel, steckte ihn aber geistesgegenwärtig wortlos weg. Niemand hatte was gemerkt.


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Natürlich hätte Jordy sich als seriöser Prof nicht auf solche Zettel-Spielchen einlassen dürfen, das war ihm klar. Aber in seinem Innern sagte ihm eine Stimme: 'Wie, wenn die Kleine wirklich in dich verliebt sein sollte?', und eine andere stimmte ein: 'Womöglich kriegst du da bald mal wieder was Knackiges ins Bett, willst du dir die Chance so einfach entgehen lassen?' Natürlich schenkte der ernsthafte Prof in Jordy solchen Stimmen keine Beachtung, aber inzwischen begannen dem kleinen Don Juan in Jordy Serynas Theaterszenen Spaß zu machen. Er hätte es bedauert, wenn sie irgendwann aufgeben würde. Gewiss wollte sie nur ihre jungmädchenhaften Reize an einem nahe liegenden Objekt erproben, nachdem sie bei dem drögen Ishii keinerlei Wirkung erzielen konnte. Dass ihm diese sexy Person mit allerlei Tricks nachstellte, war durchaus amüsant und schmeichelte Jordys Eigenliebe, so lange sie es so geschickt anstellte wie bisher. Eine wohl dosierte Minimal-Reaktion, meinte er, könnte sie zu neuen Initiativen inspirieren, und er hätte dann im schulischen Alltagstrott auch mal was zu lachen.
In Gedanken versuchte er, sich Seryna als Geliebte vorzustellen. Sie war durchaus hübsch, aber mehr noch sexy und erotisch. Das reizte ihn an ihr schon, aber verlieben würde er sich in sie sicher nicht, dafür war sie zu unreif und trivial. Auch ein bisschen begabter könnte sie sein für seinen Geschmack. Ihm gefielen kluge Mädchen. Und als Ersatz für Sumiko taugte sie erst recht nicht, denn Sumiko war einfach unersetzlich. Von sich aus hätte er deshalb kaum versucht, so eine wie die Seryna anzubaggern, aber was wäre, wenn sie tatsächlich darauf aus wäre, ihn zu verführen? Da schwankte er heftig zwischen der Lust auf ihre Rundungen und Vorsicht vor einem Abenteuer, bei dem es fraglich wäre, ob er am Ende heil wieder herausfinden würde. Er entschied sich dafür, zu hoffen, dass Serynas Aktivitäten nicht mehr waren als ein Scherz.

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